The Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen, by Fjodor Michailowitsch Dostojewski This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski Contributor: Dmitri Mereschkowski Editor: Arthur Moeller van den Bruck Translator: E. K. Rahsin Release Date: April 23, 2020 [EBook #61906] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 5-6: DIE DÄMONEN *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This file was produced from images generously made available by The Internet Archive.
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck
Übertragen von E. K. Rahsin
Erste Abteilung: Fünfter und sechster Band
F. M. Dostojewski
Roman
R. Piper & Co. Verlag, München
R. Piper & Co. Verlag, München, 1921
11. bis 20. Tausend
Copyright 1921 by R. Piper & Co.,
Verlag in München.
............
‚Herr, wir haben in dem Dunkel
uns verirrt. Was tun wir nun?
Jede Wegspur ist verloren!
Teufel haben ganz gewiß
uns hier auserkoren, –
zerren jetzt und drehen uns
mit Dämonenmacht
wohl zickzack im Kreis herum,
in dem Schneesturm und der Nacht.
............
Wieviel sind’s? Wohin die Hetze?
Und was singen sie im Trab?
Feiern sie heut Hexenhochzeit?
Oder tanzen sie ums Grab,
das sie grad’ dem Hausgeist graben?‘
............
A. Puschkin.
Es war aber daselbst eine große Herde Säue an der Weide auf dem Berge. Und sie baten ihn, daß er ihnen erlaubte, in dieselben zu fahren. Und er erlaubte ihnen.
Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen, und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich vom Abhange in den See, und ersoffen.
Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie, und verkündigten’s in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen sie hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesu, und fanden den Menschen, von welchem die Teufel ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und erschraken.
Und die es gesehen hatten, verkündigten’s ihnen, wie der Besessene war gesund worden.
Evangel. Lukä, Kap. VIII, 32–37
(nach der Übersetzung von Luther).
Seite | ||
Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution. Von M. v. d. B. | IX | |
Vorbemerkung | XXIII | |
Personen-Verzeichnis | XXXI | |
1. | Kapitel: Statt einer Einleitung: einiges Ausführliche aus der Biographie des wohlachtbaren Stepan Trophimowitsch Werchowenski | 1 |
2. | Kapitel: Prinz Heinz. Die Brautwerbung | 59 |
3. | Kapitel: Fremde Sünden | 110 |
4. | Kapitel: Die Hinkende | 175 |
5. | Kapitel: Die „allwissende Schlange“ | 229 |
6. | Kapitel: Die Nacht | 304 |
7. | Kapitel: Die Nacht (Fortsetzung) | 384 |
8. | Kapitel: Das Duell | 426 |
9. | Kapitel: Alle in Erwartung | 446 |
10. | Kapitel: Vor dem Fest | 485 |
11. | Kapitel: Pjotr Stepanowitsch in Tätigkeit | 521 |
12. | Kapitel: Bei den Unsrigen | 595 |
13. | Kapitel: Zarewitsch Iwan | 636 |
14. | Kapitel: Wie Stepan Trophimowitsch beschlagnahmt wurde | 654 |
15. | Kapitel: Die Flibustier. Der verhängnisvolle Morgen | 670 |
16. | Kapitel: Die Matinee | 709 |
17. | Kapitel: Das Ende des Festes | 760 |
18. | Kapitel: Ein beendeter Roman | 813 |
19. | Kapitel: Der letzte Beschluß | 847 |
20. | Kapitel: Die Reisende | 887 |
21. | Kapitel: Die mühevolle Nacht | 940 |
22. | Kapitel: Stepan Trophimowitschs letzte Reise | 995 |
23. | Kapitel: Der Schluß | 1052 |
1. | Anhang: Material zum Roman „Die Dämonen“. Aus den Notizbüchern F. M. Dostojewskis | 1073 |
2. | Anhang: Bruchstück aus einem bisher unveröffentlichten Kapitel des Romans „Die Dämonen“ | 1121 |
Anmerkung | 1139 |
Der Keim des Nihilismus lag bereits im Sektenwesen. Die Raskolniki haben zuerst durch das russische Volk eine revolutionäre Stimmung getragen und religiösen Aufruhr verbreitet. Weil der Russe rechtgläubig bleiben wollte, wurde er altgläubig, um andersgläubig und schließlich ungläubig zu werden. Der Raskol war ursprünglich ein Kampf des Volkes um seine einzige Bildung: die geistliche. Es war ein Kampf um das Wenige, das Arme im Geiste besaßen, die an Vorstellungen nicht rühren lassen wollten, in die sie sich durch Jahrhunderte eingewöhnt hatten: an Ritual, Legende und Text. Es war ein Kampf, der zu keiner Reformation führte, sondern zum Schisma, und schließlich zur Häresie. Aber in diesem Kampfe standen Beschränkte wie Besessene, und standen wild bis zum Fanatismus. Das Ende der Zeiten, das tausendjährige Reich, der Antichrist auf Erden wurde von ihnen erwartet. Schon hier wird die Verbindung von Apokalypse und Nihilismus, aber auch Konservativismus deutlich, die in allen russischen Revolutionen irgendwie wiederkehrt.
Der religiöse Nihilismus wurde allmählich zum politischen Nihilismus. Als Peter erschien und um weltlicher Reformen willen die Kirche dem Staate unterwarf, da sah man den Antichrist auch in ihm, dem Zaren. Ja, schon wagten die Raskolniki in ihrem Kampfe gegen die Kirche auch den Kampf gegen den Staat. Sie erfuhren Zuzug aus allen Kreisen, die in Reibung mit der Obrigkeit lagen. Im Raskol sammelten sich die Unzufriedenen des Landes. Es kam, wer ein schlechtes Gewissen hatte. Es kam der Beamte, der veruntreut, und der Bauer, der aufbegehrt hatte. Es kam der Soldat, der seiner Truppe entlaufen war. Es kamen Strelitzen, denen dem Blutgerichte von Moskau zu entrinnen gelang. Es kamen kosakische Freibeuter, aber auch ukrainische Patrioten, Leute aus der Anhängerschaft schon des Stenka Rasin und wieder des Mazeppa. Es kamen die Barfüßler. Es kamen Verbrecher. Es kamen Mörder, Räuber und Diebe, sie alle, denen der Kettenweg nach Sibirien drohte. Sie alle kamen und wurden hier Brüder vom Gesindel, doch Brüder in Freiheit.
Die Form dieser Brüderschaft war noch nicht die der Verschwörung. Aber die Taktik der Nihilisten kündigte sich schon unter den Sektierern an. Geheime Beziehungen wurden zwischen den Gemeinden unterhalten, wie hernach zwischen den „Gruppen“. Verfolgte wurden verborgen, falsche Pässe wurden ausgefertigt, und wie man später Proklamationen zusteckte, so wurden damals Hostien, Reliquien und verbotene Postillen geschmuggelt. In den geläuterten Brüderschaften der Stundisten, der Molokanen oder der Duchoborzen, deren Anhänger sich um ein ausgeklügeltes Sonderideechen zu sammeln pflegten, wurde dieser religiöse Nihilismus schließlich ganz brav, ehrbar und pietistisch-tugendhaft. Aber auch von ihnen, freilich auch von den Popenfamilien, in denen auf den orthodoxen Vater der problematische Sohn folgte, ging die nihilistische Unterschichtung des russischen Volkes weiter aus. Noch Raskolnikoff, in dessen Hirn statt der harmlosen Beunruhigung, wie man den Namen des Heilandes richtig zu schreiben habe, die gefährliche Frage nach Gut und Böse wühlte, trug von den Raskolniki den Familiennamen und gehörte ihnen nicht nur nach der Abstammung sondern auch in der Anlage an.
Der Dämon des Nihilismus war in einer noch mittelalterlichen Zeit wie ein unheimliches Tier gewesen. In der Zeit der Dekabristen sah man ihn in byronischer Gestalt unter jungen Enthusiasten umgehen. Die Dekabristen waren entzückte Jünglinge, die von der französischen Revolution freisinnige Begriffe gelernt und aus den europäischen Feldzügen fortschrittliche Vorstellungen mitgebracht hatten. Von ein paar idealen Forderungen, Aufhebung der Zensur und Öffentlichkeit des Gerichts, erhofften sie eine Besserung der schlechten russischen Welt. Aber sie hatten keine bestimmte politische Idee. Daran scheiterten sie. Die jungen Politiker und radikalen Ideologen der vierziger Jahre dagegen kamen in Debattierklubs zusammen. Alle ernsten Elemente, die suchten, die sich vorwärtstasteten, freilich auch alle, die in die Irre gingen, sammelten sich in diesen Debattierklubs, deren einer unter dem Namen der Petraschewzen deshalb berühmt geworden ist, weil Dostojewski in die Geschichte der Verschwörung verwickelt wurde, die man seinen Mitgliedern anhing. Dostojewski meinte diese Zeit der Unruhe in Rußland, des Übergangs und der Ungewißheit, als er schrieb: „damals gab es unter den jungen Leuten sehr, sehr viele, die von irgend etwas durchdrungen waren, die irgend etwas erwarteten ...“ Aber auch die Petraschewzen hatten noch keine bestimmte politische oder soziale Idee. Sie beschäftigten sich nur mit Ideen. Sie lasen die Bücher von Saint-Simon und Proudhon, von Owen und Fourier. Sie bezogen die „Phalanstère“. Doch eine Einheitlichkeit der Tendenz gab es in diesen Debattierklubs nicht. Unter die Einheitlichkeit eines Programms hätte man die Petraschewzen nicht bringen können. Und für eine Einheitlichkeit der Aktion fehlte jede Voraussetzung. In seinem Rechtfertigungsschreiben merkte Dostojewski an: „man kann sagen, daß man dort nicht drei Menschen fand, die in irgendeinem Punkte über ein beliebig aufgegebenes Thema übereinstimmten.“
Es war die Zeit der literarisch-politischen Forderungen. Auch Dostojewski hatte damals seine Forderungen. Und er hatte, er leugnete es nicht, seine Klagen. Er sprach im Kreise der Petraschewzen für die Aufhebung der Leibeigenschaft und hielt die Bauernbefreiung für unumgänglich. Aber er tat es nicht als Liberaler aus einer Lehrmeinung, die ihre Grundsätze liebt, sondern als Russe aus Liebe für das Volk. Er wollte die Menschen befreien, aber er wollte es in Volklichkeit und nicht durch Vergesellschaftung. Auch er las die Bücher der Sozialisten, weil sie, wie er sagte, mit Begeisterung für das Wohl der Menschen geschrieben seien. Aber den Fourierismus lehnte er ab, während Petraschewski sich für ihn einsetzte. Das Wohl der Menschen schien ihm in Rußland nur vom Volke aus durch den Staat sichergestellt werden zu können.
Auch Dostojewski war ein Revolutionär. Als Russe, als russischer Mensch mit allen seinen russischen Möglichkeiten, die vom Orthodoxen bis zum Nihilistischen reichen, teilte auch er in einem Winkel, in einer verborgenen Abgründigkeit seines sehr zusammengesetzten Wesens diese äußerste aller politischen Möglichkeiten. Als er einmal den Wunsch äußerte, daß auch die Bauernbefreiung wieder „von oben“ gemacht werden solle, und als dagegengehalten wurde, daß dies wohl niemals geschehen werde, da entschied er fast zögernd: „Ja – dann mit Gewalt.“ Er selbst wird in dieser Zeit als ein Mensch geschildert, dessen ganzes Wesen sich zum Verschwörer geeignet habe, still, wortkarg, nur fähig, unter vier Augen sich auszusprechen, doch dann, wenn die Rede ihn hinriß, von mächtiger Überzeugungskraft. Aber Dostojewski war Revolutionär nicht aus Doktrin, sondern beinahe schon aus jener Pathologie, die es zu einer Erlösung für den Russen macht, die Krankheit seines Mitmenschen zu teilen, sie aus Wissen mitzuleiden, und aus Mitleid sich zu empören. Dostojewski, der die Fähigkeit besaß, jedes Revolutionärtum mitzuerleben, hatte als Russe vor allem das Erlebnis des Nihilismus, war mit ihm seelisch vertraut, folgte ihm wahlverwandt. Aber diese Vielseitigkeit, die nur ein Ausdruck seines Russentums war, schloß zugleich die Möglichkeit ein, daß er auch den anderen Weg ging, nicht unbedingt den reaktionären der Uwaroffschen Formel, doch den konservativen eines wissenden Menschen, der schließlich zum Großinquisitor führte.
In Sibirien kam Dostojewski dem russischen Volke ganz nahe. In der Katorga lernte er es in einem täglichen Umgange erst kennen. Und er erkannte, wie tiefe und starke Menschen es doch in diesem Volke gab, die voll von der eigenen Echtheit und schweren Ursprünglichkeit einer besonderen russischen Natur waren. Sie hatten Verbrechen begangen: aber Dostojewski war Psychologe und Amoralist genug, um den Verbrecher zu verstehen. Wenn er sie prüfte, dann fand er heraus, daß sie im Grunde alle gütig waren. Und wenn er die Menschen, mit denen er in der Katorga zusammentraf, mit den Petersburger Doktrinären verglich, die von europäischen Konstitutionen und Revolutionen redeten, dann fiel der Vergleich sehr zuungunsten der Doktrinäre aus. Diese Verbrecher hatten in ihrem analphabetischen Wesen die Schönheit der autochthonen Kraft vor jenen voraus. Für diese autochthone Kraft trat Dostojewski in der Folge ein, wobei er sowohl gegen die Uwaroffs wie gegen die europäisch-radikalen Elemente zu kämpfen hatte. Mit diesem autochthonen russischen Volke fühlte er sich verbunden und in der Gewißheit eins, daß es auch dann, wenn es nicht geneigt sein sollte, das Bestehende zu erhalten, in seiner Grundlage so unverstörbar sein werde, wie es seiner noch dunklen Bestimmung sicher sein konnte. Er fühlte voraus, was heute in Rußland Ereignis geworden ist, fühlte, daß Rußland durch Untergang werde hindurch gehen müssen, und sagte: „Noch ist die zukünftige, selbständige russische Idee nicht geboren, nur ist die Erde unheimlich schwanger von ihr und schon schickt sie sich an, sie unter furchtbaren Qualen zu gebären.“
Dostojewski liebte das russische Volk wegen seiner angeborenen Empfänglichkeit für eine naive Sittlichkeit. Aber er erkannte auch, wie unberechenbar in seinen Trieben, im Widerspruche seiner Leidenschaften, in der Heftigkeit von Zuneigung oder Abneigung es war. Seine Gier, seine Fleischlichkeit, seine verhängnisvolle Selbstverschwendung war wie eine zweite Natur, die eine erste Natur ständig verschlang. Seine Maßlosigkeit war die Gegenseite seiner Anspruchlosigkeit. Nicht anders schien sein angeborenes Empörertum nur der Gegensatz zu sein, den ein Volk, das so unausgeglichen war, ständig aus sich hervorzubringen und von sich abzustoßen suchte. Dostojewski erkannte, daß ein solches Volk konservativ gezügelt werden mußte. Und mit einem politischen Denken, das auf Bindung nicht auf Auflösung gerichtet war, begann Dostojewski, als er aus Sibirien zurückgekehrt war, in Rußland bewußt zu wirken: mit einem konservativen Denken, das auf Menschenkenntnis beruhte und von Volkskenntnis herkam, mit den Überzeugungen eines psychologischen Konservativismus, der einem Volke entsprach, dessen Wesen selbst ein ewig beunruhigter und doch wieder hergestellter Konservativismus ist.
In Rußland fand Dostojewski eine völlig veränderte politische Lage vor. Die Aufhebung der Leibeigenschaft sollte endlich erfolgen. Und manche andere liberale Reform stand bevor. Aber gleichzeitig hatte unter der Oberfläche des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, in den Winkeln, Mansarden und Schlupfwinkeln der Hauptstadt, in den Verschwörerkreisen der Londoner und Züricher Emigration eine Bewegung eingesetzt, von der die liberalen Forderungen der vierziger Jahre bereits anarchisch überboten wurden: die nihilistische. Ihre Erscheinungen reichten bis in die Zeit der Petraschewzen zurück. Dostojewski selbst bestätigte den Nihilisten, daß sie von den Petraschewzen herstammten, obwohl diese noch keine Nihilisten gewesen seien. Zwar war der Untersuchungsrichter im Petraschewzenprozesse im Unrecht gewesen, wenn er die wachsende Zahl der von ihren Bauern erschlagenen Gutsbesitzer, oder die der Brandstiftungen auf dem Lande, der Diebstähle und Einbrüche, auf die politische Rechnung der Angeklagten schrieb. Das waren Erscheinungen, die sich ohne Zutun der Petersburger Doktrinäre aus dem tumultuarischen Zuge der Bauernbewegung ergaben, die der Aufhebung der Leibeigenschaft voranging und die nicht mit ihr aufhörte. Nach wie vor traten Sektiererrevolten hinzu, und noch immer kam es wie zu Nicolais Zeiten vor, daß die Alt- und Andersgläubigen sich zu Tausenden zusammenrotteten, um ihre Kirchen vor Niederlegung zu bewahren, und das Militär, das mit der Exekutive betraut war, schimpflich davonjagten. Das religiöse Motiv im russischen Empörertum verband sich mit dem sozialen Motive.
Aber auch manche Vorformen des politischen Nihilismus waren Dostojewski aus seiner ersten Petersburger Zeit bekannt. Ein Petraschewze hatte zuerst die Idee der „Fünf“ ausgeheckt, die Dostojewski hernach der Komposition seiner „Dämonen“ als Skelett zugrunde legte: die Idee eines großen politischen Bundes, in dem Gruppen der Tat, die einander nicht kannten, von geheimnisvoller Oberleitung abhingen. Der Bund nannte sich die „Gesellschaft der Propaganda“ und einer von den Mitgliedern hatte gar eine „Brüderschaft der Leute von anarchischer Gesinnung zu gegenseitiger Hilfe“ vorgeschlagen. Entwürfe für die Organisation solcher Verbände wurden ausgearbeitet. Die Aussichten eines Aufstandes wurden erörtert. Nicht zuletzt gehörten die geheimen Druckereien als rätselhafte Herkunftsorte massenhafter Flugschriften oder die heimlichen Versammlungen der Petersburger Gesinnungsgenossen in ingermanländischen Städten zu den Erscheinungen, die Dostojewski als „Dämonen“motive herübernehmen und auf den terroristischen Schauplatz einer ungenannten russischen Gouvernementsstadt verlegen konnte. In der Zeit seiner Verbannung war die Taktik der Nihilisten ausgebildet worden. Man suchte eine Verbindung mit Leuten aus dem Volke, um so in den Massen eine Aufklärung über die Fremdform der russischen Zustände zu verbreiten. Die Zeit kündigte sich an, in der die Studenten „ins Volk gingen“. Typ wie Rolle der nihilistischen Studentin bereitet sich vor. In den Städten kam es zu ersten Arbeiterstreiks. Und schon ging von ersten Attentaten der Schrecken der nihilistischen Bewegung über das Land aus.
Der Nihilismus hatte noch keine Idee. Als Turgenjeff das Wort und den Begriff fand, die allmählich auf die ganze Zeitveranlagung und Geistesverfassung übertragen wurden, da wollte er mit Nihilismus den russischen Ausdruck des europäischen Positivismus bezeichnen. In der Tat war der Nihilismus zunächst durchaus aufklärerisch. Er war zu atheistisch, um religiös zu sein. Er war rein verneinend. Und es hat lange gedauert, bis er das praktische Christentum Tolstois aufnahm, das ihn endlich wenigstens mit russischen Gehalten erfüllte. Eine Idee aber bekam er erst dann, als die Revolution die Klassentheorie für sich in Anspruch nahm und Marx der Diktator der russischen Ideologen wurde.
Die Nihilisten waren Märtyrer, solange sie um ihrer Ziele willen ihr eigenes Leben zerstörten. Wie aber – wenn sie das Leben der anderen zerstörten! Wie aber – wenn sie Rußland zerstörten! Auch Dostojewski hatte, genau wie Tolstoi, und wie jeder Russe, schon aus altruistischen Gründen in seiner apostolischen Lehre soziale Elemente. Aber das war das Große an Dostojewski, und das unterscheidet ihn von der Einstellung der Marxisten, daß er die ökonomischen Probleme eine Schicht tiefer faßte, als der Sozialismus sie sah und noch heute sieht: nicht im Wirtschaftlichen, sondern im Menschlichen. Man sollte dem Volke nicht sein Volkstum nehmen, weil man ihm dann sein Menschentum nahm! Man sollte nicht Hand an das Volk legen! Und das Volk sollte nicht Hand an sich selbst legen! Um des Volkes willen nahm Dostojewski den Kampf gegen den Radikalismus auf. In seinen politischen Schriften untersuchte er den Urgrund, auf dem Rußland steht, und brachte dessen ewige Gegebenheiten in eine Übereinstimmung mit seinen eigenen menschlichen Erlebnissen, die ihn einmal sagen ließ, daß „wir Revolutionäre aus Konservativismus sind“, d. h. Kämpfer für das urrussische Wesen, zu dem die europäische Staatsauffassung, Liberalismus und Parlamentarismus, ebensowenig paßte, wie etwa die europäische Tracht. In den „Dämonen“ aber ließ er Schatoff, den Russengläubigen, diesen Einzigen, dem er je die verhaltene Begeisterung eines volksuchenden Helden gab und dessen Gestalt er wie die eines Jüngers liebte, das Wort sagen: „Wer kein Volk hat, der hat auch keinen Gott.“ Dostojewski stand in seinem Kampfe mit der Leidenschaft eines Eiferers, mit den ungeheuren Kräften, die der schwächliche Mensch aus der Idee holt, von der er besessen ist. Als Fanatiker hatte er die Massivität nicht, um das Volk durch Reform vor der Revolution zu bewahren. Und als Erscheinung blieb Dostojewski in der Reihe der großen Problematiker, die von Rousseau bis Nietzsche geht, wenn er auch als Dichter die epische Form und als Denker das apostolische Wort vor ihnen voraus hat. Aber als Mystiker wußte er, daß der Mensch seiner Unvollkommenheit überantwortet ist. Als Politiker ging er davon aus, daß jede Opposition, die der Mensch aus Doktrin an den Unterbau und das Gefüge des Seienden setzt, nur die geringe Wichtigkeit eines Endlichen haben kann, die von einem Unendlichen eingeschlossen wird. Und als Russe verkündete er dem russischen Volke, in dessen Glauben allein sich das Christentum unversehrt erhalten habe, daß es das Gottesträgervolk der Erde sei, das dereinst dieses Christentum verwirklichen und die Eigenliebe durch die Menschenliebe überwinden werde. Es ist wahr, Dostojewski ging in seinem Kampfe, den er mit Hohn und jeder geistigen Überlegenheit führte, mit einfachen Menschen zusammen, mit echtrussischen Leuten, mit allzu russischen Leuten. Er ging mit dem Inquisitor Pobjedonosszeff zusammen. Auch dieses Wissen war in seiner Menschenkenntnis, in seiner Russenkenntnis, daß der russische Mensch sogar für die Liebe zu schwach ist, die ihm gebracht wird, und daß sich mit ihr, wenn man sie nicht an den Menschen verschwenden, sondern ihn durch Liebe behaupten will, Macht über den Menschen verbinden muß.
Dostojewski erkannte früh, daß Radikalismus nicht Wurzelung sondern Entwurzelung bedeutet. Was war es denn schließlich, das der Radikalismus in Rußland entwurzeln wollte? War es nicht: die europäische Form? Um so zorniger war daher sein Kampf gegen die halbgebildeten Radikalen und europaverehrenden Westler, weil sie diese europäische Form auch noch in ihren letzten und schalsten Äußerungen – als Republik, als Konstitutionalismus und Kapitalismus – auf atheistischer Grundlage in Rußland einführen wollten. Er fühlte, daß die russische Revolution kommen werde. Dostojewski war kein Pazifist und fürchtete niemals den Krieg. Er sagte: „Nicht immer muß man den Frieden predigen, und nicht im Frieden allein liegt die Erlösung – die kann zuweilen auch der Krieg bringen.“ Aber er fühlte, daß diese Revolution die Erlösung noch nicht bringen werde. Er fürchtete die Revolution um Rußlands willen. Er fürchtete sie, weil er ihre Träger kannte, die er dann in den „Dämonen“ in einer Reihe von Karikaturen vorführte, von absonderlichen und lächerlichen, aber gefährlichen Gestalten. Er deckte in den „Dämonen“ die Zusammenhangslosigkeit des gottlosen und volklosen Nur-Ich-Menschen auf, die ihn aus seiner Natur reißt und in Tendenzen absondert. Er deckte die Wurzellosigkeit auf.
Die russische Revolution hat Dostojewski bis jetzt recht gegeben. Hinter ihrem ersten Abschnitte stand Tolstoi. Sie kam aus der Aufklärung. Und sie bedeutete die Auflösung. Aber in dem Augenblicke, in dem sich entscheidet, daß auch sie nicht nur Zerfall bringt, sondern daß nach grausamer Umschichtung ein Aufbau aus ihr hervorgeht, wird hinter ihrem zweiten Abschnitte wieder Dostojewski stehen. Er bedeutet Wiederanknüpfung.
M. v. d. B.
Von Dostojewskis fünf großen Romanen ist der dritte, „Die Dämonen“, in den Jahren 1870 und 71 in Dresden geschrieben, in Petersburg beendet und 1871/72 in der konservativen Zeitschrift „Der russische Bote“ veröffentlicht worden.
Die beiden Strophen des ersten Mottos hat Dostojewski der Ballade „Bjéssy“ von A. Puschkin entnommen und deren Titel auch zum Titel des Romans gewählt: mit „Bjéssy“ bezeichnet der Russe gewisse böse Geister, Dämonen oder Teufel von der Art, die im zweiten, dem Evangelium Lucä entnommenen Motto, in die Säue fährt; in der schönen Ballade Puschkins (geschr. 1829), die eine Schneesturmnacht in der Steppe schildert, sind es unzählige tolle Gespenster, von denen sich der Kutscher eines reisenden Herrn wie von Troßbuben des Teufels genarrt und vom Wege weggezerrt glaubt. Die Strophen des Mottos sind ein Teil der hilflosen Antwort des Kutschers auf den Befehl des Herrn (des Dichters), doch weiterzufahren.
Im „Ersten Anhang“ sind aus Dostojewskis Notizbuchaufzeichnungen Entwürfe und Gedanken mitgeteilt, die Dostojewski ursprünglich in den „Dämonen“ zu entwickeln gedachte, sowie einige Skizzen zu den Hauptpersonen, die von ihm später teils in starker Veränderung, teils überhaupt nicht verwandt worden sind.
Im „Zweiten Anhang“ konnte nur der Anfang eines von Dostojewski nicht veröffentlichten Kapitels mitgeteilt werden: der Besuch Stawrogins bei dem Bischof Tichon. Das Manuskript des größeren Teiles dieses wichtigsten Kapitels wird im Moskauer Dostojewski-Museum aufbewahrt: sein Inhalt ist bisher nur der Familie und einigen alten Freunden Dostojewskis bekannt. Wie Dostojewskis Tochter in ihrem (deutsch bei E. Reinhardt, München erschienenen) Buch „Dostojewski“ Seite 180 berichtet, hat ihre Mutter dieses ganze Manuskript zu Anfang dieses Jahrhunderts veröffentlichen wollen, doch die alten Freunde ihres Mannes hätten sich der Veröffentlichung widersetzt. Das hat übrigens bald nach Dostojewskis Tode 1881 auch sein konservativer Freund N. N. Strachoff getan.
Nach Dostojewskis eigenen Angaben handelt es sich hier um eine Broschüre Stawrogins von etwa 60 deutschen Druckseiten, also dem Umfange nach um ein ähnliches Buch im Buche wie Iwan Karamasoffs „Legende vom Großinquisitor“. Bekannt geworden ist sonst nur, daß in dieser Schrift von Stawrogin die Vergewaltigung eines Mädchens mit unerträglichem Realismus geschildert sei. Nun ist es aber Dostojewskis Art, bestimmte Ideen – seine stärksten und revolutionärsten – immer in einer ähnlichen, so auffallend vorsichtigen Form zu bringen, sei es als Traum oder Halluzination, oder als Jugendwerk eines seiner Helden, mit der Entschuldigung, der Betreffende sei damals noch sehr jung gewesen, wie z. B. Iwan Karamasoff, oder krank, wie Hippolyt oder Stawrogin, er aber, Dostojewski, teile nur als Chronist diese sonderbaren Gedanken einzelner Menschen unserer Zeit mit. Man darf demnach wohl annehmen, daß es sich auch in dieser noch geheimgehaltenen Broschüre Stawrogins, die Dostojewski „eine Herausforderung der Gesellschaft“ nennt, nicht nur um die realistische Schilderung einer Episode handelt, sondern daß diese Episode nur der Ausgangspunkt für ihn ist, um der Gesellschaft, den von ihm so gehaßten europäischen Gesellschaftsgesetzen, den „Fehdehandschuh hinzuwerfen“ (wie in der „Legende vom Großinquisitor“ die Legende nur die Kostümierung seines Kampfes gegen den Katholizismus oder vielmehr gegen den alttestamentlichen Staats- oder Gesellschaftsbau ist). Nach einem Überblick über das Gesamtwerk Dostojewskis ist es nicht schwer zu erraten, worauf Stawrogin-Dostojewski in dieser unveröffentlichten Schrift hinauswill, hinauswollen muß. Und es ist nur zu verständlich, daß seine Freunde, wie Strachoff, dem er trotz aller Freundschaft „doch viel zu unverständlich war“, und der Machthaber Pobjedonószeff sich gegen die Veröffentlichung dieser „Herausforderung“ aussprachen. Was aber trotzdem von diesem, allen ehrlich konservativen Menschen „viel zu unverständlichen“ Geist Stawrogin-Dostojewskis in dem Roman „Die Dämonen“ verblieben ist, das sind – nach dem Fortfall der erwähnten Kampfschrift Stawrogins – fast nur ein paar Worte von Schatoff und Drosdoff, die jetzt wie zwei kleine Inseln daliegen, zwischen denen der Kontinent vorläufig noch versunken bleibt.
„Die Dämonen“ sind auch sprachlich Dostojewskis geheimnisvollstes Werk. Nicht nur, daß er sich nachlässig ausdrückt (Seite 1 sagt er z. B.: „die Geschichte beschreiben“, statt „schreiben“), daß er wichtige Satzglieder ausläßt, die unklarsten Sätze baut, – er hat sich außerdem noch vielfach der früheren Umschreibungen bedient, zu der die Schriftsteller von der strengen Zensur unter Nikolai I. gezwungen worden waren. Er treibt die Vorsicht so weit, daß er z. B. in den ersten Kapiteln, wo sich fast alles um die innerpolitischen Verhältnisse dreht, kein einziges Mal das Wort Politik oder politisch braucht. Damit nun die unzähligen verschleierten Anspielungen dem unorientierten Leser nicht völlig unklar bleiben, sind dem Text kleine erläuternde Fußnoten beigefügt worden, eingehendere Erläuterungen dagegen in den „Ersten Anhang“ verwiesen.
Einen Kommentar für sich würden dann noch die Ausfälle Schatoff-Dostojewskis gegen Belinski und die sogenannten „Westler“ erfordern, d. h. gegen die Verehrer europäischer Kultur, die, im Gegensatz zu den Slawophilen, zwischen Rußland und Europa keinen Unterschied sahen und europäische Staatsformen auch für Rußland erstrebten, während von den Slawophilen besonders Dostojewski hinter allen parlamentarischen, liberalen Formen der Europäer sein Schreckgespenst, die Plutokratie, den deshalb so verspotteten „bürgerlichen“ Gesellschaftsbau, nahen sah. Hierzu sei bemerkt, daß es vor der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland nur zwei Parteien gab, eine kleine, aber allmächtige, und eine große, aber ohnmächtige, wie es etwa in einer Korrektionsanstalt (mit der man den Staat Nikolais I. verglichen hat) vom Standpunkt liberaler Individualisten nur wenige Unterdrücker und viele Unterdrückte gibt. Mögen die letzteren unter sich auch noch so verschieden sein, in ihrem Gegensatz zu den Machthabern der Anstalt sind sie doch alle einig. Dieser einmütige Wille wurde damals „die Richtung“ genannt, von der Liputin Seite 44 spricht. Es gab nur eine „Richtung“, d. h. nur einen Willen: aus dieser Enge hinauszukommen. Kaum aber hatte sich unter Alexander II. das Tor der „Korrektionsanstalt“ geöffnet, da zeigten sich sofort die großen Unterschiede innerhalb der Schar der Herausdrängenden, und „die Richtung“ begann sich zu verzweigen, zunächst in Slawophile und Westler, dann aber in die verschiedenen Arten der Slawophilen und Westler (Monarchisten, Republikaner, Radikale, Kommunisten gab und gibt es bei diesen und bei jenen, und hinzu kommen dann noch die Unterschiede in der Einstellung zur Orthodoxie). Die frühere geschlossene Front der einen „Richtung“ gegen Nikolai I., unter dem die Werke der orthodoxen Slawophilen genau so verboten waren wie die der französischen Revolutionäre und Atheisten, zerbröckelte zu einem Kampf untereinander, in dem jeder nach mindestens zwei Seiten kämpfte, wenn nicht nach drei oder vier Seiten.
„Die Dämonen“ sind das Buch der ersten Jahre dieser Kämpfe, in denen die einzelnen Menschen sich wahrlich nicht nach Parteischlagworten unterscheiden lassen, sondern nur nach einem inneren anständigen Kern oder dem Fehlen eines solchen.
Man hat dieses Werk Dostojewskis als ein „Pamphlet gegen alles Revolutionäre“ aufgefaßt, weil einzelne Vertreter einer der revolutionären Gruppen, die an europäische Schlagwörter glauben, verhöhnt und entlarvt werden. Doch nichts ist falscher, als den Verfasser deshalb gleich für konservativ zu halten. Die Konservativen sind hier ja noch viel schlimmer karikiert. Richtig wäre es, über alles, was Dostojewski voll Zorn und Spott über diese Art unwissender Revolutionäre geschrieben hat, die Worte zu setzen, mit denen er sich einmal unbewußt verrät: „... ich ärgerte mich und ich schämte mich fast für ihre Ungeschicktheit ...“ (Bd. XI der Ausgabe, Autobiographische Schriften, Seite 170).
Es war der Zorn darüber, daß diese „dummen Jungen“ die Revolution oder das „Neue russische Wort“ durch ihre törichten Redereien und Taten nur lächerlich machten, ihm seine große Revolution verpfuschten.
Nur aus dieser Kampfstellung nach links und nach rechts, nach rückwärts und vorwärts sind die vielfachen sogenannten „Widersprüche“ Dostojewskis in den „Dämonen“ zu verstehen oder das parteipolitische Chaos in seinen Werken. Er schildert z. B. den Revolutionär Pjotr Werchowenski als ungebildeten Flegel, als gewissenlosen Intriganten, Schurken und schließlich Mörder, doch vor dem konservativen Vertreter der alten Ehrbegriffe, Karmasinoff, der „auswandernden Ratte“, wird selbst dieser „Betrüger“ plötzlich zu einer nationalen Größe – ganz zu schweigen von den Konflikten, in die Dostojewski sich in den Entwürfen zu diesen Gestalten (im Ersten Anhang) unverhofft, doch unvermeidlich hineinredet. Es ist, als ob die kleinen törichten Geisterchen, die Troßbübchen des Teufels in der tollen Sturmnacht der Revolution, in der keine Spur des alten Weges mehr zu sehen ist, ihm unter der Hand und vor den Augen zergingen und er hinter ihrem kleinen dämonischen Eigensinn plötzlich die Umrisse eines riesigen Dämons zu spüren, zu begreifen beginne, wenn er den alten Idealisten und Dichter ihnen ihre Torheiten verzeihen läßt.
Inwieweit aber Dostojewski auch hier schon, nicht erst im letzten Bande der Karamasoff, selber zu jenem riesigen Dämon wird, entzieht sich vorläufig noch der Beurteilung. Man fasse es nicht als Zufall auf, daß Stawrogins „Herausforderung“ ein halbes Jahrhundert lang vergraben geblieben ist. Vielleicht ist es selbst heute noch zu früh, die Menschen aus dem so vielfach verhüllten, geheimnisvollen Becher Dostojewskis schon sehend trinken zu lassen.
Über die Absicht der Witwe Dostojewskis, dieses Manuskript nunmehr zu veröffentlichen, und über das vorläufige Scheitern dieses Planes an den gegenwärtigen russischen Zuständen gibt das S. XXIV erwähnte Buch von Aimée Dostojewskaja gleichfalls einigen Aufschluß.
Eng verbunden mit Stawrogin ist „sein Schüler“ Kirilloff. Dostojewski hat wohl selbst nicht genau gewußt, warum er diesen so eigentümlich „falsch“ sprechen läßt; er hat wohl nur mit der Sicherheit des Künstlers empfunden, daß diese Nuance zu dieser Gestalt gehört oder mindestens paßt.
Kirilloff spricht nicht in der Weise falsch, wie ein Ausländer oder wie ein Kind. Seine Sprechart, die deutsch in unstilisierter Form wohl kaum so wiederzugeben wäre, daß sie überhaupt glaubhaft bliebe, läßt sich kurz nur durch eine Übertreibung charakterisieren: er spricht ungefähr wie ein Mensch, der die Namen der Dinge nur im Nominativ kennt. Nur spricht er so nicht mit Fleiß, nicht „stilisiert“, nicht bewußt, ja vieles sagt er auch ganz richtig wie jeder andere Mensch in der Bindung der Syntax, mit der richtigen Endung, die die Beziehung der Dinge angibt; aber zwischendurch ist es immer wieder, als würden aus ihm ganz unmittelbar nur Tatsachen laut, die das Gefühl hervorstößt, ohne daß das Gehirn sie einkleidet. Vielleicht läßt sich der Gegensatz veranschaulichen mit dem Gegensatz zwischen der „beugenden“, die Beziehung angebenden Buchstabenschrift der Gegenwart und der starren Bilderschrift der alten Ägypter oder der Chinesen. Wer Rassegesetzen nachforscht, mag die Angaben über sein dunkles Äußere in Beziehung bringen zu dem Geist, der diese alten Sprachen schuf; wer sich mit Kirilloffs Philosophie als heutigem Ausdruck russischen Geistes befaßt, wird in ihr und dieser Sprechart vielleicht eine Übereinstimmung finden: nur das Wesentliche des Wortes zu geben, wie nur das Wesentliche der Welt zu suchen, im Wesen Gottes als Mensch zu vergehn, um Gott auf die Erde zu bringen.
E. K. R.
Ortsnamen:
Skworéschniki, Dúchowo, Brýkowo; die Fabrik der Brüder Schpigúlin, Matwéjewo.
Näheres über die historischen Vorbilder einzelner Gestalten siehe Seite 1118-1120.
Namen einzelner Nebenpersonen hat Dostojewski im Laufe der Erzählung manchmal unbewußt geändert. So nennt er z. B. den alten Gaganoff anfangs Pjotr Pawlowitsch, später dagegen Pawel Pawlowitsch und folglich seinen Sohn Artemij Pawlowitsch. Ferner heißt ein Kanzleibeamter des Gouverneurs zuerst Blümer, später Blüm. Der Name Kirílloff ist bald mit zwei, bald mit einem l geschrieben. Um Mißverständnisse infolge solcher Flüchtigkeiten zu vermeiden, ist in der Übersetzung immer die erste Form beibehalten worden. E. K. R.
Indem ich mich anschicke, die so seltsamen Ereignisse wiederzugeben, die sich unlängst in unserer bisher noch durch nichts hervorgetretenen Stadt zugetragen haben, sehe ich mich gezwungen, da ich mir nicht anders zu helfen weiß, zunächst etwas weiter auszuholen und mit einigen biographischen Einzelheiten über den talentvollen und wohlachtbaren Stepan Trophimowitsch Werchowenski zu beginnen. Mögen diese Einzelheiten nur als Einleitung zu der geplanten Chronik dienen, doch die Geschichte selbst, die ich zu beschreiben beabsichtige, beginnt erst später.
Ich will es sogleich ganz offen sagen: Stepan Trophimowitsch spielte unter uns immer eine gewisse besondere und sozusagen bürgerliche[1] Rolle und liebte diese Rolle bis zur Leidenschaft, – liebte sie sogar so, daß er ohne sie wohl überhaupt nicht hätte leben können. Nicht, daß ich ihn damit einem Schauspieler auf der Bühne vergleichen wollte: Gott behüte, das will ich um so weniger, als ich selber ihn ja doch achte. Hier konnte vielmehr alles Sache der Gewohnheit sein oder, besser gesagt, die Folge einer immerwährenden, im Grunde edlen Neigung, einer Neigung schon von Kindheit an, zu der angenehmen Illusion von seiner schönen bürgerlichen Stellungnahme. So liebte er z. B. ungeheuer seine Lage als „Verfolgter“ und sozusagen „Verbannter“. Um diese beiden Wörtchen spielt nun einmal ein klassischer Glanz eigener Art[2], und eben dieser scheint ihn dann, nachdem er ihn einmal bezaubert hatte, im Laufe so vieler Jahre in seiner Selbsteinschätzung immer mehr erhöht zu haben, bis er schließlich auf einem gewissen überaus hohen und für die Eigenliebe so angenehmen Piedestal zu stehen glaubte. In einem satirischen englischen Roman des vorigen Jahrhunderts hat sich ein gewisser Gulliver im Lande der Liliputaner, wo die Menschen nur einige Zoll groß waren, so daran gewöhnt, sich als Riese zu fühlen, daß er auch in den Straßen Londons unwillkürlich den Passanten und Equipagen zurief, sie sollten vor ihm ausweichen und sich vorsehen, damit er sie nicht irgendwie zertrete, denn er hielt sich immer noch für einen Riesen und die anderen für jene Kleinen. Da lachte man ihn aus und schalt ihn und die rohen Kutscher schlugen sogar mit der Peitsche nach ihm: aber war das auch gerecht? Was kann die Gewohnheit nicht alles bewirken? Die Gewohnheit hatte auch unseren Stepan Trophimowitsch fast zu demselben Wahn gebracht, wie den Gulliver, nur daß dieser Wahn sich bei ihm in einer, wenn man sich so ausdrücken darf, unschuldigeren und unverletzenderen Weise äußerte, denn schließlich war er doch ein prächtiger Mensch.
Ich denke es mir sogar so: daß man ihn in der Literatur mit der Zeit allenthalben ganz vergessen hatte; nur darf man deshalb gewiß noch nicht sagen, daß er auch früher nie bekannt gewesen sei. Unstreitig hat auch er einmal zu der berühmten Plejade[3] gewisser gefeierter Dichter der letzten Generation gehört, und eine Zeitlang – übrigens doch nur einen allerkleinsten Augenblick lang – war sein Name von manchen voreiligen Leuten beinahe schon in einer Reihe mit Tschaadajeff, Belinski, Granowski und dem damals im Auslande gerade erst beginnenden Herzen[4] genannt worden. Aber das Wirken Stepan Trophimowitschs endete fast schon im selben Augenblick, in dem es begonnen hatte, – es ward, wie er sich ausdrückte, von einem „Wirbelsturm“ zusammentreffender „Umstände“[5] zerstört. Und was stellt sich nun heraus? Daß es nicht nur keinen „Wirbelsturm“, sondern nicht einmal „Umstände“ damals gegeben hat, wenigstens nicht in seinem Fall. Ich habe erst jetzt, erst vor ein paar Tagen, zu meinem größten Erstaunen erfahren, dafür aber mit vollkommener Glaubwürdigkeit, daß Stepan Trophimowitsch hier bei uns, in unserem Gouvernement, nicht nur nicht in der Verbannung gelebt hat, wie man hier allgemein annahm, sondern daß er nicht einmal, gleichviel wann, unter Aufsicht gestanden hat. Wie groß muß demnach seine Einbildungskraft gewesen sein! Er glaubte doch vor sich selber aufrichtig und sein Leben lang, daß man in gewissen Sphären beständig vor ihm auf der Hut wäre, daß jeder seiner Schritte unablässig beobachtet und vermerkt werde, und daß jedem der drei Gouverneure, die wir im Laufe der letzten zwanzig Jahre hier gehabt haben, schon bei der Übergabe des Gouvernements als erstes von Stepan Trophimowitsch Werchowenski gesprochen worden sei, so daß jeder neue Gouverneur bereits von dort aus eine gewisse eigene, mit Sorgen verbundene Vorstellung von ihm mitgebracht habe. Hätte aber jemand mit unwiderlegbaren Beweisen diesen bei alledem ehrlichsten Menschen beruhigen und überzeugen wollen, daß ihm nicht das Geringste drohe, so würde ihn das unbedingt beleidigt haben. Und dabei war er doch der klügste, der begabteste Mensch, war gewissermaßen sogar ein Mann der Wissenschaft, obgleich er übrigens in der Wissenschaft ... nun, sagen wir, nicht gerade viel geleistet hat, oder gar, wie es scheint, überhaupt nichts. Aber das pflegt ja bei uns in Rußland mit den Männern der Wissenschaft durchgehends so zu sein.
Nach seiner Rückkehr aus dem Auslande hatte er als Lektor auf dem Lehrstuhl einer Universität geglänzt, bereits ganz am Ende der vierziger Jahre. Es gelang ihm aber nur, ein paar Vorlesungen zu halten, ich glaube, über die Araber; es gelang ihm auch noch, eine glänzende Dissertation zu verteidigen: über die in der Epoche zwischen 1413 und 1428 aufkeimende kulturelle und hanseatische Bedeutung des deutschen Städtchens Hanau und zugleich über jene besonderen und etwas unklaren Gründe, weshalb es zu dieser Bedeutung dann doch überhaupt nicht gekommen ist. Diese Dissertation traf mit einem feinen Stich geschickt und schmerzhaft die damaligen Slawophilen und schuf ihm mit einem Schlage unzählige und grimmige Feinde unter ihnen. Dann – übrigens schon nach dem Verlust des Lehrstuhls – schrieb und veröffentlichte er noch wahrscheinlich aus Rache und um zu zeigen, wen sie verloren hatten) in einer fortschrittlichen Monatsschrift, die aus Dickens übersetzte und George Sand verkündete, den Anfang einer tiefsinnigsten Untersuchung – ich glaube, über die Gründe der außergewöhnlich edlen sittlichen Anschauungen irgendwelcher Ritter in irgendeiner Epoche, oder etwas Ähnliches. Jedenfalls war es ein hoher, ungemein edler Gedanke, den er darin durchführte. Nur wurde, wie man später erzählte, die Fortsetzung dieser Untersuchung schleunigst verboten und sogar die fortschrittliche Zeitschrift soll wegen der gedruckten ersten Hälfte zu leiden gehabt haben. Das ist auch sehr gut möglich, denn was geschah damals nicht? In diesem Falle aber ist es doch wahrscheinlicher, daß nichts Derartiges geschah und nur der Autor selber die Mühe scheute, den Aufsatz zu beenden. Seine Vorlesungen über die Araber jedoch stellte er deshalb ein, weil ein von ihm an irgend jemanden geschriebener Brief mit der Darlegung irgend welcher „Umstände“ irgendwie von irgend jemandem (offenbar von einem seiner reaktionären Feinde) aufgefangen worden war, woraufhin irgendjemand irgendwelche Erklärungen von ihm verlangte[6]. Ich weiß zwar nicht, ob es wahr ist, aber man behauptete außerdem, daß gerade damals in Petersburg eine riesige, widernatürliche und antistaatliche Gesellschaft, bestehend aus nahezu dreizehn Mann, aufgespürt worden sei, eine Gesellschaft, die das Gebäude fast erschüttert hätte. Man sagte, sie hätten nichts Geringeres vorgehabt, als Fourier selber zu übersetzen[7]. Und ausgerechnet zur selben Zeit mußte dann noch in Moskau eine Dichtung Stepan Trophimowitschs beschlagnahmt werden, ein Poem, das er schon sechs Jahre zuvor in Berlin geschrieben hatte, in seiner ersten Jugend, und dessen Abschriften, unter der Hand weitergegeben, bei zwei Liebhabern der Dichtkunst und einem Studenten gefunden wurden. Ein Exemplar davon liegt jetzt auch in meinem Schreibtisch: erst im vorigen Jahre erhielt ich es von Stepan Trophimowitsch persönlich, in eigenhändiger neuester Abschrift, mit autographischer Widmung und in prachtvollem roten Saffianeinbande. Das Poem ist übrigens nicht ohne Poesie, ja es ist nicht einmal ohne ein gewisses Talent verfaßt, ist allerdings etwas sonderbar, aber damals (d. h. richtiger in den dreißiger Jahren) wurde oft in dieser Art geschrieben. Das Thema des Poems wiederzugeben, macht mir freilich Schwierigkeiten, denn, wenn ich die Wahrheit sagen soll: ich habe es überhaupt nicht verstanden. Es ist irgend so eine Allegorie in lyrisch-dramatischer Form, die an den zweiten Teil des Faust erinnert. Die Dichtung beginnt mit einem Chor der Frauen, dann folgt ein Chor der Männer, darauf ein Chor irgendwelcher Kräfte, und zum Schluß der Chöre tritt ein Chor von Seelen auf, die noch nicht gelebt haben, aber doch gar zu gern auch mal leben möchten. Alle diese Chöre singen von etwas sehr Unbestimmtem, größtenteils von irgendeinem Fluch, aber sie singen es wie mit einem Schimmer höheren Humors. Doch plötzlich verwandelt sich die Szene und es beginnt ein „Fest des Lebens“, auf dem sogar die Insekten singen; dann tritt eine Schildkröte auf mit allerhand lateinischen sakramentalen Worten und es singt irgend etwas, wenn ich mich recht erinnere, sogar ein Mineral, also ein sonst doch schon ganz unbelebter Gegenstand. Überhaupt singen alle ununterbrochen, reden sie aber einmal miteinander, so ist es mehr ein unbestimmtes Schimpfen, aber wiederum wie mit einem Schimmer höherer Bedeutung. Schließlich, nach einem abermaligen Szenenwechsel, sieht man eine wildromantische Gegend, in der zwischen Felsen ein zivilisierter junger Mann umherirrt und irgendwelche Gräser abreißt, an denen er dann saugt. Auf die Frage einer Fee, warum er das tue, antwortet er, er suche Vergessenheit, weil er ein Übermaß von Leben in sich fühle, und diese Vergessenheit im Safte dieser Gräser finde, sein Hauptwunsch aber sei – möglichst bald den Verstand zu verlieren (ein Wunsch, der vielleicht schon überflüssig ist). Darauf erscheint plötzlich auf einem schwarzen Pferde ein Jüngling von unbeschreiblicher Schönheit und ihm folgen in fürchterlicher Menge alle Völker. Der Jüngling stellt den Tod dar und die Völker lechzen alle nach ihm. Und schließlich, in der allerletzten Szene, erscheint plötzlich der babylonische Turm und irgendwelche Athleten bauen ihn nun schon zu Ende und singen dazu einen Sang der neuen Hoffnung, und wie sie die höchste Spitze vollenden, da läuft der Beherrscher, sagen wir des Olymps, in komischer Form davon, und die Menschheit, die jetzt endlich begreift, beginnt sofort, indem sie sich seines Platzes bemächtigt, ein neues Leben mit vollkommenem Durchschauen der Dinge. Dieses Poem also wurde damals für gefährlich befunden. Im vorigen Jahre schlug ich Stepan Trophimowitsch vor, es nunmehr drucken zu lassen, da es in unserer Zeit doch eine ganz unschuldige Dichtung sei, aber er lehnte den Vorschlag mit sichtbarem Mißbehagen ab. Die Auffassung, daß es eine vollkommen unschuldige Dichtung sei, gefiel ihm offenbar gar nicht, und diesem Umstande schreibe ich auch die gewisse Kühle zu, die seinerseits mir gegenüber volle zwei Monate andauerte. Doch siehe da! Plötzlich, und fast zur selben Zeit, als ich ihm vorschlug, das Poem hier drucken zu lassen, wurde unser Poem dort gedruckt, d. h. im Auslande, und erschien in einem der revolutionären Sammelbände, ohne daß Stepan Trophimowitsch überhaupt etwas davon wußte. Er erschrak zunächst nicht wenig, stürzte zum Gouverneur, entwarf einen hochedlen Rechtfertigungsbrief für Petersburg, las ihn mir zweimal vor, schickte ihn aber dann doch nicht ab, da er, wie sich herausstellte, gar nicht wußte, an wen er ihn senden sollte. Kurz, er regte sich einen ganzen Monat lang auf, doch ich bin überzeugt, daß er dabei in den geheimen Buchten seines Herzens ungemein geschmeichelt war. Von dem ihm zugestellten Exemplar des Sammelbandes trennte er sich überhaupt nicht mehr, ja er schlief fast mit ihm, am Tage aber versteckte er es unter die Matratze, weshalb er das Mädchen kaum noch das Bett aufbetten ließ, und obschon er Tag für Tag ein gewisses Telegramm erwartete, schaute er doch sehr von oben herab. Das Telegramm kam aber nicht. Da söhnte er sich auch mit mir wieder aus, was wiederum von der großen Güte seines sanften, nicht nachtragenden Herzens zeugt.
Ich behaupte ja nicht, daß er wirklich niemals zu leiden gehabt hat[8], ich habe mich jetzt nur endgültig überzeugt, daß er die Vorlesungen über seine Araber so lange hätte fortsetzen können wie er wollte, wenn er nur die nötigen Erklärungen abgegeben hätte. Er aber warf sich damals gleich in die Brust und schickte sich mit besonderer Eilfertigkeit an, sich selber ein für allemal einzureden, daß seine Laufbahn vom „Wirbelsturm der Umstände“ für immer zerstört sei. Doch wenn man schon die ganze Wahrheit sagen soll, so war der eigentliche Grund dieser Änderung seiner Laufbahn die gerade jetzt in zartfühlendster Weise wiederholte Anfrage der Gemahlin des Generalleutnants Stawrogin, einer sehr reichen Dame, ob er die Erziehung und ganze geistige Ausbildung ihres einzigen Sohnes, gewissermaßen als höherer Pädagoge und Freund, übernehmen wolle – von dem glänzenden Gehaltsangebot ganz zu schweigen. Dieses Angebot war ihm schon früher einmal gemacht worden, in seiner Berliner Zeit, gleich nach dem Tode seiner ersten Frau. Diese war ein etwas leichtsinniges junges Mädchen aus unserem Gouvernement gewesen, übrigens nicht unsympathisch, die er in seiner ersten Jugend, ohne sich besondere Gedanken zu machen, geheiratet und mit der er dann viel Leid zu ertragen gehabt hatte, erstens weil seine Mittel zu ihrem beiderseitigen Unterhalt nicht ausreichten, und dann noch aus anderen, bereits sehr zarten Gründen. Sie starb schließlich in Paris, nachdem sie die letzten drei Jahre getrennt von ihm gelebt hatte, und hinterließ ihm einen fünfjährigen Sohn – „die Frucht der ersten freudevollen und noch ungetrübten Liebe“, wie sich der trauernde Stepan Trophimowitsch einmal in meiner Gegenwart unversehens äußerte. Das Kind war übrigens schon bald nach der Geburt nach Rußland geschickt worden – zu ein paar Tanten irgendwo in der Provinz, die es erziehen sollten. Damals also, nach dem Tode seiner ersten Frau, hatte er das Angebot der Warwara Petrowna Stawrogina nicht angenommen, sondern noch vor Ablauf des Trauerjahres seine zweite Frau, eine schweigsame kleine Berlinerin, geheiratet, und zwar, was das Auffallende war, eigentlich ohne jede besondere Notwendigkeit. Doch außerdem hatte er noch andere Gründe gehabt, das Angebot abzulehnen: ihn lockte der gerade damals lauttönende Ruhm eines unvergeßlichen Professors und so wollte auch er seine Adlerschwingen erproben. Jetzt aber, nachdem er sich die Schwingen versengt hatte, war es nur natürlich, daß er, besonders nachdem auch seine zweite Frau, kaum ein Jahr nach der Trauung, gestorben war, dem wiederholten verlockenden Angebot nicht widerstand. Das Entscheidende war also die glühende Anteilnahme, sowie die unschätzbare und, wenn man so sagen darf, klassische Freundschaft, die Warwara Petrowna Stawrogina ihm entgegenbrachte. So warf er sich denn in die Arme dieser Freundschaft und die währte gute zwanzig Jahre. Ich habe soeben den Ausdruck gebraucht „er warf sich in die Arme dieser Freundschaft“, doch Gott behüte und bewahre einen jeden davor, deshalb an etwas Überflüssiges und Müßiges zu denken. Nein, diese Umarmung ist einzig in höchst moralischem Sinne zu verstehen. Es waren nur die feinsten und zartesten Bande, die diese beiden so merkwürdigen Menschen auf ewig miteinander verknüpften.
Die Stellung eines Erziehers wurde auch noch deshalb angenommen, weil das kleine Gütchen, das seine erste Frau hier in unserem Gouvernement hinterlassen hatte, unmittelbar an Skworeschniki, das herrliche, nahe der Stadt belegene Gut der Stawrogins grenzte. Und zudem war es ja immer möglich, in der Stille des Kabinetts und bereits ohne von der Riesenhaftigkeit der Universitätsarbeiten absorbiert zu werden, sich ganz den Aufgaben der Wissenschaft zu widmen und die einheimische Literatur mit den tiefsten Erforschungen zu bereichern. Solche Erforschungen ergaben sich dann zwar nicht, doch dafür bot sich die Möglichkeit, das ganze übrige Leben, mehr denn zwanzig Jahre lang, sozusagen einen „Vorwurf zu verkörpern“ – buchstäblich nach dem Dichterwort:
„... Idealist und Liberaler,
Standest du vorm Vaterlande
Als verkörperter Vorwurf da!“
Doch jener Typ[9], auf den sich diese Worte bezogen, hätte vielleicht auch das Recht gehabt, zeitlebens in diesem Sinne zu posieren, vorausgesetzt, daß er es wollte, obschon so etwas doch recht langweilig sein muß. Unser Stepan Trophimowitsch aber war, wenn man schon die Wahrheit sagen soll, nur ein Nachahmer im Vergleich zu jenen Charakteren, ja und das Stehen ermüdete ihn auch, weshalb er denn oft genug ein bißchen auf der Seite lag. Aber gleichviel, auch in liegender Stellung verblieb er eine Verkörperung des Vorwurfs – das muß man ihm schon lassen –, um so mehr, als für die Provinz auch das vollauf genügte. Oh, man hätte ihn sehen sollen, wenn er sich bei uns im Klub an den Kartentisch setzte! Seine ganze Miene sprach dann förmlich: „Karten! Ich spiele mit euch Jeralásch![10] Wie ist das vereinbar? Wer kann das verantworten? Wer hat mein Wirken zertrümmert und es in Jeralásch verwandelt? Ach, geh unter, Rußland!“ und würdevoll spielte er aus, – selbstredend Coeur zuerst.
Im Grunde aber liebte er sogar sehr, ein Partiechen zu machen, weswegen er nicht selten, und besonders in der letzten Zeit, mit Warwara Petrowna unangenehme Auseinandersetzungen hatte, zumal er im Spiel immer verlor. Doch davon später. Ich will nur bemerken, daß er ein sogar gewissenhafter Mensch war (d. h. manchmal) und darum oft trauerte. Im Laufe der ganzen zwanzigjährigen Freundschaft mit Warwara Petrowna pflegte er regelmäßig drei- bis viermal im Jahre seinem „Bürgergram“, wie wir das nannten, zu verfallen, das heißt einfach einer Hypochondrie, doch der Ausdruck „Bürgergram“ gefiel der verehrten Warwara Petrowna. Späterhin war es auch noch der Champagner, dem er ab und zu verfiel oder zu verfallen begann, aber auch in der Beziehung schützte ihn die feinfühlige Warwara Petrowna das ganze Leben lang vor allen trivialen Neigungen. Er bedurfte ja auch wirklich einer Art Kinderwärterin, denn mitunter konnte er sehr sonderbar sein: konnte mitten in der erhabensten Trauer plötzlich auf die volkstümlichste Weise zu spotten anfangen. Ja, es gab Augenblicke, wo er sich sogar über sich selbst in humoristischem Sinne zu äußern begann. Nichts aber fürchtete Warwara Petrowna so, wie humoristischen Sinn. Sie war eben eine klassisch empfindende Frau, war als Frau eine Mäzenatin, die nur nach höheren Gesichtspunkten handelte. Unschätzbar war denn auch der zwanzigjährige Einfluß dieser höheren Dame auf ihren armen Freund. Doch von ihr müßte man eingehender sprechen, was ich denn auch tun will.
Es gibt sonderbare Freundschaften; es gibt Freunde, die nur miteinander streiten, das ganze Leben in Streit verbringen, und doch nicht voneinander lassen können. Das Auseinandergehen ist ihnen sogar ganz unmöglich: der Freund, der aus Eigensinn als erster die Verbindung zerrisse, würde auch als erster krank werden und womöglich sterben, wenn es darauf ankommt. Ich weiß genau, daß Stepan Trophimowitsch mehrere Male, und zwar manchmal nach den intimsten Herzensergüssen unter vier Augen mit Warwara Petrowna, plötzlich, nachdem sie ihn verlassen hatte, vom Diwan aufsprang und mit den Fäusten an die Wand zu hämmern begann. Nicht sinnbildlich, sondern ganz einfach und sogar so, daß er einmal den Putz von der Wand losschlug. Vielleicht wird man nun fragen: wie ich denn eine so zarte Einzelheit habe erfahren können? Wie nun, wenn ich selbst Augenzeuge war? Wie, wenn er wiederholt an meiner Schulter geschluchzt und mir dabei in grellen Farben seine letzten Geheimnisse erzählt hat? (Und was, ja was kam dann nicht alles über seine Lippen!) Doch nach solchem Geschluchze geschah fast immer Folgendes: am nächsten Tage war er dann bereit, sich wegen seiner Undankbarkeit selber zu kreuzigen; dann rief er mich eilig zu sich oder kam schnell selbst zu mir, nur um mir mitzuteilen, daß Warwara Petrowna, „was Ehre und Zartgefühl betrifft“, ein Engel sei, er aber sei „das absolute Gegenteil“. Und nicht nur zu mir kam er dann, nein, er schrieb das alles in wortreichen Briefen auch Warwara Petrowna, gestand ihr, ohne sich zu scheuen, den Brief mit seinem vollen Namen zu unterzeichnen, daß er z. B. erst gestern einem beliebigen Menschen erzählt habe, sie halte ihn nur aus Ruhmsucht in ihrem Hause, doch im Grunde beneide sie ihn nur um seines Wissens und seiner Talente willen; ja, sie hasse ihn sogar und wage nur nicht, ihren Haß offen zu zeigen, aus Furcht, er könnte dann weggehen und ihrem Ruf in der Literaturgeschichte schaden; infolgedessen verachte er sich nun selbst und habe er beschlossen, eines gewaltsamen Todes zu sterben; von ihr aber erwarte er nur noch ein letztes Wort, das alles entscheiden werde usw., usw. in dieser Art. Nach diesem Beispiel kann man sich ungefähr vorstellen, zu welch einer Hysterie die nervösen Ausbrüche dieses unschuldigsten von allen 50jährigen Säuglingen manchmal ausarteten! Einen dieser Briefe nach irgendeinem Streit zwischen ihnen aus einem geringfügigen Anlaß, aber mit erbitterndem Ausgang, habe ich selbst gelesen. Ich war entsetzt und beschwor ihn, den Brief doch nicht abzusenden.
„Ich kann nicht ... es ist ehrlicher ... es ist meine Pflicht ... ich sterbe, wenn ich ihr nicht alles gestehe, alles!“ antwortete er nahezu fiebernd und sandte den Brief tatsächlich ab.
Gerade darin aber lag der Unterschied zwischen ihnen, daß Warwara Petrowna einen solchen Brief niemals abgesandt hätte. Freilich, er liebte über alle Maßen zu schreiben, schrieb ihr selbst damals, als sie noch in demselben Hause wohnten, schrieb in hysterischen Fällen sogar zweimal am Tage. Ich weiß genau, daß Warwara Petrowna immer mit der größten Aufmerksamkeit diese Briefe durchlas, auch wenn sie ihrer zwei am Tage erhielt, um sie dann, nummeriert und sortiert, in einer besonderen Schatulle aufzubewahren; außerdem aber hob sie sie noch in ihrem Herzen auf. Und nachdem sie dann ihren Freund den ganzen Tag vergeblich auf eine Antwort hatte warten lassen, benahm sie sich ihm gegenüber am nächsten Tage, als wäre so gut wie nichts Besonderes geschehen, als läge gar nichts vor. Auf die Weise hatte sie ihn allmählich so zugestutzt, daß er schon von selbst nicht mehr an das Vorgefallene zu erinnern wagte und ihr nur eine Weile in die Augen sah. Doch vergessen tat sie nichts, er aber vergaß manchmal schon gar zu schnell, und ermutigt durch ihre Ruhe, konnte er oft schon am selben Tage wieder lachen und beim Champagner allen möglichen Unsinn treiben, wenn ihn seine Freunde gerade an dem Tage besuchten. Mit welchen verbitternden Gefühlen muß sie in solchen Augenblicken auf ihn gesehen haben, er aber bemerkte überhaupt nichts! Es sei denn, daß ihm nach einer Woche, einem Monat oder erst nach einem halben Jahr in einem besonderen Augenblick zufällig irgendein von ihm gebrauchter Ausdruck in so einem Brief einfiel und nach und nach der ganze Brief mit allen Einzelheiten und Umständen, und dann verging er plötzlich vor Scham und quälte sich mitunter dermaßen, daß er wieder an seinen Anfällen von Cholerine erkrankte. Diese ihn heimsuchenden eigentümlichen Anfälle, die an Cholerine erinnerten, waren in gewissen Fällen der gewöhnliche Ausgang seiner nervösen Erschütterungen und stellten ein in ihrer Art interessantes Kuriosum seiner Physis dar.
Ja, Warwara Petrowna hat ihn gewiß und sogar sehr oft gehaßt; er aber hat bis zum Schluß nur eines nicht an ihr erkannt: daß er nämlich zu guter Letzt für sie zu einem Sohn geworden war, zu ihrem Geschöpf, ja man kann sagen, zu einer Erfindung von ihr, daß er schon Fleisch von ihrem Fleisch war und daß sie ihn keineswegs „aus Neid“, „um seiner Talente willen“ bei sich hielt und unterhielt. Und wie müssen solche Verdächtigungen sie verletzt haben! In ihr verbarg sich eine gewisse unerträgliche, unduldsame Liebe zu ihm, mitten unter ununterbrochenem Haß, unter Eifersucht und Verachtung. Sie beschützte ihn vor jedem Stäubchen, gab sich unermüdlich zweiundzwanzig Jahre lang mit ihm ab, und die Sorge hätte ihr den Schlaf geraubt, wenn man seinen Ruf als Dichter, als Gelehrter, sein Wirken im kulturbürgerlichen Sinne angetastet hätte. Sie hatte ihn sich ausgedacht und war selber die erste, die an die Wirklichkeit ihrer eigenen Dichtung glaubte. Er war so etwas wie ihr Traumbild. Aber sie verlangte von ihm tatsächlich viel dafür, manchmal geradezu sklavischen Gehorsam. Und nachtragend war sie bis zur Unglaublichkeit. Übrigens werde ich doch lieber gleich zwei Fälle erzählen.
Einmal, gerade in der Zeit, als sich die ersten Gerüchte von der Aufhebung der Leibeigenschaft im Lande zu verbreiten begannen, beehrte ein Petersburger Baron, ein Mann mit den allerhöchsten Verbindungen, der noch dazu von Amts wegen der mit Jubel erwarteten Neuerung sehr nahe stand, auf der Durchfahrt Warwara Petrowna mit seinem Besuch. Sie liebte und pflegte solche Bekanntschaften außerordentlich, zumal ihre Verbindungen mit der hohen Gesellschaft nach dem Tode ihres Mannes beträchtlich abgenommen hatten und schließlich ganz aufzuhören drohten. Der Baron verweilte etwa eine Stunde bei ihr und trank Tee. Von ihren Bekannten war sonst niemand zugegen, nur Stepan Trophimowitsch ward von ihr eingeladen und sozusagen zur Schau gestellt. Der Baron hatte denn auch richtig schon früher von ihm gehört, oder tat wenigstens, als habe er von ihm gehört, doch wandte er sich beim Tee selten an ihn. Natürlich hätte sich Stepan Trophimowitsch gesellschaftlich nie irgendwie blamieren können, er hatte überhaupt die feinsten Manieren; obschon er, glaube ich, nicht von hoher Herkunft war. Aber er war von der frühesten Kindheit an in einem vornehmen Moskauer Hause aufgewachsen, also sehr gut erzogen; Französisch sprach er wie ein Pariser. Der Baron mußte mithin auf den ersten Blick erkennen, mit welchen Menschen Warwara Petrowna sich umgab, wenn sie auch in der Provinz lebte. Allein, es sollte anders kommen. Als nämlich der Baron die neuen Gerüchte von der bevorstehenden großen Reform ausdrücklich bestätigte, da konnte Stepan Trophimowitsch plötzlich nicht an sich halten und rief ein „Hurra!“, wobei er mit der Hand noch eine Geste machte, die Begeisterung ausdrücken sollte. Er rief es übrigens nicht laut und geradezu elegant; ja, vielleicht war die Begeisterung sogar wohlüberlegt und die Geste absichtlich vor dem Spiegel einstudiert, eine halbe Stunde vor dem Tee; doch offenbar mißglückte ihm hierbei irgend etwas, so daß der Baron sich ein kaum merkliches Lächeln erlaubte, wenn er auch sofort überaus höflich eine Phrase über die allgemeine und erklärliche Ergriffenheit aller russischen Herzen angesichts der großen Begebenheit einflocht. Darauf empfahl er sich bald und vergaß dabei nicht, Stepan Trophimowitsch zum Abschiede zwei Finger zu reichen. Als Warwara Petrowna in den Salon zurückkehrte, schwieg sie zunächst etwa drei Minuten lang und tat, als suchte sie etwas auf dem Tisch; doch plötzlich wandte sie sich zu Stepan Trophimowitsch und stieß, bleich, mit blitzenden Augen, halblaut zischelnd hervor: „Das werde ich Ihnen nie vergessen!“
Am anderen Tage verhielt sie sich zu ihrem Freunde als wäre nichts geschehen, über das Vorgefallene verlor sie weiter kein Wort. Erst nach dreizehn Jahren, in einem tragischen Augenblick, erinnerte sie ihn plötzlich an diesen Vorfall und wieder erbleichte sie dabei genau so wie damals. Nur zweimal in ihrem Leben hat sie zu ihm gesagt: „Das werde ich Ihnen nie vergessen!“ Der Fall mit dem Baron war schon der zweite Fall; aber auch der erste war an und für sich so charakteristisch und hat, wie mir scheint, im Schicksal Stepan Trophimowitschs so viel bedeutet, daß ich mich entschließe, auch ihn zu erwähnen.
Das war im Jahre 1855, im Mai, kurz nachdem man in Skworeschniki die Nachricht vom Tode des Generalleutnants Stawrogin, des leichtsinnigen alten Herrn, erhalten hatte, der auf der Reise nach der Krim zur Übernahme eines Kommandos in der aktiven Armee unterwegs an einer Magenerkrankung gestorben war. Warwara Petrowna war also nun Witwe und ging in tiefstem Schwarz. Freilich, innerlich konnte ihre Trauer nicht sehr groß sein, denn schon die letzten vier Jahre hatten die beiden Gatten wegen der Charaktergegensätze vollkommen getrennt gelebt und sie hatte ihm nur eine Art Pension ausgesetzt. (Der Generalleutnant besaß selber nur 150 Seelen und sein Gehalt, außerdem seinen alten Adel und Beziehungen; der ganze Reichtum dagegen und Skworeschniki gehörten Warwara Petrowna, als der einzigen Tochter eines sehr reichen Branntweinpächters.) Nichtsdestoweniger hatte die Plötzlichkeit der Nachricht sie erschüttert und so zog sie sich denn in die Einsamkeit zurück. Selbstredend befand sich Stepan Trophimowitsch ununterbrochen bei ihr.
Der Mai stand in voller Blüte; die Abende waren wundervoll. Maulbeerbäume dufteten. Die beiden Freunde kamen allabendlich im Garten zusammen, saßen bis in die Nacht hinein in einer Laube und breiteten ihre Gefühle und Gedanken voreinander aus. Es gab manchen poetischen Augenblick. Unter dem Eindruck ihrer Schicksalsänderung sprach Warwara Petrowna mehr als gewöhnlich. Sie schmiegte sich gleichsam an das Herz ihres Freundes, und das setzte sich so mehrere Abende fort. Plötzlich kam Stepan Trophimowitsch ein eigentümlicher Gedanke: Wie? rechnete die erschütterte Witwe jetzt vielleicht auf ihn? Erwartete sie etwa nach Ablauf des Trauerjahres einen Heiratsantrag von ihm? – Ein zynischer Gedanke; aber gerade die Höhe der Organisation begünstigt doch mitunter noch die Neigung zu zynischen Gedanken, schon allein durch die Vielseitigkeit der Entwicklung. Er begann zu überlegen und fand, daß es wirklich diesen Anschein gewann. Er wurde nachdenklich: „Ein riesiges Vermögen, das ist allerdings wahr, aber ...“ In der Tat, Warwara Petrowna war nicht gerade das, was man unter einer Schönheit versteht: sie war eine große, gelbe, magere Frau, mit einem übermäßig langen Gesicht, in dem irgend etwas entfernt an einen Pferdekopf erinnerte. Stepan Trophimowitsch schwankte immer mehr unter solchen Betrachtungen, quälte sich mit Zweifeln und weinte sogar zweimal wegen seiner eigenen Unentschlossenheit (er weinte ziemlich oft). An den Abenden, also in der Laube, nahm sein Gesicht einen kapriziösen Ausdruck an, und zuweilen war sogar etwas Ironisches, etwas Kokettes, und zugleich Hochmütiges darin. Das geschieht ganz unwillkürlich, und sogar je edler der Mensch ist, um so bemerkbarer wird es. Ob nun Stepan Trophimowitschs Befürchtungen grundlos waren oder nicht, das ist schwer zu sagen: am wahrscheinlichsten ist, daß Warwara Petrowna an eine Heirat überhaupt nicht dachte – jedenfalls hätte sie sich wohl niemals entschließen können, ihren alten Namen, den der Stawrogins, mit dem seinen zu vertauschen, selbst wenn sein Name in der Literatur noch so berühmt gewesen wäre. Vielleicht war es von ihr aus nur ein weibliches Spiel, der Ausdruck eines unbewußten weiblichen Bedürfnisses, das ja in manchen weiblichen Fällen doch so natürlich ist. Übrigens kann ich mich für nichts verbürgen, die Tiefe des Frauenherzens ist sogar bis heute noch unerforschlich! Doch ich fahre fort.
Es ist anzunehmen, daß Warwara Petrowna aus dem eigentümlichen Gesichtsausdruck ihres Freundes bald erriet, was in ihm vorging; sie war feinfühlig und verstand zu beobachten, er aber war manchmal schon gar zu naiv. Trotzdem vergingen die Abende nach wie vor poetisch und bei anregender Unterhaltung. Einmal jedoch, bei Anbruch der Nacht, trennten sie sich nach einem besonders lebhaften, interessanten und poetischen Gespräch mit einem heißen Händedruck an der Treppe des Gartenhauses, in das Stepan Trophimowitsch in jedem Sommer aus dem riesigen Herrenhause von Skworeschniki überzusiedeln pflegte. Als er eingetreten war, nahm er zunächst, gleichsam zerstreut und doch wie in Gedanken versunken, eine Zigarre, zündete sie aber noch nicht an, sondern trat ermüdet ans offene Fenster und schaute regungslos den wie Flaum leichten, hellen Wölkchen zu, die an dem klaren Monde vorüberglitten, als plötzlich ein leises Geräusch ihn aufschreckte und er sich umsah. Vor ihm stand wieder Warwara Petrowna, von der er sich vor kaum vier Minuten im Garten getrennt hatte. Ihr gelbes Gesicht war fast bläulich, ihre Lippen schienen sich krampfhaft zusammenzupressen und die Mundwinkel zuckten. So sah sie ihm wohl volle zehn Sekunden lang schweigend in die Augen, mit festem, unerbittlichem Blick, und plötzlich stieß sie in schnellem Geflüster hervor:
„Das werde ich Ihnen nie vergessen!“
Als Stepan Trophimowitsch mir zehn Jahre später diese traurige Geschichte erzählte, flüsternd, nachdem er zuvor die Tür verschlossen hatte, versicherte er mir, er sei damals auf der Stelle so erstarrt, daß er weder gehört noch gesehen habe, wie Warwara Petrowna wieder verschwand. Und da sie später kein einziges Mal den Vorfall auch nur erwähnt hatte und alles seinen Lauf ging, als wäre nichts geschehen, so war er sein lebelang geneigt, anzunehmen, daß das Ganze nur eine Halluzination vor der Erkrankung gewesen sei, zumal er tatsächlich noch in derselben Nacht erkrankte und ganze zwei Wochen lang das Bett hüten mußte, was denn auch, übrigens sehr zur rechten Zeit, den Gesprächen in der Laube ein Ende machte.
Doch ungeachtet seiner Idee von der Halluzination war es dennoch, als erwartete er jeden Tag, während der ganzen Jahre, so etwas wie eine Fortsetzung und sozusagen Erklärung dieses Geschehnisses. Er glaubte nicht, daß es damit auch beendet sei! Und wenn er das nicht glaubte, wie sonderbar muß er dann doch manchmal auf seinen „Freund“ geschaut haben!
Sie hatte sogar das Kostüm für ihn erdacht, das er seitdem beständig trug. Es war geschmackvoll und charakteristisch zugleich: ein langer schwarzer Rock, fast bis oben zugeknöpft, der aber prachtvoll saß; ein weicher Hut (im Sommer aus Stroh) mit breiter Krempe; eine Halsbinde aus weißem Batist, mit großem Knoten und hängenden Enden; ein Stock mit silbernem Knauf, dazu das Haar fast bis auf die Schultern. Er war dunkelblond und erst in der letzten Zeit begann er ein wenig zu ergrauen. Den Schnurrbart und Bart rasierte er. Man sagt, in seiner Jugend sei er ein überaus schöner Mensch gewesen. Doch meiner Meinung nach war er auch im Alter eine ungemein eindrucksvolle Erscheinung. Aber kann man denn bei dreiundfünfzig Jahren überhaupt von Alter reden? Doch aus einer gewissen „Bürger“-Eitelkeit machte er sich nicht nur nicht jünger, sondern war sogar gleichsam stolz auf die Solidität seiner Jahre, und in diesem Kostüm, hoch von Wuchs, hager, mit dem langen Haar erinnerte er gleichsam an einen Patriarchen, oder noch besser: an das Porträt des Dichters Kúkolnik[11], das in den dreißiger Jahren als Lithographie in irgendeiner Ausgabe erschien, besonders wenn er im Sommer im Garten saß, auf einer Bank unter blühendem Flieder, die Hände auf den Stock gestützt, ein aufgeschlagenes Buch neben sich und in poetisches Sinnen versunken beim Anblick des Sonnenuntergangs. Übrigens in betreff der Bücher muß ich bemerken, daß er in der letzten Zeit das Lesen gewissermaßen aufzugeben begann. Aber das geschah doch erst in der allerletzten Zeit. Die Zeitungen und Zeitschriften dagegen, die Warwara Petrowna in Menge sich zuschicken ließ, die las er beständig. Für die Fortschritte der russischen Literatur interessierte er sich gleichfalls unausgesetzt, freilich ohne dabei seiner eigenen Würde auch nur das geringste zu vergeben. Eine Zeitlang befaßte er sich auch eifrig mit dem Studium unserer inneren und äußeren Tagespolitik, doch alsbald gab er das resigniert wieder auf. Es kam aber auch anderes vor: daß er z. B. einen Band Tocqueville in den Garten mitnahm, in seiner Rocktasche aber einen Paul de Kock versteckt hatte. Doch das sind übrigens Belanglosigkeiten.
Zu dem Porträt von Kúkolnik möchte ich hier nur in Klammern bemerken: daß dieses Bild Warwara Petrowna zum erstenmal in die Hände geraten war, als sie noch in Moskau in einem adeligen Mädchenpensionat erzogen wurde. Sie verliebte sich sofort in dieses Bild, nach der Gewohnheit sämtlicher jungen Mädchen in Pensionaten, die sich nun einmal in alles zu verlieben pflegen, was ihnen nur zu Gesichte kommt, aber zugleich auch in ihre Lehrer, und zwar vornehmlich in die der Schönschreibe- und Zeichenkunst. Im vorliegenden Fall jedoch war das Bemerkenswerte nicht diese Eigenschaft junger Mädchen, sondern lediglich der Umstand, daß Warwara Petrowna die erwähnte Lithographie noch im fünfzigsten Lebensjahr unter ihren teuersten Kostbarkeiten aufbewahrte, also vielleicht nur deshalb auch für Stepan Trophimowitsch jenes besondere Kostüm erdacht hatte, das dem auf diesem Bilde dargestellten zum Teil so ähnlich war. Aber auch das ist natürlich nur eine Nebensache.
In den ersten Jahren oder, genauer gesagt, in der ersten Hälfte seines Aufenthalts bei Warwara Petrowna hatte Stepan Trophimowitsch immer noch an schriftstellerische Tätigkeit gedacht und sich eigentlich jeden Tag ernstlich vorgenommen, mit dem Werk, das ihm vorschwebte, zu beginnen. In der zweiten Hälfte aber begann er offenbar, die früheren Vorstudien schon zu vergessen. Immer häufiger sagte er zu uns: „Man sollte meinen, jetzt könnte ich mit der Arbeit beginnen, das Material ist zusammengetragen, und doch entsteht nichts! Es will einfach nicht in mir arbeiten!“ und wehmütig ließ er den Kopf hängen. Zweifellos sollte gerade das ihn in unseren Augen noch mehr erhöhen, ihn als einen Märtyrer der Wissenschaft hinstellen; aber im Grunde und für sich selbst verlangte ihn doch nach etwas anderem. „Man hat mich vergessen, niemand braucht mich!“ entrang es sich ihm mehr als einmal. Diese gesteigerte Schwermut bemächtigte sich seiner besonders ganz am Ende der fünfziger Jahre. Warwara Petrowna begriff schließlich, daß die Sache ernst war. Zudem konnte auch sie den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Freund vergessen sei und niemand ihn brauche. Um ihn zu zerstreuen, aber zugleich auch um seinen Ruhm zu erneuen, reiste sie damals mit ihm nach Moskau, wo sie mit einigen tadellosen Vertretern der Literaten- und Gelehrtenwelt bekannt war; doch es erwies sich, daß auch Moskau nicht zufriedenstellen konnte.
Es war damals eine besondere Zeit[12]; etwas Neues brach an, etwas, das der vorhergegangenen Stille schon gar zu unähnlich war, etwas schon gar zu Seltsames, das jedoch überall gespürt wurde, selbst in Skworeschniki. Verschiedene Gerüchte drangen auch dorthin. Die Tatsachen waren ja im allgemeinen mehr oder weniger bekannt, aber es war klar, daß außer den Tatsachen noch eigentümliche sie begleitende Ideen aufzutauchen begannen, und zwar, was das Wichtigste war, Ideen in außergewöhnlicher Menge. Gerade das aber wirkte verwirrend: es war ganz und gar unmöglich, sich ein Urteil zu bilden und genau zu erfahren, was diese Ideen eigentlich bezweckten. Warwara Petrowna wollte, infolge der weiblichen Konstruktion ihrer Natur, unbedingt ein Geheimnis in ihnen verborgen wissen. Sie begann nun zunächst selber die Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, dazu ausländische verbotene Ausgaben und sogar die damals aufkommenden Proklamationen (alles das wurde ihr zugestellt); doch ihr wurde davon nur schwindlig. Sie begann dann Briefe zu schreiben; man antwortete ihr wenig und je weiter man ging, um so unverständlicher wurde es. Stepan Trophimowitsch ward darauf feierlichst von ihr gebeten, ihr „alle diese Ideen“ ein für allemal zu erklären; doch seine Erklärungen befriedigten sie entschieden nicht. Der Standpunkt, von dem aus Stepan Trophimowitsch die allgemeine Bewegung beurteilte, war ein im höchsten Grade hochmütiger; bei ihm lief alles darauf hinaus, daß man ihn vergessen habe und niemand ihn brauche. Da aber geschah es, daß man sich schließlich auch seiner erinnerte; zuerst in ausländischen Zeitschriften[13] als eines verbannten Märtyrers, und danach sofort auch in Petersburg, als eines ehemaligen Sternes in einem bekannten Sternbilde; man verglich ihn aus irgendeinem Grunde sogar mit Radischtscheff[14]. Darauf schrieb jemand in einer Zeitung, er sei bereits gestorben, und stellte einen Nekrolog über ihn in Aussicht. Stepan Trophimowitsch belebte sich nach diesen Erwähnungen seines Namens im Nu wie ein Auferstandener, und nahm eine höchst würdevolle Haltung an. Der ganze Hochmut in seinem bisherigen Verhalten gegenüber den Zeitgenossen fiel im Handumdrehen von ihm ab und statt dessen erglühte in ihm der Wunsch: sich der Bewegung anzuschließen und seine Kraft zu zeigen. Warwara Petrowna begann sofort von neuem und an alles zu glauben und war ganz Eifer für die Sache. Es wurde beschlossen, ohne den geringsten Aufschub nach Petersburg zu reisen, alles an Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, persönlich zu ergründen, und sich hinfort, falls angängig, ganz und ungeteilt der neuen Aufgabe zu widmen. Unter anderem erklärte sie sich bereit, eine eigene Zeitschrift zu gründen und dieser von nun an ihr ganzes Leben zu weihen. Als Stepan Trophimowitsch sah, wieweit es gekommen war, wurde er noch selbstbewußter, und begann bereits unterwegs, sich zu Warwara Petrowna fast gönnerhaft zu verhalten, – was sie sich sofort merkte und in ihrem Herzen aufhob. Übrigens hatte sie noch einen anderen sehr wichtigen Grund zu dieser Reise, nämlich die Erneuerung ihrer Beziehungen zu den höheren Kreisen. Man mußte sich, soweit das möglich war, in der Gesellschaft wieder in Erinnerung bringen, mußte wenigstens den Versuch machen. Doch offiziell war der Anlaß zu dieser Reise ein Wiedersehen mit ihrem einzigen Sohn, der damals seine Studien im Petersburger Adelslyzeum beendete.
Sie trafen in Petersburg ein und verlebten dort fast die ganze Wintersaison. Allein zu den großen Fasten platzte alles wie eine regenbogenfarbene Seifenblase. Die Illusionen verflogen, der geschwatzte Unsinn aber klärte sich nicht nur nicht auf, sondern wurde noch widerlicher. Doch zunächst: die Wiederanknüpfung der höheren Beziehungen gelang fast gar nicht, oder nur in äußerst mikroskopischem Maße, und selbst das nur mittels erniedrigender Bemühungen. Die gekränkte Warwara Petrowna stürzte sich darauf ganz in die „neuen Ideen“ und eröffnete Abende in ihrem Salon. Sie lud Literaten ein und man führte ihr die sogleich in Menge zu. Alsbald kamen sie schon von selbst auch uneingeladen; einer brachte den anderen mit. Sie hatte noch nie solche Literaten gesehen. Eitel waren sie bis zur Unglaublichkeit, aber sie waren es ganz offen und ungeniert, wie wenn sie damit eine Pflicht erfüllten. Manche (wenn auch längst nicht alle) erschienen sogar in betrunkenem Zustande, aber auch das geschah in einer Weise, als wären sie sich dabei einer besonderen, erst gestern darin entdeckten Schönheit bewußt. Alle waren sie auf irgendetwas bis zur Seltsamkeit stolz. Auf allen Gesichtern stand geschrieben, daß sie überzeugt waren, soeben erst ein ungeheuer wichtiges Geheimnis entdeckt zu haben. Den Gebrauch von Schimpfworten rechneten sie sich offenbar zur Ehre an. Was sie alle eigentlich geschrieben hatten, war ziemlich schwer zu erfahren; aber es gab da Kritiker, Romanschriftsteller, Dramatiker, Satiriker, Polemiker. Stepan Trophimowitsch drang sogar in ihren höchsten Kreis ein, von wo aus die ganze Bewegung geleitet wurde. Bis zu diesen Regierenden war es unglaublich hoch, doch ihm kamen sie bereitwillig entgegen, obschon natürlich kein einziger von ihnen etwas Näheres über ihn wußte oder gehört hatte, außer daß er eine „Idee vertrete“. Er manövrierte dann so um sie herum, daß er auch sie bewog, etwa zwei- oder dreimal in Warwara Petrownas Salon zu erscheinen, trotz all ihrer olympischen Erhabenheit. Diese Herren waren sehr ernst und sehr höflich; benahmen sich gut; die übrigen hatten sichtlich Furcht vor ihnen; aber man sah ihnen an, daß sie keine Zeit hatten. Es erschienen auch zwei oder drei ehemalige literarische Berühmtheiten, die sich damals zufällig in Petersburg aufhielten, und mit denen Warwara Petrowna schon lange die feinsten Beziehungen unterhielt. Doch zu Warwara Petrownas Verwunderung waren diese wirklichen und bereits zweifellosen Berühmtheiten unter ihren Gästen stiller als Wasser, niedriger als Gras, manche aber von ihnen schmiegten sich an dieses neue Gesindel geradezu an und suchten sich schmählicherweise bei ihm einzuschmeicheln. Anfangs hatte Stepan Trophimowitsch Glück; man griff sofort nach ihm und begann ihn in öffentlichen literarischen Veranstaltungen zur Schau zu stellen. Als er an einem öffentlichen literarischen Abende zum erstenmal als einer der Vortragenden die Rednerbühne betrat, begrüßte ihn rasendes Händeklatschen, das gute fünf Minuten lang andauerte. Neun Jahre später gedachte er dieses Abends mit Tränen in den Augen, – übrigens mehr infolge seiner Künstlernatur als aus Dankbarkeit. „Ich schwöre Ihnen und wette darauf,“ sagte er zu mir (aber nur zu mir und als tiefstes Geheimnis), „daß unter diesem ganzen Publikum niemand auch nur das geringste von mir wußte!“ Ein beachtenswertes Geständnis: also war in ihm doch ein scharfer Verstand, wenn er schon damals auf der Rednerbühne, trotz seines Rausches, seine wirkliche Stellung so klar zu erkennen vermochte; und andererseits war doch wiederum kein scharfer Verstand in ihm, wenn er sogar nach neun Jahren nicht ohne die Empfindung einer Kränkung daran zurückdenken konnte. Unter anderem veranlaßte man ihn, zwei oder drei Kollektivproteste (wogegen – das wußte er selbst nicht) gleichfalls zu unterschreiben; jedenfalls tat er’s. Auch Warwara Petrowna wurde zur Hergabe ihres Namens veranlaßt, und auch sie unterschrieb einen Protest gegen irgendein „schändliches Verhalten“. Übrigens hielt sich die Mehrzahl dieser neuen Leute aus irgendeinem Grunde für verpflichtet, auf Warwara Petrowna, wenn sie auch ihre Abende besuchten, doch mit Verachtung und unverhohlenem Spott herabzusehen. Stepan Trophimowitsch deutete mir gegenüber später in bitteren Augenblicken an, daß sie in eben jener Zeit begonnen habe, ihn zu beneiden. Sie begriff natürlich, daß diese Leute kein Umgang für sie waren, aber trotzdem empfing sie sie bei sich mit eigensinnigem Eifer, mit aller weiblich-hysterischen Ungeduld, und hörte vor allem nicht auf, etwas zu erwarten. An den Abenden in ihrem Salon sprach sie wenig, obschon sie zu sprechen verstanden hätte; aber sie hörte um so aufmerksamer zu. Man sprach über alles Mögliche: von der Abschaffung der Zensur und des Buchstabens Jerr als harten Endzeichens, von der Ersetzung der russischen Schriftzeichen durch lateinische, sprach über die Tags zuvor erfolgte Verschickung irgend jemandes nach Sibirien, über einen Skandal, der sich in der Passage zugetragen, über die Vorteile einer Aufteilung Rußlands nach seinen Völkerschaften, unter freiem föderativem Zusammenschluß, über die Abschaffung des Heeres und der Flotte, über die Wiederherstellung Polens bis zum Dnjepr, über die Bauernbefreiung und die Proklamationen, über die Abschaffung des Erbrechts, der Familie, der Kinder und der Geistlichen, über die Frauenrechte, über das Haus des Verlegers Krajewski, das niemand Herrn Krajewski verzeihen konnte, usw. usw. Es war klar, daß sich in dieser Kohorte der neuen Menschen viele Spitzbuben befanden, aber zweifellos gab es auch viele ehrliche, sogar sehr anziehende Menschen unter ihnen, trotz gewisser wunderlicher Nuancen. Die ehrlichen waren viel unverständlicher als die unehrlichen und frechen; aber es ließ sich nicht feststellen, welche Art die andere in der Hand hatte. Als Warwara Petrowna ihre Absicht, eine Zeitschrift herauszugeben, ausgesprochen hatte, strömten noch viel mehr Leute herbei. Doch sofort hagelten ihr auch schon Beschuldigungen ins Gesicht, sie sei eine Kapitalistin und beute die Arbeitenden aus. Der Unverfrorenheit der Anklagen kam nur ihre Unverhofftheit gleich. Da geschah es aber, daß der hochbetagte General Iwan Iwanowitsch Drosdoff, der ehemalige Freund und Regimentskamerad des verstorbenen Generals Stawrogin, ein überaus ehrenwerter Mann (in seiner Art) und den wir hier alle gekannt haben, ein bis zum Äußersten starrköpfiger und reizbarer Mensch, der entsetzlich viel zu essen pflegte und den Atheismus über alles fürchtete, – daß dieser General an einem der Abende bei Warwara Petrowna mit einem berühmten Jüngling in Streit geriet. Und schon nach den ersten Worten warf ihm dieser ins Gesicht: „Wenn das wirklich Ihre Ansicht ist, dann sind Sie ja ein General,“ in dem Sinne, als könne er ein noch stärkeres Schimpfwort als die Bezeichnung „General“ nicht finden. Iwan Iwanowitsch brauste maßlos auf: „Jawohl, mein Herr, ich bin ein General und Generalleutnant und habe meinem Kaiser gedient, du aber, mein Bester, bist nur ein Bengel und ein Gottesleugner!“ Es kam zu einem höchst unstatthaften Skandal. Am anderen Tage wurde der Fall in der Presse entsprechend behandelt, und man begann Unterschriften zu einem Kollektivprotest gegen Warwara Petrownas „schändliches Verhalten“ zu sammeln, da sie dem General nicht hatte die Tür weisen wollen, was sie sofort hätte tun müssen. Und in einem illustrierten Blatt erschien eine Karikatur, die Warwara Petrowna, den General und Stepan Trophimowitsch boshaft als drei reaktionäre Freunde darstellte; dem Bilde waren auch Verse beigefügt, die der „Dichter aus dem Volk“ eigens zu diesem Ereignis verfaßt hatte. Ich bemerke hierzu von mir aus, daß allerdings viele Personen im Generalsrang die Gewohnheit haben, komischerweise zu sagen: „Ich habe meinem Kaiser gedient“ ... also ganz als hätten sie nicht denselben Kaiser wie wir einfachen Untertanen des Zaren, sondern einen eigenen, besonderen für sich.
Natürlich war es danach nicht möglich, noch länger in Petersburg zu bleiben, zumal auch Stepan Trophimowitsch endgültig Fiasko machte. Er hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und von den Rechten der Kunst zu reden begonnen, da aber war das Lachen über ihn noch lauter geworden. Bei seinem letzten Vortrag gedachte er durch kulturfordernde Redekunst zu wirken, da er sich einbildete, damit die Herzen rühren zu können, doch rechnete er gleichzeitig auf den Respekt vor seinem Märtyrertum als „Verbannter“. So gab er denn die Wertlosigkeit und Lächerlichkeit des Wortes „Vaterland“ ohne weiteres zu, erklärte sich auch mit dem Gedanken, daß die Religion schädlich sei, einverstanden, doch dafür verkündete er laut und mit Entschlossenheit, daß Stiefel etwas Geringeres seien als Puschkin, und zwar etwas bedeutend Geringeres. Er wurde erbarmungslos ausgepfiffen, so daß er auf der Stelle, vor dem ganzen Publikum, ohne von der Rednerbühne hinabzusteigen, in Tränen ausbrach. Warwara Petrowna brachte ihn halbtot nach Hause. „On m’a traité comme un vieux bonnet de coton!“[1] soll er nur noch wie benommen gestammelt haben. Sie pflegte ihn die ganze Nacht, gab ihm Kirschlorbeertropfen und tröstete ihn unentwegt bis zum Morgen mit den Versicherungen: „Sie sind noch wertvoll, Ihre Stunde wird noch kommen, man wird Sie anerkennen ... an einem anderen Ort.“
Am folgenden Tage aber erschienen bei Warwara Petrowna bereits früh morgens fünf Literaten, von denen ihr drei ganz unbekannt waren, ja die sie noch nie auch nur gesehen hatte. Mit strenger Miene teilten sie ihr mit, sie hätten die Angelegenheit der von ihr geplanten Zeitschrift geprüft und in der Sache einen Beschluß gefaßt. Warwara Petrowna hatte entschieden niemanden beauftragt, diese Angelegenheit zu prüfen und über ihre Zeitschrift etwas zu beschließen. Der Beschluß bestand darin, daß Warwara Petrowna, nachdem sie die Zeitschrift gegründet, diese unverzüglich mitsamt dem Kapital ihnen zu übergeben habe, mit den Rechten einer freien Handelsgesellschaft; sie selbst aber solle nach Skworeschniki zurückkehren und nicht vergessen, Stepan Trophimowitsch mitzunehmen, der mit seinen Anschauungen „veraltet“ sei. Aus Zartgefühl erklärten sie sich bereit, ihr das Eigentumsrecht zuzuerkennen und ihr alljährlich ein Sechstel des Gewinnes zuzusenden. Das Rührendste war dabei, daß von diesen fünf Menschen vier ganz gewiß nicht die geringste eigennützige Absicht hatten und nur um der „allgemeinen Sache“ willen diese Mühe auf sich nahmen.
„Wir waren wie betäubt, als wir abfuhren,“ erzählte Stepan Trophimowitsch, „ich konnte noch überhaupt nichts fassen, und ich erinnere mich, zum Rattern der Räder murmelte ich immer nur vor mich hin: ‚Wjek, Wjek, Wjek ... Ljeff Kambeck–beck–beck ... Wjek, Wjek, Wjek ...‘[15] und der Teufel weiß was noch alles, bis wir in Moskau eintrafen. Erst in Moskau kam ich wieder zu mir – als hätte ich dort tatsächlich etwas anderes gefunden? Oh, meine Freunde!“ rief er vor uns manchmal ergriffen aus, „Sie können sich ja gar nicht vorstellen, welch eine Trauer und welch eine Wut einem die ganze Seele erfüllen, wenn die große Idee, die Sie schon lange heilig halten, von Unwissenden aufgegriffen und zu ebensolchen Dummköpfen, wie jene selbst sind, auf die Straße hinausgeschleppt wird, und plötzlich begegnet man ihr schon auf dem Trödelmarkt, wo sie kaum wiederzuerkennen ist, im Schmutz, unsinnig aufgestellt, schief, ohne jede Proportion, ohne Harmonie, als Spielzeug dummer Kinder! Nein! Zu unserer Zeit war es nicht so, unser Streben ging nicht nach der Richtung. Nein, nein, ganz und gar nicht nach der Richtung. Ich erkenne nichts wieder ... Aber unsere Zeit wird von neuem anbrechen und wird alles Wackelnde, Gegenwärtige wieder auf den festen Weg lenken. Denn was sollte sonst wohl werden? ...“
Gleich nach ihrer Rückkehr aus Petersburg schickte Warwara Petrowna ihren Freund ins Ausland: „zur Erholung“; aber es tat auch not, daß sie sich für einige Zeit voneinander trennten, das fühlte sie. Stepan Trophimowitsch fuhr mit Entzücken ab. „Dort werde ich auferstehen!“ rief er aus, „dort werde ich mich nun endlich der Wissenschaft zuwenden!“ Doch schon in den ersten Briefen aus Berlin begann wieder das alte Lied: „Mein Herz ist zerrissen,“ schrieb er an Warwara Petrowna, „ich kann nichts vergessen! Hier in Berlin hat mich alles an das Alte erinnert, an die Vergangenheit, an die ersten Begeisterungen und die ersten Qualen. Wo ist sie? Wo seid ihr jetzt beide? Wo seid ihr, meine beiden Engel, deren ich niemals wert war? Und wo ist mein Sohn, mein geliebter Sohn? Und schließlich, wo bin ich, ich selbst, wo ist mein früheres Ich, das stählern an Kraft und wie ein Fels unerschütterlich war, während jetzt irgendein Andrejeff, c’est à dire un rechtgläubiger Narr mit einem Bart, peut briser mon existence en deux“[2] usw. usw. Was diesen Sohn betrifft, so ist hierzu zu bemerken, daß er ihn in seinem ganzen Leben nur zweimal gesehen hatte: das erstemal, als der Sohn geboren wurde, und das zweitemal gerade jetzt in Petersburg, wo der junge Mann sich zum Eintritt in die Universität vorbereitete. Erzogen worden war der Knabe, wie bereits erwähnt, von Tanten im Gouvernement O..., 700 Werst von Skworeschniki (auf Warwara Petrownas Kosten). Und was den erwähnten Andrejeff betrifft, so war das ganz einfach unser hiesiger Kaufmann, ein Ladenbesitzer, ein großer Sonderling, archäologischer Autodidakt und leidenschaftlicher Sammler russischer Altertümer, der manchmal Stepan Trophimowitsch in Kenntnissen zu überbieten suchte, doch vor allem über Gesinnungsfragen mit ihm debattierte. Dieser achtbare Kaufmann mit grauem Bart und in Silber gefaßter großer Brille schuldete Stepan Trophimowitsch noch 400 Rubel für einige Dessjätinen Wald, die er auf dessen kleinem (an Skworeschniki grenzenden) Gute zum Abholzen gekauft hatte. Obschon nun Stepan Trophimowitsch von Warwara Petrowna fast verschwenderisch mit Mitteln zu dieser Reise ausgestattet worden war, hatte er auf diese 400 Rubel doch noch besonders gerechnet, wahrscheinlich für seine geheimen Ausgaben, und er war fast in Tränen ausgebrochen, als Andrejeff ihn bat, sich noch einen Monat zu gedulden. Übrigens hatte Andrejeff durchaus ein Anrecht auf einen solchen Aufschub, da er die ersten Raten alle fast ein halbes Jahr vor dem Termin bezahlt hatte, weil das Geld damals von Stepan Trophimowitsch gerade dringend benötigt worden war. Jenen ersten Brief Stepan Trophimowitschs aus Berlin las Warwara Petrowna mit Spannung, unterstrich mit dem Bleistift den Ausruf „Wo seid ihr jetzt beide?“ versah den Brief mit dem Datum und verschloß ihn in die Schatulle. Er hatte natürlich an seine beiden verstorbenen Frauen gedacht. In dem zweiten Brief aus Berlin gab es eine Variation des Liedes: „Ich arbeite täglich zwölf Stunden,“ („wenn er doch wenigstens elf geschrieben hätte,“ murmelte Warwara Petrowna), „stöbere in den Bibliotheken umher, vergleiche, mache Auszüge, scheue keinen Weg; war bei den Professoren. Habe die Bekanntschaft mit der reizenden Familie Dundassoff erneuert. Wie entzückend Nadjéshda Nikolájewna selbst jetzt noch ist! Sie läßt Sie grüßen. Ihr junger Gatte und alle drei Neffen sind gleichfalls in Berlin. Abends Unterhaltung mit der Jugend, meist bis zum Morgengrauen; unsere Nächte sind nahezu attisch, jedoch natürlich nur was Feinheit und Geschmack anlangt; alles Höhere; viel Musik, spanische Motive, Pläne einer Erneuerung der Menschheit, die Idee der ewigen Schönheit, sixtinische Madonna, Licht mit Durchbrüchen der Finsternis, aber auch die Sonne hat Flecken! Oh, mein Freund, Sie mein edler, treuer Freund! Mit meinem Herzen bin ich bei Ihnen und der Ihrige; mit Ihnen allein ginge ich überall hin, en tout pays, und wäre es selbst dans le pays de Makar et de ses veaux,[3] von welchem Lande wir in Petersburg vor unserer Abreise, Sie erinnern sich wohl noch, so zitternd gesprochen haben. Denke jetzt lächelnd daran zurück. Als ich die Grenze überschritten hatte, fühlte ich mich in Sicherheit, ein seltsames, neues Empfinden, zum erstenmal nach so langen Jahren ...“ usw. usw.
„Alles Unsinn!“ urteilte Warwara Petrowna, indem sie auch diesen Brief zu den anderen legte. „Wenn sie bis zum Morgenrot attische Nächte verleben, dann wird er doch nicht zwölf Stunden über den Büchern sitzen. War er etwa betrunken, als er das schrieb? Was fällt dieser Dundassowa ein, mich grüßen zu lassen? Übrigens, mag er sich amüsieren ...“
Der Satz „dans le pays de Makar et de ses veaux“ sollte bedeuten: „wohin Makar die Kälber nicht getrieben hat“[16]. Stepan Trophimowitsch übersetzte manchmal auf die verdrehteste Weise russische Sprichwörter und Redensarten ins Französische, obschon er sie zweifellos besser zu deuten und zu übersetzen verstanden hätte; aber er tat das aus Vorliebe zu einer gewissen Nonchalance und fand es witzig.
Doch von dem „Amüsieren“ hatte er bald genug, nicht einmal vier Monate hielt er es aus und kam nach Skworeschniki zurückgeflogen. Seine letzten Briefe bestanden fast ausschließlich aus Ergüssen der gefühlvollsten Liebe zu seinem „abwesenden Freunde“, und waren buchstäblich von Tränen der Sehnsucht verwischt. Es gibt Naturen, die außerordentlich am Hause hängen, ganz wie die Stubenhündchen. Das Wiedersehen der Freunde war eine freudige Hochspannung. Nach zwei Tagen aber verlief alles wieder nach alter Art, und sogar noch langweiliger als früher. „Mein Freund,“ sagte Stepan Trophimowitsch nach vierzehn Tagen zu mir, aber als größtes Geheimnis, „mein Freund, ich habe etwas für mich furchtbar ... Neues entdeckt: Je suis un einfacher Schmarotzer et rien de plus! Mais r–r–rien de plus!“[4]
Darauf trat eine stille Zeit ein und dauerte fast diese ganzen neun Jahre. Die hysterischen Ausbrüche mit dem Geschluchze an meiner Schulter wiederholten sich zwischendurch zwar regelmäßig, störten aber sonst keineswegs unser Wohlbehagen. Ich wundere mich eigentlich nur, daß Stepan Trophimowitsch in dieser Zeit nicht dick wurde. Nur seine Nase rötete sich ein wenig und seine Großmut nahm noch zu. Allmählich bildete sich um ihn ein Kreis von Freunden, der übrigens immer klein blieb. Warwara Petrowna kümmerte sich wohl nur wenig um diesen Kreis, aber wir erkannten sie doch alle als unsere Patronesse an. Nach der Petersburger Enttäuschung hatte sie sich endgültig in unserem Gouvernement niedergelassen: im Winter lebte sie in ihrem großen Hause in der Stadt, im Sommer draußen auf ihrem Gute. Nie vorher hatte sie eine solche gesellschaftliche Bedeutung und soviel Einfluß gehabt, wie in diesen Jahren, das heißt, bis zur Ernennung des neuen, unseres jetzigen Gouverneurs. Dessen Vorgänger dagegen, der unvergeßliche, weiche Iwan Ossipowitsch, war mit ihr nah verwandt, und nicht umsonst hatte sie ihm manche Wohltat erwiesen. Seine Frau zitterte geradezu bei dem Gedanken, sie könne Warwara Petrowna irgendwie mißfallen, und so grenzte denn, nach ihrem Beispiel, die Ehrerbietung der städtischen Kreise vor Warwara Petrowna fast schon an sündhaften Götzendienst. Bei solchen Zuständen hatte es natürlich auch Stepan Trophimowitsch gut. Er war Mitglied des Klubs, verlor würdevoll im Kartenspiel und erwarb sich die allgemeine Achtung, wenn auch viele in ihm nur einen „Gelehrten“ sahen. Späterhin, als Warwara Petrowna ihm eine eigene Wohnung zu beziehen gestattete, war unser Verkehr noch zwangloser. Wir versammelten uns etwa zweimal wöchentlich bei ihm, und dann gab es lustige Abende, besonders wenn er mit dem Champagner nicht kargte. Er bezog ihn von dem bereits erwähnten Andrejeff und die Rechnungen wurden halbjährlich von Warwara Petrowna bezahlt. Der Zahlungstag war dann allerdings fast immer auch ein Tag der Cholerine.
Das älteste Mitglied des Freundeskreises war Liputin, ein Gouvernementsbeamter in nicht mehr jungen Jahren, sehr liberal; in der Stadt galt er für einen Atheisten. Verheiratet war er zum zweiten Male, mit einer jungen und sehr netten Frau, die sogar eine Mitgift in die Ehe gebracht hatte. Außerdem hatte er drei halberwachsene Töchter. Diese ganze Familie hielt er in Gottesfurcht und hinter Schloß und Riegel, war sehr geizig und hatte sich von seinem Gehalt ein kleines Haus gekauft und sogar ein Kapital erspart. Er war ein unruhiger Mensch, dazu als Beamter nur von niedriger Rangklasse; in der Stadt wurde er nicht sonderlich geachtet und die bessere Gesellschaft verkehrte nicht mit ihm. Überdies war er ein berüchtigtes Klatschmaul und schon mehr als einmal dafür bestraft worden, sogar schmerzhaft, das erstemal von einem Offizier, ein anderes Mal von einem achtbaren Familienvater und Gutsbesitzer. Wir dagegen liebten seinen scharfen Verstand, seine Wißbegier, seine eigentümliche boshafte Lustigkeit. Warwara Petrowna mochte ihn nicht, aber er verstand es immer irgendwie, sich ihr anzupassen.
Auch Schatoff, ein anderer aus diesem Kreise, der jedoch erst im letzten Jahre in ihn eintrat, erfreute sich nicht der besonderen Zuneigung Warwara Petrownas. Schatoff war früher Student gewesen, war aber nach einem Studentenkrawall relegiert worden. Auf die Welt war er noch als Warwara Petrownas Leibeigener gekommen, als Sohn ihres verstorbenen Kammerdieners Pawel Fjodoroff, weshalb sie sich seiner besonders angenommen und ihn als Knaben von Stepan Trophimowitsch hatte unterrichten lassen. Sie mochte ihn nicht wegen seines Stolzes und seiner Undankbarkeit und konnte es ihm nicht verzeihen, daß er nach seiner Relegation nicht sofort nach Skworeschniki zurückgekehrt war. Ja, auf ihren eigens deshalb geschriebenen Brief an ihn hatte er seinerzeit überhaupt nicht geantwortet, sondern es vorgezogen, in der Familie eines gebildeteren Kaufmanns Kinder zu unterrichten und mit ihr ins Ausland zu fahren, mehr als Kinderwärter, denn als Erzieher. Zugleich jedoch fuhr eine Gouvernante mit, ein junges, lebhaftes russisches Fräulein, und als der Kaufmann diese nach zwei Monaten, wegen „freier Anschauungen“ wegjagte, zog es auch Schatoff vor, sich langsam davon zu machen, ihr nach Genf nachzureisen und sich dort mit ihr trauen zu lassen. In Genf verlebten sie ungefähr drei Wochen zusammen, dann aber trennten sie sich, als freie Menschen, die durch nichts aneinander gebunden waren – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie kein Geld hatten. Schatoff trieb sich darauf noch eine Weile in Europa umher, lebte Gott weiß wovon: man sagt, er habe auf der Straße Stiefel geputzt und sei in einer Hafenstadt Lastträger gewesen. Schließlich aber kehrte er doch in seine Heimatstadt zurück, vor knapp einem Jahre, und zog zu seiner alten Tante, die aber bereits nach einem Monat starb. Zu seiner Schwester Dascha, Warwara Petrownas Zögling und besonderem Liebling, die bei ihr wie eine gesellschaftlich Gleichstehende lebte, hatte er nur seltene und entfernte Beziehungen. Unter uns war er immer finster und schweigsam, und nur zuweilen, wenn man an seine Überzeugungen rührte, war er von einer krankhaften Reizbarkeit und dann sehr unvorsichtig in seinen Äußerungen. „Schatoff muß man zuerst anbinden, wenn man mit ihm disputieren will,“ pflegte Stepan Trophimowitsch zu scherzen; aber er liebte ihn. Im Auslande hatte Schatoff einige seiner sozialistischen Überzeugungen vollständig geändert und war zum entgegengesetzten Extrem übergegangen. Er war eines jener idealen russischen Geschöpfe, die plötzlich von irgendeiner starken Idee getroffen und auf der Stelle gleichsam zu Boden gedrückt werden von ihrer Schwere, manchmal sogar für immer. Sie sind niemals imstande, mit ihr fertig zu werden, sondern beginnen sogleich leidenschaftlich an sie zu glauben, und so vergeht dann ihr ganzes Leben wie in den letzten Krämpfen unter einem auf ihnen lastenden Steine, der sie halbwegs schon erdrückt hat. Schatoffs Äußeres entsprach vollkommen seinen Überzeugungen: er war plump, blond, stark behaart, von niedrigem Wuchs, mit breiten Schultern, hatte dicke Lippen, sehr dichte, überhängende, weißblonde Augenbrauen, eine finstere Stirn, unfreundlichen, hartnäckig gesenkten, und sich gleichsam wegen irgendetwas schämenden Blick. Sein Haupthaar bildete an einer Stelle einen Büschel, der sich um keinen Preis ankämmen ließ und daher immer in die Höhe stand. Er war ungefähr sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt. „Ich wundere mich nicht mehr darüber, daß seine Frau von ihm weggelaufen ist,“ meinte Warwara Petrowna einmal, nachdem sie ihn aufmerksam gemustert hatte. Dabei bemühte sich Schatoff, trotz seiner großen Armut, wenigstens immer sauber gekleidet zu sein. Nach seiner Rückkehr hatte er Warwara Petrowna wieder nicht um Unterstützung gebeten, sondern sich durchgeschlagen, so gut es eben gehen wollte; er arbeitete bei Kaufleuten oder sonstwie. Einmal saß er in einem Laden; darauf sollte er als Gehilfe des Transportführers mit einem Frachtschiff wegfahren, aber da erkrankte er kurz vor der Abfahrt. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, welch einen Grad von Armut Schatoff zu ertragen fähig war, und sogar ohne es zu merken. Nach der Krankheit übersandte ihm Warwara Petrowna heimlich und ungenannt hundert Rubel. Er erfuhr aber schließlich, von wem die Summe stammte, sann lange nach, nahm sie dann doch an und ging geraden Weges zu Warwara Petrowna, um sich bei ihr zu bedanken. Sie empfing ihn herzlich, aber auch diesmal enttäuschte er schmählich ihre Erwartungen: er saß ihr nur fünf Minuten gegenüber, schwieg fast die ganze Zeit, sah zu Boden, lächelte blöde, und plötzlich, gerade an der interessantesten Stelle des Gesprächs, stand er auf, machte eine schiefe und ungeschickte Verbeugung, schämte sich dabei zu Tode und – krach! hinter ihm lag Warwara Petrownas kostbares und kunstvolles Nähtischchen zerschlagen am Boden, und Schatoff verließ das Zimmer mehr tot als lebendig. Liputin tadelte ihn wegen der ganzen Geschichte heftig: einmal, weil er die hundert Rubel von seiner früheren Herrin und Despotin nicht mit Verachtung zurückgewiesen hatte und dann, weil er auch noch zur Danksagung hingegangen war. Schatoff wohnte am äußersten Ende der Stadt und er sah es nicht gern, wenn ihn jemand, selbst von uns, besuchte. Zu den Abenden bei Stepan Trophimowitsch erschien er regelmäßig und lieh dann Bücher und Zeitungen von ihm.
Ein anderer aus unserem Kreise, ein gewisser Wirginski, erinnerte, obgleich er scheinbar in allem Schatoffs vollständiges Gegenteil war, innerlich doch sehr an ihn. Es war das ein hiesiger Beamter, gleichfalls ein „Ehemann“, ein bedauernswerter junger Mensch von schon dreißig Jahren, mit bedeutenden Kenntnissen, die er größtenteils auf autodidaktischem Wege erworben hatte. Auch Wirginski war arm, dabei verheiratet, und obendrein noch gezwungen, Tante und Schwester seiner Frau zu ernähren. Diese drei Damen teilten die allerneuesten Anschauungen, nur daß sie bei ihnen etwas vulgär herauskamen, gleich „auf die Straße geschleppten Ideen“, wie sich Stepan Trophimowitsch einmal bei einem anderen Anlaß ausdrückte. Sie schöpften alles aus Büchern und waren jederzeit bereit, alles, was noch irgendwie unmodern war, zum Fenster hinaus zu werfen – wenn nur aus den fortschrittlichen Winkeln der Hauptstädte das zu tun angeraten wurde. Madame Wirginskaja hatte als Mädchen lange in Petersburg gelebt; jetzt war sie Hebamme in unserer Stadt. Wirginski selbst war ein Mensch von seltener Herzensreinheit, und nie in meinem Leben habe ich eine ehrlichere Begeisterung gesehen. „Niemals, niemals werde ich von diesen lichten Hoffnungen lassen,“ sagte er zu mir mit leuchtenden Augen. Von diesen „lichten Hoffnungen“ sprach er stets nur leise mit Wonnegefühl und flüsternd, wie von einem Geheimnis. Er war ziemlich hoch von Wuchs, aber sehr dünn und schmal in den Schultern, blaß, mit sehr spärlichem, leicht rötlichem Haar. Den oft recht hochmütigen Spott Stepan Trophimowitschs über die eine oder andere seiner Meinungen ertrug er sanftmütig, doch zuweilen widersprach er ihm sehr ernst und setzte ihn durch seine Einwände in Verlegenheit. Im übrigen ging Stepan Trophimowitsch freundlich mit ihm um, ja und überhaupt verhielt er sich zu uns allen väterlich.
„Alle seid ihr von den ‚unausgebrüteten‘,“ bemerkte er einmal scherzhaft zu Wirginski, „wenn ich auch gerade an Ihnen, Wirginski, nicht diese Be–schränkt–heit bemerkt habe, wie ich sie in Petersburg chez ces séminaristes[5] angetroffen; aber trotzdem sind Sie unausgebrütet. Schatoff möchte furchtbar gern ausgebrütet sein, aber auch er ist unausgebrütet.“
„Und ich?“ fragte Liputin.
„Sie, – Sie sind einfach die goldene Mitte, die sich überall einlebt ... auf ihre Art.“ Liputin schwieg gekränkt.
Man erzählte sich von Wirginski, und leider war es nur zu glaubwürdig, was man sich erzählte, seine Frau habe ihm bereits nach dem ersten Jahr ihrer Ehe eines schönen Tages mitgeteilt, daß er von nun an abgesetzt sei, und daß ein gewisser Herr Lebädkin seine Stelle einnehmen werde. Dieser Herr Lebädkin, ein Zugereister, stellte sich später als eine sehr fragwürdige Erscheinung heraus, die vor allem nicht das geringste Recht auf den sich selber beigelegten Titel eines Hauptmanns a. D. hatte. Was er verstand, das war lediglich den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und den größten Unsinn zu schwatzen. Er war dabei taktlos genug, sofort zu Wirginskis überzusiedeln, freute sich hier vor aller Welt des freien Tisches und begann zu guter Letzt noch, den Hausherrn von oben herab zu behandeln. Man behauptete übrigens, daß Wirginski seiner Frau, nachdem sie ihm jene Mitteilung gemacht, geantwortet habe: „Mein Freund, bis jetzt habe ich dich nur geliebt, aber von nun ab achte ich dich.“ In Wirklichkeit wird wohl kaum ein so altrömischer Ausspruch gefallen sein, und manche behaupten denn auch, daß er im Gegenteil schrecklich geweint habe. Eines Tages, etwa zwei Wochen nach seiner Absetzung, begaben sie sich alle, die ganze „Familie“, in das Wäldchen vor der Stadt, um dort mit Bekannten Tee zu trinken. Wirginski war geradezu fieberhaft lustig gestimmt und beteiligte sich am Tanz; doch plötzlich, und zwar ohne jeden vorhergegangenen Streit, packte er den Hünen Lebädkin, der solo einen Cancan tanzte, mit beiden Händen an den Haaren, riß ihn nieder und begann ihn kreischend, schreiend und weinend zu zerren und zu hauen. Der Hüne erschrak dermaßen, daß er sich nicht einmal wehrte, und solange der andere ihn prügelte, fast nicht muckste; nachher freilich spielte er dann mit dem ganzen Feuer eines edlen Menschen den Beleidigten. Wirginski bat seine Frau die ganze Nacht auf den Knien um Verzeihung, doch die ward ihm nicht gewährt, da er sich immerhin nicht bereit erklärte, auch Lebädkin um Entschuldigung zu bitten; außerdem wurde ihm Mangel an Überzeugungstreue und Dummheit vorgeworfen; letzteres deshalb, weil er „während einer Auseinandersetzung mit einer Frau“ vor dieser auf den Knien gelegen. Der „Hauptmann“ verschwand bald darauf und erschien erst in allerletzter Zeit wieder in unserer Stadt, mit seiner Schwester und mit neuen Absichten; doch davon später. Es war also kein Wunder, daß der arme „Familienmensch“ bei uns Ablenkung suchte und ein Bedürfnis nach unserer Gesellschaft hatte. Von seinen häuslichen Angelegenheiten sprach er bei uns übrigens nie. Nur einmal, als er mit mir von Stepan Trophimowitsch heimging, war es, als wollte er etwas über seine Lage verlauten lassen, doch schon im nächsten Augenblick rief er, indem er meine Hand ergriff, flammend aus: „Aber das tut ja nichts, das ist ja nur eine Privatangelegenheit; das stört doch die ‚allgemeine Sache‘ nicht im geringsten, nicht im geringsten!“
Es kamen auch noch andere, mehr zufällige Gäste zu unseren Abenden: beispielsweise der kleine Jude Lämschin, ferner ein Hauptmann Kartusoff. Vorübergehend kam manchmal auch noch ein wißbegieriger alter kleiner Herr, aber der starb. Einmal führte Liputin einen verbannten polnischen Geistlichen, Slonzewski, bei uns ein, und anfangs ließen wir ihn aus Grundsatz an unseren Abenden teilnehmen, dann aber lehnten wir ihn doch ab.
Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unser Kreis sei eine Pflanzstätte der Freigeisterei, der Sittenverderbnis und der Gottlosigkeit; ja eigentlich behauptete sich dieser Ruf sogar die ganze Zeit. Und dabei gab es bei uns doch nur das allerunschuldigste, liebe, echt russische, heitere, liberale Geschwätz. Der „höhere Liberalismus“ und der „höhere Liberale“, d. h. ein Liberaler ohne jedes Ziel, sind ja nur in Rußland möglich. Stepan Trophimowitsch brauchte, wie jeder wortwitzige Mensch, ganz einfach einen Zuhörer, und außerdem war ihm das Bewußtsein unentbehrlich, daß er die höchste Pflicht, Ideen zu verbreiten, erfülle. Und schließlich mußte man doch jemanden haben, mit dem man Champagner trinken und so beim Glase eine gewisse Art heiterer Gedanken über Rußland und den „russischen Geist“, über Gott im allgemeinen und den russischen Gott im besonderen austauschen konnte. Aber auch dem Stadtklatsch waren wir ganz und gar nicht abgeneigt und gelangten manchmal zu strengen, hochmoralischen Verurteilungen. Wir gerieten auch auf das Thema der Weltgeschichte, erörterten ernst das zukünftige Schicksal Europas und der Menschheit; prophezeiten doktrinär, daß Frankreich nach dem Cäsarismus mit einem Schlage auf die Stufe eines Staates zweiten Ranges herabsinken werde, und waren vollkommen überzeugt, daß das ungeheuer schnell und leicht geschehen könne. Dem Papst hatten wir schon längst die Rolle eines gewöhnlichen Metropoliten in dem geeinigten Italien vorausgesagt, und waren vollkommen überzeugt, daß diese ganze tausendjährige Frage in unserem Jahrhundert der Humanität, der Industrie und der Eisenbahnen nur eine Lappalie sei. Aber der „höhere russische Liberalismus“ verhält sich ja nun einmal nicht anders zu der Sache. Manchmal sprach Stepan Trophimowitsch auch über die Kunst, und zwar sehr gut, bloß leider ein wenig zu abstrakt. Hin und wieder kam er auch auf seine Jugendfreunde zu sprechen – lauter Persönlichkeiten, die in der Geschichte unserer Entwicklung ihren Platz haben –, er gedachte ihrer mit Rührung und Verehrung, aber ein wenig auch wie mit Neid. Wurde es einmal gar zu langweilig, dann setzte sich das Jüdchen Lämschin (ein kleiner Postbeamter), der meisterhaft Klavier spielte, an das Instrument, und zwischen den Stücken, die er vortrug, ahmte er in Tönen das Grunzen eines Schweines nach, oder ein Gewitter, oder eine Entbindung mit dem ersten Schrei des Kindes usw., usw.; nur deswegen wurde er auch eingeladen. Hatten wir stark getrunken – und das kam vor, wenn auch nicht oft –, so gerieten wir meist in Begeisterung, und einmal sangen wir sogar im Chor, zu Lämschins Begleitung, die Marseillaise, nur weiß ich nicht, ob das, was dabei herauskam, auch wirklich die Marseillaise war. Den großen Tag des 19. Februar[17] feierten wir natürlich mit Enthusiasmus, und gewöhnten uns diese Feier mit Wein und Toasten auch in den folgenden Jahren noch lange nicht ab. Übrigens: einige Zeit vor dem großen Tage hatte Stepan Trophimowitsch sich angewöhnt, ein paar geschraubte Strophen vor sich hinzumurmeln, die damals allen bekannt waren:
„Es nahen die Männer, die Äxte geschärft,
Bereiten Schreckliches vor!“
Als Warwara Petrowna das einmal vernahm, rief sie: „Was für ein Unsinn!“ und verließ erzürnt das Zimmer. Liputin aber, der gerade zugegen war, bemerkte boshaft zu Stepan Trophimowitsch: „Aber es wäre doch schade, wenn die früheren Leibeigenen den Herren Gutsbesitzern etwas Unangenehmes bereiteten,“ – und er fuhr sich mit dem Zeigefinger um den Hals herum.
„Cher ami,“[6] erwiderte ihm hierauf Stepan Trophimowitsch gutmütig, „glauben Sie mir, daß dieses“ (er wiederholte die Geste um den Hals herum) „nicht den geringsten Nutzen brächte, weder unseren Gutsbesitzern, noch uns anderen insgesamt. Auch ohne Köpfe würden wir nichts herzustellen verstehen, obschon gerade unsere Köpfe uns am meisten hindern, etwas zu verstehen.“
Ich muß bemerken, daß viele bei uns annahmen, am Tage des Manifestes werde etwas Ungewöhnliches geschehen; etwas von der Art, wie es Liputin andeutete. Es scheint, daß auch Stepan Trophimowitsch diese Befürchtungen teilte, und sogar in solchem Maße, daß er kurz vor dem großen Tage Warwara Petrowna plötzlich zu bitten begann, ins Ausland reisen zu dürfen. Aber der große Tag verging, es vergingen noch mehr Tage, und das hochmütige Lächeln erschien wieder auf Stepan Trophimowitschs Lippen. Übrigens äußerte er damals einige bemerkenswerte Gedanken über den Charakter des Russen im allgemeinen und des russischen Bauern im besonderen. Er meinte schließlich:
„Als hitzige Leute sind wir etwas voreilig gewesen mit unseren Bäuerlein. Wir haben sie in Mode gebracht, und ein ganzer Zweig unserer Literatur hat sich mehrere Jahre lang nur mit ihnen abgegeben, wie mit einer neuentdeckten Kostbarkeit. Wir haben Lorbeerkränze auf verlauste Köpfe gesetzt. Das russische Dorf hat uns im Laufe der ganzen tausend Jahre nichts weiter gegeben als den Nationaltanz, den Kamárinski. Hat doch ein hervorragender russischer Dichter, dem es überdies nicht an Scharfsinn fehlte, ausgerufen, als er zum erstenmal die große Rachel auf der Bühne sah: ‚Die Rachel tausche ich nicht gegen einen russischen Bauern ein!‘ Ich bin bereit, noch viel weiter zu gehen: ich würde sogar alle russischen Bauern für die eine Rachel hingeben. Es ist Zeit, nüchterner zu urteilen und nicht unseren einheimischen unfeinen Teergeruch mit bouquet de l’impératrice[7] zu verwechseln.“
Liputin stimmte ihm sofort bei, meinte aber, daß sich zu verstellen und die Bäuerlein zu verherrlichen damals immerhin um der Richtung[18] willen notwendig gewesen sei; daß sogar die Damen der höchsten Gesellschaftskreise bei der Lektüre des „Anton Pechvogel“[19] Tränen vergossen hätten, und manche hätten sogar aus Paris an ihre Gutsverwalter geschrieben, sie sollten von nun an mit den Bauern möglichst human umgehen.
Da geschah es eines Tages, und zum Unglück gerade nach den ersten Gerüchten von Anton Petrowitsch[20], daß es auch in unserem Gouvernement, und nur 15 Werst von Skworeschniki, zu einem gewissen Mißverständnis kam, so daß man in der ersten Hitze ein Militärkommando hinschickte. Über diesen Vorfall regte sich Stepan Trophimowitsch ungeheuer auf. Im Klub schrie er, wir brauchten mehr Militär; er eilte zum Gouverneur, um zu versichern, daß er mit diesen Umtrieben nichts zu schaffen habe, und er bat, ihn nicht in diese Sache hineinzuziehen, auf Grund der Erinnerung an Gewesenes. Zum Glück ging das alles bald vorüber und löste sich in nichts auf; nur mußte ich mich damals doch über Stepan Trophimowitsch wundern.
Drei Jahre später[21] begann man, wie erinnerlich, vom Nationalismus zu sprechen und es bildete sich eine „öffentliche Meinung“. Darüber spottete er sehr.
„Meine Freunde,“ belehrte er uns, „sollte unsere Nationalität neuerdings wirklich geboren oder ‚im Entstehen begriffen‘ sein, wie sie jetzt in den Zeitungen behaupten, dann sitzt sie doch vorläufig gewiß noch in irgend so einer Petrischule[22], über dem deutschen Buch und lernt ihre ewige deutsche Lektion. Daß der Lehrer ein Deutscher ist, das lobe ich. Doch am wahrscheinlichsten dürfte sein, daß nichts geschehen wird und nichts ‚im Entstehen begriffen‘ ist, sondern alles so weitergeht wie ehedem, nämlich einfach unter Gottes Schutz! Meinem Dafürhalten nach genügt das auch für Rußland, pour notre sainte Russie.[8] Zudem sind doch alle diese Nationalismen und das Allslawentum viel zu alt, um neu zu sein. Die Nationalität ist doch bei uns, wenn Sie wollen, noch nie anders in Erscheinung getreten, als in Gestalt eines Einfalls müßiger Klubherren, und zum Überfluß noch eines Moskauer Klubs. Ich rede natürlich nicht von den Zeiten Igors[23]. Und schließlich kommt doch alles nur vom Müßigsein. Jedenfalls bei uns alles vom Müßigsein, auch das Gute, auch das Schöne. Alles von unserem herrschaftlichen, lieben, gebildeten, launenzüchtenden Müßigsein! Dreißigtausend Jahre lang wiederhole ich das schon! Wir verstehen nicht, von eigener Arbeit zu leben. Und was reden sie nur so viel von dieser öffentlichen Meinung, die es bei uns jetzt auf einmal geben soll, – so plötzlich, wie ohne weiteres fertig vom Himmel gefallen? Begreifen die Leute denn wirklich nicht, daß zur Erlangung einer eigenen Meinung vor allen Dingen Arbeit gehört, eigene Mühe, eigener Versuch in der Sache, eigene Erfahrung! Ohne eigene Mühe wird nie etwas erworben. Wenn wir arbeiten werden, werden wir auch eine eigene Meinung haben. Da wir aber niemals arbeiten werden, so wird auch immer die Meinung derjenigen maßgebend sein, die an unserer Statt bisher gearbeitet haben, also die Meinung immer desselben Europa, immer derselben Deutschen, die ja schon seit zwei Jahrhunderten unsere Lehrer sind. Überdies ist Rußland ein viel zu großes Mißverständnis, als daß wir allein es erklären könnten, ohne die Deutschen und ohne Arbeit. Schon seit zwanzig Jahren läute ich die Alarmglocke und rufe zur Arbeit! Ich habe mein Leben dafür hingegeben, um aufzuwecken und zu rufen, und habe geglaubt, ich Tor, daß es nicht vergeblich sei! Jetzt glaube ich das nicht mehr, aber ich werde trotzdem bis zum Schluß läuten, bis man mir den Strang aus der Hand nimmt, um zu meiner Seelenmesse zu läuten!“
Leider stimmten wir ihm damals bei. Aber hört man denn nicht auch jetzt noch oft genug genau solchen „lieben“, „klugen“, „liberalen“, alten, russischen Unsinn?
An Gott glaubte unser Lehrer. „Ich begreife nicht, warum mich hier alle als einen Gottleugner hinstellen?“, sagte er manchmal. „Ich glaube an Gott, mais distinguons:[9] ich glaube an ihn wie an ein Wesen, das sich Seiner in mir nur bewußt wird. Ich kann doch nicht wie Nastassja glauben“ (sein Dienstmädchen), „oder wie irgend so ein begüterter Herr, der nur ‚für alle Fälle‘ glaubt, oder wie unser lieber Schatoff, – übrigens nein, Schatoff kommt hier nicht in Frage. Schatoff glaubt gewaltsam, wie ein Moskauer Slawophile. Was aber das Christentum betrifft, so bin ich, bei all meiner aufrichtigen Hochachtung vor ihm, doch kein Christ. Eher bin ich ein Heide der klassischen Vorzeit, wie es der große Goethe war, oder ein antiker Grieche. Schon dieses Eine, daß das Christentum für das Weib kein Verständnis hatte! – wie das George Sand in einem ihrer genialen Romane so glänzend auseinandergesetzt hat. Und was den Ritus, Fasten und dergleichen betrifft, ja da begreife ich nicht, wen das etwas angeht, wie ich mich dazu verhalte? Mögen unsere hiesigen Denunzianten sich auch noch so sehr bemühen, zum Jesuiten will ich deshalb doch nicht werden. 1847 schrieb Belinski aus dem Auslande an Gogol seinen bekannten Brief, in dem er ihm heftig vorwarf, daß er an ‚irgendeinen Gott‘ glaube. Entre nous soit dit,[10] ich kann mir nichts Komischeres denken, als den Augenblick, da Gogol (der Gogol von damals![24]) diesen Brief las! Ja, das waren doch Männer! Sie liebten doch ihr Volk, sie waren imstande, um des Volkes willen zu leiden, ja sogar alles fürs Volk zu opfern, und doch waren sie gleichzeitig Manns genug, diesem Volk nicht beizupflichten, wenn es galt, die eigene Überzeugung zu wahren, ihm nicht nachsichtig in gewissen Anschauungen zu Gefallen zu reden. Ein Belinski konnte doch nicht in Fastenöl oder in Rettich mit Erbsen das Heil suchen! ...“
Doch hier ergriff Schatoff Partei:
„Nie haben diese Ihre Männer das Volk geliebt, nie um des Volkes willen gelitten und nichts haben sie fürs Volk geopfert, wie sehr sie sich das auch eingebildet haben mögen!“ brummte er unwirsch mit ungeduldigem Ruck, doch gesenktem Blick.
„Was, die sollen das Volk nicht geliebt haben!“ rief Stepan Trophimowitsch entrüstet. „Oh, und wie haben sie Rußland geliebt!“
„Weder Rußland noch das Volk!“ rief nun auch Schatoff erzürnt; seine Augen funkelten. „Man kann nicht lieben, was man gar nicht kennt, sie aber hatten ja vom russischen Volke überhaupt keinen Begriff! Alle diese Männer haben das russische Volk einfach übersehen. Belinski hat genau wie der Wißbegierige in der Kryloffschen Fabel den Elefanten im Museum gar nicht bemerkt, da er ja seine ganze Aufmerksamkeit den französischen sozialistischen Käferchen zuwandte; bei denen ist er auch ewig geblieben. Und dabei war er doch noch der Gescheiteste von euch allen! Und nicht nur übersehen haben Sie alle das Volk, Sie haben sich sogar mit Ekel und Verachtung zu ihm verhalten, schon aus dem einen Grunde, weil Sie sich unter einem Volk einzig das französische Volk vorzustellen vermochten, und selbst von diesem nur die Pariser, und Sie schämten sich, daß das russische Volk nicht ebenso war. Das ist die nackte Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott! Seien Sie versichert, daß alle die, die aufhören, ihr Volk zu verstehen, und die Verbindung mit ihm verlieren, sofort auch den Glauben der Väter verlieren und Atheisten oder Indifferente werden. Ich sage damit nur die Wahrheit! Das ist auch der Grund, weshalb Sie alle und auch wir jetzt alle entweder widerliche Atheisten oder indifferentes, verderbtes Pack sind und nichts weiter! Sie gleichfalls, Stepan Trophimowitsch, ich schließe Sie keineswegs aus, hab’s sogar vor allem in bezug auf Sie gesagt, damit Sie’s wissen!“
Nach einem solchen Monolog (und derartige Ausbrüche kamen bei ihm oft vor) geschah es gewöhnlich, daß Schatoff nach seiner Mütze griff und sofort zur Tür hinaus wollte, in der festen Überzeugung, daß nun alles zu Ende sei und er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stepan Trophimowitsch für immer zerstört habe. Doch der verstand es stets, ihn rechtzeitig zurückzuhalten.
„Ei, sollten wir nicht Frieden schließen, Schatoff, nach all diesen netten Wörtchen?“ pflegte er dann zu ihm zu sagen, indem er ihm von seinem Lehnstuhl aus gutmütig die Hand hinstreckte.
Der plumpe, doch leicht verlegen werdende und sich schämende Schatoff war kein Freund von Zärtlichkeiten. Äußerlich war er ein rauher Mensch, doch innerlich war er, glaube ich, unendlich zartfühlend. Wohl überschritt er oft das Maß, aber er war selbst der erste, der darunter litt. Auf Stepan Trophimowitschs versöhnliche Worte brummte er etwas vor sich hin, trat wie ein Bär auf demselben Fleck von einem Bein auf das andere, schmunzelte plötzlich ganz unvermittelt, legte die Mütze wieder aus der Hand und setzte sich schließlich auf seinen alten Platz, den Blick die ganze Zeit hartnäckig zu Boden gesenkt. Natürlich gab es dann sofort Wein und Stepan Trophimowitsch brachte einen passenden Toast aus, z. B. auf das Andenken eines jener früheren bedeutenden Männer.
Außer Stepan Trophimowitsch gab es auf der Welt noch ein Wesen, an dem Warwara Petrowna nicht weniger hing als an ihm: das war ihr einziger Sohn Nicolai Wszewolodowitsch Stawrogin. Für ihn war seinerzeit Stepan Trophimowitsch als Erzieher angenommen worden. Der Knabe war damals acht Jahre alt und seine Eltern lebten bereits getrennt, so daß das Kind nur unter der Obhut der Mutter heranwuchs. Man muß es Stepan Trophimowitsch lassen: er verstand es, seinen Zögling an sich zu fesseln. Sein ganzes Geheimnis bestand darin, daß er selbst noch ein Kind war. Ich war damals noch nicht hier, er aber bedurfte ja beständig eines Freundes, und er trug kein Bedenken, ein so junges Wesen zu seinem Vertrauten zu machen. Ja, es machte sich ganz von selbst, daß zwischen ihnen nicht der geringste Abstand fühlbar ward. Oft weckte er seinen zehn- oder elfjährigen Freund in der Nacht auf, nur um ihm unter Tränen sein gekränktes Herz auszuschütten oder ihm ein Familiengeheimnis zu enthüllen, ohne gewahr zu werden, daß so etwas denn doch unzulässig war. Sie fielen einander um den Hals und weinten. Von seiner Mutter wußte der Knabe, daß sie ihn sehr liebte; doch er selbst liebte sie wohl kaum. Sie sprach wenig mit ihm, tat ihm selten einen Zwang an, aber ihr aufmerksam ihm folgender Blick wurde von ihm immer krankhaft intensiv gespürt. Den Unterricht und die moralische Erziehung überließ sie übrigens ganz Stepan Trophimowitsch. Damals glaubte sie an ihn noch ohne Einschränkung. Es ist anzunehmen, daß der Lehrer die Nerven seines Zöglings ein wenig angegriffen hat: als dieser mit sechzehn Jahren auf das Lyzeum gebracht wurde, war er schwächlich und blaß, seltsam still und nachdenklich. (Später zeichnete er sich durch außergewöhnliche Körperkraft aus.) Anzunehmen ist ferner, daß die Freunde nachts nicht immer nur über irgendwelche Familiengeschichten weinten. Stepan Trophimowitsch hatte es verstanden, im Herzen seines Freundes die tiefsten Saiten zu berühren, und in ihm das erste, noch unbestimmte Empfinden jener ewigen, heiligen Sehnsucht hervorzurufen, die manche auserwählte Seele, die sie einmal gekostet und erkannt hat, nachher schon nie mehr gegen eine billige Zufriedenheit eintauschen mag. (Es gibt auch solche Liebhaber dieser Sehnsucht, denen sie teurer ist als die vollkommenste Zufriedenheit, selbst wenn eine solche für sie wirklich erreichbar wäre.) Jedenfalls aber war es gut, daß der Zögling und der Erzieher, wenn auch spät, voneinander getrennt wurden.
Während der ersten zwei Jahre im Lyzeum kam der Jüngling in den Ferien nach Haus. Als dann Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch sich in Petersburg aufhielten, fand auch er sich manchmal zu den literarischen Abenden im Salon seiner Mutter ein, hörte zu und beobachtete. Er sprach wenig und war wie immer still und schüchtern. Zu Stepan Trophimowitsch verhielt er sich mit der früheren zarten Aufmerksamkeit, war aber doch etwas zurückhaltender: von hohen Dingen und Erinnerungen an Vergangenes zu sprechen vermied er sichtlich. Als er das Lyzeum absolviert hatte, trat er auf den Wunsch der Mutter beim Militär ein und wurde bald in eines der angesehensten Garde-Kavallerieregimenter aufgenommen. Er kam aber nicht zur Mutter, um sich ihr in der Uniform zu zeigen, und schrieb aus Petersburg immer seltener. Geld schickte ihm Warwara Petrowna ohne zu sparen, obschon die Einnahmen von ihren Gütern nach der Aufhebung der Leibeigenschaft so zurückgegangen waren, daß sie in der ersten Zeit nicht einmal die Hälfte der früheren Summen erhielt. Für die Erfolge ihres Sohnes in der höchsten Petersburger Gesellschaft interessierte sie sich sehr. Was ihr nicht gelungen war, gelang dem jungen, reichen und hoffnungsvollen Offizier ohne weiteres. Er erneuerte Bekanntschaften, an die sie nicht mehr hatte denken können, und überall wurde er mit dem größten Vergnügen aufgenommen. Doch schon sehr bald begannen seltsame Gerüchte ihr zu Ohren zu kommen: es hieß, der junge Mann habe ganz plötzlich und geradezu sinnlos toll zu leben begonnen. Nicht, daß er spiele oder trinke; aber man sprach von einer wilden Zügellosigkeit, von Menschen, die er mit seinen Trabern überfahren hatte, von einer grausamen Rücksichtslosigkeit gegen eine Dame der guten Gesellschaft, mit der er in Beziehungen gestanden und die er dann öffentlich beleidigt habe. Ja, in dieser Sache sei sogar etwas schon gar zu unverhüllt Schmutziges hervorgetreten. Und überhaupt sei er, wie man hinzufügte, ein herausfordernder Streitsucher, bändele an und beleidige dann einfach aus Lust am Beleidigen. Warwara Petrowna regte sich auf und war bekümmert. Stepan Trophimowitsch versicherte ihr, das seien nur die ersten stürmischen Ausbrüche eines allzu reich Veranlagten, das Meer werde sich schon wieder beruhigen, und alles das erinnere nur an die Jugend des Prinzen Heinz, der mit Falstaff, Poins und Mrs. Quickly seine Streiche vollführte. Diesmal rief Warwara Petrowna nicht „Unsinn, alles Unsinn!“ wie sie es sich in der letzten Zeit Stepan Trophimowitschs Auseinandersetzungen gegenüber angewöhnt hatte; im Gegenteil, sie hörte sehr aufmerksam zu, ließ sich alles ausführlich erklären, nahm dann selbst den Shakespeare zur Hand und las überaus achtsam das unsterbliche Werk. Doch die Lektüre beruhigte sie nicht, auch fand sie die Ähnlichkeit nicht so groß. Fieberhaft erwartete sie die Antworten auf mehrere Briefe. Die blieben auch nicht aus; bald traf die unheilvolle Nachricht ein, Prinz Heinz habe fast zu gleicher Zeit zwei Duelle gehabt, sei bei beiden der einzig Schuldige gewesen, habe den einen Gegner auf der Stelle niedergestreckt und den anderen zum Krüppel geschossen und infolgedessen sei er vor Gericht gestellt. Es endete damit, daß er zum Gemeinen degradiert, seiner Rechte beraubt und strafweise in eines der Linien-Infanterieregimenter versetzt wurde, und das war noch als ein besonders gnädiges Urteil zu betrachten.
Im Jahre 1863 gelang es ihm, sich auszuzeichnen; er erhielt das Ehrenkreuz und wurde zum Unteroffizier befördert, dann aber merkwürdig schnell auch zum Offizier. Inzwischen hatte seine Mutter wohl an hundert Briefe mit Bitten und Beschwörungen nach Petersburg geschrieben und sich um seinetwillen sogar manches Demütigende erlaubt. Nach seiner Beförderung nahm der junge Mensch plötzlich seinen Abschied, kam aber wieder nicht nach Skworeschniki und hörte sogar ganz auf, an die Mutter zu schreiben. Man erfuhr schließlich auf Umwegen, daß er sich wieder in Petersburg aufhalte, doch in der früheren Gesellschaft habe man ihn gar nicht mehr gesehen; er habe sich irgendwo gleichsam versteckt. Nachforschungen ergaben, daß er in einer sonderbaren Gesellschaft lebte, sich dem Abschaum der Petersburger Bevölkerung angeschlossen hatte, irgendwelchen stiefellosen Beamten, verabschiedeten Militärs, die in angemessener Form um Almosen baten, Trunkenbolden, deren schmutzige Familien er besuchte, Tage und Nächte in dunklen Spelunken und in Gott weiß was für Winkelgassen zubrachte, heruntergekommen, verlumpt war, und daß ihm das offenbar gefalle. Um Geld bat er seine Mutter nicht; er besaß ja auch selbst ein kleines Gut (den früheren Dorfbesitz des Generals Stawrogin), das immerhin etwas einbrachte und das er, wie verlautete, an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schließlich bat ihn die Mutter doch sehr, zu ihr zu kommen, und Prinz Heinz erschien in unserer Stadt. Damals sah ich ihn zum erstenmal.
Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und ich muß gestehen, seine Erscheinung überraschte mich. Ich hatte erwartet, einen schmutzigen, verkommenen, von Ausschweifungen ausgemergelten, nach Branntwein riechenden Menschen zu erblicken. Statt dessen erblickte ich den elegantesten Gentleman, der mir je zu Gesicht gekommen ist. Tadellos gekleidet und von einer Haltung, wie sie nur ein Herr, der an den feinsten Anstand gewöhnt ist, haben kann. Ich war nicht der einzige, der staunte: es staunte die ganze Stadt, der übrigens Herrn Stawrogins Lebensgeschichte sogar mit solchen Einzelheiten bekannt war, daß man sich kaum zu erklären vermochte, wie diese hier in die Öffentlichkeit hatten gelangen können. Alle unsere Damen verloren den Verstand vor Aufregung über den neuen Gast. Sie teilten sich in zwei schroff entgegengesetzte Parteien: von der einen wurde er vergöttert, von der anderen gehaßt bis zum Blutrachedurst; den Verstand freilich hatten beide Parteien verloren. Für die einen hatte es einen besonderen Reiz, daß sich in seiner Seele vielleicht ein schreckliches Geheimnis barg; anderen gefiel es entschieden, daß er ein Mörder war. Es stellte sich auch heraus, daß er eine überaus annehmbare Bildung und sogar einige wissenschaftliche Kenntnisse besaß. Von letzteren war allerdings nicht viel nötig, um uns in Erstaunen zu setzen; aber er konnte auch über aktuelle und sehr interessante Fragen sprechen und sogar mit auffallender Besonnenheit. Erwähnt sei noch als Seltsamkeit: alle fanden hier, daß er ein überaus vernünftiger Mensch sei. Er war nicht sehr gesprächig, formvollendet ohne Gesuchtheit, erstaunlich bescheiden und dabei kühn und selbstbewußt, wie bei uns sonst niemand. Unsere Stutzer sahen auf ihn mit Neid und kamen neben ihm überhaupt nicht in Betracht. Auch sein Gesicht überraschte mich: das Haar war fast schon gar zu schwarz, die hellen Augen fast schon zu ruhig und klar, die Gesichtsfarbe fast schon zu zart und weiß, die Wangenröte ebenfalls wie ein wenig zu grell und rein, die Zähne wie Perlen, die Lippen wie Korallen, – man sollte meinen, ein bildschöner Mann, und doch war diese Schönheit gleichsam auch abstoßend. Manche sagten, sein Gesicht erinnere an eine Maske; doch übrigens, was wurde nicht alles gesagt. Unter anderem sprach man auch viel von seiner außergewöhnlichen Körperkraft. Dabei war er von Gestalt beinahe hoch gewachsen. Warwara Petrowna blickte mit Stolz auf ihren Sohn, aber immer auch mit Unruhe. Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr – träge, still, ziemlich verdrossen; er verkehrte in der Gesellschaft, und erfüllte mit standhafter Aufmerksamkeit alle Vorschriften unserer Gouvernementsstadt-Etikette. Mit dem Gouverneur war er väterlicherseits verwandt und verkehrte in seinem Hause wie ein naher Verwandter. So vergingen ein paar Monate, und plötzlich zeigte das Tier seine Krallen.
Nebenbei: unser lieber Iwan Ossipowitsch hätte in der guten alten Zeit bei seiner Gastfreiheit einen vorzüglichen Adelsmarschall abgegeben, aber zum Gouverneur in einer so mühevollen Zeit wie die unsrige paßte er mit seiner Arbeitsscheu entschieden nicht. In der Stadt hieß es denn auch immer, nicht er, sondern Warwara Petrowna verwalte das Gouvernement. Das war freilich eine spitze Bemerkung, aber trotzdem eine Unwahrheit. Warwara Petrowna hatte in den letzten Jahren konsequent und bewußt jeden höheren Ehrgeiz aufgegeben und ihre Tätigkeit freiwillig auf ein von ihr selbst streng umgrenztes Gebiet beschränkt. Sie begann sich plötzlich mit der Bewirtschaftung ihres Gutes zu befassen, und in zwei, drei Jahren hatte sie den Ertrag desselben nahezu wieder auf die frühere Höhe gebracht. Statt sich literarischem Ehrgeiz hinzugeben, begann sie zu sparen. Selbst Stepan Trophimowitsch wurde von ihr etwas weiter entfernt, indem sie ihm jetzt endlich eine eigene Wohnung zu mieten erlaubte. Allmählich begann er sie eine prosaische Frau zu nennen, oder scherzhaft seinen „prosaischen Freund“. Selbstredend erlaubte er sich solche Scherze nur in der respektvollsten Form und nachdem er lange einen passenden Augenblick abgewartet hatte.
Wir alle, die wir ihr nahestanden, begriffen natürlich, daß der Sohn für sie gleichsam zu einer neuen Hoffnung, einem neuen Traum geworden war. Ihre leidenschaftliche Liebe zu ihm hatte schon in der Zeit seiner ersten Erfolge in der Petersburger Gesellschaft begonnen, und war dann besonders seit dem Augenblick gewachsen, als sie die Nachricht von seiner Degradation erhalten hatte. Und dabei fürchtete sie ihn doch offensichtlich und schien vor ihm förmlich seine Sklavin zu sein. Man merkte ihr an, daß sie etwas Unbestimmtes, Geheimnisvolles fürchtete, etwas, das auch sie selbst nicht zu nennen vermocht hätte, und oft betrachtete sie heimlich und unverwandt ihren Nicolas, als überlege sie und als suche sie etwas zu erraten ... und siehe da: plötzlich – streckte das Tier seine Krallen aus.
Unvermutet erlaubte sich unser Prinz zwei, drei unmögliche Frechheiten gegen verschiedene Personen. Das Empörendste an ihnen war gerade ihre unerhörte Neuheit, ihre Unglaublichkeit; daß sie tatsächlich allen sonst üblichen Dreistigkeiten so unähnlich waren in ihrer törichten Bengelhaftigkeit, überdies weiß der Teufel wozu eigentlich begangen, so vollständig ohne jeden Anlaß. Eines der ehrenwertesten Häupter unseres Klubs, Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, ein bejahrter und sogar verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Angewohnheit, zur Bekräftigung jeder Behauptung heftig hinzuzufügen: „Nein, mich wird man nicht an der Nase führen!“ Nun, das hatte ja weiter nichts auf sich. Aber als er eines Tages im Klub in der Hitze des Wortgefechts, inmitten einer Schar ihn umstehender Klubherren (lauter angesehner Persönlichkeiten) wieder einmal diesen Nachsatz anhing, trat Nicolai Wszewolodowitsch, der am Gespräch ganz unbeteiligt und allein abseits gestanden hatte, plötzlich auf Pjotr Pawlowitsch zu, faßte ihn unerwartet aber fest mit zwei Fingern an der Nase und zog ihn ein paar Schritte weit im Saal hinter sich her. Einen Groll konnte er gegen Herrn Gaganoff nicht haben. Man hätte das für einen echten Schuljungenstreich halten können, natürlich für einen ganz unverzeihlichen; indes war Nicolai Wszewolodowitsch, wie man später erzählte, im Augenblick der Tat geradezu nachdenklich, „ganz als wäre er nicht völlig bei Sinnen gewesen“, aber das vergegenwärtigte man sich und erwog man erst später. In der ersten Empörung dachten alle nur an den zweiten Augenblick, als er alles bereits zweifellos richtig begriff, jedoch statt verlegen zu werden, plötzlich boshaft und belustigt lächelte, „ohne die geringste Reue“, wie es hieß. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm; er wurde umringt. Nicolai Wszewolodowitsch wandte sich um, sah ringsum alle an, ohne jemandem zu antworten, und betrachtete interessiert die Gesichter der erregt Durcheinanderschreienden. Schließlich war es, als werde er plötzlich wieder nachdenklich – wenigstens wurde später so erzählt –, er runzelte die Stirn, trat dann festen Schrittes auf den beleidigten Pjotr Pawlowitsch zu und sagte schnell, dabei sichtlich geärgert:
„Sie entschuldigen natürlich ... Ich weiß wirklich nicht, weshalb mich plötzlich die Lust anwandelte ... Es war eine Dummheit ...“
Die Nachlässigkeit dieser Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung gleich. Es erhob sich ein noch größeres Geschrei. Nicolai Wszewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus. Nun kannte die Empörung keine Grenzen, und Herr Stawrogin wurde sofort einstimmig aus der Zahl der Mitglieder des Klubs ausgeschlossen. Darauf wurde im Namen des ganzen Klubs an den Gouverneur die Bitte gerichtet, mittels der ihm anvertrauten Administrativgewalt den „schädlichen Unruhstifter zu zügeln und damit die Ruhe der gesamten anständigen Gesellschaft unserer Stadt gegen schädliche Anschläge zu sichern“. Mit boshafter Unschuld wurde hinzugefügt, „vielleicht lasse sich auch gegen Herrn Stawrogin ein Gesetz finden“, um dem Gouverneur wegen Warwara Petrowna einen Stich zu versetzen. Der Gouverneur war gerade verreist, wurde aber bald zurückerwartet. Inzwischen bereitete man dem beleidigten Pjotr Pawlowitsch richtige Ovationen: man umarmte und küßte ihn, die ganze Stadt machte bei ihm Visite. Man plante sogar ihm zu Ehren ein Diner im Klub, auf Subskription, und gab es nur auf seine dringende Bitte hin auf, – vielleicht aber auch, weil man sich schließlich darauf besann, daß der Mann ja immerhin an der Nase geführt worden war und mithin eigentlich kein Grund zu Festlichkeiten vorlag.
Indes, wie hatte das alles nur geschehen können? Bemerkenswert war besonders der Umstand, daß kein Mensch diesen Streich auf zeitweiliges Irresein zurückführte. Also traute man offenbar auch einem gesunden und geistesklaren Nicolai Wszewolodowitsch Derartiges zu.
Bemerkenswert erschien mir auch jener Ausbruch eines allgemeinen Hasses, mit dem bei uns damals alle über den „Ruhestörer und großstädtischen bretteur“[11] herfielen. Man wollte in jener Tat unbedingt die „freche, wohlüberlegte Absicht“ sehen, mit einem Schlage „die ganze Gesellschaft zu beleidigen“. Jedenfalls hatte er niemanden für sich gewonnen, sondern alle gegen sich in Harnisch gebracht, und wodurch nur? Bis dahin hatte er noch niemanden gekränkt, höflich aber war er schon so gewesen, wie ein Herr aus einem Modeblatt, wenn der nur sprechen könnte. Ich nehme an, daß man ihn wegen seines Stolzes haßte. Selbst unsere Damen, die mit seiner Vergötterung begonnen hatten, entrüsteten sich jetzt über ihn noch ärger als die Männer.
Warwara Petrowna war furchtbar betroffen. Später gestand sie einmal Stepan Trophimowitsch, sie habe das schon lange, schon das ganze halbe Jahr kommen fühlen, und sogar „gerade etwas in dieser Art“, ein bedeutsames Bekenntnis von seiten einer leiblichen Mutter. „Es hat also angefangen!“ dachte sie erschauernd. Nach einer schlaflosen Nacht und nachdem sie am Morgen Stepan Trophimowitsch um Rat gefragt und bei ihm sogar geweint hatte, was ihr noch nie in Gegenwart anderer geschehen war, wollte sie vorsichtig, aber entschlossen eine Aussprache mit ihrem Sohn herbeiführen. Und doch zitterte sie davor. Nicolas, der stets so höflich und ehrerbietig gegen die Mutter war, hörte sie eine Weile, die Augenbrauen zusammengezogen, sehr ernst an; plötzlich stand er auf, ohne ein Wort zu antworten, küßte ihr die Hand und ging hinaus. Am Abend desselben Tages aber kam es dann gleich zu einem zweiten Skandal, der, wenn er auch längst nicht so schlimm war wie der erste, die Entrüstung in der Stadt doch noch sehr verstärkte.
Diesmal traf es unseren Freund Liputin. Der erschien bei Nicolai Wszewolodowitsch gerade als dieser seine Mutter verlassen hatte, und bat ihn inständig, ihm die Ehre seines Besuchs zu erweisen: der Geburtstag seiner Frau sollte durch eine kleine Abendgesellschaft gefeiert werden. Warwara Petrowna hatte schon lange mit Sorge diese Neigung ihres Sohnes wahrgenommen, Bekanntschaften selbst mit Leuten der dritten Gesellschaftsschicht anzuknüpfen. Bei Liputin hatte er bisher noch nicht im Hause verkehrt. Er erriet, daß dieser ihn jetzt wegen des Skandals im Klub einlud, als Liberaler über diesen Skandal entzückt war und aufrichtig meinte, gerade so müsse man mit allen Häuptern des Klubs verfahren. Nicolas begann zu lachen und versprach zu kommen.
Die Gäste, von denen sich eine Menge eingefunden hatte, waren nicht Honoratioren, aber gewitzte Leute. Der geizige Liputin pflegte nur zweimal im Jahr Gäste einzuladen, dann aber einmal nicht zu knausern. Der Ehrengast Stepan Trophimowitsch war diesmal krankheitshalber nicht erschienen. Es wurde Tee gereicht, und es gab reichlich kalten Imbiß und Schnäpse; gespielt wurde an drei Tischen, die Jugend aber begann, in Erwartung des Abendessens, nach Klaviermusik zu tanzen. Nicolai Wszewolodowitsch forderte Frau Liputin auf – eine überaus nette kleine Frau, der vor ihm schrecklich bange war –, tanzte mit ihr zwei Touren, setzte sich dann neben sie, unterhielt sich mit ihr, brachte sie zum Lachen. Als er da bemerkte, wie hübsch sie war, wenn sie lachte, faßte er sie plötzlich vor den Augen aller Gäste um die Taille und küßte sie mitten auf den Mund, wohl dreimal hintereinander, mit ganzer Herzenslust. Die arme Frau fiel vor Schreck in Ohnmacht. Nicolai Wszewolodowitsch trat zu dem Ehemann, der in der allgemeinen Verwirrung wie betäubt dastand, wurde bei dessen Anblick selbst verlegen, und nachdem er ihm hastig zugemurmelt: „Seien Sie nicht böse,“ ging er hinaus. Liputin aber lief ihm ins Vorzimmer nach, reichte ihm eigenhändig den Pelz und geleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe hinunter. Doch schon am nächsten Tage gab es zu dieser verhältnismäßig harmlosen Geschichte ein ganz ulkiges Nachspiel, das Liputin sogar ein gewisses Ansehen verschaffte und das er sogleich zu seinem größten Vorteil auszunutzen verstand.
Gegen zehn Uhr morgens erschien im Hause der Madame Stawrogina Liputins Magd Agafja, ein munteres, gewandtes, rotbackiges Weiblein von etwa dreißig Jahren; sie war von Liputin mit einem Auftrage zu Nicolai Wszewolodowitsch geschickt und wollte unbedingt „den Herrn selber sehen“. Der hatte starke Kopfschmerzen, kam aber doch heraus. Warwara Petrowna glückte es, die Ausrichtung des Auftrags mit anzuhören.
„Sergei Wassiljitsch“ (d. h. Liputin), begann Agafja wortgewandt zu plappern, „hat mir anbefohlen, vorerst seine beste Empfehlung auszurichten; und dann läßt er sich nach Ihrer Gesundheit erkundigen, wie Sie nun eigentlich geruht haben, nach dem Gestrigen sozusagen, und wie Sie sich nun eigentlich fühlen, eben nach dem Gestrigen, meint er?“
Nicolai Wszewolodowitsch lächelte.
„Bestelle meine Empfehlung, und ich ließe bestens danken. Und sage von mir deinem Herrn, Agafja, er wäre der klügste Mensch in der ganzen Stadt.“
„Ja und auf diese Antwort sollte ich Ihnen dann antworten,“ versetzte Agafja noch wortgewandter, „daß er das auch ohne Sie schon selber weiß und Ihnen ganz dasselbe wünscht, sozusagen.“
„Was! ... aber wie konnte er denn wissen, was ich dir antworten würde?“
„Ja, das weiß ich schon nicht, aber als ich schon hinausgegangen und schon die ganze Gasse hinuntergegangen war, höre ich plötzlich, er läuft mir nach, ohne Mütze, und: ‚Du,‘ sagte er, ‚Agafjuschka‘, sagte er, ‚wenn er dir nun sagt, bestelle deinem Herrn, daß er der Klügste in der ganzen Stadt ist, dann sag’ du ihm sogleich und vergiß das nicht, daß wir das auch ohne ihn schon wissen und ihm bloß auch dasselbe wünschen‘, sozusagen ...“
Schließlich fand auch die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur statt. Nach der so heftigen Beschwerde des Klubs war es diesem ja sofort klar, daß etwas geschehen mußte, aber was? Unserem gastfreundlichen alten Herrn schien sein junger Verwandter ebenfalls nicht ganz geheuer zu sein. Gleichwohl entschloß er sich endlich, ihm gütlich zuzureden, den Klub und den Beleidigten um Entschuldigung zu bitten, falls nötig sogar schriftlich; dann aber wollte er ihm wohlwollend nahelegen, z. B. zu Bildungszwecken nach Italien zu reisen oder überhaupt ins Ausland, etwas weiter weg von uns. In dem Raum, wo er diesmal Nicolas empfing, war wie zufällig noch sein Günstling und Sekretär Aljoscha Telätnikoff anwesend und damit beschäftigt, an einem Tisch in der Ecke Postsachen zu öffnen. Im Nebenzimmer aber saß in der Nähe der Tür ein dicker und kräftiger Oberst, ein Freund und früherer Kamerad des Hausherrn, und las die Zeitung „Die Stimme“, anscheinend ohne die Vorgänge im anderen Raum zu beachten. Iwan Ossipowitsch begann vorsichtig, holte weit aus, sprach fast flüsternd, verlor aber immer wieder den Faden. Nicolas schaute sehr unfreundlich drein, gar nicht wie ein Verwandter, war bleich, saß mit gesenktem Blick da und hörte mit zusammengezogenen Brauen zu, wie wenn er einen heftigen Schmerz unterdrückte.
„Sie haben ein gutes Herz, Nicolas, ein edles Herz,“ sagte unter anderem der alte Herr, „Sie sind überaus gebildet, haben sich in den höchsten Kreisen bewegt, haben sich auch bei uns bisher musterhaft aufgeführt und dadurch das Herz Ihrer von uns allen verehrten Mutter beruhigt ... Und nun beginnt das alles von neuem, und wieder in einem so rätselhaften und für alle gefährlichen Kolorit! Ich rede zu Ihnen als Freund Ihres Hauses, als ein Sie liebender, bejahrter Verwandter ... So sagen Sie doch, was in aller Welt treibt Sie zu solchen Ausschreitungen, die mit allen hergebrachten Formen und Sitten so unvereinbar sind?“
Nicolas hatte geärgert und ungeduldig zugehört. Plötzlich blitzte in seinem Blick gleichsam ein verschlagener und spöttischer Ausdruck auf: „Ich kann es Ihnen ja meinethalben sagen, was mich dazu treibt,“ sagte er unwirsch, sah sich um und beugte sich zum Ohr Iwan Ossipowitschs. – Der wohlerzogene Aljoscha Telätnikoff trat noch drei Schritte weiter zum Fenster, der Oberst räusperte sich hinter seiner Zeitung. Der arme Iwan Ossipowitsch hielt eilig und vertrauensvoll sein Ohr hin; er war äußerst neugierig. Und da geschah denn abermals etwas ganz Unmögliches und doch andererseits in einer Hinsicht nur zu Deutliches. Der alte Herr fühlte auf einmal, daß Nicolas, statt ihm ein interessantes Geheimnis zuzuflüstern, plötzlich den oberen Teil seines Ohres mit den Zähnen faßte und ziemlich fest zubiß.
„Nicolas, was ... soll das!“ stöhnte er mechanisch mit einer ganz fremdklingenden Stimme. – Aljoscha und der Oberst begriffen nicht recht, was da vorging; es schien ihnen bis zum Schluß, daß dem Alten etwas zugeflüstert wurde, aber dessen verzweifeltes Gesicht beunruhigte sie doch. Sie glotzten sich mit aufgerissenen Augen an und wußten nicht, ob sie noch warten oder schon zu Hilfe eilen sollten, wie verabredet war. Nicolas erriet das wohl und biß noch ein wenig schmerzhafter zu.
„Nicolas, Nicolas!“ stöhnte das Opfer wieder, „nun ... genug ... mit dem Scherz ...“ – Noch ein Augenblick, und der Arme wäre gestorben; doch der Unmensch hatte Erbarmen und ließ das Ohr los. Diese ganze Todesangst hatte eine volle Minute gedauert und der Alte bekam eine Art Ohnmachtsanfall. Eine halbe Stunde später aber wurde Nicolas verhaftet und eingesperrt. Das war freilich eine schroffe Maßnahme, doch unser weichherziger Regent war dermaßen erzürnt, daß er die Verantwortung selbst Warwara Petrowna gegenüber zu übernehmen wagte. Und tatsächlich, als diese sofort eilig und erregt zum Gouverneur gefahren kam, wurde ihr erklärt, daß sie nicht empfangen werden könne, und ohne auszusteigen fuhr sie heim. Sie konnte diese Absage zunächst überhaupt nicht fassen.
Endlich aber fand alles seine Erklärung! Gegen zwei Uhr nachts begann der Arrestant, der bis dahin erstaunlich ruhig gewesen war und sogar geschlafen hatte, plötzlich zu toben, schlug mit den Fäusten gegen die Tür, riß mit übermenschlicher Kraft das eiserne Gitter von dem Fenster ab, zerschlug die Scheibe und zerschnitt sich dabei die Hände. Als der wachhabende Offizier mit der Mannschaft herbeigeeilt kam und die Zelle aufschließen ließ, stellte es sich heraus, daß der Gefangene sich im stärksten Fieberdelirium befand; er wurde nach Hause zur Mutter geschafft. Nun war ja alles klar. Unsere drei Ärzte äußerten sich dahin, daß der Kranke sehr wohl schon vor drei Tagen in diesem Fieberzustande wie benommen gewesen sein könne. Somit hatte Liputin als erster das Richtige erraten. Der zartfühlende Iwan Ossipowitsch war nun sehr betreten, auch im Klub schämte man sich und begriff nicht, wie man auf diese einzig mögliche Erklärung nicht verfallen war. Natürlich gab es auch Skeptiker, aber die konnten sich nicht behaupten.
Nicolas lag gute zwei Monate. Die ganze Stadt besuchte Warwara Petrowna. Und sie verzieh. Als Nicolas sich zum Frühling hin wieder erholte und mit dem Vorschlag der Mutter, nach Italien zu reisen, einverstanden war, da bat sie ihn, vorher doch überall seine Abschiedsvisite zu machen und sich bei der Gelegenheit zu entschuldigen, wo das nötig und soweit es möglich war. Nicolas versprach ihr auch das, und sogar mit großer Bereitwilligkeit. Und alsbald erfuhr man im Klub, er habe mit Pjotr Pawlowitsch eine überaus zartfühlende Aussprache gehabt, durch die dieser vollkommen zufriedengestellt worden sei. Während dieser Visiten soll Nicolas sehr ernst und sogar ein wenig düster gewesen sein. Alle empfingen ihn anscheinend mit aufrichtiger Teilnahme, doch im Grunde waren alle verlegen und nur froh, daß er nach Italien reiste. Iwan Ossipowitsch weinte sogar, konnte sich aber aus einem unbestimmten Grunde doch nicht entschließen, ihn zum Abschied zu umarmen. Allerdings blieben bei uns manche doch überzeugt, der Taugenichts habe alle nur zum Besten gehabt, die Krankheit aber sei eine Sache für sich gewesen. Auch zu Liputin fuhr er zur Abschiedsvisite.
„Sagen Sie mal,“ fragte er ihn, „wie konnten Sie damals im voraus wissen, was ich über Ihren Verstand sagen würde, und die Antwort darauf schon mitgeben?“
„Ganz einfach,“ sagte Liputin lachend, „weil auch ich Sie für klug halte, also war’s nicht schwer!“
„Immerhin ein seltsames Zusammentreffen. Aber erlauben Sie: dann hielten Sie mich damals für gescheit und nicht für wahnsinnig?“
„Für den gescheitesten und klügsten, und ich stellte mich nur so, als glaubte ich, Sie wären nicht bei voller Vernunft. Und Sie haben mir ja auch sofort den Beweis für die Ungetrübtheit Ihres Geistes zurückgesandt.“
„Übrigens irren Sie sich da doch ein wenig: ich war tatsächlich ... krank,“ sagte Nicolas verstimmt. „Wie! glauben Sie denn wirklich, ich wäre fähig, bei vollem Verstande Menschen zu überfallen? Wozu denn das?“
Liputin wand sich betreten und wußte nicht recht, was er antworten sollte. Nicolas erblaßte ein wenig, oder vielleicht schien es Liputin nur so.
„Jedenfalls haben Sie eine sehr amüsante Denkweise,“ fuhr Nicolas fort, „und ich begreife natürlich, daß Sie Ihre Agafja zu mir schickten, um mich zu verhöhnen.“
„Ich konnte Sie doch nicht zum Duell fordern?“
„Ach, ja, richtig! Ich habe ja auch so etwas gehört, daß Sie Duelle nicht lieben ...“
„Wozu denn Französisches ins Russische übersetzen!“
„Sie halten es mit dem Nationalismus?“
Liputin wand sich noch mehr, antwortete aber nichts.
„Was, was! Sehe ich recht!“ rief Nicolas plötzlich, als er mitten auf dem Tisch, wie ein Prunkstück an der sichtbarsten Stelle, einen Band von Considérant erblickte. „Sind Sie etwa gar Fourierist? Das fehlte noch! Aber ist denn das keine Übersetzung aus dem Französischen?“ und er klopfte lachend auf das Buch.
„Nein, nicht aus dem Französischen!“ Liputin sprang fast mit einem gewissen Grimm vom Stuhl auf. „Das ist eine Übersetzung aus der Sprache der ganzen Menschheit, und nicht bloß aus dem Französischen! Aus der Sprache der universalen sozialen Republik und Harmonie, jawohl! Und nicht aus dem Französischen allein!“
„Sapperment! Aber so eine Sprache gibt es ja überhaupt nicht!“ versetzte Nicolas immer noch lachend.
Von Herrn Stawrogin soll zwar erst später die Rede sein, doch möchte ich eines schon hier bemerken: daß von allen Eindrücken, die er damals bei uns empfing, am grellsten sich seinem Gedächtnis die unscheinbare und fast gemeine Gestalt Liputins eingeprägt hatte, dieses kleinen Provinzbeamten, eifersüchtigen Ehemannes, rohen Familiendespoten, Wucherers und Geizhalses, der selbst die Überbleibsel der Mahlzeiten und Lichtstümpfchen verschloß, und doch gleichzeitig ein glühender Anhänger Gott weiß was für einer zukünftigen „sozialen Harmonie“ war, sich nachts an den phantastischen Bildern der zukünftigen Phalanstere berauschte, an deren baldige Verwirklichung in Rußland er so glaubte wie an sein eigenes Vorhandensein. Und alles das dortselbst, wo er sich ein „Häuschen“ erspart, wo er zum zweitenmal geheiratet hatte, und wo es vielleicht im Umkreise von hundert Werst keinen Menschen gab, der auch nur annähernd ein Mitglied dieser „universalen sozialen Republik und Harmonie“ hätte sein können.
„Gott mag wissen, wie es in solchen Menschen aussieht!“ dachte Nicolas oft verwundert, wenn er sich dieses unvermuteten Fourieristen erinnerte.
Unser Prinz reiste drei Jahre lang und noch länger, so daß er bei uns fast ganz in Vergessenheit geriet. Unser Kreis freilich wußte durch Stepan Trophimowitsch, daß er ganz Europa bereist hatte, sogar in Ägypten und in Jerusalem gewesen war; dann hatte er sich mit einer wissenschaftlichen Expedition auch nach Island begeben. Ferner hieß es, er habe einen Winter an einer deutschen Universität Kolleg gehört. An seine Mutter schrieb er nur selten, aber die fühlte sich dadurch nicht mehr gekränkt. Die Beziehungen zwischen ihr und ihrem Sohn hatten nun einmal diese Form angenommen, die sie wortlos hinnahm; im übrigen dachte sie beständig an ihren Nicolas und sehnte sich nach ihm. Doch davon erfuhr kein Mensch etwas. Selbst von Stepan Trophimowitsch zog sie sich anscheinend ein wenig zurück. Sie schmiedete heimlich Pläne, wurde noch sparsamer und ärgerte sich immer mehr über Stepan Trophimowitschs Verluste im Kartenspiel.
Da erhielt sie im April dieses Jahres ganz unverhofft einen Brief aus Paris, und zwar von ihrer Jugendfreundin, der Generalin Praskowja Iwanowna Drosdowa. Diese schrieb ihr plötzlich nach acht Jahren, Nicolai Wszewolodowitsch verkehre viel in ihrem Hause, habe mit Lisa (ihrer einzigen Tochter) Freundschaft geschlossen und beabsichtige, sich ihnen anzuschließen, wenn sie im Sommer nach der Schweiz reisten, obwohl er in der Familie des Grafen K... (einer in Petersburg höchst einflußreichen Persönlichkeit), die jetzt gleichfalls in Paris weile, wie ein leiblicher Sohn aufgenommen werde, so daß er, man könne sagen, fast ganz im Hause des Grafen lebe. Der Brief war kurz, doch sein Zweck deutlich. Warwara Petrowna dachte denn auch nicht lange nach, entschloß sich schnell und fuhr mit ihrer Pflegetochter Dascha Mitte April nach Paris und dann nach der Schweiz. Im Juli kehrte sie allein zurück; sie hatte Dascha bei Drosdoffs gelassen, die mit ihr Ende August heimkehren sollten.
Drosdoffs waren gleichfalls eine Gutsbesitzerfamilie unseres Gouvernements, aber der Dienst des Generals hatte sie in letzter Zeit verhindert, sich hier auf ihrem herrlichen Gut aufzuhalten. Nach dem Tode des Generals im vorigen Jahre war dann die untröstliche Praskowja Iwanowna mit ihrer Tochter ins Ausland gereist, unter anderem auch in der Absicht, es im Spätsommer in der Schweiz, in Vernex-Montreux, mit einer Traubenkur zu versuchen. Nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande wollte sie sich dann endgültig in unserem Gouvernement niederlassen. In der Stadt besaß sie ein großes Haus, das schon viele Jahre leer stand, mit geschlossenen Fensterläden. Drosdoffs waren sehr reich. Praskowja Iwanowna, in erster Ehe Frau Tuschina, war gleichfalls die Tochter eines Branntweinpächters der alten Zeit und hatte gleichfalls eine große Mitgift erhalten. Der Rittmeister a. D. Tuschin war aber auch selbst ein vermögender Mann gewesen und kein unbegabter Mensch. Er hinterließ seiner siebenjährigen Tochter Lisa ein bedeutendes Vermögen, zu dem später noch das ganze Erbe ihrer Mutter hinzu kommen mußte, da diese aus ihrer zweiten Ehe keine Kinder hatte. Warwara Petrowna war mit dem Ergebnis ihrer Reise sehr zufrieden. Sie glaubte, mit Praskowja Iwanowna übereingekommen zu sein, und teilte nach ihrer Ankunft alles, weit offener als sonst, Stepan Trophimowitsch mit. Der rief „Hurra!“ und schnippte mit den Fingern. Seine Freude war um so aufrichtiger, als er die Zeit ihrer Abwesenheit in größter Mutlosigkeit verbracht hatte. Vor ihrer Abreise hatte sie ihm, „diesem Weibe“, nichts von ihren Plänen mitgeteilt, vielleicht weil sie fürchtete, er könne ausplaudern. Doch schon in der Schweiz hatte sie sich gesagt, daß sie den verlassenen Freund nach ihrer Rückkehr besser behandeln müsse. Tatsächlich war ihre plötzliche Abreise mit dem wortkargen Abschied für sein schüchternes Herz der Anlaß zu qualvollen Zweifeln gewesen. Außerdem quälte ihn noch eine bedeutende Geldverpflichtung, die er ohne ihre Hilfe unmöglich decken konnte. Und dann war noch allerhand gerade während ihrer Abwesenheit hinzugekommen: so hatte im Mai die Herrschaft unseres guten Iwan Ossipowitsch ihr Ende gefunden und war der Einzug unseres neuen Gouverneurs, Andrei Antonowitsch von Lembke, erfolgt. Danach hatte sich das Verhalten unserer Gesellschaft zu Warwara Petrowna und damit natürlich auch zu Stepan Trophimowitsch merklich zu ändern begonnen. Das beeindruckte ihn um so mehr, als er natürlich schon wieder erregt befürchtete, man habe den neuen Gouverneur bereits auf ihn als einen gefährlichen Menschen aufmerksam gemacht. Er erfuhr auch, daß man sich in der Stadt erzählte, die Gemahlin des neuen Gouverneurs und Warwara Petrowna seien früher bekannt gewesen, doch hätten sie sich schließlich verfeindet und den Verkehr abgebrochen. Als aber nun Warwara Petrowna nach ihrer Rückkehr so munter und siegesgewiß seinen Bericht anhörte, u. a. auch das Gerücht, demzufolge manche Damen es lieber mit der neuen Gouverneurin halten wollten, die eine echte Aristokratin sei, und folglich den Verkehr mit Warwara Petrowna aufzugeben beabsichtigten, da richtete sich sofort auch Stepan Trophimowitschs gesunkener Mut wieder auf. Er wurde im Nu wieder heiter und begann mit besonderem, freudig dienstbeflissenem Humor die Ankunft des neuen Gouverneurs zu schildern.
„Es wird Ihnen, excellente amie,[12] zweifellos bekannt sein,“ begann er kokett, die Worte geckenhaft in die Länge ziehend, „was ein russischer Regierungsbeamter im allgemeinen, und was im besonderen ein neuangestellter, ein neugebackener russischer Beamter ist. Dagegen dürften Sie kaum Gelegenheit gehabt haben, praktisch zu erfahren, was der Machtrausch eines russischen Beamten bedeutet ...“
„Machtrausch eines Beamten? Wie meinen Sie das?“
„Das heißt ... Vous savez, chez nous ... En un mot,[13] stellen Sie den erbärmlichsten Nichtsnutz als Verkäufer von, sagen wir, irgendwelchen elenden Eisenbahnfahrkarten an, und dieser erbärmlichste Wicht wird sich sofort für berechtigt halten, wie ein Jupiter auf Sie herabzusehen, wenn Sie eine Fahrkarte lösen wollen, pour vous montrer son pouvoir.[14] ‚Warte‘, denkt er dann bei sich, ‚ich will dir meine Macht zeigen!‘ Und das geht bei ihnen bis zur Selbstberauschung an dieser ihrer Macht. En un mot ...“
„Ja, fassen Sie sich kürzer, wenn Sie können.“
„En un mot, dieser Herr von Lembke hat also zunächst das Gouvernement bereist. Er ist zwar ein Deutschrusse griechisch-katholischer Konfession und sogar ein überaus schöner Mann in den vierziger Jahren ...“
„Schöner Mann? Er hat Augen wie ein Schaf.“
„Allerdings. Doch aus Höflichkeit will ich dem Urteil unserer Damen nicht widersprechen ...“
„Ich bitte Sie, reden wir von etwas anderem! Übrigens, Sie tragen eine rote Halsbinde; schon lange?“
„Das ... ich ... ich habe das nur heute ...“
„Und sind Sie auch täglich sechs Werst spazieren gegangen, wie es Ihnen der Arzt verordnet hat?“
„Nicht ... nicht immer.“
„Wußte ich’s doch! schon in der Schweiz ahnte ich das!“ rief sie gereizt. „Jetzt werden Sie mir aber zehn Werst täglich gehen! Sie sind ja geradezu heruntergekommen! Sie sind ja nicht nur alt, Sie sind ein Greis geworden ... ich erschrak geradezu, als ich Sie wiedersah, trotz Ihrer roten Halsbinde ... quelle idée rouge![15] Erzählen Sie weiter von diesem Lembke, wenn es wirklich etwas von ihm zu erzählen gibt, nur kommen Sie bald zu einem Ende; ich bin müde.“
„En un mot, ich wollte ja auch nur sagen, daß er einer von denen ist, die erst mit vierzig Jahren anfangen Karriere zu machen, sei es dank einer plötzlich erworbenen Gattin oder einem nicht minder verzweifelten Mittel. Über mich hat man ihm natürlich sofort alles zugetragen: daß ich die Jugend verdürbe und den Atheismus verbreite. Er hat auch sofort Erkundigungen eingezogen. Und als man ihm von Ihnen berichtete, bisher hätten eigentlich Sie das Gouvernement verwaltet, da hat er sich zu äußern erlaubt, ‚so etwas werde hinfort nicht mehr vorkommen‘.“
„Hat er das wirklich gesagt?“
„Wortwörtlich. Seine Gemahlin werden wir hier erst Ende August erblicken; sie kommt direkt aus Petersburg.“
„Nein, aus dem Auslande. Ich bin mit ihr dort zusammengetroffen. In Paris und in der Schweiz. Sie ist mit Drosdoffs verwandt.“
„Verwandt? Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Man sagt, sie sei ehrgeizig und ... habe durch Beziehungen gute Protektion?“
„Unsinn, die paar Verwandten! Bis zum fünfundvierzigsten Jahr saß sie als alte Jungfer da, ohne eine Kopeke, dann hat sie endlich diesen von Lembke erwischt und nun ist ihr ganzer Ehrgeiz seine Karriere.“
„Es heißt, sie sei zwei Jahre älter als er?“
„Fünf Jahre. Ihre Mutter hat mich in Moskau umschmeichelt, damit ich sie zu den Bällen einlud, damals zu Wszewolod Nicolajewitschs Lebzeiten. Die Tochter aber saß dann ohne Tänzer da, bis ich ihr aus Mitleid nach Mitternacht den ersten Kavalier zuschickte. Niemand wollte sie mehr einladen ... Ich sage Ihnen, wie ich jetzt nach Paris kam, stieß ich sofort auf eine Intrige. Sie haben doch soeben jenen Brief der Drosdowa gelesen; was konnte noch klarer sein? Aber was fand ich? Diese dumme Drosdowa – sie ist immer dumm gewesen – sieht mich fragend an: warum ich denn gekommen sei? Sie können sich meine Verwunderung vorstellen! Aber natürlich: da intrigiert diese Lembke und dann ist da dieser Vetter, ein Neffe des seligen Drosdoff, – da war mir alles klar! Ich habe dann alles wieder zurechtgerückt; und Praskowja ist nun wieder auf meiner Seite; aber es war eine richtige Intrige im Gange!“
„Die Sie indes besiegt haben. Sie sind ein Bismarck!“
„Auch ohne ein Bismarck zu sein, kann ich Falschheit und Dummheit erkennen, wo ich ihnen begegne. Die Lembke ist falsch und Praskowja ist dumm. Selten habe ich eine so verdrossene Frau gesehen wie die, dazu hat sie noch geschwollene Füße und zum Überfluß ist sie noch gutmütig. Es gibt wohl nichts dümmeres als einen gutmütigen Dummkopf!“
„Doch, einen bösen Dummkopf, ma bonne amie,[16] ein böser Dummkopf ist noch viel dümmer.“
„Vielleicht haben Sie recht. Erinnern Sie sich noch an Lisa?“
„Charmante enfant!“[17]
„Aber jetzt nicht mehr enfant, sondern Weib, und ein Weib mit Charakter. Ein edler und feuriger Mensch, und ich liebe es an ihr, daß sie der Mutter nicht gehorcht, dieser leichtgläubigen Närrin. Wegen dieses Vetters kam es da fast zu einem ganzen Drama.“
„Ach richtig, er ist ja mit Lisa persönlich gar nicht verwandt[25] ... Hat er denn Absichten?“
„Sehen Sie, er ist ein junger Offizier, sehr schweigsam, sogar bescheiden. Ich will immer gerecht sein. Ich glaube, er ist selbst gegen diese Intrige und hat keine Wünsche, nur die Lembke scheint da intrigiert zu haben. Er achtete Nicolas sehr. Sie verstehen, die ganze Sache hängt von Lisa ab. Als ich sie in der Schweiz verließ, stand sie sich mit Nicolas ausgezeichnet, und er hat mir versprochen, im November herzukommen. Folglich war das nur eine Intrige der Lembke, und Praskowja war einfach blind. Plötzlich sagt sie mir, meine Vermutungen seien einfach Einbildung. Da habe ich ihr aber ins Gesicht gesagt, daß sie eine Närrin ist. Wenn mich nicht Nicolas gebeten hätte, es vorläufig aufzuschieben, wäre ich nicht heimgereist, ohne dieses falsche Frauenzimmer entlarvt zu haben. Sie hat sich durch Nicolas beim Grafen K. einzuschmeicheln, hat Mutter und Sohn zu entzweien versucht. Aber Lisa ist auf unserer Seite und mit Praskowja habe ich mich verständigt. Wissen Sie, daß Karmasinoff mit ihr verwandt ist?“
„Was? Verwandt mit Frau von Lembke?“
„Nun ja. Aber nur entfernt verwandt.“
„Karmasinoff, der Novellist?“
„Nun ja doch, der Schriftsteller, worüber wundern Sie sich? Natürlich hält er sich selbst für eine Größe. Ein aufgeblasener Wicht! Sie wird mit ihm zusammen herkommen, jetzt macht sie sich dort mit ihm wichtig. Hier will sie literarische Abende veranstalten. Er kommt auf einen Monat, um hier sein letztes Gut zu verkaufen. Fast wäre ich mit ihm in der Schweiz zusammengetroffen, was ich durchaus nicht wollte. Übrigens hoffe ich doch, daß er geruhen wird, mich wiederzuerkennen. Früher hat er in meinem Hause verkehrt, hat Briefe an mich geschrieben. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich sorgfältiger kleideten, Stepan Trophimowitsch; Sie werden mit jedem Tage nachlässiger ... Wissen Sie denn nicht, wie mich das quält! Was lesen Sie jetzt?“
„Ich ... ich ...“
„Verstehe schon. Wie gewöhnlich die Freunde, die Gelage, der Klub, die Karten und der Ruf eines Atheisten. Dieser Ruf gefällt mir nicht, besonders jetzt möchte ich ihn nicht hören. Das ist doch alles nur leeres Geschwätz. Das muß doch einmal gesagt werden.“
„Mais, ma chère[18] ...“
„Hören Sie mich an: in allen gelehrten Fragen bin ich natürlich unwissend, ein Laie, im Vergleich zu Ihnen, aber auf der Heimreise habe ich viel über Sie nachgedacht. Und ich bin zu einer Einsicht gelangt.“
„Und zu welcher?“
„Zu der, daß nicht wir beide die Klügsten auf der Welt sind, sondern daß es auch noch klügere gibt als wir.“
„Das ist sowohl scharfsinnig wie treffend gesagt. Mais, ma bonne amie,[19] wenn ich auch das Rechte, nehmen wir an, nicht am besten weiß und mich objektiv vielleicht irre, so habe ich doch mein allgemein menschliches, ewiges, höheres Recht auf mein freies Gewissen? Ich habe doch das Recht, kein Heuchler und Fanatiker zu sein, wenn ich das nicht sein will, und dafür werde ich naturgemäß, solange die Welt steht, von verschiedenen Leuten gehaßt werden. Et puis, comme on trouve toujours plus de moines que de raison,[20] und da das ganz meine Meinung ist ...“
„Wie, wie war das, was sagten Sie da? Das stammt gewiß nicht von Ihnen, das haben Sie bestimmt irgendwo gelesen?“
„Das hat Pascal gesagt.“
„Das hab’ ich mir doch gleich gedacht ... daß es kein Ausspruch von Ihnen ist! Warum sagen Sie niemals etwas so kurz und treffend, sondern ziehen alles immer so in die Länge? ...“
„Ma foi, chère[21] ... warum? Erstens wahrscheinlich deshalb, weil ich immerhin nicht Pascal bin, et puis[22] ... zweitens, weil wir Russen in unserer Sprache nichts auszudrücken verstehen ... Wenigstens haben wir bisher noch nichts in ihr ausgedrückt ...“
„Hm! Darin haben Sie vielleicht doch nicht recht. Aber könnten Sie sich denn nicht wenigstens solche Aussprüche aufschreiben oder merken, für den Fall, wissen Sie, wenn das Gespräch ... Ach, Stepan Trophimowitsch, ich habe mir unterwegs vorgenommen, einmal ernst mit Ihnen zu sprechen, sehr ernst.“
„Chère, chère amie!“
„Jetzt, wo alle diese Lembkes und Karmasinoffs ... Oh Gott, wie sind Sie heruntergekommen! Oh, wie Sie mich damit quälen! ... Ich möchte, daß diese Menschen Hochachtung vor Ihnen empfänden, denn sie sind ja alle nicht einmal soviel wert wie ein Finger von Ihnen, Ihr kleiner Finger, aber Sie, wie halten Sie sich! Was werden diese Leute in Ihnen sehen? Wen kann ich ihnen präsentieren? Statt vornehm als Zeuge dazustehn, ein Beispiel zu sein, umgeben Sie sich mit solch einem Pack, Sie haben unmögliche Gewohnheiten angenommen, sind alt geworden, können ohne Wein und Karten nicht mehr leben, Sie lesen nur noch Paul de Kock und schreiben selbst überhaupt nichts mehr, während die dort alle schreiben. Ihre ganze Zeit vergeuden Sie im Geschwätz. Ist es denn möglich, darf man sich denn das erlauben, sich mit solchem Gesindel anzufreunden, wie es Ihr ewiger Liputin ist?“
„Warum denn ‚mein ewiger Liputin‘?“ protestierte Stepan Trophimowitsch schüchtern.
„Und Schatoff? Ist er immer noch derselbe?“
„Irascible, mais bon.“[23]
„Ich kann Ihren Schatoff nicht ausstehen; er ist böse und eingebildet!“
„Wie geht es Darja Pawlowna?“
„Sie fragen nach Dascha? Wie kommen Sie plötzlich darauf?“ Warwara Petrowna sah ihn forschend an. „Sie ist gesund. Ich habe sie bei Drosdoffs gelassen ... In der Schweiz habe ich etwas über Ihren Sohn gehört; Schlechtes, nicht Gutes.“
„Oh, c’est une histoire bien bête! Je vous attendais, ma bonne amie, pour vous raconter[24] ...“
„Genug, Stepan Trophimowitsch, gönnen Sie mir Ruhe, ich bin ohnehin erschöpft. Wir werden noch Zeit haben, uns auszusprechen, besonders über das Schlechte. Wenn Sie lachen, spritzt jetzt von Ihren Lippen schon Speichel, das ist ja bereits greisenhaft! Und wie sonderbar Sie jetzt immer lachen ... Gott, wie viele schlechte Gewohnheiten Sie angenommen haben! Karmasinoff wird Ihnen bestimmt keinen Besuch machen! Hier aber sind alle schon ohnehin froh über ... Erst jetzt zeigen Sie sich in Ihrer wahren Gestalt. Aber genug, genug, ich bin müde! Sie könnten doch wahrlich endlich einmal auf einen Menschen Rücksicht nehmen!“
Stepan Trophimowitsch nahm also „Rücksicht auf einen Menschen“, aber er entfernte sich verwirrt.
Unser Freund hatte in der Tat nicht wenige schlechte Gewohnheiten angenommen, besonders in der letzten Zeit. Er war sichtlich und schnell heruntergekommen, und es war richtig, er vernachlässigte auch schon sein Äußeres. Er trank auch mehr, wurde weinerlicher und nervöser; seine Liebe zum Schönen aber war schon zu einer Übersensibilität geworden. Sein Gesicht hatte die seltsame Fähigkeit erlangt, erstaunlich schnell den Ausdruck zu wechseln, z. B. die feierlichste Miene im Nu in einen komischen oder sogar dummen Ausdruck zu verwandeln. Einsamkeit ertrug er überhaupt nicht mehr und wollte beständig unterhalten sein, sei es mit Stadtklatsch oder Anekdoten, wenn es nur etwas Neues war. Kam längere Zeit niemand zu ihm, so wanderte er trübselig durch die Zimmer, trat ans Fenster, sah gedankenverloren hinaus, schob dabei die Lippen hin und her, seufzte tief und schließlich begann er fast zu flennen. Er glaubte immer, Vorahnungen zu haben, fürchtete etwas Unerwartetes, Unabwendbares, wurde schreckhaft und achtete sehr auf seine Träume.
Diesen Tag und den Abend verbrachte er sehr traurig. Er ließ mich zu sich bitten, war sehr aufgeregt, erzählte viel, aber recht zusammenhanglos. Es schien mir schließlich, daß ihn etwas Besonderes bedrückte, etwas, das er sich vielleicht selber nicht erklären konnte. Sonst hatte er bei solchen Gelegenheiten, wenn er mir vorzuklagen begann, nach einer Weile immer ein Fläschchen bringen lassen, und alles war dann bald in weit tröstlicherem Lichte erschienen. Diesmal aber unterdrückte er sichtlich mehrmals den erwachenden Wunsch, eine Flasche bringen zu lassen. – „Und worüber ärgert sie sich denn eigentlich?“ klagte er wie ein Kind. „Tous les hommes de génie et de progrès en Russie étaient, sont et seront toujours des Kartenspieler et des Trinker qui boivent[25] anfallweise ... ich aber bin noch lange kein so großer Spieler und Trinker ... Sie macht mir Vorwürfe, warum ich nichts schreibe! Sonderbarer Einfall! ... Warum ich nichts tue! Sie sagt, ich müsse als Beispiel und Vorwurf dastehen! Mais entre nous soit dit,[26] was kann denn ein Mensch, dessen Bestimmung es ist, als verkörperter Vorwurf dazustehen, anderes tun als Nichtstun, – weiß sie das denn nicht?“
Und schließlich erriet ich auch jenen wichtigsten und besonderen Kummer, der ihn diesmal so unablässig quälte. Er war schon mehrere Male vor dem Spiegel stehen geblieben. Schließlich wandte er sich von ihm ab und sagte in einer seltsamen Verzweiflung:
„Mon cher, je suis un[27] heruntergekommener Mensch!“
Ja, in der Tat, bis dahin, bis zu diesem Tage war er wenigstens von einem beständig überzeugt geblieben, trotz aller „neuen Anschauungen“ und „Ideenänderungen“ Warwara Petrownas, nämlich davon, daß er für ihr weibliches Herz immer noch bezaubernd sei, d. h. nicht nur als Verbannter oder als berühmter Gelehrter, sondern auch als schöner Mann. Zwanzig Jahre lang hatte diese schmeichelhafte und beruhigende Überzeugung tief verwurzelt in ihm gelebt, und vielleicht fiel ihm nichts so schwer, wie daß er von allen seinen Überzeugungen ausgerechnet diese aufgeben mußte. Ahnte er vielleicht an diesem Abend, welch eine ungeheure Prüfung ihm schon in so naher Zukunft bevorstand?
Ich komme jetzt zu der Wiedergabe jenes zum Teil vergessenen Geschehnisses, mit dem meine Chronik eigentlich erst beginnt.
Ende August kehrten Drosdoffs zurück. Sie trafen kurz vor ihrer Verwandten ein, der lange von der ganzen Stadt erwarteten Gattin unseres neuen Gouverneurs, und überhaupt machte ihr Erscheinen bei uns einen auffallenden Eindruck in der Gesellschaft. Doch davon später; hier sei nur bemerkt, daß Praskowja Iwanowna der sie ungeduldig erwartenden Warwara Petrowna ein höchst beunruhigendes Rätsel mitbrachte: Nicolas hatte sich bereits im Juli von ihnen getrennt und war mit der Familie des Grafen K. nach Petersburg zurückgekehrt. (NB. Der Graf hatte drei heiratsfähige Töchter.)
„Von Lisaweta habe ich nichts erfahren können, aus diesem stolzen Trotzkopf ist ja nichts herauszubringen,“ schloß Praskowja Iwanowna, „aber ich habe ja selbst gesehen, daß zwischen ihr und Nicolas etwas vorgefallen ist. Die Ursache ist mir unbekannt, aber ich glaube, Sie werden sich, meine Liebe, nach diesen Ursachen am besten bei Ihrer Darja Pawlowna erkundigen. Meiner Meinung nach ist Lisa gekränkt worden. Ich bin nur froh, daß ich Ihren Liebling Dascha endlich wieder Ihnen abliefern kann. Gott sei Dank, nun bin ich sie los!“
Doch mit diesen giftigen, offenbar absichtlich so vielsagenden Worten geriet sie an die Falsche: Warwara Petrowna verlangte sofort streng eine nähere Erklärung. Praskowja Iwanowna wurde hierauf sehr viel kleinlauter, ja schließlich begann sie zu weinen und ihr Herz auszuschütten. Es sei also zwischen Lisa und Nicolas tatsächlich zu einem Zerwürfnis gekommen, doch Gott weiß aus welchem Grunde. Ihre Anspielung auf Darja Pawlowna nahm sie wieder zurück und bat sogar ausdrücklich, ihre „in der Gereiztheit“ gesprochenen Worte ganz zu vergessen. Zu jenem Zerwürfnis hätte wohl der „trotzige und spöttische“ Charakter Lisas den Anstoß gegeben, und der „stolze“ Nicolas sei zwar sehr verliebt gewesen, habe aber die Spötteleien doch nicht ertragen und selbst zu spotten begonnen. Kurz, alle diese Erklärungen kamen sehr unklar heraus. Und dann hätten sie noch Stepan Trophimowitschs Sohn kennen gelernt, – „Das war ein ganz gewöhnlicher junger Mann, sehr lebhaft und frei, aber sonst nichts Besonderes.“ Diesen jungen Mann habe nun Lisa unrechterweise sehr bevorzugt, wohl um Nicolas eifersüchtig zu machen, nur sei ihr das nicht gelungen: statt eifersüchtig zu werden, habe Nicolas sich selbst mit dem jungen Manne befreundet, ganz als bemerke er nichts oder als wäre ihm das ganz gleichgültig. „Nun und das empörte Lisa. Der junge Mann reiste übrigens bald weiter, Lisa aber begann nun bei jeder Gelegenheit Streit mit Nicolas. Sie bemerkte, daß dieser manchmal mit Dascha sprach, und das ärgerte sie furchtbar. Da gab’s denn ewig Streit und für mich Aufregungen die aber hatten die Ärzte mir doch so verboten! Und plötzlich erhielt Nicolas von der Gräfin einen Brief und reiste sofort ab. Ihr Abschied war wieder freundschaftlich. Auf dem Wege zur Bahnstation, wohin wir ihn begleiteten, war Lisa sehr lustig und lachte viel. Alles Verstellung natürlich! Kaum aber war er weg, da wurde sie sehr nachdenklich, erwähnte ihn überhaupt nicht mehr und ließ auch mich nicht einmal von ihm sprechen. Meine Bemerkung über Dáschachen aber war falsch, nehmen Sie es mir nicht übel, Mütterchen, verzeihen Sie mir schon die Sünde! Es waren ja nur ganz gewöhnliche Gespräche, die laut geführt wurden. Mich hat das alles nur so nervös gemacht. Aber auch Lisa verhält sich zu Dascha jetzt wieder so freundlich, wie sie vorher verkehrten. Und mit Nicolas wird sie sich gewiß ebenso aussöhnen, wenn er nur bald herkäme ...“
Warwara Petrowna sagte nur, sie kenne Darja und das sei alles Unsinn. An Nicolas aber schrieb sie noch am selben Tage und bat ihn sehr, doch wenigstens einen Monat früher zu kommen als er versprochen hatte. – Und doch blieb für sie etwas Unklares in der ganzen Sache: „Nicolas ist nicht der Mann, der vor dem Spott eines Mädchens davonläuft ... Jenen Offizier haben sie richtig mitgebracht und als Verwandten im Hause einquartiert. Wie kam diese Praskowja darauf, Darja so zu verdächtigen? Und dann diese schnelle Entschuldigung ... Sicher steckt etwas dahinter, was sie nicht sagen wollte, aber zu plump angedeutet hatte“ ... Warwara Petrowna dachte die ganze Nacht darüber nach. Zum Morgen hin aber war ihr Plan fertig, wie sie wenigstens ein Hindernis beseitigen könnte. Das war nun freilich ein sehr merkwürdiger Plan, und was in ihrem Herzen vorging, als sie diesen Entschluß faßte, weiß ich nicht, noch werde ich versuchen, alle Widersprüche, die er enthielt, zu erklären. Bemerken muß ich nur, daß bis zum Morgen nicht der geringste Verdacht gegen Dascha in ihr zurückgeblieben war. Aber sie hätte es ja auch nie für möglich gehalten, daß ihr Nicolas sich für diese ihre ... „Darja“ lebhafter interessieren könnte. Am Morgen, als Dascha am Teetisch hantierte, sah Warwara Petrowna sie lange und prüfend an und sagte sich schließlich wohl zum zwanzigsten Male überzeugt: „Alles Unsinn!“ Es fiel ihr nur auf, daß Dascha seltsam müde aussah und noch stiller war als gewöhnlich. Nach dem Tee setzten sie sich beide wie immer an eine Handarbeit und Warwara Petrowna ließ sich nun einen ausführlichen Bericht über die Eindrücke erstatten, die Dascha im Auslande empfangen hatte, über die Natur, die Menschen, Sitten, Kunstwerke, Gewerbe usw. Nur über Drosdoffs und das Leben bei diesen stellte sie nicht eine Frage. Als Dascha eine halbe Stunde mit ihrer gleichmäßigen, eintönigen, aber etwas schwachen Stimme erzählt hatte, unterbrach sie sie plötzlich:
„Darja, hast du mir denn nichts Eigenes zu sagen?“
„Nein, ich habe nichts,“ antwortete Dascha nach einem ganz kurzen Nachdenken und sah Warwara Petrowna mit ihren hellen Augen an.
„Auf der Seele, auf dem Herzen, auf dem Gewissen?“
„Nichts,“ wiederholte Dascha leise, doch wie mit einer finsteren Festigkeit.
„Wußte ich’s doch! Damit du’s weißt, Dascha, ich werde nie an dir zweifeln. Aber setze dich hierher, auf diesen Stuhl, damit ich dich besser sehen kann, und höre mich an. So. Also höre jetzt: willst du nicht heiraten?“
Dascha antwortete nur mit einem fragenden, langen, übrigens nicht einmal allzu verwunderten Blick.
„Wart; sei still! Erstens ist da ein Unterschied in den Jahren, ein sehr großer sogar, aber das ist doch nur dummes Gerede. Du bist vernünftig, in deinem Leben soll es keine Fehler geben. Übrigens ist er noch ein schöner Mann ... Kurz, ich meine Stepan Trophimowitsch, den du immer so geachtet hast. Nun?“
Dascha sah sie noch fragender an, jetzt aber nicht nur erstaunt, sondern auch sichtbar errötend.
„Wart, sei still, überlege es! Meinem Testament zufolge hast du zwar Geld. Aber wenn ich sterbe, was wird dann aus dir, selbst mit diesem Gelde? Man wird dich doch betrügen, dich ums Geld bringen und dann bist du verloren. Heiratest du aber ihn, so bist du die Frau eines angesehenen Mannes. Und andererseits: sterbe ich, was wird dann aus ihm, wenn ich auch seine Existenz sichergestellt habe? Auf dich aber kann ich mich verlassen. Wart, ich habe noch nicht zu Ende gesprochen: er ist leichtsinnig, träge, charakterlos, grausam, egoistisch, hat häßliche Schwächen, aber du schätze ihn trotzdem, erstens schon deshalb, weil es noch viel schlechtere gibt. Warum schweigst du und siehst nicht auf? – Warte, sei noch still! Er ist ein altes Weib, aber um so besser für dich. Ein bemitleidenswertes Weib. Er verdiente es gar nicht, von einer Frau geliebt zu werden. Aber wegen seiner Schutzlosigkeit verdient er es schließlich doch; also liebe du ihn auch deswegen. Du verstehst mich doch?“ (Dascha nickte.) „Das wußte ich, habe auch nichts anderes von dir erwartet. Er wird dich lieben, denn er muß es, er muß! Muß dich vergöttern!“ (Ihre Stimme klang seltsam gereizt und hart.) „Übrigens wird er sich auch so schon in dich verlieben, ich kenne ihn doch. Zudem werde ich ja selbst hier sein. Sei unbesorgt, ich werde schon nach dem Rechten sehen. Er wird sich über dich beklagen, wird dich verleumden, mit dem ersten besten über dich sprechen, wird dir Briefe schreiben aus dem Nebenzimmer, sogar zwei am Tage, aber ohne dich wird er doch nicht leben können, und das ist schließlich die Hauptsache. Zwinge ihn, dir zu gehorchen; verstehst du das nicht, ist’s dein eigener Schade. Er wird sich erhängen wollen, wird dir damit drohen – glaube ihm nichts; das ist alles Unsinn; aber sei trotzdem vorsichtig, denn vielleicht ist die Stunde verhängnisvoll und er tut es wirklich. Das kommt vor bei solchen Menschen; nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche hängen sie sich auf; und darum bringe ihn nie zum Äußersten, – das ist der erste Grundsatz in der Ehe. Und vergiß auch nicht, daß er ein Dichter ist. Höre, Darja: es gibt kein größeres Glück als sich zu opfern. Und außerdem tust du mir damit einen großen Gefallen, und das ist die Hauptsache. Denke nicht, daß ich mich aus Dummheit soeben versprochen habe; ich weiß, was ich sage. Ich bin egoistisch; sei du es auch. Ich will dich ja nicht zwingen; alles hängt von dir ab; wie du entscheidest, so wird es sein. Nun, warum sitzt du so da, sag’ jetzt etwas!“
„Mir ist alles gleich, Warwara Petrowna, wenn ich schon unbedingt heiraten soll,“ sagte Dascha mit fester Stimme.
„Unbedingt? Was willst du damit andeuten?“ Warwara Petrowna sah sie streng und unverwandt an. Dascha schwieg und kratzte mit der Nadel am Stickrahmen. – „Du bist sonst zwar gescheit, jetzt aber irrst du dich doch. Es ist mir jetzt doch nur seinetwegen in den Sinn gekommen, dich zu verheiraten. Gäbe es keinen Stepan Trophimowitsch, so dächte ich gar nicht daran, obwohl du bereits zwanzig Jahre alt bist ... Nun?“
„Ich werde tun, was Sie wünschen.“
„Also du bist einverstanden! Wart, sei still, wohin willst du? Ich bin noch nicht fertig. In meinem Testament habe ich dir fünfzehntausend Rubel vermacht. Die gebe ich dir aber schon jetzt sofort nach der Trauung. Davon wirst du ihm achttausend geben, d. h. nicht ihm, sondern mir. Denn er hat eine Schuld von achttausend, die ich bezahlen werde, nur soll er wissen, daß es mit deinem Gelde geschieht. Siebentausend behältst du demnach, davon gib ihm nichts, nicht einen Rubel. Bezahle nie seine Schulden. Tust du es einmal, nimmt das Ausbeuten kein Ende. Ihr werdet von mir fünfzehnhundert Rubel jährlich bekommen, außer der Wohnung und Beköstigung, die ihr auch weiterhin von mir erhalten werdet. Dieses Jahrgeld werde ich dir als ganze Summe auszahlen, in jedem Jahr, unmittelbar in deine Hände. Aber sei auch gut zu ihm und gib ihm zuweilen etwas, und auch seinen Freunden mußt du schon erlauben, ihn zu besuchen, einmal wöchentlich. Kommen sie öfter, so wirf sie hinaus. Aber ich werde ja immer hier sein. Sterbe ich, so bekommt ihr die Pension bis zu seinem Tode, hörst du, bis zu seinem Tode, denn es ist seine und nicht deine Pension. Dir aber werde ich außer den siebentausend, die du dir, wenn du nicht dumm bist, unangebrochen aufheben kannst, noch weitere achttausend testamentarisch vermachen. Aber mehr bekommst du nicht von mir. Damit du’s weißt. Nun, bist du einverstanden? Aber nun antworte doch endlich!“
„Ich habe schon geantwortet, Warwara Petrowna.“
„Vergiß nicht, daß es dein freier Wille ist.“
„Erlauben Sie nur, Warwara Petrowna, hat Stepan Trophimowitsch schon mit Ihnen davon gesprochen?“
„Nein, er hat nichts gesprochen und weiß überhaupt nichts davon, aber ... er wird sofort sprechen!“ – Sie stand hastig auf und nahm ihren schwarzen Schal. Dascha errötete wieder ein wenig und sah ihr mit fragendem Blick nach. Plötzlich wandte sich Warwara Petrowna mit zornflammendem Gesicht zu ihr um und fuhr sie wie ein Habicht an: „Du Törin! Du undankbare Törin! Glaubst du wirklich, daß ich dich auch nur im geringsten bloßstellen werde? Auf den Knien wird er dich anflehen, er wird vergehen müssen vor Glück, so wird das geschehen! Oder glaubst du, daß er dich um dieser Achttausend willen nehmen wird und ich jetzt hinlaufe, um dich zu verkaufen? Törin, Törin, alle seid ihr undankbare Törinnen! Gib mir meinen Schirm!“
Und sie begab sich zu Fuß zu Stepan Trophimowitsch.
In der Tat: sie glaubte aufrichtig, mit dieser Verheiratung Darja nichts Böses anzutun; im Gegenteil, sie hielt sich jetzt erst recht für deren Wohltäterin. Um so größer war daher ihr Unwille, als sie den unsicheren und mißtrauischen Blick ihrer Pflegetochter bemerkte. Sie liebte sie aufrichtig; ja, Praskowja Iwanowna hatte recht, wenn sie Dascha ihren „Liebling“ nannte. Warwara Petrowna hatte sich schon früh gesagt, als Dascha noch ein Kind war, der Charakter dieses Mädchens gleiche entschieden nicht dem ihres Bruders Iwan Schatoff, sie sei still, sanft, sehr aufopferungsfähig, treu, überaus bescheiden, verständig und, was die Hauptsache war, dankbar. „In diesem Leben werden keine Fehler vorkommen,“ sagte sie, als Dascha zwölf Jahre alt war, und da es ihre Art war, sich für jeden Einfall, der ihr gefiel, eigensinnig und leidenschaftlich einzusetzen, hatte sie dann sofort beschlossen, Dascha wie eine leibliche Tochter zu erziehen. Sie legte für sie ein Kapital beiseite und nahm eine Gouvernante ins Haus, Miß Criggs, die bis zu Daschas sechzehntem Jahre bei ihnen blieb. Dann setzten Lehrer vom Gymnasium, ein Franzose und eine arme adelige Dame, die Klavierstunden gab, den Unterricht fort. Aber der Hauptpädagoge war doch Stepan Trophimowitsch, der eigentlich Dascha „entdeckt“ und das stille Kind schon unterrichtet hatte, als es von Warwara Petrowna noch gar nicht beachtet wurde. Ich weise nochmals darauf hin: es war erstaunlich, wie Kinder an ihm hingen. Auch Lisa hatte er von ihrem achten bis elften Jahre unterrichtet (selbstredend unentgeltlich). Er hatte sich in das reizende Kind ganz verliebt und erzählte ihr wie schöne Dichtungen die Einrichtung der Welt, die Geschichte der Menschheit und der ersten Völker. Das war fesselnder als arabische Märchen. Lisa verging vor Begeisterung für diese Geschichten, zu Hause aber kopierte sie ihren Lehrer in einer höchst drolligen Weise. Als dieser sie einmal dabei überraschte, flog sie ihm in ihrer Verlegenheit einfach an den Hals und begann zu weinen. Er aber weinte gleich mit: vor lauter Entzücken. Bald aber reiste Lisa weg und die kleine Dascha blieb allein. Später überließ er den Unterricht den Lehrern, die ins Haus kamen, und kümmerte sich lange Zeit gar nicht mehr um sie. Einmal aber, als Dascha bereits siebzehn war, fiel ihm bei Tisch plötzlich ihre Lieblichkeit auf. Er begann mit ihr zu sprechen, war ersichtlich sehr zufrieden mit ihren Antworten und fragte sie zum Schluß, ob sie nicht mit ihm die Geschichte der russischen Literatur durchnehmen wolle. Warwara Petrowna lobte ihn für den guten Gedanken und dankte ihm. Dascha aber war selig. Doch als er nach den ersten paar Stunden ankündigte, das nächste Mal würden sie das Igorlied durchnehmen, erklärte plötzlich Warwara Petrowna, die wie immer zugegen war, daß es weitere Stunden nicht mehr geben werde. Stepan Trophimowitsch straffte sich, schwieg aber; Dascha wurde feuerrot. – Das hatte sich genau drei Jahre vor Warwara Petrownas jetzigem unverhofften Einfall zugetragen.
Der arme Stepan Trophimowitsch saß ahnungslos allein zu Hause und hielt trübselig schon lange Ausschau, ob denn nicht ein Bekannter zu ihm komme. Aber es wollte keiner kommen. Ein feiner Sprühregen fiel; es wurde kalt. Er seufzte. Plötzlich sahen seine Augen eine erschreckende Vision: Warwara Petrowna, bei diesem Wetter, auf dem Wege zu ihm! Und zu Fuß! Er war so verblüfft, daß er alles vergaß und sie empfing wie er war: in seiner fraisefarbenen wattierten Hausjacke.
„Ma bonne amie!“[16] rief er ihr mit schwacher Stimme entgegen.
„Sie sind allein, das freut mich. Ich kann Ihre Freunde nicht ausstehen. Wie das hier wieder vollgeraucht ist! Und das Frühstück noch nicht beendet, dabei ist es schon zwölf! Wahrhaftig: Unordnung ist doch Ihre Seligkeit. Und Ihr einziges Behagen. Was sind das für Papierfetzchen auf dem Fußboden? Nastassja, Nastassja! Mach’ mir mal hier alle Fenster auf, Mütterchen! Wir gehen in den Salon. Ich habe mit Ihnen zu reden. Du aber fege hier doch wenigstens einmal im Leben aus! ... Schließen Sie gut die Tür, Nastassja wird natürlich horchen. Setzen Sie sich und hören Sie zu. Wohin, wohin? Wohin wollen Sie?“
„Ich ... sofort ... ich bin sofort wieder da ...“
„Ah, Sie haben den Rock gewechselt.“ Sie musterte ihn spöttisch. „Der paßt allerdings besser zu ... unserem Gespräch. Aber so setzen Sie sich doch endlich, ich bitte Sie!“
Sie erklärte ihm alles mit einem Schlage, scharf und einleuchtend. Sie streifte auch die Achttausend, die er so nötig hatte. Sie sprach ausführlich von der Mitgift. Er riß die Augen auf und begann zu zittern. Er hörte alles, aber er konnte nichts klar erwägen. Er wollte etwas entgegnen, aber die Stimme versagte.
„Mais, ma bonne amie, zum dritten Mal und in meinen Jahren, und mit einem solchen Kinde!“ brachte er schließlich hervor. „Mais c’est une enfant!“[28]
„Das schon zwanzig Jahre alt ist, gottlob! Sie sind ein sehr kluger und gelehrter Mann, aber vom Leben verstehen Sie nichts. Sie werden ewig eine Kinderfrau nötig haben. Sterbe ich, was wird dann aus Ihnen? Sie aber ist ein bescheidenes, verständiges, charakterfestes Mädchen; zudem werde ich ja selbst immer hier sein, ich sterbe ja nicht gleich. Sie ist häuslich, ist ein Engel an Sanftmut. Dieser glückliche Gedanke kam mir schon in der Schweiz. Begreifen Sie auch: ich selbst sage es Ihnen, daß sie ein Engel ist!“ rief sie plötzlich jähzornig. „Sie bilden sich wohl ein, daß ich Sie noch bitten, alle Vorzüge aufzählen muß! Nein, Sie müßten auf den Knien ... Oh, Sie leerer, leerer, engherziger Mensch!“
„Aber ich ... ich bin doch schon ein Greis!“
„Fünfzig Jahre sind nicht das Ende, sondern nur die Hälfte des Lebens. Sie sind ein schöner Mann und wissen das selbst. Sie wissen auch, wie sehr Dascha Sie verehrt. Und wenn ich sterbe, was wird dann aus ihr? Sie haben einen angesehenen Namen, ein liebevolles Herz. Sie werden sie bilden, werden sie retten, ja retten! Inzwischen wird auch Ihr Werk fertig werden und das wird Ihren Ruhm erneuern ...“
„Allerdings ... bin ich gerade im Begriff, meine ‚Skizzen aus der spanischen Geschichte‘ vorzunehmen ...“
„Nun sehen Sie, das trifft sich ja ausgezeichnet.“
Stepan Trophimowitsch schwindelte der Kopf; die Wände drehten sich um ihn herum. „Excellente amie!“[12] ... seine Stimme zitterte plötzlich, „ich ... ich hätte nie gedacht, daß Sie mich je mit ... einer anderen ... verheiraten könnten!“
„Sie sind doch kein junges Mädchen, das man verheiratet, Sie heiraten doch selbst,“ stieß sie giftig hervor.
„Oui, j’ai pris un mot pour un autre ... Mais ... c’est égal[29] ...“ Er sah sie wie verloren an.
„Das sehe ich, daß Ihnen das égal[30] ist,“ sagte sie mit bissiger Verachtung. „Herrgott, er wird ja ohnmächtig! Nastassja, Nastassja! Wasser!“ – Aber er kam schon wieder zu sich. Warwara Petrowna nahm ihren Schirm. „Ich sehe, daß man mit Ihnen jetzt nicht reden kann ...“
„Oui, oui, je suis incapable[31] ...“
„Aber bis morgen müssen Sie sich erholt und entschlossen haben. Bleiben Sie zu Hause. Aber schreiben Sie mir keine Briefe; werde sie nicht lesen. Morgen werde ich um dieselbe Zeit wiederkommen, allein, und ich hoffe, daß Ihre Antwort eine befriedigende sein wird. Sorgen Sie dafür, daß dann niemand hier ist und daß in den Zimmern Ordnung herrscht, denn wie sieht das hier aus! Nastassja, Nastassja! ...“
Natürlich war er am nächsten Tage einverstanden. Es blieb ihm ja auch nichts anderes übrig, – aus einem besonderen Grunde ...
Das Gut, das seine erste Frau hinterlassen hatte, gehörte nicht ihm, sondern seinem Sohn. Stepan Trophimowitsch hatte es sozusagen nur verwaltet und auf Grund einer Abmachung dem Sohn tausend Rubel jährlich als Einnahme des Gutes zugesandt. Das heißt: diese Summe war regelmäßig von Warwara Petrowna entrichtet worden, Stepan Trophimowitsch aber hatte auch nicht einen Rubel dazu beigesteuert. Die ganze Einnahme vom Gut, die übrigens nur fünfhundert Rubel im Jahre betrug, hatte er immer selbst verbraucht, dazu das Gut schließlich noch ruiniert, da er es ohne Warwara Petrownas Wissen an einen Händler verpachtet und den Wald, der das Wertvollste war, nach und nach parzellenweise zum Abholzen verkauft hatte, wenn er größere Spielverluste im Klub Warwara Petrowna doch nicht zu gestehen wagte. Für diesen Wald, der etwa achttausend Rubel wert war, hatte er im ganzen nur fünftausend erhalten. Sie knirschte natürlich, als sie das schließlich erfuhr. Aber nun hatte der Sohn plötzlich geschrieben, er werde kommen, um das Gut zu verkaufen, und den Vater beauftragt, sich inzwischen nach Käufern umzusehen. Selbstredend schämte sich nun Stepan Trophimowitsch bei seiner großzügigen und nicht materialistischen Einstellung zu solchen Dingen vor ce cher fils,[32] den er übrigens zuletzt vor neun Jahren in Petersburg als Studenten gesehen hatte. Der Wert des Gutes war von etwa vierzehn- auf kaum fünftausend Rubel gesunken. Wie sollte er das diesem Sohne nun sagen? Freilich hätte er als offiziell Bevollmächtigter den Wald verkaufen dürfen, und da dem Sohn jahrelang tausend Rubel statt etwa fünfhundert geschickt worden waren, konnte er auch einer Abrechnung ruhig entgegensehen. Doch Stepan Trophimowitsch war nun einmal ein nobler Mensch, der Höheres im Sinne hatte. In seiner Phantasie stellte er sich ein ganz anderes Bild vor: wie er diesem cher fils, wenn er endlich kam, die ganze Summe auf den Tisch legte, ohne die doppelt gezahlten Jahresraten überhaupt zu erwähnen, wie er ihn unter Tränen fest an seine Brust drückte und damit alle Abrechnungen für immer aus der Welt schaffte. Vorsichtig hatte er auch Warwara Petrowna für dieses schöne Bild zu gewinnen gesucht. Er deutete an, daß eine solche Einstellung zu einer pekuniären Frage auch ihrer Freundschaft, der „Idee“ dieser Freundschaft noch eine besondere, edle Nuance verleihen würde, sie, d. h. die Väter oder die frühere Generation überhaupt, als so viel selbstloser und großmütiger im Vergleich zu der neuen leichtsinnigen und sozialistischen Jugend hinstellen müßte. Er sprach noch allerhand, aber sie schwieg. Schließlich teilte sie ihm nur trocken mit, daß sie das Gut für siebentausend kaufen wolle. Doch von den fehlenden Achttausend – dem Wert des Waldes – sprach sie kein Wort. Das war etwa einen Monat vor dem Heiratsantrag geschehen.
Was wir hier über diesen seinen Sohn wußten, waren eigentlich nur etwas seltsame Gerüchte. Vor sechs Jahren hatte er das Studium an der Universität beendet und sich dann ohne Beschäftigung in Petersburg herumgetrieben. Plötzlich hieß es, er habe sich an der Abfassung einer geheimen Proklamation beteiligt; und bald darauf verlautete, er sei bereits in der Schweiz. Also geflüchtet.
„Das wundert mich,“ sagte damals Stepan Trophimowitsch, sichtlich bestürzt „Petrúscha – c’est une si pauvre tête![33] ... Aber wissen Sie, das kommt alles von eben diesem Unausgebrütetsein, und von der Empfindsamkeit! Was sie fesselt, ist nicht der Realismus, sondern die empfindsame, ideale Seite des Sozialismus, sozusagen seine religiöse Färbung, seine Poesie ... ins Blaue hinein, natürlich. Und gerade mir, mir muß das widerfahren! Ich habe hier schon so viele Feinde, dort noch mehr, man wird es also dem Einflusse des Vaters zuschreiben ... Gott! Petrúscha ein Aufwiegler! In was für Zeiten leben wir!“
Übrigens schickte „Petrúscha“ aus der Schweiz sehr bald seine genaue Adresse, damit ihm das Geld wie gewöhnlich zugesandt werde: also war er doch kein Emigrant von jener Art. Und jetzt, nach etwa vierjährigem Aufenthalt im Auslande, war er schon wieder im Vaterlande und kündete sogar seinen Besuch an; somit konnte doch überhaupt keine Anklage gegen ihn vorliegen. Ja, nicht nur das: es schien ihn jemand sogar zu protegieren. Er schrieb jetzt aus Südrußland, wo er sich in jemandes privatem Auftrage befand und etwas Wichtiges auszuführen hatte. Das war ja alles sehr schön, aber woher nun die fehlenden Achttausend nehmen, um den vollen Wert des Gutes auszahlen zu können? Wie nun, wenn es statt zu jenem schönen Charakterbilde plötzlich zu einem Prozeß kam? Eine unbestimmte Empfindung sagte Stepan Trophimowitsch, daß ce cher fils auf keines seiner Anrechte verzichten werde. „Woher kommt das,“ fragte er mich damals einmal halblaut, „daß alle diese fanatischen Sozialisten und Kommunisten gleichzeitig so geizig, erwerbsbeflissen und besitzstolz sind, ja je mehr einer Sozialist ist, je weiter er dabei geht, um so mehr ist er selber gerade ‚Besitzer‘. Sollte das wirklich auch von der Empfindsamkeit herrühren?“ Ich weiß nicht, ob an dieser Beobachtung Stepan Trophimowitschs etwas Wahres ist. Damals wußte ich nur, daß Petrúscha von dem Verkauf des Waldes bereits einiges erfahren hatte, und auch Stepan Trophimowitsch wußte das. Und da kamen nun diese Achttausend mit dem Vorschlage Warwara Petrownas plötzlich herbeigeflogen! Aber sie gab auch deutlich zu verstehen, daß sie auf keinem anderen Wege herbeifliegen würden. Selbstredend erklärte er sich einverstanden.
Damals, nach ihrem ersten Morgenbesuch, ließ er mich sofort dringend zu sich bitten. Er war sehr erregt, redete viel und gut, weinte zwischendurch, dann gab es eine leichte Cholerine, kurz, alles verlief wie gewöhnlich. Darauf holte er das Bild seiner zweiten Frau hervor, der Deutschen, rief: „Kannst du mir verzeihen?“, weinte wieder und war überhaupt wie aus dem Konzept gebracht. Vor Kummer tranken wir ein bißchen. Übrigens schlief er bald und süß ein. Am folgenden Morgen band er meisterhaft seine weiße Halsbinde, kleidete sich mit Sorgfalt an und besah sich oft im Spiegel. Sein Taschentuch bespritzte er mit Parfüm, übrigens nur ein wenig, doch als er Warwara Petrowna kommen sah, nahm er schnell ein anderes und steckte das parfümierte unter ein Kissen.
„Vortrefflich!“ lobte ihn Warwara Petrowna, als sie die Erklärung seines Einverständnisses vernommen hatte. „Endlich einmal sind Sie der Stimme der Vernunft gefolgt. Es eilt übrigens nicht,“ fügte sie hinzu, während sie den Knoten seiner Halsbinde betrachtete. „Vorläufig schweigen Sie, auch ich werde darüber schweigen. Bald ist Ihr Geburtstag, ich werde dann mit ihr zu Ihnen kommen. Geben Sie eine kleine Abendgesellschaft, nur Tee, keine Spirituosen, bitte; übrigens, ich werde das selbst arrangieren. Dann können wir – nicht eine Verlobung feiern, sondern es nur zu verstehen geben, ohne alle Feierlichkeiten. Und zwei Wochen später kann dann die Hochzeit stattfinden, gleichfalls ohne Lärm. Nach der Trauung könnten Sie beide ein wenig verreisen, nach Moskau, zum Beispiel. Vielleicht fahre ich mit. Doch die Hauptsache: bis dahin schweigen Sie.“
Stepan Trophimowitsch war erstaunt. Stotterte etwas von vorher mit der Braut doch sprechen müssen usw. Doch zu seiner Verblüffung fiel sie ihm gereizt ins Wort: „Wozu denn das? Vielleicht wird überhaupt nichts daraus ...“ Und auf seinen verständnislosen Blick aus aufgerissenen Augen: „Nun ja. So. Ich werde noch sehen ... Übrigens wird alles so geschehen, wie ich gesagt habe, seien Sie unbesorgt, ich werde Darja selbst vorbereiten. Alles Nötige wird ohne Sie gesagt und getan werden, Sie haben da überhaupt keine Rolle zu spielen. Und keine Briefe zu schreiben! Und daß Sie nichts verlauten lassen. Ich werde gleichfalls schweigen.“
Sie wollte ihm offenbar nichts erklären und verließ ihn sichtlich verstimmt. Eine solche Bereitwilligkeit seinerseits hatte sie doch wohl überrascht. Er aber – ach! – er überschaute seine Handlungsweise ganz und gar nicht, sah sie überhaupt nur von seinem Gesichtspunkt aus. Ja, es stellte sich bei ihm sogar ein gewisser neuer Ton ein, etwas Siegesgewisses und Leichtsinniges. Er fühlte sich!
„Das gefällt mir!“ rief er aus und blieb aufgebracht und wichtig vor mir stehen. „Haben Sie es gehört? Sie will es so weit treiben, daß ich schließlich nicht mehr will. Denn ich könnte doch auch einmal meine Geduld verlieren und ... nicht mehr wollen. ‚Wozu denn das?‘ fragt sie mich. Aber warum muß ich denn unbedingt heiraten? Nur weil sie plötzlich den lächerlichen Einfall hat? Aber ich bin doch ein ernster Mensch und habe vielleicht gar keine Lust, mich den Launen einer unvernünftigen Frau zu fügen! Ich habe Pflichten meinem Sohne gegenüber und ... und gegen mich selbst! Ich bringe ein Opfer – begreift sie das auch? Vielleicht habe ich nur deshalb eingewilligt, weil das Leben mir langweilig geworden und alles mir schließlich gleich ist. Aber wenn sie mich reizt, könnte es geschehen, daß mir plötzlich nicht mehr alles gleich ist! Ich kann mich beleidigt fühlen und mich weigern! Et enfin le ridicule[34] ... Was werden die Menschen sagen! ‚Vielleicht wird überhaupt nichts daraus‘ –! Das ist denn doch! ... Das ist der Gipfel! Das ist ... ja was soll denn das heißen? Je suis un forçat, un Badinguet, un[35] an die Wand gedrückter Mensch! ...“
Und dabei blickte doch etwas launisch Selbstgefälliges, etwas leichtfertig Spielerisches durch alle diese anklagenden Ausrufe hervor. Am Abend tranken wir wieder ein wenig.
Es verging ungefähr eine Woche und die Sache begann sich hinzuziehen. Nebenbei bemerkt: ich hatte in dieser Zeit als sein einziger, ihm ewig unentbehrlicher Vertrauter viel auszustehen. Er schämte sich, und das war die Hauptursache seiner Qual. Er schämte sich vor allen Menschen, glaubte, die ganze Stadt wisse es bereits, und so saß er denn nur zu Hause und empfing keinen außer mir! Ja, er schämte sich sogar vor mir, und je mehr er sich mir gegenüber aussprach, um so mehr ärgerte er sich gleichzeitig über mich. Eine Woche war so vergangen, er aber wußte noch immer nicht, ob er nun Bräutigam war oder noch unverlobt. Auch die Braut hatte er noch nicht gesprochen, ja, war sie denn überhaupt seine Braut? ja, war das Ganze überhaupt ernst gemeint? Aus einem ihm unbekannten Grunde lehnte Warwara Petrowna es ab, ihn zu empfangen, und auf einen seiner ersten Briefe (er schrieb natürlich wieder unzählige) hatte sie ihm kurzweg geantwortet, sie müsse ihn bitten, sie für einige Zeit mit Briefen, Fragen und Besuchen zu verschonen, da sie sehr beschäftigt sei; sie habe ihm selbst viel Wichtiges mitzuteilen, warte dazu aber den ersten freieren Augenblick ab und werde ihn dann schon wissen lassen, wann er wieder zu ihr kommen könne. Weitere Briefe werde sie ihm uneröffnet zurückschicken, denn das sei doch nur „Spielerei“.
Doch selbst diese Kränkungen und die Ungewißheit waren noch nichts im Vergleiche zu der Qual eines einzigen und ganz bestimmten Gedankens, der ihn unausgesetzt verfolgte und der die Hauptursache seiner Scheu vor den Menschen war. Natürlich hatte ich die Richtung dieses Gedankens schon längst erraten, und das merkte er, wie es ihm auch nicht entging, daß mich die Häßlichkeit dieses Verdachts, der in ihm beim Suchen nach einer Erklärung für Warwara Petrownas seltsamen Heiratsplan erwacht war, aufrichtig empörte. Er wagte nicht, diesen Verdacht offen auszusprechen, und doch schien er an ihm fast zu ersticken. Er konnte keine zwei Stunden ohne mich auskommen, ließ mich immer wieder zu sich bitten, doch wenn ich dann kam, sprach er wieder bloß von allem Möglichen, nur nicht von dem, was ihn so qualvoll beschäftigte. Das ärgerte mich doppelt und mein Ärger ärgerte wiederum ihn. Manches andere freilich erkannte er sehr richtig und definierte es sogar sehr treffend.
„Oh, wie hat sie sich verändert!“ klagte er unter anderem über Warwara Petrowna. „War sie denn damals so, als wir noch über hohe Dinge diskutierten! Werden Sie es mir glauben, damals hatte sie Gedanken, eigene Gedanken! Jetzt ist alles anders. Sie sagt, das sei alles nur altmodisches Geschwätz! Sie verachtet das Frühere ... Jetzt ist sie so ein Kommis, so ein Ökonom, ein erbitterter Mensch, und immer ärgert sie sich ...“
„Worüber kann sie sich denn jetzt noch ärgern, Sie haben doch ihren Wunsch erfüllt und eingewilligt,“ warf ich ein. – Er sah mich mit einem feinen Lächeln an.
„Cher ami, hätte ich nicht eingewilligt, so hätte sie sich allerdings furchtbar geärgert, furcht–bar! Aber immerhin weniger als jetzt, wo ich eingewilligt habe.“
Mit dieser Bemerkung schien er sehr zufrieden zu sein. Aber die Zufriedenheit hielt nicht lange vor; bald war er wieder finsterer und erregter als je. Was nun mich betrifft, so ärgerte ich mich vor allem darüber, daß er noch immer nicht Drosdoffs seinen Besuch machte, obschon diese ihn längst erwarteten. Dabei hatte er selbst eine Art Sehnsucht nach Lisaweta Nicolajewna und schien zu hoffen, in ihrer Gegenwart gewissermaßen eine Erleichterung seiner jetzigen Qualen und Klarheit über seine Zweifel zu finden. Nach dem Entzücken zu urteilen, mit dem er von ihr sprach, mußte er sie für ein außergewöhnliches Wesen halten. Und doch ging er nicht hin, sondern schob den Besuch von Tag zu Tag auf. Ich ärgerte mich darüber maßlos, denn: ich brannte darauf, ihr vorgestellt zu werden, und diesen Dienst konnte nur er mir erweisen. Gesehen hatte ich sie schon oft, aber natürlich nur auf der Straße, wenn sie in Begleitung eines hübschen Offiziers, ihres sogenannten Verwandten, spazieren ritt. Meine Verblendung dauerte zwar nur kurze Zeit und ich sah ja die Aussichtslosigkeit meiner Schwärmerei sehr bald ein, aber damals war ich doch empört über meinen Freund wegen seiner Scheu, Drosdoffs seinen Besuch zu machen oder auch nur das Haus zu verlassen. Und das alles wegen jenes häßlichen Verdachts! Unser Freundeskreis war von ihm schon am ersten Tage brieflich benachrichtigt worden, daß die Abende bei ihm zeitweilig ausfallen müßten, und später hatte ich noch auf seine inständige Bitte hin, (damit nur ja niemand sich darüber wundere und eine andere Ursache vermute) jeden einzeln aufsuchen und ihm erklären müssen, daß Warwara Petrowna „unserem Alten“, wie wir ihn unter uns nannten, eine große eilige Arbeit aufgetragen habe: einen mehrjährigen Briefwechsel in Ordnung zu bringen und Ähnliches. Nur zu Liputin war ich noch nicht gegangen und ich wollte es auch nicht recht; ich wußte im voraus, daß er mir doch kein Wort glauben, vielmehr sofort argwöhnen werde, daß man gerade vor ihm etwas geheimhalten wolle. Und dann würde er natürlich in der Stadt überall herumlaufen, um sich zu erkundigen, und dabei nur Klatsch verbreiten. Da traf ich ihn plötzlich ganz zufällig auf der Straße. Ich begann mich zu entschuldigen, ich sei noch nicht dazu gekommen, ihn gleichfalls aufzusuchen usw., doch er unterbrach mich sogar und zeigte seltsamerweise gar keine Neugier, ja, er ging selbst sofort auf ein anderes Thema über und begann seinerseits die Neuigkeiten zu erzählen, die sich bei ihm inzwischen angesammelt hatten. Zunächst berichtete er von der Ankunft der Gemahlin unseres neuen Gouverneurs, die „neue Gesprächsthemata“ mitgebracht habe, und von der Opposition gegen diese Themata, die sich im Klub schon gebildet habe; alle Welt rede jetzt von neuen Ideen, alle seien hinter ihnen her usw. usw. Kurz, er erzählte eine gute Viertelstunde, und zwar so amüsant, daß ich mich nicht loszureißen vermochte, obschon ich ihn persönlich nicht ausstehen konnte. Er war in meinen Augen der geborene Spion, der alle Stadtgeheimnisse wußte, besonders alle skandalösen, und sein vorherrschender Charakterzug war, wie mir schien, der Neid. Als ich Stepan Trophimowitsch von dieser Begegnung erzählte, regte er sich, zu meiner Verwunderung, unglaublich auf und stellte die seltsame Frage: „Weiß Liputin schon etwas davon oder weiß er noch nichts?“ Ich suchte ihn zu beruhigen und zu überzeugen, daß Liputin doch unmöglich von Warwara Petrownas Plan etwas gehört haben könne; durch wen denn? Aber sein Argwohn blieb und plötzlich sagte er:
„Glauben Sie es mir oder glauben Sie es nicht, aber ich bin überzeugt, daß ihm nicht nur unsere Lage bereits bekannt ist, sondern daß er außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie wissen, und was wir vielleicht auch nie erfahren werden, oder erst dann, wenn es schon zu spät ist, wenn es kein Zurück mehr gibt!“
Ich schwieg, aber diese Worte deuteten doch vieles an. Er aber bereute sichtlich schon im nächsten Augenblick, sie ausgesprochen und seinen Verdacht verraten zu haben.
Eines Morgens – es war am siebenten oder achten Tage nach Stepan Trophimowitschs Einwilligung zu heiraten – hatte ich, als ich wie gewöhnlich gegen elf Uhr zu meinem bekümmerten Freunde eilte, unterwegs ein kleines Erlebnis: ich begegnete Karmasinoff[26], dem „großen Schriftsteller“, wie Liputin ihn zu nennen pflegte.
Karmasinoffs Schriften hatten mich in meinen Jünglingsjahren entzückt, begeistert. Seine späteren tendenziösen Novellen gefielen mir viel weniger als seine ersten Werke, die noch viel Poesie enthielten; manche aber sagten mir gar nicht mehr zu. Und zuletzt hatte ich eine Skizze von ihm gelesen, die ungeheure Aussprüche darauf erhob, naive Poesie und zugleich höchste Psychologie zu bringen. Diese Skizze sollte den Untergang eines Schiffes irgendwo an der englischen Küste schildern, den er als Augenzeuge miterlebt hatte, doch in Wirklichkeit schilderte sie nur ihn, den Verfasser. Man las es förmlich zwischen den Zeilen: „So seht doch auf mich, seht, wie ich in diesen Augenblicken war! Was geht euch dieses Meer an, der Sturm usw., ich bin es doch, der euch das mit genialer Feder schildert!“ Als ich damals Stepan Trophimowitsch meine Meinung über diese Skizze sagte, stimmte er mir bei. Trotzdem hätte ich Karmasinoff jetzt, während seines Besuches in unserer Stadt, gern gesehen oder gar seine Bekanntschaft gemacht, was durch Stepan Trophimowitschs Vermittlung möglich war; sie waren ja früher befreundet gewesen. Und da begegnete ich ihm nun plötzlich an einer Straßenecke. Ich erkannte ihn sofort; man hatte ihn mir schon vor drei Tagen gezeigt, als er mit der Gouverneurin in einer Equipage vorüberfuhr.
Er war ein sehr kleiner, gezierter alter Herr, übrigens wohl nicht über fünfundfünzig Jahre alt, mit ziemlich frischem Gesichtchen, dichten grauen Löckchen, die unter seinem runden Zylinderhut hervorquollen und sich um seine kleinen, netten, rosafarbenen Ohren ringelten. Sein sauberes Gesichtchen war nicht gerade hübsch, mit den dünnen, langen, verschlagen geschlossenen Lippen, der etwas fleischigen Nase und den stechenden, klugen kleinen Äuglein. Er war eigentlich etwas altmodisch gekleidet, wenigstens erinnerte der Mantel, den er trug, an die Umhänge, die bei Regenwetter etwa in der Schweiz oder in Oberitalien getragen werden. Dafür aber waren alle die kleinen Sachen, wie Hemdknöpfchen, das Krägelchen, die Schildpattlorgnette am schmalen schwarzen Bändchen, der Ring am Finger unbedingt genau von der Art, wie sie von Leuten des untadelig guten Tones getragen werden.
Er blieb an der Straßenecke stehen und sah sich aufmerksam um. Als er bemerkte, daß ich ihn neugierig ansah, wandte er sich an mich und fragte mit honigsüßem, wenn auch kreischendem Stimmchen:
„Gestatten Sie die Frage, wie komme ich auf dem nächsten Wege zur Bykoffstraße?“
„Zur Bykoffstraße? Hier ... hier geradeaus,“ rief ich erregt, „und dann die zweite Querstraße links.“
„Ich danke Ihnen sehr.“
Verwünscht sei dieser Augenblick! Er hatte aus meiner Verlegenheit und Erregung natürlich sofort alles erraten, d. h. daß ich wußte, wer er war, daß ich seine Werke verschlungen hatte und darum so befangen und so dienstbeflissen war. Er lächelte, nickte und ging weiter. Ich weiß nicht, warum ich ihm nachging. Da blieb er wieder stehen.
„Und könnten Sie mir auch angeben, wo hier in der Nähe Droschken stehen?“ kreischte wieder seine Stimme.
„Droschken? Hier ... bei der Kirche stehen immer welche!“ und fast wäre ich selbst nach einer Droschke gelaufen. Ich vermute, daß er gerade das von mir auch erwartete. Natürlich kam ich sofort zur Besinnung und blieb stehen, aber meine erste Bewegung hat er bestimmt bemerkt, da er mich die ganze Zeit mit diesem schändlichen Lächeln scharf beobachtete. Da aber geschah etwas für mich Unvergeßliches: er ließ plötzlich ein Säckchen oder eine Art Täschchen fallen, das er in der linken Hand trug. Und ich machte unwillkürlich eine Bewegung, um es aufzuheben. Natürlich besann ich mich sofort und hob es nicht auf, nur wurde ich rot wie ein Dummkopf. Er aber nutzte die Situation raffiniert zu seinen Gunsten aus.
„Bemühen Sie sich nicht, ich kann ja selbst ...“ sagte er in bezaubernd liebenswürdigem Tone, aber erst, als kein Zweifel mehr darob bestand, daß ich es nicht aufheben würde. Er hob es selbst auf, nickte mir zu und ging weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen stehen ließ. Das war ebensogut, als hätte ich es aufgehoben. In den ersten fünf Minuten hielt ich mich für lebenslänglich blamiert; doch als ich mich dem Hause Stepan Trophimowitschs näherte, lachte ich plötzlich laut auf: die Begegnung kam mir so komisch vor, daß ich sofort beschloß, sie meinem Freunde zur Erheiterung zu erzählen.
Aber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung ganz verändert vor. Er stürzte mir freilich mit einer gewissen Spannung entgegen und begann mir zuzuhören, aber er war doch sichtlich so zerstreut, daß er meinen Bericht anfangs gar nicht verstand. Kaum aber hatte ich den Namen Karmasinoff ausgesprochen, als er plötzlich geradezu außer sich geriet.
„Reden Sie nicht von ihm, nennen Sie ihn nicht!“ rief er fast wie rasend. „Hier, hier, sehen Sie, lesen Sie!“ Er riß ein Schubfach auf und warf mir drei kleine Zettel zu. Es waren drei Zuschriften Warwara Petrownas an ihn, die sich alle auf Karmasinoff bezogen und deutlich ihre Besorgnis verrieten, der „große Schriftsteller“ könnte vergessen, ihr seine Visite zu machen. Das erste Briefchen, das sie vor drei oder vier Tagen geschrieben hatte, lautete:
„Sollte er Sie heute endlich beehren, so bitte von mir kein Wort. Erwähnen Sie mich überhaupt nicht und erinnern Sie ihn nicht daran. W. S.“
Der zweite Zettel vom vergangenen Tage lautete:
„Sollte er sich heute endlich entschließen, Ihnen seine Visite zu machen, so dürfte es das beste sein, ihn überhaupt nicht zu empfangen. Das wäre meine Meinung. Wie die Ihre ist, weiß ich nicht. W. S.“
Und den dritten hatte er vor einer Stunde erhalten:
„Ich bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern eine Fuhre Papierschnippel und allerhand umherliegt und der Zigarrenrauch undurchdringlich ist. Ich schicke Ihnen Marja und Fómuschka, die werden in einer halben Stunde alles aufräumen. Stören Sie sie nicht, setzen Sie sich so lange in die Küche. Ich sende Ihnen einen bucharischen Teppich und zwei chinesische Vasen, die ich Ihnen schon lange schenken wollte, und außerdem meinen Teniers (diesen aber nur für einige Zeit). Die Vasen könnte man aufs Fensterbrett stellen und den Teniers hängen Sie rechts unter Goethes Porträt, dort ist er sichtbarer. Wenn er endlich erscheint, so empfangen Sie ihn mit vollendeter Höflichkeit, aber reden Sie nur von Belanglosem, z. B. von irgendetwas Gelehrtem, und mit einem Gleichmut, als hätten Sie sich erst gestern getrennt. Über mich kein Wort. Vielleicht komme ich am Abend zu Ihnen, um zu sehen, wie es aussieht. W. S.
P. S. Wenn er heute nicht kommt, so wird er überhaupt nicht kommen.“
Ich las und wunderte mich im stillen, daß solche Kleinigkeiten ihn so erregen konnten. Als ich aufsah bemerkte ich, daß er inzwischen seine weiße Halsbinde mit einer roten vertauscht hatte. Hut und Stock lagen auf dem Tisch. Er war blaß und seine Hände zitterten.
„Ich will von ihren Besorgnissen nichts wissen!“ schrie er empört als Antwort auf meinen fragenden Blick. „Je m’en fiche![36] Ihr fällt es ein, sich wegen Karmasinoff aufzuregen, aber auf meine Briefe antwortet sie mir nicht! Dort, sehen Sie, dort auf dem Schreibtisch liegt mein Brief, den sie mir gestern uneröffnet zurückgeschickt hat! Was geht es mich an, daß sie sich um Ni–kó–lenka Sorgen macht! Je m’en fiche et je proclame ma liberté! Au diable le Karmazinoff! Au diable la Lembke![37] Die chinesischen Vasen habe ich im Vorzimmer versteckt und den Teniers in der Kommode untergebracht, von ihr aber habe ich verlangt, mich sofort zu empfangen. Jawohl: verlangt, mich sofort zu empfangen, sofort! Ich habe ihr genau solch einen mit Bleistift geschriebenen Zettel unversiegelt durch Nastassja geschickt und warte jetzt. Ich will, daß Darja Pawlowna mir persönlich sagt, was gesagt werden muß, mit eigenem Munde und vor dem Angesicht des Himmels oder wenigstens vor Ihnen. Vous me seconderez, n’est-ce pas, comme ami et témoin.[38] Ich will nicht erröten müssen, ich will nicht lügen müssen, ich will keine Geheimnisse, in dieser Sache werde ich Geheimnisse nicht dulden! Sie sollen mir alles gestehen, ehrlich, offen und anständig, und dann ... dann werde ich vielleicht die ganze heutige Generation durch meine Großmut in Erstaunen setzen! ... Bin ich denn ein Schuft, mein Herr?“ schloß er plötzlich und sah mich so drohend an, als hätte gerade ich ihn für einen Schuft gehalten.
Ich bat ihn, zur Beruhigung ein wenig Wasser zu trinken. So erregt hatte ich ihn noch nie gesehen. Er lief die ganze Zeit hin und her. Plötzlich blieb er in einer ganz ungewöhnlichen Pose vor mir stehen.
„Glauben Sie wirklich,“ begann er mit krankhaftem Hochmute, mich vom Kopfe bis zu den Füßen messend, „daß ich, Stepan Werchowenski, nicht so viel sittliche Kraft in mir fände, um meine Habe – mein armseliges Bündel! – auf meine schwachen Schultern zu laden, zum Tore hinauszugehen und für immer von hier zu verschwinden, wenn das die Ehre und das hohe Prinzip der Unabhängigkeit fordern? Es wäre nicht das erste Mal, daß Stepan Werchowenski Despotismus durch Großmut zurückweist, selbst wenn es sich um den Despotismus eines wahnsinnigen Weibes handelt, also um den kränkendsten und grausamsten Despotismus, den es auf der Welt überhaupt geben kann, wiewohl Sie soeben beliebten, über meine Worte zu lächeln, mein Herr! Oh, Sie glauben natürlich nicht, daß ich soviel Großmut aufzubringen vermöchte, um mein Leben lieber bei einem Kaufmann als Hauslehrer zu beschließen oder hinter einem Zaune Hungers zu sterben! Antworten Sie mir, antworten Sie sofort: trauen Sie mir das zu oder trauen Sie’s mir nicht zu?“
Ich schwieg aber absichtlich. Ich tat sogar, als brächte ich es nicht über mich, ihn durch eine verneinende Antwort zu kränken, und könnte doch auch nicht bejahend antworten. In diesem ganzen Benehmen lag etwas, was mich entschieden verletzte, nicht mich persönlich, o nein! ... Ich werde das später erklären. Er wurde blaß.
„Vielleicht langweilt Sie überhaupt der Umgang mit mir, G–ff“ (dies ist mein Familienname), „und Sie würden lieber ... den Verkehr mit mir ganz aufgeben?“ fragte er in jenem Tone bleicher Ruhe, die gewöhnlich einem außergewöhnlichen Ausbruch vorhergeht. Ich sprang erschrocken auf; in dem Augenblick kam Nastassja herein und übergab ihm schweigend einen Zettel. Er warf einen Blick darauf und reichte ihn mir. Auf dem Papier standen nur vier Worte von Warwara Petrowna: „Bleiben Sie zu Hause.“
Stepan Trophimowitsch nahm schweigend Hut und Stock und ging zur Tür; ich wollte ihm unwillkürlich folgen. Da hörten wir plötzlich Stimmen und Schritte im Korridor. Er blieb wie vom Donner gerührt stehen.
„Liputin! Ich bin verloren!“ flüsterte er und packte mich am Arm. – Da trat Liputin schon ins Zimmer.
Warum er durch Liputins Besuch verloren sei, wußte ich mir zwar nicht zu erklären, aber sein Schreck war doch so auffallend, daß ich beschloß, hier acht zu geben. Schon die Art, wie Liputin auftrat, sagte einem sofort, daß er heute trotz aller Verbote ein besonderes Recht zum Eintritt zu haben glaubte. Er brachte einen uns unbekannten Herrn mit, offenbar einen Zugereisten. Als Antwort auf den leeren Blick des starr dastehenden Stepan Trophimowitsch rief er sogleich laut:
„Ich bringe einen Gast mit, einen besonderen! Ich wage es, Ihre Einsamkeit zu stören. Herr Kirilloff, ein hervorragender Ingenieur der Wegebaukunst. Doch das Wichtigste ist: er kennt Ihren Sohn, sogar sehr gut, und hat einen Auftrag von ihm.“
„Den Auftrag haben Sie hinzugefügt,“ sagte der Gast schroff, „davon habe ich nichts. Aber Werchowenski kenne ich. Das ist so. Ich habe ihn im Gouvernement Ch. verlassen. Zehn Tage zurück.“[27]
Stepan Trophimowitsch reichte ihm mechanisch die Hand und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Dann sah er mich an, dann Liputin und plötzlich, wie sich besinnend, setzte er sich selbst schnell hin, behielt aber Hut und Stock, offenbar unbewußt, in der Hand.
„Aber was sehe ich, Sie wollen selbst ausgehen!“ rief Liputin. „Und mir hat man doch gesagt, Sie seien vor lauter Arbeit ganz krank!“
„Ja, ich fühle mich nicht wohl und wollte deshalb spazieren gehen. Ich ...“ Stepan Trophimowitsch stockte plötzlich, warf schnell Hut und Stock auf den Diwan und – errötete.
Ich sah mir inzwischen schnell den Gast näher an. Er war ein junger Mann von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, anständig gekleidet, gutgewachsen und mager, brünett, mit blassem Gesicht von gleichsam ein wenig erdig-brauner Hautfarbe und mit schwarzen glanzlosen Augen. Er schien nachdenklich und zerstreut zu sein, sprach seltsam abgebrochen und grammatisch geradezu falsch, wenigstens stellte er die Worte sehr sonderbar zusammen und bei jedem längeren Satz gerieten sie ihm anscheinend durcheinander. Liputin, dem Stepan Trophimowitschs Schreck natürlich nicht entgangen war, hatte für sich einen Rohrstuhl fast bis in die Mitte des Zimmers gezogen, um in gleicher Entfernung vom Gast und vom Hausherrn sitzen zu können, die einander gegenüber jeder auf einem Diwan Platz genommen hatten. Seine scharfen Augen fuhren neugierig im Zimmer umher.
„Ich ... ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen ... Haben Sie ihn im Auslande getroffen?“ brachte Stepan Trophimowitsch, zum Gast gewandt, unsicher hervor.
„Auch hier und auch im Auslande.“
„Herr Kirilloff ist soeben nach vierjähriger Abwesenheit zurückgekehrt,“ bemerkte Liputin, „aus dem Auslande, wo er sich in seinem Fach vervollkommnet hat, und jetzt ist er zu uns gekommen, da er Aussicht hat, eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke zu erhalten. Ihr Sohn hat ihn in der Schweiz auch mit Drosdoffs bekannt gemacht, und er kennt auch Nicolai Stawrogin!“
„Ja?! ... Ich ... ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen ... und habe eigentlich so wenig das Recht, mich Vater zu nennen ... oui, c’est le mot.[39] Ich ... wie haben Sie ihn denn dort verlassen?“
„Ja, so ... Er wird selbst kommen.“ Herr Kirilloff beeilte sich sichtlich, die Antwort los zu werden. Er war entschieden geärgert, saß finster da und hörte ungeduldig zu.
„Er wird herkommen! Endlich werde ich ... Ja, sehen Sie, ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen!“ Stepan Trophimowitsch kam von diesem Satz nicht los. „Ich erwarte jetzt meinen armen Jungen, vor dem ... oh, vor dem ich so schuldig dastehe! Das heißt, ich wollte sagen, daß ich ihn in Petersburg damals für nichts Besonderes hielt ... ou quelque chose dans ce genre.[40] Der Junge war, wissen Sie, nervös, sehr empfindsam, und ... ängstlich. Bevor er zu Bett ging, verneigte er sich vor dem Heiligenbilde und bekreuzte sein Kopfkissen, um in der Nacht nicht zu sterben, je m’en souviens. Enfin,[41] kein bißchen Gefühl für das Schöne, das heißt für etwas Höheres, oder Tieferes, kein einziger Keim einer zukünftigen Idee ... c’était comme un petit idiot.[42] Übrigens, ich ... entschuldigen Sie, ich ... bin momentan ...“
„Das Kissen bekreuzte, sagten Sie das im Ernst?“ erkundigte sich Herr Kirilloff plötzlich mit besonderem Interesse.
„Ja, er bekreuzte es ...“
„Nein, ich fragte nur so; fahren Sie fort.“
Stepan Trophimowitsch sah Liputin fragend an.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch, aber ich muß gestehen, ich bin jetzt nicht imstande ... Doch gestatten Sie die Frage, wo wohnen Sie?“
„In der Bogojawlenskstraße, im Filippoffschen Hause.“
„Ach, das ist ja dasselbe Haus, in dem auch Schatoff wohnt,“ bemerkte ich unwillkürlich.
„Ja, eben, genau in demselben Hause,“ rief Liputin schnell, „nur wohnt Schatoff oben und er unten bei Lebädkin. Und er ist auch mit Schatoff und Schatoffs Frau bekannt, mit dieser sogar besonders nah und gut.“
„Comment![43] So wissen Sie etwas von dieser unglücklichen Ehe de notre pauvre ami[44] mit dieser Frau?“ fragte Stepan Trophimowitsch plötzlich lebhaft, mit aufrichtigem Mitgefühl. „Sie sind der erste, der diese Frau persönlich kennt; und wenn nur ...“
„Welch ein Blödsinn!“ Kirilloff sah dabei, ganz rot vor Zorn, Liputin ungehalten an. „Was Sie immer zu allem hinzufügen, Liputin! Ich kenne Schatoffs Frau gar nicht ... habe sie nur einmal gesehen, von weitem ... Was fügen Sie immer hinzu!“ Und er machte eine schroffe Wendung auf dem Diwan, griff schon nach seiner Mütze, legte sie aber wieder hin, und als er wieder wie früher dasaß, richtete er plötzlich seine schwarzen aufflammenden Augen mit einer gewissen Herausforderung auf Stepan Trophimowitsch. Ich vermochte mir diese sonderbare Reizbarkeit überhaupt nicht zu erklären.
„Verzeihen Sie,“ versetzte Stepan Trophimowitsch fein, „ich verstehe, daß das eine sehr zarte Angelegenheit ...“
„Gar keine zarte Angelegenheit, und das ist einfach schamlos ich habe aber nicht zu Ihnen ‚Blödsinn‘ gesagt, sondern zu Liputin, weil er immer hinzufügt. Entschuldigen Sie, wenn Sie es auf sich dachten. Ich kenne Schatoff, aber seine Frau, nein, die gar nicht!“
„Ich verstehe, oh, ich verstehe. Ich habe ja nur gefragt, weil ich unseren armen Freund sehr liebe und mich immer für ihn interessiert habe ... Der junge Mann hat, meiner Meinung nach, etwas zu plötzlich, zu schroff seine früheren, vielleicht noch unreifen, aber immerhin richtigen Ansichten geändert. Er sagt jetzt dermaßen sonderbare Dinge über notre sainte Russie,[45] daß ich diesen Umschwung in seinem Inneren – anders möchte ich’s nicht nennen – einer starken Erschütterung seines Privatlebens zuschreibe, in erster Linie seiner unglücklichen Ehe. Ich, der ich mein armes Rußland studiert habe und wie meine fünf Finger kenne, und meinem Volke mein ganzes Leben geweiht habe, ich versichere Ihnen, daß er das russische Volk nicht kennt, und zudem ...“
„Ich kenne das russische Volk auch gar nicht und ... um es zu studieren ist auch gar keine Zeit da!“ fiel ihm der Ingenieur wieder ins Wort und wieder machte er eine schroffe Wendung auf seinem Platz.
„Aber er studiert es, studiert es,“ hakte Liputin flink ein, „er hat schon damit begonnen und jetzt arbeitet er an einer ungemein interessanten Abhandlung über die Ursachen der Zunahme der Selbstmorde in Rußland und überhaupt über die Ursachen, die die Verbreitung des Selbstmordes in der menschlichen Gesellschaft fördern oder hemmen. Er ist auch schon zu ganz erstaunlichen Folgerungen gelangt!“
Der Ingenieur geriet in schreckliche Erregung.
„Dazu haben Sie gar kein Recht!“ sagte er zornig. „Ich schreibe gar keine Abhandlung. Ich will keine solche Dummheiten. Ich habe Sie unter uns gefragt, nur versehentlich. Und nichts von einer Abhandlung; ich veröffentliche nicht, Sie aber haben kein Recht ...“
Liputin ergötzte sich augenscheinlich an diesem Zorn.
„Ja dann verzeihen Sie schon, vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, wenn ich Ihre literarische Arbeit eine Abhandlung nannte. Er sammelt nämlich nur Beobachtungen, aber an den Kern der Frage oder sozusagen an ihre sittliche Seite rührt er überhaupt nicht, ja er lehnt sogar die Sittlichkeit selbst ganz ab und hält sich dafür an den neuesten Grundsatz der allgemeinen Zerstörung zum Zwecke der Erreichung guter Endziele. Er verlangt über hundert Millionen Köpfe, um die gesunde Vernunft in Europa zur Herrschaft zu bringen, also noch viel mehr, als auf dem letzten Weltkongreß verlangt wurden. In der Beziehung geht er viel weiter als alle anderen!“
Der Ingenieur hörte mit einem geringschätzigen und blassen Lächeln zu. Eine halbe Minute schwiegen wir alle.
„Das ist so dumm, Liputin,“ sagte Kirilloff schließlich, nicht ohne eine gewisse Würde. „Ich habe Ihnen nur einige Punkte gesagt, und Sie haben sie so aufgefaßt, das ist Ihre Sache. Aber Sie haben gar kein Recht dazu, und ich spreche davon zu niemandem. Ich verachte das Sprechen. Wenn ich Überzeugungen habe, so sind sie für mich klar. Ich philosophiere nicht mehr über das, was schon ganz klar ist. Ich kann es nicht ausstehen, zu philosophieren. Ich will niemals philosophieren.“
„Und vielleicht tun Sie ganz recht daran,“ konnte Stepan Trophimowitsch sich nicht enthalten, zu bemerken.
„Ich habe mich bei Ihnen entschuldigt, aber ich ärgere mich hier über niemanden,“ fuhr der fremde Gast schnell und erregt fort. „Ich habe vier Jahre lang wenig Menschen gesehen. Vier Jahre habe ich wenig gesprochen und mich bemüht, mit keinem Menschen zusammenzukommen, wegen meiner Ziele, die weiter niemanden angehen. Liputin fand das zum Lachen. Ich sehe das, aber ich beachte es nicht. Man kann mich nicht beleidigen, aber ich ärgere mich nur über seine Ungeniertheit. Doch wenn ich Ihnen nicht meine Gedanken erkläre,“ schloß er unerwartet und sah uns alle der Reihe nach mit festem Blick an, „so unterlasse ich das nicht deshalb, weil ich eine Anzeige bei der Regierung fürchte, nein, bitte, denken Sie nicht Dummheiten von der Art ...“
Dazu sagte schon niemand mehr etwas. Wir sahen uns nur an. Sogar Liputin vergaß zu spottlächeln.
„Meine Herren, ich bedaure unendlich,“ sagte Stepan Trophimowitsch plötzlich entschlossen und erhob sich, „aber ich fühle mich nicht wohl. Entschuldigen Sie mich.“
„Ach, das ist, damit wir fortgehen!“ rief Herr Kirilloff und sprang sofort auf. „Gut, daß Sie es sagten, ich bin sonst vergeßlich.“
Er trat mit gutmütigem Ausdruck und ausgestreckter Hand auf Stepan Trophimowitsch zu. „Schade, daß Sie krank sind und ich gekommen bin.“
„Ich wünsche Ihnen allen Erfolg bei uns,“ sagte Stepan Trophimowitsch wohlwollend und gab ihm langsam die Hand. „Ich verstehe schon, daß Sie, der Sie so lange im Auslande ohne Verkehr gelebt haben, auf uns Urrussen mit Erstaunen blicken müssen – und wir natürlich desgleichen auf Sie. Mais ce a passera.[46] Nur eines macht mir Sorge: Sie wollen hier unsere Brücke bauen, und erklären sich zu gleicher Zeit für das Prinzip der allgemeinen Zerstörung? Dann wird man Sie unsere Brücke nicht bauen lassen!“
„Was?! Wie, was haben Sie gesagt?“ rief Kirilloff bestürzt; bis er plötzlich begriff: „Ach so!“ und er brach in das heiterste und harmloseste Lachen aus; dabei nahm sein Gesicht auf einen Augenblick einen ganz kindlichen Ausdruck an, der ihm, wie mir schien, ungemein gut stand.
Liputin rieb sich die Hände vor Vergnügen über Stepan Trophimowitschs gelungene Bemerkung.
Ich aber fragte mich noch immer, warum Stepan Trophimowitsch ausgerufen hatte, „ich bin verloren“, als er Liputin kommen hörte.
Wir waren alle aufgestanden. Es war jener Augenblick, in dem die Gäste und der Hausherr noch die letzten liebenswürdigen Worte zu wechseln pflegen, um dann zufrieden auseinander zu gehen.
Da bemerkte plötzlich Liputin, der bereits an der Türe stand, wie beiläufig: „Er ist ja nur deshalb so mürrisch, weil er mit dem Hauptmann Lebädkin den Streit gehabt hat. Der schlägt seine schöne Schwester, die Irrsinnige, jeden Morgen und jeden Abend mit der Nagaika, mit einer echten Kosakenpeitsche, sage ich Ihnen! Herr Kirilloff aber ist deswegen schon auf die andere Seite, in den Flügel des Hauses gezogen, um das nicht täglich anhören zu müssen. Na ja, – also auf Wiedersehen!“
„Die kranke Schwester? Die Irrsinnige? Mit der Nagaika?“ rief Stepan Trophimowitsch, als sei er selbst von einem Peitschenschlage getroffen worden. „Welch eine Schwester? Was für ein Lebädkin?“
„Lebädkin – na, dieser verabschiedete Hauptmann doch! Früher nannte er sich ‚Stabskapitän‘!“ antwortete Liputin, indem er noch einmal ins Zimmer zurücktrat.
„Ach, was geht mich sein Rang an! Welche Schwester? Mein Gott ... Sie sagen Lebädkin, aber – bei uns war doch auch ein Lebädkin!“
„Eben, eben, derselbe Lebädkin ist’s ja auch! Erinnern Sie sich noch, der damals bei Wirginski ...“
„Aber der fiel doch mit seinen falschen Papieren herein?!“
„Nun ja, damals, jetzt aber ist er zurückgekehrt, schon vor drei Wochen, und zwar unter den allersonderbarsten Umständen.“
„Aber das ist doch ein ganz nichtswürdiger Mensch!“
„Mein Gott, als ob es solche bei uns nicht geben könnte!“ gab Liputin plötzlich spottlächelnd zur Antwort und dabei sahen seine listigen Äuglein Stepan Trophimowitsch an, ihn gleichsam betastend, befühlend.
„Ach Gott, darum handelt es sich doch nicht ... Übrigens, Nichtswürdige – darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein, besonders mit Ihnen! Aber was weiter? Was wollten Sie damit sagen? Sie wollten doch unbedingt etwas damit sagen!!“ Stepan Trophimowitsch bestand auf einer Antwort.
„Ach, das sind ja lauter Dummheiten und sonst nichts! ... Dieser ‚Hauptmann‘ hat uns damals allem Anscheine nach nicht wegen falscher Papiere verlassen, sondern einzig und allein, um sein verrücktes Schwesterlein aufzusuchen, das sich an einem unbekannten Orte versteckt hielt. Na, und jetzt hat er sie eben hergebracht. Und das ist alles. Was ist denn dabei? Warum regen Sie sich denn so darüber auf, Stepan Trophimowitsch? Ich erzähle doch nur, was ich von ihm selber in seiner Betrunkenheit erfahren habe. Wenn er nüchtern ist, schweigt er darüber. Ein reizbarer Mensch übrigens, na, und so ... na, so ein dichtender Mars mitunter, wenn der Geist über ihn kommt, doch meist von üblem Geschmack. Und das verrückte Schwesterlein, das dabei noch hinkt, scheint mir von irgend jemand entehrt worden zu sein. Der Herr Bruder aber bezieht einen jährlichen Tribut, als Belohnung für die Ehrenbeleidigung, wie er sagt. Meiner Meinung nach ist das freilich nur Geschwätz. Er prahlt einfach. Aber das ließe sich doch mit weniger Geld auch machen! Doch Tatsache ist, daß er Geld hat, und zwar in großen Summen! Vor anderthalb Wochen ging er fast barfuß, und jetzt hat er – ich habe es selbst gesehen! – Hunderte in den Händen. Die Schwester hat täglich irgendwelche Anfälle, und schreit dann, worauf er sie mit der Peitsche ‚in Ordnung bringt‘, wie er zu sagen pflegt, – denn man müsse in das Weib ‚Achtung pflanzen‘. Ich begreife nicht, wie Schatoff es aushält, über ihnen zu wohnen. Herr Kirilloff hat es nur drei Tage aushalten können. Nun ist er umgezogen, wie gesagt. Er kannte sie noch von Petersburg her!“
„Ist das wirklich alles wahr?“ wandte sich Stepan Trophimowitsch an den Ingenieur.
„Sie schwatzen furchtbar viel, Liputin,“ brummte dieser wütend.
„Geheimnisse und wieder Geheimnisse! Woher kommt das doch, daß es bei uns plötzlich so viele Geheimnisse gibt?“ Stepan Trophimowitsch konnte nicht mehr an sich halten. Der Ingenieur ärgerte sich, errötete, zuckte ungeduldig mit den Schultern und ging schon aus dem Zimmer.
„Herr Kirilloff hat ihm sogar die Peitsche aus der Hand gerissen, sie zerbrochen und dann aus dem Fenster geworfen,“ fügte da Liputin schnell mit schlauem Lächeln hinzu.
Kirilloff kehrte sofort um: „Was soll das alles, Liputin? Das ist doch dumm. Und weshalb?“
„Aber wozu denn aus Bescheidenheit gerade die edelsten Regungen der Seele verheimlichen?! – das heißt, Ihrer Seele, selbstredend Ihrer Seele, ich spreche nicht von der meinen!“ antwortete Liputin.
„Wie das dumm ist ... und gar nicht nötig. Lebädkin ist ein ganz leerer Mensch und kommt für die Sache gar nicht in Betracht und schadet ihr nur. Warum schwatzen Sie so viel Überflüssiges? Ich gehe!“
„Ach, wie schade!“ rief da Liputin mit hellem Lächeln aus. „Sie gehen schon – sonst hätte ich Stepan Trophimowitsch noch mit einer kleinen Anekdote erfreut!“ Und zu diesem gewandt: „Bin sogar mit der Absicht hergekommen, sie Ihnen unbedingt zu erzählen. Doch Sie werden sie ja bestimmt schon gehört haben. Na, dann eben ein anderes Mal! Herr Kirilloff hat es ja so eilig ... Auf Wiedersehen also! Nein, hat aber Warwara Petrowna mich vorgestern belustigt! Sie schickte extra nach mir. Einfach zum Kranklachen war’s. Na, auf Wiedersehen, Wiedersehen!“
Aber schon hatte Stepan Trophimowitsch ihn plötzlich an den Schultern gepackt, zu sich herumgedreht und fest auf einen Stuhl gesetzt.
Liputin erschrak ordentlich.
„Ja, wie denn?“ fragte er und sah von seinem Stuhl aus ängstlich und verwundert zu Stepan Trophimowitsch empor. Doch faßte er sich schnell. „Ja, denken Sie sich, plötzlich ruft man mich und fragt mich im geheimen – was ich eigentlich von Nicolai Stawrogin denke: ob ich ihn für wahnsinnig halte oder nicht? Wie soll man da nicht staunen?“
„Sie sind verrückt geworden, Liputin!“ sagte Stepan Trophimowitsch. „Sie wissen nur zu gut, daß Sie gekommen sind, um mir irgendeine Gemeinheit zu sagen.“
Mir fiel sofort die Bemerkung Stepan Trophimowitschs ein, Liputin wisse nicht nur von unserer Sache, sondern wisse noch viel mehr, als wir je erfahren würden.
„Erlauben Sie, Stepan Trophimowitsch!“ stotterte Liputin, als ob jener ihn furchtbar erschreckt hätte. „Erlauben Sie ...“
„Schweigen Sie jetzt! Ich bitte Sie, Herr Kirilloff, kommen Sie zurück und setzen sie sich. Bitte, hier! Und Sie, Liputin, Sie werden jetzt erzählen, aber einfach und ohne Ausreden!“
„Hätte ich gewußt, daß es Sie so aufregt, so würde ich gar nicht davon angefangen haben ... und ich dachte doch, Sie wüßten das alles selbst ... schon längst ... von Warwara Petrowna!“
„Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Aber fangen Sie endlich an, sage ich Ihnen!“
„Na, dann haben Sie doch wenigstens die Güte, sich auch zu setzen! Denn wenn Sie so vor mir herumlaufen, da würde ja alles ganz kunterbunt herauskommen!“
Stepan Trophimowitsch überwand sich und ließ sich sehr formell auf einen Sessel nieder. Der Ingenieur blickte finster zu Boden. Liputin aber sah mit unglaublichem Hochgenuß von einem zum andern.
„Ja, womit nun anfangen ... Sie haben mich ganz konfus gemacht ...“
„Vor drei Tagen also, da schickt sie plötzlich ihren Diener zu mir: sie ließe bitten, sozusagen, morgen um zwölf zu ihr zu kommen. Können Sie sich das denken? Nun, ich ließ natürlich meine Arbeit Arbeit sein und um Punkt zwölf klingelte ich an ihrer Tür. Man führte mich gleich in das Empfangszimmer. Ich wartete kaum eine Minute, als Warwara Petrowna auch schon eintrat. Sie bot mir einen Stuhl an und setzte sich selbst mir gegenüber. Ich saß nun also, brachte es aber zunächst nicht über mich, meinen Ohren wie sonst zu trauen. Sie wissen doch, wie sie mich immer behandelt hat. Sie begann also, wie es so ihre Art ist, gerade heraus und ohne alle Umschweife: ‚Sie erinnern sich wohl noch‘, sagte sie, ‚der drei sonderbaren Handlungen meines Sohnes vor vier Jahren. Die ganze Stadt konnte sie nicht begreifen, bis sich dann alles durch seine Erkrankung aufklärte. Eine dieser Handlungen ging Sie sogar persönlich an. Auf meine Bitte hin machte mein Sohn Ihnen später, als er wieder hergestellt war, seinen Besuch. Ich weiß, daß er Ihnen schon früher mehrfach begegnet war und sich mit Ihnen unterhalten hatte. Ich möchte Sie nun bitten, mir doch mit voller Offenheit zu sagen, wie Sie‘ – hier stockte sie ein wenig – ‚wie Sie damals meinen Sohn fanden ... wie Sie ihn beurteilten ... welcher Meinung Sie über ihn waren ... und ... was Sie jetzt von ihm denken.‘
„Hier stockte sie aber schon wirklich, wartete sogar ein Weilchen, und plötzlich wurde sie rot. Ich war nicht wenig erschrocken. Aber schon gleich darauf fuhr sie wieder fort, nicht gerade mit rührender Stimme, nein, das gerade nicht, denn das würde auch nicht zu ihr passen, aber so sonderbar eindringlich: ‚Ich will‘, sagte sie, ‚daß Sie mich gut und ohne ein Mißverständnis verstehen,‘ sagte sie. ‚Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich Sie für einen Menschen halte, der fähig ist, richtig zu beobachten.‘ (Wie finden Sie das Kompliment?) ‚Sie verstehen gewiß auch, daß es eine Mutter ist, die mit Ihnen spricht,‘ sagte sie ... ‚Mein Sohn hat in seinem Leben manches Unglück gehabt und manche Widerwärtigkeit über sich ergehen lassen müssen. Alles das,‘ sagte sie, ‚hätte nun auf seinen Verstand, ich meine, auf seine Gemütsstimmung einwirken können. Selbstverständlich spreche ich nicht etwa von Wahnsinn ... das ist ganz und gar ausgeschlossen!‘ Das sagte sie so, wissen Sie, in einem festen und stolzen Ton! ‚Aber es könnte da etwas Besonderes sein, etwas Wunderliches, eine gewisse Gedankenrichtung, die Neigung zu gewissen eigentümlichen Anschauungen‘ ... Das sind alles ihre eigenen Worte, und glauben Sie mir, Stepan Trophimowitsch, ich staunte nur so, mit welcher Genauigkeit Warwara Petrowna eine Sache zu erklären versteht. Wirklich, eine kluge Dame! ‚Jedenfalls‘, sagte sie, ‚ist mir selbst an ihm eine fortwährende Unruhe aufgefallen. Aber ich bin ja seine Mutter und Sie sind ein fremder Mensch, folglich müssen Sie, bei Ihrem Verstande, weit fähiger sein, sich ein unbefangenes Urteil über ihn zu bilden. Ich beschwöre Sie‘ – jawohl, so sagte sie wortwörtlich – ‚ich beschwöre Sie, mir die ganze Wahrheit zu sagen, ohne jegliche Beschönigung. Und wenn Sie mir versprechen wollen, nie zu vergessen, daß ich im Vertrauen zu Ihnen gesprochen habe, so seien Sie versichert, daß ich stets bereit sein werde, Ihnen künftig und bei jeder Gelegenheit meine Dankbarkeit zu beweisen.‘ Nun, wie finden Sie das?“
„Sie ... Sie haben mich so überrascht ...“ stotterte Stepan Trophimowitsch, „daß ich Ihnen ... einfach nicht glaube ...“
„Nein, bedenken Sie doch nur,“ fiel ihm Liputin lebhaft ins Wort und tat, als hätte er Stepan Trophimowitschs letzte Bemerkung überhaupt nicht gehört, „wie groß muß ihre Unruhe und Aufregung um ihn sein, wenn sie sich mit solch einer Frage, von ihrer Höhe herab, an einen Menschen wendet, wie ich es bin, und sich gar so weit erniedrigt, auch noch um Verschwiegenheit zu bitten! Wie ist das nur möglich? Sollte sie da nicht ganz unerwartete Nachrichten über ihren Sohn erhalten haben?“
„Ich weiß von nichts ... Ich glaube, sie hat keine Nachrichten erhalten ... ich habe sie allerdings ... ein paar Tage lang nicht gesehen ... aber ich möchte Sie nur daran erinnern,“ stotterte Stepan Trophimowitsch wieder, da er sichtlich seine Gedanken nicht mehr sammeln konnte – „ich möchte Sie nur daran erinnern, Liputin, daß Sie im Vertrauen gefragt worden sind, und daß Sie jetzt in Gegenwart ...“
„Ganz und gar im Vertrauen! Gott soll mich strafen, wenn ich ... Aber hier ... nun ... sind wir denn hier nicht unter Freunden? Selbst Herr Kirilloff ...“
„Ich bin nicht Ihrer Meinung. Zweifellos werden wir drei das Geheimnis bewahren. Aber Sie selbst, den vierten, fürchte ich, und Ihnen traue ich in keiner einzigen Beziehung.“
„Ja, wie denn das? Ich bin doch hier der eigentlich Interessierte! Mir ist doch ewige Dankbarkeit versprochen worden!“ Und hastig ging Liputin darüber hinweg: „Übrigens, gerade bei der Gelegenheit, möchte ich noch auf einen sonderbaren, sozusagen psychologischen Fall hinweisen. Gestern abend, noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Warwara Petrowna – Sie können sich doch denken, welch einen Eindruck das auf mich gemacht hatte! – wandte ich mich an Herrn Kirilloff mit der harmlosen Frage: Sie haben, sagte ich, Nicolai Stawrogin doch im Auslande und auch früher schon in Petersburg gekannt, was halten Sie, frage ich, von seinem Verstande und überhaupt von seinen geistigen Fähigkeiten? Und darauf antwortet er mir lakonisch, wie das so seine Art ist: ‚Ja,‘ sagt er, ‚das ist ein Mensch mit seinem Verstande und gesundem Urteil.‘ Aber haben Sie nicht vielleicht, fragte ich weiter, im Laufe der Jahre gewisse Ideenveränderungen an ihm bemerkt oder eine besondere Geisteswandlung oder einen gewissen, wie soll ich sagen, nun – sozusagen doch einen gewissen Irrsinn? Kurz, ich wiederholte Warwara Petrownas Frage. Nun, und was denken Sie: Herr Kirilloff wird plötzlich nachdenklich und runzelt die Stirn ... Sehen Sie, genau so wie jetzt. ‚Ja,‘ sagte er dann, ‚ich bemerkte allerdings zuweilen etwas Sonderbares an ihm.‘ Denken Sie sich, wenn schon Herr Kirilloff etwas Sonderbares bemerkt hat – was kann dann nicht alles in Wirklichkeit sein?!“
„Ist das wahr?“ wandte sich Stepan Trophimowitsch an Kirilloff.
„Ich möchte nicht davon sprechen ...“ sagte Kirilloff, hob aber plötzlich den Kopf und seine Augen blitzten. „Ich möchte Ihr Recht bestreiten, Liputin. Sie haben für den Fall gar kein Recht auf mich. Ich habe gar nicht meine ganze Meinung gesagt. Ich kannte Stawrogin in Petersburg. Aber das war lange her. Und jetzt, wenn ich ihn auch wiedergesehen habe, so kenne ich ihn doch nur eben so. Ich bitte Sie, mich hier ganz beiseite zu lassen, und ... alles das sieht aus wie Klatsch.“
Liputin spielte die beleidigte Unschuld und führte die Hände auseinander.
„Wie Klatsch! Bin ich nicht gar noch ein Spion? Sie haben gut kritisieren, Herr Kirilloff, wenn Sie sich dabei selber beiseite lassen. Sogar dieser Hauptmann, Stepan Trophimowitsch, sogar dieser Lebädkin, der doch so dumm ist, wie – man schämt sich ja förmlich zu sagen, wie dumm er ist; es gibt aber so einen russischen Vergleich – sogar der denkt offenbar ganz sonderbar von Nicolai Stawrogin, obwohl er seinen Scharfsinn bewundert. ‚Bin ganz erstaunt über diesen Menschen: eine allwissende Schlange!‘ – waren seine eigenen Worte. Ich fragte also auch ihn, immer noch unter dem gestrigen Eindruck und schon nach dem Gespräch mit Herrn Kirilloff. ‚Nun,‘ fragte ich, ‚Hauptmann, was glauben Sie eigentlich, ist Ihre allwissende Schlange, Nicolai Stawrogin nicht einfach wahnsinnig?‘ Na, und nun glauben Sie mir oder glauben Sie mir auch nicht: es war für ihn, als hätte ich ihm hinterrücks einen Peitschenschlag versetzt – ohne seine Erlaubnis natürlich. Er sprang geradezu auf: ‚Ja,‘ sagte er, ‚ja, aber das kann doch keinen Einfluß haben auf ...‘ Aber auf was das keinen Einfluß haben könnte, das sagte er nicht, sondern versank nur in traurige Gedanken, und zwar in so traurige Gedanken, sage ich Ihnen, daß er davon ganz nüchtern wurde. Wir saßen gerade in der Filippoffschen Trinkstube. Erst nach einer halben Stunde ungefähr schlug er plötzlich mit der Faust auf den Tisch: ‚Ja,‘ schreit er, ‚meinetwegen auch wahnsinnig, nur kann das keinen Einfluß haben ...‘ und wieder brach er ab. Ich gebe Ihnen natürlich das Gespräch nur im Auszug wieder, aber der Sinn ist doch wohl klar? Na, und so, wen man auch fragt in der Stadt, allen kommt der Gedanke in den Kopf: ‚Ja,‘ sagt ein jeder, ‚er ist wahnsinnig; gewiß, er ist sehr klug; aber vielleicht auch wahnsinnig.‘“
Stepan Trophimowitsch saß ganz in Gedanken versunken da und schien angestrengt zu überlegen. „Wie kann Lebädkin das wissen?“ fragte er.
„Eh, wollen Sie sich nicht lieber bei Herrn Kirilloff, der mich soeben einen Spion nannte, danach erkundigen? Ich weiß nichts und rede nur so zum Zeitvertreib, das nennt man dann Spion, er aber weiß die letzten Geheimnisse und schweigt!“
„Ich weiß gar nichts. Oder wenig,“ versetzte der Ingenieur mit derselben Gereiztheit. „Sie machen Lebädkin betrunken, um aus ihm was zu erfahren. Sie haben auch mich hierher gebracht, um aus mir zu erfahren, damit ich ... hier sage. Folglich sind Sie ein Spion!“
„Ich habe ihn noch nie betrunken gemacht, das würde mich zu viel Geld kosten, und das ist er auch gar nicht wert mitsamt seinen Geheimnissen. Sehen Sie, das ist sein Wert für mich. Wieviel er für Sie bedeutet, weiß ich freilich nicht. Sonst ist er es, im Gegenteil, der jetzt mit dem Gelde nur so um sich wirft, während er vor vierzehn Tagen mich noch um fünfzehn Kopeken anpumpte. Er ist es, der mir Champagner vorsetzt, nicht ich ihm. Aber Sie haben mir einen guten Gedanken gegeben, und wenn es nötig sein wird, werde ich ihn schon betrunken machen, um von ihm etwas zu erfahren ... und dann vielleicht alle eure Geheimnisse auf einmal ... so viel ihrer da sind!“ setzte er böse hinzu.
Stepan Trophimowitsch sah die beiden verständnislos an. Sie hatten sich beide Blößen gegeben, und zwar ohne Scheu vor uns anderen Anwesenden. Mir schien es, als habe Liputin diesen Kirilloff einzig deshalb zu uns gebracht, um ihn durch eine dritte Person ins Gespräch zu ziehen – sein übliches Manöver.
„Herr Kirilloff kennt den Nicolai Stawrogin sogar sehr gut,“ fuhr Liputin in gereiztem Tone fort, „bloß will er das nicht eingestehen. Und was den Hauptmann Lebädkin betrifft, so hat der ihn noch viel früher gekannt, als er uns hier mit seinem Besuch beglückte. Sogar schon vor fünf, sechs Jahren in Petersburg, zur Zeit der sogenannten ‚unbekannten‘ Lebensepoche Nicolai Stawrogins. Man könnte daraus schließen, daß unser Prinz damals sehr sonderbare Bekanntschaften gehabt haben muß. Auch mit Herrn Kirilloff ist er in eben dieser Zeit bekannt geworden.“
„Hüten Sie sich, Liputin, ich warne Sie. Nicolai Stawrogin wird bald herkommen, und das ist einer, der seinen Mann zu stehen weiß!“
„Ja, aber was hat denn das mit mir zu tun? Ich bin der erste, der behauptet, daß er den feinsten, den erlesensten Verstand hat, und in diesem Sinne habe ich auch Warwara Petrowna gestern vollkommen beruhigt. ‚Nur für seinen Charakter,‘ sagte ich, ‚kann ich nicht einstehen.‘ Auch Lebädkin sagt ganz dasselbe. ‚Unter seinem Charakter,‘ sagt er, ‚habe auch ich gelitten.‘ Ach, Stepan Trophimowitsch, Sie haben gut sagen: ‚Klatsch‘ und ‚Spionage‘, aber bitte nicht zu vergessen: erst, nachdem Sie sehr schön alles aus mir herausgezogen haben, und mit was für einer Neugier noch dazu! Sehen Sie, Warwara Petrowna, die traf gestern gleich den Nagel auf den Kopf. ‚Sie haben,‘ sagte sie, ‚persönlich durch ihn zu leiden gehabt, darum wende ich mich auch an Sie!‘ Ja, und war es denn nicht so? Mußte ich denn nicht vor der ganzen Gesellschaft eine persönliche Beleidigung von Seiner Hochwohlgeboren hinunterschlucken? Ich glaube, ich habe Grund genug, mich für diese Klatschgeschichten zu interessieren! Heute drückt er einem die Hand, morgen aber schlägt er sie einem, dir nichts, mir nichts, ins Gesicht, und das noch in ehrenwerter Gesellschaft, grad so, wie’s ihm gefällt. Rein aus Übermut, wie’s scheint. Und was die Hauptsache ist! Diese Herren haben die Frauen natürlich immer auf ihrer Seite! Schmetterlinge sind sie und mutige Hähnchen! Gutsbesitzerssöhne mit Flügelchen hinten dran, wie einstmals Amor ... diese Herzfresser à la Petschorin![28] Sie, Stepan Trophimowitsch, als fanatischer Junggeselle, haben gut reden und mich wegen Seiner Hochwohlgeboren einen Geschichtenmacher zu nennen. Aber heiraten Sie mal erst – Sie sind ja doch noch ein ganzer Mann! – so eine nette kleine junge Frau, und Sie werden selber vor unserem Prinzen alle Türen verrammeln und gar Barrikaden im eigenen Hause bauen! Hier lohnt es sich ja gar nicht mehr, zu reden! Selbst von solch einer Mademoiselle Lebädkin, die gepeitscht wird, würde ich glauben – bei Gott! –, wenn sie nicht verrückt und lahm wäre, daß sie ein Opfer unseres Prinzen ist, und daß Lebädkin sich deshalb in seiner ‚Familienehre‘ gekränkt fühlt, wie er sich immer ausdrückt. Sie glauben, die wäre mit seinem feinen Geschmack nicht in Einklang zu bringen? Mein Gott, auch der stört diese Herren nicht immer. Jede kleine Beere wird gegessen, sie muß nur die richtige Stimmung treffen. Sie sprechen von Klatsch? Aber – sage ich es denn allein, wenn schon die ganze Stadt es ausschreit? Ich nicke nur und höre zu. ‚Ja‘-sagen ist bekanntlich nicht verboten!“
„Die ganze Stadt schreit ... das heißt, was schreit denn die ganze Stadt?“
„Na, ich meine, Hauptmann Lebädkin schreit’s in betrunkenem Zustande, so daß die ganze Stadt es hören kann. Ist das nicht dasselbe, wie wenn die ganze Stadt es schreit? Bin ich etwa schuld daran? Ich rede nur mit Freunden darüber. Ich hoffe doch, hier unter Freunden zu sein?“ und mit unschuldigem Lächeln sah er uns alle an. „Und dabei ist noch etwas geschehen! Denken Sie mal: es stellt sich heraus, daß unser Prinz ihm, dem Lebädkin, aus der Schweiz durch ein junges Mädchen dreihundert Rubel geschickt hat. Ich habe die Ehre, die junge Dame persönlich zu kennen, sie ist ohne Tadel und sozusagen eine sittsame Waise. Nach einiger Zeit aber erfährt Lebädkin aus der sichersten Quelle von einem edlen Menschen, daß ihm nicht dreihundert Rubel, sondern tausend zur Übergabe gesandt worden sind! ‚Folglich,‘ schreit er, ‚hat das Mädchen mich um siebenhundert Rubeln bestohlen!‘ Und er will das Geld durch die Polizei herausfordern, wenigstens droht er so und schreit dabei, daß die ganze Stadt es hören kann ...“
„Das ist gemein, gemein von Ihnen!“ rief plötzlich der Ingenieur und sprang vom Stuhl auf.
„Ja aber – Sie selbst sind doch dieser edle Mensch, der Lebädkin versichert hat, daß nicht dreihundert, sondern tausend geschickt worden sind! Der Hauptmann hat es mir in der Filippoffschen Kneipe, betrunken wie immer, selbst mitgeteilt.“
„Das ... das ist ein unglückliches Mißverständnis. Jemand hat sich geirrt und es ist ... ein Blödsinn – und Sie sind gemein!“
„Ja, ich will gewiß gerne glauben, daß es reiner Blödsinn ist. Ich bin sogar tief betrübt, daß man das ehrenwerte Mädchen in die Geschichte hineingezogen hat. Erstens mit den siebenhundert Rubeln, und zweitens weiß jetzt alle Welt, daß sie mit Nicolai Stawrogin intim befreundet gewesen ist. Was kostet es denn Seine Hochwohlgeboren, den jungen Stawrogin, ein ehrenwertes Mädchen zu schänden, oder auch eine fremde Frau zu beschimpfen, wie es mein ‚Fall‘ war? Kommt ihnen dann noch ein großmütiger Mensch unter die Finger, so zwingen sie ihn, mit seinem ehrlichen Namen fremde Sünden zu decken. Genau so hab ich’s doch erleben müssen! Ich rede ja nur von mir ...“
„Hüten Sie sich, Liputin!“ Stepan Trophimowitsch erhob sich drohend. Er war totenblaß.
„Glauben Sie ihm nicht, glauben Sie nicht! Jemand hat sich geirrt und Lebädkin ist immer betrunken!“ rief der Ingenieur in unbeschreiblicher Aufregung aus. „Alles wird sich aufklären, aber ich kann nicht mehr ... ich halte es für eine Gemeinheit ... und genug ... genug!“
Er stürzte aus dem Zimmer.
„Aber wohin denn, was haben Sie? Ich gehe doch mit Ihnen!“ rief Liputin erschrocken, sprang auf und lief ihm nach.
Stepan Trophimowitsch stand einen Augenblick wie in Gedanken versunken da, er sah auch mich an, doch ohne mich zu sehen, und schließlich ergriff er Hut und Stock und verließ langsam das Zimmer. Ich ging ihm nach. Erst als er aus der Tür trat, bemerkte er mich.
„Ach ja, Sie können mein Zeuge sein ... de l’accident. Vous m’accompagnerez, n’est-ce pas?“[47]
„Stepan Trophimowitsch, gehen Sie trotzdem zu ihr? Bedenken Sie doch, was daraus entstehen kann!“
Er blieb stehen und flüsterte mit einem armseligen und geistesabwesenden Lächeln, in dem Scham und vollkommene Verzweiflung, doch zugleich eine seltsame Ekstase lag:
„Ich kann doch nicht ‚fremde Sünden‘ heiraten ...“
Endlich war das verhängnisvolle Wort ausgesprochen, das er eine ganze Woche mit Kniffen und Winkelzügen vor mir zu verstecken gesucht hatte!
„Und ein so schmutziger, ein so ... niedriger, gemeiner Gedanke konnte in Ihrem Kopf entstehen, in Ihnen, in Stepan Werchowenski! Sie mit Ihrem guten, reinen Herzen, und das noch – vor Liputin und seinem Klatsch!“
Er sah mich an, antwortete nichts und ging weiter. Ich wollte ihn nicht verlassen, sondern bei Warwara Petrowna sein Zeuge sein. Ich hätte ihm verziehen, wenn er, mit seinem weibischen Kleinmut, auf Liputins Verleumdung hin alles geglaubt hätte: nun aber war es doch klar, daß er schon früher von selbst auf diesen Verdacht gekommen, daß er ihn die ganze Zeit mit sich herumgetragen und daß Liputin ihn jetzt nur bestätigt hatte. Er hatte sich nicht gescheut, gleich vom ersten Tage an das junge Mädchen zu verdächtigen, ohne den geringsten Grund dazu zu haben. Die herrische Handlungsweise Warwara Petrownas hatte er sich eben nur mit dem verzweifelten Wunsch erklären können, die galanten Sünden ihres teuren Nicolas so schnell wie möglich mit einer Hochzeit zu decken.
Und dafür sollte er bestraft werden, das wünschte ich ihm von ganzem Herzen.
„O, Dieu qui est si grand et si bon![48] Oh, wer wird mich jetzt trösten!“ rief er aus, als er ungefähr hundert Schritte gegangen war und plötzlich stehen blieb.
„Gehen wir nach Hause, und ich werde Ihnen sofort alles erklären!“ rief ich und wollte ihn mit Gewalt zurückbringen.
„Da ist er ja! Stepan Trophimowitsch, das sind doch Sie? Sie?“ ertönte plötzlich eine frische und mutwillige junge Stimme, die mir wie Musik klang.
Noch sahen wir niemanden, als plötzlich eine Reiterin neben uns hielt. Es war Lisaweta Nicolajewna, gefolgt von ihrem tagtäglichen Begleiter. Sie zügelte das Pferd.
„Kommen Sie, kommen Sie doch schneller!“ rief sie laut und lustig. „Ich habe ihn zwölf Jahre lang nicht gesehen und gleich erkannt. Er aber ... Erkennen Sie mich wirklich nicht?“
Stepan Trophimowitsch ergriff ihre Hand. Er sah sie an, als hätte er ein Gebet zu ihr auf den Lippen, und konnte doch kein Wort hervorbringen.
„Er hat mich erkannt und freut sich! Mawrikij Nicolajewitsch, er scheint entzückt zu sein, daß er mich wiedersieht! Warum sind Sie denn in diesen ganzen zwei Wochen nicht zu uns gekommen? Tante beteuerte, Sie seien krank und man dürfe Sie nicht aufregen, aber ich weiß doch, das hat sie nur gelogen. Ich habe mit den Füßen gestampft und auf Sie gescholten, aber ich wollte unbedingt, unbedingt, daß Sie, von selbst, als Erster zu uns kämen, und darum habe ich nicht nach Ihnen geschickt. Gott, er hat sich ja nicht ein bißchen verändert!“ und sie beugte sich im Sattel nach vorn, um ihn genauer betrachten zu können. – „Es ist ja ganz lächerlich, wie wenig er sich verändert hat! Ach, doch, es sind doch kleine Fältchen an den Augen, viele Fältchen, und auf den Wangen ... und graue Haare – aber die Augen sind noch ganz dieselben! Ganz! Und ich? Habe ich mich verändert? Ja? Aber warum schweigen Sie noch immer?“
Ich erinnerte mich in dem Augenblick, daß man mir erzählt hatte, sie sei fast erkrankt, als man sie, elfjährig, nach Petersburg brachte, und daß sie während der Krankheit geweint und immer nach Stepan Trophimowitsch verlangt habe.
„Sie ... ich ...“ stotterte er mit vor Freude unsicherer Stimme. „Soeben rief ich noch aus: wer wird mich trösten? und da erklang Ihre Stimme ... Ich halte das für ein Zeichen et je commence à croire.“[49]
„En Dieu? En Dieu, qui est là haut et qui est si grand et si bon?[50] Sehen Sie mal, ich kenne Ihre Lektionen noch auswendig. Mawrikij Nicolajewitsch, welch einen Glauben er mir damals beibrachte en Dieu, qui est si grand et si bon! Und erinnern Sie sich noch Ihrer Erzählungen von Kolumbus, und wie er Amerika entdeckte, und wie sie da alle ‚Land, Land!‘ geschrieen haben!? Meine Kinderfrau Aljona Frolowna sagte mir, daß ich noch nachher im Traume ‚Land! Land!‘ gerufen habe. Und wissen Sie noch, wie Sie mir die Geschichte des Prinzen Hamlet erzählt haben? Und wie Sie mir den Transport der armen Auswanderer von Europa nach Amerika beschrieben haben? Das war ja alles gar nicht wahr, später habe ich erfahren, wie man sie hinübertransportiert hat. Aber wie er mir damals alles so viel schöner vorgelogen hat! Mawrikij Nicolajewitsch, viel schöner und besser, als es in Wirklichkeit ist! Warum sehen Sie Mawrikij Nicolajewitsch so an? Das ist der allerbeste und der allertreueste Mensch auf dem Erdball, und Sie müssen ihn unbedingt ebenso lieben wie ich! Il fait tout ce que je veux.[51] Aber, Liebling, Stepan Trophimowitsch, Sie müssen wohl wieder unglücklich sein, wenn Sie mitten auf der Straße ausrufen: wer wird mich trösten? Also wieder einmal unglücklich, ja?“
„Jetzt bin ich glücklich – –“
„Tante kränkt Sie?“ fuhr sie fort, ohne seine Worte zu beachten. „Immer diese böse, ungerechte, unsere unschätzbare, teure, böse Tante! Ach, wissen Sie noch, wie Sie im Garten in meine Arme flogen und ich Sie tröstete und dann selber mit Ihnen weinte? Aber so fürchten Sie sich doch nicht vor Mawrikij Nicolajewitsch, er weiß alles, alles von Ihnen. Sie können an seiner Schulter weinen, so lange Sie wollen, und er wird stehen so lange wie Sie wollen. Schieben Sie Ihren Hut zurück, nein, nehmen Sie ihn ganz ab, auf einen Augenblick nur, heben Sie sich auf die Fußspitzen, ich werde Sie gleich auf die Stirn küssen, so wie ich Sie das letzte Mal zum Abschied geküßt habe. Sehen Sie, diese Dame dort am Fenster freut sich über uns ... Näher, näher! Gott, wie er grau geworden ist!“
Und sie beugte sich im Sattel und küßte ihn auf die Stirn.
„Nun, und jetzt zu Ihnen nach Haus! Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich werde gleich, in einer Minute, bei Ihnen sein. Sie Eigensinn, also werde ich Sie doch zuerst besuchen. Dann aber schleppe ich Sie auf den ganzen Tag zu mir. Gehen Sie jetzt und bereiten Sie sich vor, mich zu empfangen!“
Und sie ritt mit ihrem Kavalier davon. Wir aber kehrten nach Hause zurück. Stepan Trophimowitsch setzte sich auf den Diwan und weinte.
„Dieu, Dieu!“ rief er. „Enfin une minute de bonheur!“[52]
Nach zehn Minuten erschien sie in Begleitung des jungen Mannes. Stepan Trophimowitsch ging ihr entgegen.
„Vous et le bonheur, vous arrivez en même temps!“[53]
„Hier haben Sie Blumen. Ich war bei der Blumenfrau. Wie Sie wissen, hat sie den ganzen Winter Bukette für Geburtstagskinder zum Verkauf. Hier stelle ich Ihnen also nochmals Mawrikij Nicolajewitsch vor, bitte sich mit ihm zu befreunden. Eigentlich wollte ich Ihnen eine Pastete statt der Blumen bringen, aber Mawrikij Nicolajewitsch behauptete, das sei nicht im russischen Stil.“
Dieser Mawrikij Nicolajewitsch war Hauptmann der Artillerie, etwa dreiunddreißig Jahre alt, hoch und schlank, von tadellosem Äußeren, mit Achtung gebietenden, auf den ersten Blick streng erscheinenden Zügen – trotz einer erstaunlichen und überaus taktvollen Güte, die man ihm sofort anmerkte, auch wenn man ihn gar nicht oder kaum kannte. Im übrigen war er schweigsam, schien kaltblütig zu sein und sehr zurückhaltend. Später sagten einige bei uns, er sei im Grunde beschränkt gewesen, aber das war entschieden ein falsches Urteil.
Die Schönheit Lisaweta Nicolajewnas zu beschreiben, will ich lieber nicht versuchen. Die ganze Stadt sprach ja schon von ihr, obwohl einige Damen fast vom Gegenteil überzeugt waren und sie beinahe häßlich fanden. Es gab aber auch solche, die Lisaweta Nicolajewna nicht nur um ihrer Schönheit willen haßten, sondern, und vor allen Dingen, wegen ihres Stolzes. Drosdoffs hatten es noch unterlassen, die üblichen Visiten zu machen – und das beleidigte natürlich jeden und alle, obgleich man in der Stadt sehr wohl wußte, daß der Grund dazu in Praskowja Iwanownas Unwohlsein lag. Sodann haßte man Lisa auch noch wegen ihrer Verwandtschaft mit der „Gouverneurin“, und drittens, weil sie täglich spazieren ritt, denn bis jetzt hatte es bei uns noch keine Amazonen gegeben. Zwar wußten alle sehr gut, daß die Ärzte ihr das Reiten verordnet hatten, aber das änderte nicht im geringsten das Urteil der Damen, sondern gab nur noch einen Anlaß, auch über ihre Kränklichkeit zu witzeln und zu spötteln. Lisa war in der Tat krank: schon auf den ersten Blick fiel einem ihre nervöse Unruhe auf. Wie sehr sie damals litt, das sollte sich freilich erst später aufklären. Wenn ich heute an sie zurückdenke und sie mir dabei vorstelle, kann ich sie übrigens nicht mehr so wunderschön finden, wie ich sie damals fand. Vielleicht war sie sogar ausgesprochen häßlich. Sie war hoch von Wuchs, schlank, biegsam und kräftig. Doch frappierte das Gesicht beinahe durch die Unregelmäßigkeit der Züge. Es war dabei bleich, mit ziemlich starken Backenknochen, hager, und die Augen waren ein wenig schräg gestellt, waren geschlitzt wie bei den Kalmücken. Aber es lag etwas in diesem Gesicht, das einen unwiderstehlich anzog. Irgendeine Macht ruhte in dem brennenden Blick ihrer dunklen Augen. Stolz und zuweilen sogar vermessen: so wirkte sie und erschien wie eine Siegerin, die nicht anders konnte, als besiegen. Ihr war es nicht gegeben, gut zu sein, aber sie kämpfte darum, es dennoch zu sein. Es waren viele edle Triebe in dieser Natur und eine Menge großer Ansätze, aber alles das suchte in ihr nach einem Ausgleich und konnte ihn nicht finden: alles in ihr war Chaos, Unruhe und Aufregung. Vielleicht stellte sie auch gar zu große Anforderungen an sich selbst und fand dabei niemals die Kraft in sich, diese Anforderungen zu befriedigen.
Sie setzte sich auf den Diwan und betrachtete das Zimmer.
„Warum werde ich in solchen Minuten immer traurig? Können Sie mir das nicht erklären, Sie gelehrter Mensch? Ich habe immer gedacht, daß ich weiß Gott wie froh sein würde, wenn ich Sie wiedersähe und mit Ihnen über all das Gewesene sprechen könnte ... und nun bin ich fast – gar nicht froh, obgleich ich Sie doch lieb habe ... Ach Gott, mein Bild hängt hier bei Ihnen! Geben Sie es her, schnell, ich weiß, ich erinnere mich ...“
Vor neun Jahren hatten Drosdoffs Stepan Trophimowitsch aus Petersburg ein Aquarellbildchen der kleinen zwölfjährigen Lisa zugeschickt und seit der Zeit hing es bei ihm an der Wand.
„War ich wirklich ein so nettes Kind? Ist das wirklich mein Gesicht?“
Sie stand auf und trat mit dem Bildchen in der Hand vor den Spiegel.
„Nehmen Sie es schnell, schnell!“ rief sie aus und gab das Bildchen zurück. „Hängen Sie es jetzt nicht auf, später, später, ich will es nicht sehen.“ Sie ließ sich wieder auf den Diwan nieder. „Das eine Leben verging und es begann ein anderes, und das andere verging und es begann ein drittes, und so geht es fort. Die Enden aber sind immer wie mit der Schere abgeschnitten. Sehen Sie mal, von was für alten Sachen ich rede, und doch ist so viel Wahrheit darin!“
Sie sah mich lachend an. Schon einigemal hatte sie mich betrachtet, aber Stepan Trophimowitsch kam in seiner Aufregung gar nicht darauf, mich ihr vorzustellen.
„Aber warum hängt mein Bild unter Säbeln? Und warum haben Sie hier überhaupt so viele Säbel und Dolche?“
Ich weiß nicht, warum bei Stepan Trophimowitsch an der Wand zwei Yatagane hingen und über ihnen ein echter Tscherkessendolch.
Als sie die Frage stellte, sah sie mich wieder an, so daß ich schon antworten wollte. Da kam Stepan Trophimowitsch endlich darauf, mich vorzustellen.
„Ich weiß, ich weiß,“ sagte sie – „es freut mich sehr. Mama hat auch schon von Ihnen gehört. Und bitte, hier stelle ich Ihnen Mawrikij Nicolajewitsch vor, ein prachtvoller Mensch. Ich hatte mir von Ihnen eigentlich einen komischen Begriff gemacht. – Sie sind doch Stepan Trophimowitschs ‚Vertrauter‘?“
Ich errötete.
„Ach, bitte verzeihen Sie, ich wollte durchaus nicht dieses Wort sagen, es ist nichts Komisches dabei, sondern nur so ...“ Und auch sie errötete verwirrt. „Übrigens, ich sehe nicht ein, warum sich da jemand dessen schämen soll, daß er ein wertvoller Mensch ist, nicht wahr? – Aber jetzt müssen wir gehen, Mawrikij Nicolajewitsch. Stepan Trophimowitsch, daß Sie in einer halben Stunde bei uns sind! O Gott, wie viel wir uns zu erzählen haben! Jetzt bin ich Ihre Vertraute, in allen Dingen, hören Sie, in allen Dingen!“
Stepan Trophimowitsch erschrak sofort.
„O, Mawrikij Nicolajewitsch weiß alles, vor ihm brauchen Sie sich nicht zu genieren.“
„Mais,[54] was weiß er denn?“
„Aber warum tun Sie denn so?“ rief sie erstaunt. „Ah, so ist es also wahr, daß man es uns verheimlichen will? Ich wollte es nicht glauben! Dascha wird gleichfalls versteckt. Tante ließ mich vorhin auch nicht zu Dascha gehen, sie sagte, sie habe Kopfschmerzen.“
„Aber ... aber wie haben Sie es denn erfahren können?“
„Mein Gott, so wie alle! Als ob dazu viel gehört!“
„Ja, wissen es denn wirklich schon alle? ...“
„Wie denn nicht? Mama, das ist wahr, die hat es zuerst durch Aljona Frolowna, meine Kinderfrau, erfahren, und der hat es Ihre Nastassja schleunigst erzählt. Sie haben es doch Nastassja gesagt? Sie sagt wenigstens, Sie hätten es ihr selbst mitgeteilt.“
„Ich ... ich habe einmal davon gesprochen ...“ stotterte Stepan Trophimowitsch, über und über rot, „aber ich habe bloß angedeutet ... j’étais si nerveux et malade et puis[55] ...“
Sie lachte.
„Und da kein anderer Freund zur Hand war und Nastassja Ihnen gerade in den Weg lief – nun, ich weiß schon! Die aber hat ja überall Freundinnen. Doch lassen wir das, das ist ja alles ganz gleichgültig. Mögen es die Leute doch wissen, um so besser! Und kommen Sie bald, wir speisen früh. Ach, da habe ich etwas vergessen!“ sie setzte sich wieder. „Hören Sie mal, wer ist Schatoff?“
„Schatoff? Das ist Darja Pawlownas Bruder ...“
„Ach, das weiß ich doch, daß er ihr Bruder ist, – wie Sie wirklich sind!“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Ich will wissen, was er eigentlich ist, was für ein Mensch?“
„C’est un pense-creux d’ici. C’est le meilleur et le plus irascible homme du monde.“[56]
„Das habe ich auch schon gehört, daß er ein Sonderling ist. Aber das gehört nicht zur Sache. Man sagte mir, daß er drei Sprachen spricht, auch englisch, und sich mit literarischen Arbeiten beschäftigt. In diesem Fall könnte ich ihm viel Arbeit verschaffen. Ich habe jemanden nötig, der mir helfen kann, und je schneller ich einen finde, desto besser. Aber wird er die Arbeit annehmen, was meinen Sie? Man hat ihn mir dazu empfohlen.“
„O natürlich, et vous ferez un bienfait.“[57]
„Ich tue es gar nicht wegen des bienfait, sondern weil ich einen Gehilfen brauche.“
„Ich bin mit Schatoff befreundet,“ sagte ich, „und wenn Sie mich beauftragen wollten, so würde ich sofort zu ihm gehen.“
„Das ist ja herrlich! Sagen Sie ihm, bitte, daß er morgen um zwölf Uhr zu mir kommen soll. Ich danke Ihnen! Mawrikij Nicolajewitsch, sind Sie bereit?“
Sie ritten davon. Ich begab mich natürlich gleich zu Schatoff.
„Mon ami!“[58] rief mir Stepan Trophimowitsch nach, „kommen Sie unbedingt um zehn oder elf Uhr zu mir, wenn ich zurückgekommen bin. Oh, ich bin schuldig, verzeihen Sie mir, ich bin vor allen, vor allen schuldig!“
Schatoff war ausgegangen. Nach zwei Stunden ging ich wieder zu ihm – und wieder war er nicht zu Hause. Um acht Uhr abends ging ich zum dritten Male hin, um ihm, wenn ich ihn wieder nicht antreffen sollte, einen Zettel zu hinterlassen. Und richtig, er war wieder nicht zu Haus, sein Zimmer war verschlossen: er lebte ganz allein und ohne einen Dienstboten. Einen Augenblick fragte ich mich, ob ich nicht zu Lebädkins gehen und dort nach ihm fragen sollte: aber auch dort war die Tür verschlossen, es war weder ein Licht zu sehen, noch ein Laut zu hören – die Wohnung schien vollständig leer zu sein. Ich entschloß mich also, morgen früh wiederzukommen, denn auf das Zettelchen konnte ich mich nicht verlassen. Schatoff war mitunter so eigensinnig und dazu schüchtern, da war es leicht möglich, daß er einfach nicht hinging. Gerade als ich aus der Tür trat, stieß ich auf Herrn Kirilloff. Er erkannte mich sofort, und da er mich ansprach und fragte, wen ich suchte, erzählte ich ihm die ganze Geschichte und erwähnte auch meinen Zettel.
„Kommen Sie,“ sagte er, „ich werde es machen.“
Kirilloff wohnte seit diesem Morgen, wie uns schon Liputin erzählt hatte, im Flügel auf dem Hof. In dieser Hälfte des Hauses, die für ihn allein zu groß gewesen wäre, wohnte außer ihm noch ein altes, taubes Weib, das ihn auch bediente. Der Hausbesitzer selbst, Herr Filippoff, war nebenan in sein neues Heim gezogen, wo er eine Trinkstube hielt, und die Alte, die mit ihm verwandt war, beaufsichtigte nun das alte Haus. Die Zimmer in diesem Flügel waren sauber, aber die Tapeten schmutzig. Im ersten Zimmer, in das wir eintraten, standen die verschiedensten alten Möbel: zwei l’Hombretische, eine Kommode aus Ellernholz, ein großer Tisch aus rohen Brettern, wohl aus einer Bauernstube oder Küche; ferner ein paar Stühle und ein Diwan mit geflochtenen Lehnen und harten Lederkissen. In einer Ecke hing ein altes Heiligenbild, vor dem die Alte das Lämpchen schon angezündet hatte, und an den Wänden hingen zwei alte Öldruckbilder, von denen das eine den Kaiser Nicolai I. und das andere irgendeinen Bischof darstellte.
Kirilloff zündete ein Licht an und holte aus seinem Koffer, der in einer Ecke noch unausgepackt stand, ein Kuvert, Siegellack und ein Kristallpetschaft.
„Versiegeln Sie Ihren Brief und schreiben Sie die Adresse darauf.“
Ich sagte, daß das unnötig sei, aber er bestand auf seinem Wunsch. Nachdem ich die Adresse geschrieben hatte, nahm ich meinen Hut und wollte gehen.
„Ich dachte, Sie würden Tee trinken,“ sagte er. „Ich habe Tee gekauft. Wollen Sie nicht?“
Ich lehnte nicht ab. Die Alte brachte bald darauf eine riesige Teekanne mit heißem Wasser und eine kleinere mit gezogenem Tee, zwei große einfache Tassen, Weißbrot und einen ganzen Teller mit Stückzucker.
„Ich liebe Tee,“ sagte Kirilloff, „besonders in der Nacht. Ich gehe auf und ab und trinke, bis zum Morgen. Im Auslande ist Teetrinken nachts unbequem.“
„Sie legen sich erst gegen Morgen schlafen?“
„Immer, schon lange. Ich esse wenig. Trinke immer Tee ...“ Und ganz unvermittelt sagte er plötzlich: „Liputin ist schlau, aber ungeduldig.“
Es wunderte mich, daß er heute offenbar zu sprechen wünschte, und ich entschloß mich, die Gelegenheit zu benutzen.
„Das war ein unangenehmes Mißverständnis, heute vormittag, bei Stepan Trophimowitsch,“ bemerkte ich.
Er machte ein geärgertes Gesicht.
„Das war Dummheit; das sind furchtbare Nichtigkeiten; alles, was da war, denn Lebädkin spricht betrunken. Ich habe Liputin nichts gesagt, nur die Richtigkeit erklärt; denn jener hatte gefaselt. Liputin hat viel Phantasie; statt die Nichtigkeit einzusehen, hat er gleich Berge daraus gebaut. Gestern vertraute ich ihm.“
„Und heute mir?“ fragte ich lachend.
„Aber Sie wußten doch vorher schon von allem. Liputin ist schwach, oder ungeduldig, oder schädlich, oder ... neidisch.“
Das letzte Wort überraschte mich.
„Hm. Übrigens haben Sie so viele Kategorien aufgestellt, daß es schließlich kein Wunder ist, wenn er in eine von ihnen hineinpaßt.“
„Oder in alle zusammen.“
„Ja, auch das ist richtig. Liputin ist ein Chaos! Er log zwar vorhin, aber sagen Sie, ist es nicht trotzdem wahr, daß Sie ein Buch schreiben wollen?“
„Warum soll das gelogen sein?“ entgegnete er finster und sah zu Boden.
Ich entschuldigte mich und versicherte, daß ich ihn nicht ausfragen wolle. Er errötete.
„Liputin hat da die Wahrheit gesagt. Ich schreibe. Nur ist das ganz gleich.“
Wir schwiegen wohl eine Minute lang; plötzlich lächelte er wieder sein Kinderlächeln.
„Das von den Köpfen hat er sich selbst ausgedacht, nach einem Buch, und er selbst erzählte es mir zuerst, nur versteht er es schlecht; ich aber suche nur den Grund, warum die Menschen sich nicht selbst zu töten wagen; das ist alles. Aber auch das ist ganz gleich.“
„Wieso, nicht wagen? Als ob es wenig Selbstmorde gäbe?“
„Finden Sie wirklich?“
Er antwortete nicht, stand auf und ging, in Gedanken versunken, auf und ab.
„Was hält denn, Ihrer Meinung nach, die Leute davon ab, sich selbst zu töten?“ fragte ich.
Er sah mich zerstreut an, als müßte er sich erst erinnern, wovon wir sprachen.
„Ich ... ich weiß noch wenig ... Zwei Vorurteile halten davon ab, zwei Gründe. Nur zwei: der eine ist sehr klein und der andere ist sehr groß. Aber auch der kleine ist sehr groß.“
„Welches ist denn der kleine?“
„Der Schmerz.“
„Der Schmerz? Ja, glauben Sie denn, daß das so wichtig ist ... in solchem Fall?“
„Das Allererste. Es gibt zwei Arten: Die, welche sich aus großem Leid umbringen, oder aus Haß, oder aus Wahnsinn, oder sonst da irgendwie ... die tun es plötzlich. Die denken wenig an den Schmerz, und tun’s plötzlich ... Aber die, die sich aus Überlegung töten – die denken viel.“
„Ja, gibt es denn überhaupt solche, die sich aus Überlegung töten?“
„Sehr viele. Wenn es kein Vorurteil gäbe, würden es noch mehr sein; sehr viele; alle!“
„Was, sogar schon alle?“
Er schwieg.
„Aber gibt es denn keine Möglichkeit, schmerzlos zu sterben?“
Er blieb vor mir stehen: „Denken Sie sich einen Stein von der Größe eines großen Hauses; er hängt über Ihnen und Sie sind unter ihm; wenn er auf Sie fällt, auf den Kopf – wird es schmerzen?“
„Ein Stein von der Größe eines Hauses? Natürlich, furchtbar!“
„Ich spreche nicht von der Angst; wird es schmerzen?“
„Ach so! Ein Stein, so groß wie ein Berg, eine Million Pud schwer? – Selbstverständlich nicht ein bißchen!“
„Aber wenn Sie so liegen, während er hängt, werden Sie furchtbare Angst davor haben, daß es schmerzen wird. Jeder große Gelehrte, jeder Arzt, alle, alle werden Angst haben. Jeder wird wissen, daß es nicht schmerzt, doch jeder wird sehr fürchten, daß es schmerzen wird.“
„Nun, und der große, der zweite Grund?“
„Das Jenseits.“
„Sie meinen die Strafe?“
„Einerlei. Das Jenseits, nichts als das Jenseits.“
„Gibt es denn nicht auch solche Atheisten, die an ein Jenseits gar nicht glauben und es vollständig leugnen?“
Er schwieg wieder.
„Sie urteilen vielleicht nur nach sich selbst?“
„Niemand kann anders urteilen, als nach sich selbst,“ sagte er und errötete wieder. „Die vollständige Freiheit wird erst dann sein, wenn es ganz einerlei sein wird, ob man lebt oder nicht. Das ist das ganze Ziel.“
„Das Ziel? Ja, aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen?“
„Niemand,“ sagte er bestimmt.
„Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben lieb hat, so verstehe ich es wenigstens,“ bemerkte ich, „und so will es die Natur.“
„Das ist die Gemeinheit und hier steckt der ganze Betrug!“ Seine Augen blitzten auf. „Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er Schmerz und Angst liebt. Und so hat man’s gemacht. Das Leben wird einem jetzt für Angst und Schmerz gegeben. Hierin liegt der ganze Betrug. Jetzt ist der Mensch noch nicht jener Mensch. Aber es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen. Wem es ganz einerlei sein wird, ob leben oder nicht leben, der wird der neue Mensch sein. Wer Schmerz und Angst besiegen wird, der wird selbst Gott sein. Aber den Gott wird es dann nicht mehr geben.“
„Also gibt es Ihrer Meinung nach doch noch den Gott?“
„Es gibt Ihn nicht, aber Er ist da. Im Stein ist kein Schmerz, aber in der Angst durch den Stein ist Schmerz. Gott ist der Schmerz der Angst vor dem Tode. Wer Schmerz und Angst besiegt, der wird selbst Gott werden. Dann wird ein neues Leben sein, ein neuer Mensch, alles neu ... Dann wird man die Weltgeschichte in zwei Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes, und von der Vernichtung Gottes bis ...“
„Bis zum Gorilla –?“
„... bis zur physischen Veränderung der Erde und des Menschen. Der Mensch wird Gott sein und wird sich physisch verändern. Und das ganze Weltall wird sich verändern, und alle Dinge werden sich verändern, und alle Gedanken und alle Gefühle. Was glauben Sie, wird sich dann nicht auch der Mensch physisch verändern?“
„Wenn es uns ganz gleich sein wird, ob wir leben oder nicht leben, so werden sich alle selbst totschlagen, und darin wird dann vielleicht eine Veränderung bestehen.“
„Das ist einerlei. Den Betrug wird man totschlagen. Ein jeder, der die große Freiheit will, muß sich selbst zu töten wagen. Wer sich selbst zu töten wagt, der hat das Geheimnis des Betruges erkannt. Weiter gibt es keine Freiheit. Hier ist alles und weiter ist nichts. Wer sich selbst zu töten wagt, der ist Gott. Jetzt kann es jeder machen, daß Gott aufhört, zu sein, und daß nichts mehr ist. Aber noch hat es niemand einmal getan!“
„Selbstmörder hat es zu Millionen gegeben.“
„Aber alle nicht deswegen. Alle haben sie sich mit Angst und nicht deswegen getötet. Nur wer sich tötet, um die Angst totzuschlagen, der wird sofort Gott sein.“
„Dazu wird er vielleicht keine Zeit mehr haben,“ bemerkte ich.
„Das ist einerlei,“ sagte er leise, mit ruhigem Stolz und fast ein wenig mit Verachtung. „Es tut mir leid, daß Sie sich darüber wohl lustig machen,“ fügte er nach einer halben Minute hinzu.
„Und mich wundert, wie Sie vorhin so gereizt sein konnten und jetzt so ruhig sind, obgleich Sie doch – glühend sprechen.“
„Vorhin? Vorhin war es komisch,“ antwortete er mit einem Lächeln. „Ich liebe nicht, zu schimpfen, und lache nie,“ fügte er traurig hinzu.
„Ja, Ihre Nächte beim Tee verbringen Sie nicht gerade lustig.“
Ich stand auf und nahm meine Mütze.
„Finden Sie?“ Er lächelte mit einem gewissen Erstaunen. „Warum? Nein, ich ... ich weiß nicht,“ verwirrte er sich plötzlich – „ich weiß nicht, wie es bei den andern ist. Ich fühle, daß ich nicht so wie jedermann kann. Jeder denkt, und dann denkt er gleich an was anderes. Ich kann nicht an anderes, ich denke mein ganzes Leben lang nur an Eines. Mich hat Gott mein Leben lang gequält,“ schloß er plötzlich mit erstaunlicher Mitteilsamkeit.
„Aber sagen Sie doch, warum sprechen Sie manchmal so sonderbar ... so sonderbar falsch? Sollten Sie wirklich in den fünf Jahren im Auslande das Sprechen verlernt haben?“
„Spreche ich denn falsch? Ich weiß nicht. Nein, nicht weil ich im Auslande war. Ich habe immer so gesprochen ... mir ist es einerlei.“
„Und eine noch indiskretere Frage: ich glaube Ihnen vollkommen, daß Sie nicht gern mit Menschen zusammen sind und wenig mit ihnen sprechen – warum haben Sie aber jetzt mit mir so aufrichtig gesprochen?“
„Mit Ihnen? Sie saßen vorhin so gut da ... und Sie ... aber, einerlei ... Sie haben viel Ähnlichkeit mit meinem Bruder, viel, außerordentlich,“ sagte er errötend. „Er starb, vor sieben Jahren; der ältere; sehr, sehr viel Ähnlichkeit ...“
„Er hatte wohl einen großen Einfluß auf Ihre Anschauungen?“
„N–ein, er sprach wenig. Er sprach gar nicht. – Ich werde Ihren Zettel abgeben.“
Er begleitete mich mit der Laterne bis zur Pforte, um sie hinter mir zuzuschließen.
„Selbstverständlich verrückt,“ entschied ich bei mir.
Doch da kam es zu einer neuen Begegnung.
Kaum hatte ich den Fuß auf die hohe Schwelle des Pförtchens gesetzt, als mich plötzlich eine starke Hand an der Brust packte.
„Wer da?“ brüllte eine Stimme. „Freund oder Feind? Bekenne!“
„Das ist einer von den Unsrigen, den Unsrigen!“ kreischte neben ihm Liputin aus der Fistel. „Das ist Herr G–ff, ein junger Mann von klassischer Bildung, und mit Beziehungen zur allerhöchsten Gesellschaft!“
„Gefällt mir, falls zur Gesellschaft ... kla–a–ssischer ... das bedeutet also ge–bild–det–ster ... Ich bin der Hauptmann a. D. Ignatius Lebädkin, zu Diensten der Welt und der Freunde ... wenn sie treu sind, wenn sie nur treu sind, die Schufte!“
Hauptmann Lebädkin, groß, dick, fleischig, krausköpfig, rot und wie gewöhnlich betrunken, hielt sich vor mir kaum auf den Füßen und konnte nur mit großer Mühe die Worte hervorbringen. Ich hatte ihn schon früher von weitem gesehen.
„A–ah, der ist auch da!“ schrie er von neuem auf, als er Kirilloff bemerkte, der noch immer mit seiner Laterne an der Pforte stand. Er erhob schon seine Faust zum Schlage, ließ sie aber wieder sinken.
„Verzeihe dir, wegen der Gelehrtheit! Ignatius Lebädkin – der gebil–det–ste ...
Die Granate der flammenden Liebe
Platzte in Ignats Brust.
Da setzte sich der Invalide
weil er – weil er ...
Um Sebastopol weinen mußt’.
Wenn ich auch nie in Sebastopol gewesen bin und ... mich noch des Gebrauches aller meiner Glieder erfreue – aber ... wie finden Sie den Reim?“ Er kam wieder mit seinem betrunkenen Gesicht auf mich zu.
„Er hat keine Zeit, er muß nach Hause gehen,“ beredete ihn Liputin. „Morgen wird er Lisaweta Nicolajewna erzählen – –“
„Lisaweta?“ brüllte Lebädkin wieder. „Steh! bleib! Noch eine Variante:
Von Amazonen begleitet,
Sprengt sie dahin wie der Wind.
O, welch eine Freud mir bereitet
Das a–ris–to–kra–tische Kind!
Der Amazonenkönigin gewidmet.
Begreifst du auch? Das ist ein Hymnus! Das ist ein Hymnus, wenn du kein Esel bist! Diese Trödler, die können es nicht verstehen! Steh!“ er packte mich am Mantel und hielt mich fest, wie ich mich auch losreißen wollte. „Sage ihr, daß ich ein Ritter der Ehre bin, und Daschka ... Daschka werde ich mit zwei Fingern ... Leibeigene Skla–avin! – und darf sich nicht unterstehn –“
Mit diesen Worten fiel er hin: ich hatte mich ihm mit Gewalt entwunden und ihm dabei einen starken Stoß versetzt. Dann lief ich auf die andere Seite der Straße. Liputin kam mir nach.
„Alexei Nilytsch wird ihn schon aufheben. Wissen Sie, was ich eben von ihm erfahren habe? – das Verschen haben Sie doch gehört? Nun, er hat dieselben Verse an die ‚Amazonenkönigin‘ aufgeschrieben und wird sie morgen Lisaweta Nicolajewna mit seiner vollen Unterschrift zusenden. Was sagen Sie dazu?“
„Ich könnte wetten, daß Sie ihn dazu beredet haben.“
„Dann würden Sie verlieren!“ Liputin lachte. „Verliebt, verliebt, wie ein Kater. Aber wissen Sie auch, daß die Liebe mit Haß begonnen hat? Er haßte Lisaweta Nicolajewna, weil sie reitet, und zwar dermaßen, daß er sie laut auf der Straße zu beschimpfen anfing. Das hat er wahrhaftig getan! Noch vorgestern hat er auf sie geschimpft, als sie vorüberritt. Zum Glück hat sie nichts gehört. Und jetzt plötzlich Gedichte! Wissen Sie auch, daß er einen Antrag riskieren will? Im Ernst, im Ernst!“
„Wie kommt es, Liputin, daß überall, wo sich Schmutz ansammelt, Sie dabei sind und womöglich noch eine führende Rolle spielen?“ fragte ich ruhig, aber innerlich rasend vor Wut.
„Nun, Herr G–ff, Sie gehen etwas weit. Das Herzchen hat wohl geschlagen, als es vom Nebenbuhler hörte, wie?“
„Wa–as?“ schrie ich und blieb stehen.
„Ja, aber jetzt werde ich Ihnen zur Strafe nichts mehr sagen! Und wie gern würden Sie doch noch mehr wissen! Schon allein, daß dieser Narr jetzt nicht mehr ein gewöhnlicher Hauptmann ist, sondern Gutsbesitzer unseres Gouvernements und noch dazu ein Großgrundbesitzer, da ihm Nicolai Stawrogin sein ganzes Gut, früher zweihundert Seelen stark, vor ein paar Tagen verkauft hat. Bei Gott, ich lüge nicht! Eben hab ich’s erfahren, aber dafür aus der sichersten Quelle. So, und nun krabbeln Sie mal mit Ihrem Verstande allein weiter, mehr sage ich nicht. Auf Wiedersehen!“
Stepan Trophimowitsch erwartete mich mit hysterischer Ungeduld. Er war vor einer Stunde zurückgekehrt und noch wie betrunken, als ich eintrat. Wenigstens die ersten fünf Minuten hielt ich ihn nicht für ganz nüchtern, so sehr hatte ihn der Besuch bei Drosdoffs aus dem Gleichgewicht gebracht.
„Mon ami, ich habe meinen Faden nun vollständig verloren. Lise ... ich liebe und verehre diesen Engel wie früher, namentlich wie früher; aber mir scheint, sie haben mich nur erwartet, um etwas von mir zu erfahren, um etwas aus mir herauszuquetschen und dann – geh mit Gott! ... Das ist so!“
„Schämen Sie sich!“ rief ich empört, ich hielt es wirklich nicht mehr aus.
„Mein Freund, ich bin jetzt ganz allein. Enfin c’est ridicule.[59] Denken Sie nur, auch dort ist alles mit Geheimnissen vollgepfropft. Sie warfen sich geradezu auf mich mit diesen ‚Nasen‘ und ‚Ohren‘ – und wer weiß was noch für welchen Petersburger Geschichten. Sie haben ja erst jetzt erfahren, was vor vier Jahren mit Nicolai Wszewolodowitsch hier passiert ist: ‚Sie waren hier, Sie haben es gesehen, ist es wahr, daß er wahnsinnig ist?‘ Und woher diese Idee aufgetaucht ist – ich weiß es nicht! Warum will diese Praskowja unbedingt, daß Nicolas verrückt sei? Sie will es, sie will es! Ce Maurice,[60] oder wie er da heißt, dieser Mawrikij Nicolajewitsch, brave homme tout de même[61] ... Sollte sie wirklich in seinem Interesse, und nachdem, wie sie selbst aus Paris geschrieben hat, à cette pauvre amie ... Enfin,[62] ‚diese Praskowja‘, wie ma chère amie sie immer nennt, die ist ja eine Type! – ist des unsterblichen Gogols leibhaftige ‚Frau Kästchen‘[29], nur eine böse ‚Madame Kästchen‘, ein eingebildetes Kästchen, und in endlos vergrößertem Maßstabe!“
„Dann wird ja ein Kasten draus und noch dazu einer in endlos vergrößertem Maßstabe!“
„Ach, nun dann in verkleinertem, wie Sie wollen, das bleibt sich gleich, – nur unterbrechen Sie mich nicht, – mir dreht sich schon sowieso alles im Kopf. Dort fuhren sie auch schon aus der Haut; außer Lise natürlich, die sprach noch immer von ‚Tante, Tante!‘[63] Aber Lise ist schlau und es steckte noch etwas dahinter! Geheimnisse natürlich. Und mit der Mutter hat sie sich gezankt. Cette pauvre tante![64] Es ist ja wahr, despotisch ist sie. Aber da ist jetzt eine ‚Gouverneurin‘, die Nichtachtung der Gesellschaft, die Nichtachtung Karmasinoffs, plötzlich der Gedanke vom Wahnsinn – ce Lipoutine, ce que je ne comprends pas[65] ... u–und ... Sie sagten dort, sie lege sich Essigkompressen um den Kopf, und da kommen wir ihr noch mit unseren Klagen und Briefen ... O, wie ich sie in dieser Zeit gequält habe! Je suis un ingrat![66] Denken Sie sich, wie ich zurückkomme, finde ich von ihr einen Brief vor; lesen Sie! lesen Sie! O, wie unedel das alles von mir war!“
Er reichte mir den soeben erhaltenen Brief Warwara Petrownas. Ich glaube, ihr hatte der letzte Brief mit dem „bleiben Sie zu Haus“ leid getan, denn dieses Briefchen war höflich, wenn auch kurz und bestimmt. Sie bat ihn, übermorgen, also Sonntag, um zwölf Uhr zu ihr zu kommen, und riet ihm, einen seiner Freunde mitzubringen – in Klammern stand mein Name –, und ihrerseits verpflichtete sie sich, Schatoff, als Darja Pawlownas Bruder, einzuladen: „Dann können Sie von ihr die endgültige Antwort erhalten. Genügt das jetzt? Ist es diese Formalität, nach der Sie so trachteten?“
„Beachten Sie doch diese gereizte Frage zum Schluß über die Formalität. O, die Arme, der Freund meines Lebens! Aber ich muß gestehen, diese plötzliche Entscheidung des Schicksals hat mich fast erdrückt. Ich sage ganz aufrichtig, ich habe immer noch gehofft, aber jetzt – tout est dit, ich weiß schon, daß alles aus ist. C’est terrible![67] O, wenn’s doch keinen Sonntag gäbe! Alles würde beim Alten bleiben. Sie würden mich hier wie immer besuchen, und ich würde hier ...“
„Liputins Gemeinheiten und Klatschgeschichten haben Sie ja ganz aus der Fassung gebracht, wie es scheint.“
„Mein Freund, da haben Sie wieder eine andere schmerzhafte Stelle ‚freundschaftlich‘ mit Ihrem Finger berührt. Aber diese ‚freundschaftlichen‘ Finger pflegen im allgemeinen unbarmherzig und zuweilen einfältig zu sein. Pardon, aber glauben Sie oder glauben Sie mir nicht: ich hatte die Gemeinheiten schon beinahe vergessen, das heißt, ich hatte sie keineswegs vergessen, aber die ganze Zeit, die ich bei Lise war, habe ich mich bemüht, glücklich zu sein, meinetwegen aus Dummheit bemüht. Aber jetzt, jetzt muß ich an diese großmütige, humane Frau denken, die so duldsam mit meinen niedrigen Fehlern ... das heißt, wenn auch nicht gerade duldsam ... aber wie bin ich denn selbst, ich mit meinem leeren, scheußlichen Charakter! Bin ich nicht ein törichtes Kind, mit dem ganzen Egoismus eines solchen, aber nur ohne seine Unschuld? Zwanzig Jahre hat sie mich gehütet, wie eine Kinderfrau, cette pauvre tante, wie Lise sie so graziös nennt ... Und plötzlich, nach zwanzig Jahren, will das Kindchen heiraten, verheirate es und verheirate es! ... ein Brief auf den anderen ... sie aber macht sich Essigkompressen ... u–und ... nun hat das Kind auch glücklich erreicht, was es wollte ... Sonntag ein verheirateter Mensch ... Spaß! ... Warum habe ich denn selbst darauf bestanden, warum habe ich denn die Briefe geschrieben? Übrigens, hab’s vergessen, zu sagen: Lise vergöttert Darja ... wenigstens sagt sie: ‚C’est un ange,[68] nur ein verschlossener.‘ Beide rieten sie mir zu – sogar Praskowja ... nein, übrigens die Praskowja riet mir nicht zu. O, wieviel Gift in diesem ‚Kästchen‘ steckt! Ja, und auch Lise hat mir eigentlich nicht dazu geraten: ‚Wozu brauchen Sie zu heiraten, Sie haben doch genug an gelehrten Genüssen!‘ und dabei lachte sie. Ich verzieh ihr das Lachen, denn ihr blutet ja auch das Herz. Aber sie sagten mir doch, ich könne ohne Frau nicht mehr auskommen. Es kommen Ihre schwachen Jahre und sie wird Sie dann pflegen, zudecken, oder wie sie es da sagten ... Ma foi,[69] ich habe ja auch schon die ganze Zeit so bei mir gedacht, daß die Vorsehung selbst sie mir am Abend meiner wilden Tage schickt, und daß sie mich zudecken ... enfin,[70] im Haushalt nützlich sein wird. Sehen Sie, wieviel Staub hier ist, sehen Sie, all das liegt hier so herum. Ich sagte noch vor kurzem, man solle aufräumen und da ... ein Buch auf der Diele ... La pauvre amie[71] ärgert sich immer, daß es bei mir so verkramt aussieht ... Jetzt werde ich nicht mehr ihre Stimme vernehmen! Vingt ans![72] U–und da gibt es nun noch anonyme Briefe, und denken Sie nur, es heißt, Nicolas hätte an Lebädkin ein Gut verkauft! C’est un monstre. Enfin,[73] was ist Lebädkin? Lise hört und hört, Gott, wie sie zuhört! Ich vergab ihr das Lachen, als ich sah, mit welchem Gesicht sie zuhörte, und ce Maurice ... ich würde jetzt nicht gern in seiner Haut stecken, brave homme tout de même,[74] aber ein wenig schüchtern ... Übrigens, Gott hab’ ihn selig! ...“
Er verstummte: er schien erschöpft zu sein und saß wie gebrochen da, mit müdem Blick auf den Boden starrend. Ich benutzte die Pause und erzählte von meinem Besuch im Filippoffschen Hause; auch unterließ ich es nicht, über diese Geschichten meine Meinung zu sagen, und erklärte ihm kurz und trocken, daß es meiner Meinung nach durchaus möglich wäre, daß Lebädkins Schwester – die ich nie gesehen – in der Tat einmal Nicolai Stawrogins Opfer gewesen, vielleicht in seiner ‚rätselhaften Petersburger Zeit‘, wie Liputin sich ausdrückte ... und daß es wahrscheinlich ist, daß Lebädkin, aus irgendeinem Grunde, von Stawrogin Geld erhält. Was aber die Klatschgeschichten über Darja Pawlowna anbeträfe, so seien die einzig Liputins Erfindung. Das meine auch Kirilloff.
Stepan Trophimowitsch hörte zerstreut meinen Versicherungen zu, ganz als gingen sie ihn nichts an. Ich erwähnte auch mein Gespräch mit Kirilloff und fügte hinzu, daß ich ihn im übrigen für wahnsinnig hielte.
„Er ist nicht wahnsinnig, aber er gehört zu den Menschen mit kurzen Gedanken,“ murmelte Stepan Trophimowitsch seltsam gelangweilt. „Ces gens-là supposent la nature et la société humaine autres que Dieu ne les a faites et qu’elles ne sont réellement.[75] Man läßt sich mit ihnen ein, aber Stepan Werchowenski wenigstens hat das nicht getan. Ich habe sie damals in Petersburg gesehen, avec cette chère amie[76] (oh, wie ich cette chère amie damals beleidigt habe!), doch weder ihr Geschimpfe noch ihre Lobsprüche haben mir Furcht einflößen können. Fürchte diese Leute auch jetzt nicht, mais parlons d’autre chose[77] ... Ich glaube, ich habe Schreckliches angerichtet; stellen Sie sich vor, ich habe Darja Pawlowna gestern einen Brief geschrieben und ... wie verwünsche ich ihn nun ... und mich dazu!“
„Was haben Sie ihr denn geschrieben?“
„Oh, mein Freund, glauben Sie mir, das war alles so edel gedacht! Ich teilte ihr mit, daß ich vor etwa fünf Tagen an Nicolas geschrieben habe, und gleichfalls großmütig.“
„Jetzt begreife ich!“ rief ich aufgebracht. „Und welch ein Recht hatten Sie, die beiden so einander gegenüberzustellen?“
„Aber, mon cher, erdrücken Sie mich doch nicht ganz, schreien Sie nicht so, ich bin ja schon sowieso zerknirscht ... und zerdrückt wie eine Schabe, ... und schließlich, ich glaube doch, es war alles edel. Nehmen Sie an, daß da wirklich etwas passiert ist ... en Suisse[78] ... oder angefangen hat. Ich muß doch ihre Herzen vorher fragen, um ... enfin[70] – um nicht die Herzen zu stören und wie ein Pfosten auf ihrem Weg ... Ich ... i–ich habe es einzig und allein aus Edelmut getan.“
„O Gott, wie dumm Sie das gemacht haben!“ sagte ich unwillkürlich.
„Dumm, dumm,“ griff er das Wort sogleich und fast gierig auf. „Noch nie haben Sie etwas Klügeres gesagt, c’était bête mais que faire? Tout est dit.[79] Werde ja sowieso heiraten, auch wenn’s ‚fremde Sünden‘ sind, also wozu brauchte ich da noch zu schreiben! Nicht wahr?“
„Ach, so meine ich es ja nicht!“
„Oh, jetzt erschrecken Sie mich aber nicht mehr mit Ihrem Geschrei; jetzt steht vor Ihnen nicht mehr jener Stepan Werchowenski, der ist begraben, enfin – tout est dit.[80] Ja und warum schreien Sie eigentlich? Einfach, weil nicht Sie heiraten und nicht Sie einen gewissen Kopfschmuck zu tragen brauchen! Wieder schneiden Sie ein Gesicht! Aber, mein armer Freund, Sie kennen die Frau nicht, ich aber habe in meinem ganzen Leben nichts anderes getan, als sie studiert. ‚Willst du die Welt besiegen, besiege dich selbst‘, das einzige, was einem anderen solchen Romantiker, wie Sie einer sind, Schatoff, dem Bruder meiner zukünftigen Gattin, als Ausspruch gelungen ist. Ich eigne mir gern seinen Ausspruch an. Nun, auch ich bin bereit, mich selbst zu besiegen, und heirate, aber was erobere ich anstatt der ganzen Welt? Ach, mein Freund, die Ehe! Die ist der moralische Tod jeder stolzen Seele, jeder Unabhängigkeit. Das Eheleben verdirbt mich, nimmt mir die Energie, nimmt mir den Mut, der nun einmal zum Dienst an einer Sache nötig ist. Dann kommen noch die Kinder, die am Ende gar nicht meine sind – das heißt, selbstverständlich nicht meine! –, der Weise fürchtet sich nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken ... Liputin schlug mir heute vor, mich mit Barrikaden vor Nicolas zu schützen. Er ist dumm, dieser Liputin. Das Weib betrügt selbst das allwissende Auge Gottes. Le bon Dieu[81] wußte natürlich, als er das Weib schuf, was er unternahm. Aber ich bin überzeugt, daß sie Ihn selbst – dabei gestört und Ihn verleitet hat, sie gerade so und ... mit solchen Attributen zu schaffen; denn wer würde sich umsonst solche Scherereien auf den Hals laden? Ich weiß, Nastassja würde sich über diese Freidenkerei ärgern, aber ... enfin tout est dit.“[80]
Er wäre nicht er gewesen, wenn er ohne ein billiges Wortspielchen ausgekommen wäre, wenigstens tröstete er sich jetzt damit, – aber leider nicht auf lange.
„Oh, wenn es doch kein Übermorgen gäbe, wenn doch dieser Sonntag nicht wäre!“ rief er plötzlich in heller Verzweiflung aus. „Warum kann diese Woche nicht ohne Sonntag sein – si le miracle existe?[82] Was würde es denn die Vorsehung kosten, einen einzigen Sonntag aus dem Kalender zu streichen, meinetwegen, um den Atheisten ihre Macht zu zeigen et que tout soit dit![83] Oh, wie ich sie geliebt habe! Vingt ans[72] ... und all die zwanzig Jahre hat sie mich nicht verstanden!“
„Von wem sprechen Sie denn jetzt? Ich kann Sie wirklich nicht verstehen,“ fragte ich verwundert.
„Vingt ans! und nicht ein einziges Mal hat sie mich verstanden, oh, das ist grausam! Und sollte sie wirklich glauben, daß ich aus Angst heirate? Oh, welche Schmach! Tante, tante, ich bin dein! Mag sie es erfahren, diese tante, daß sie das einzige Weib ist, das ich zwanzig Jahre lang vergöttert habe! Sie muß es erfahren, anders geht das nicht, sonst muß man mich mit Gewalt schleppen zu dem da ... ce qu’on appelle le[84] Altar!“
Ich hörte zum ersten Mal dieses Bekenntnis und ich will nicht verheimlichen, daß mich eine wahnsinnige Lust zu lachen anwandelte. Oder tat ich ihm Unrecht?
„Er allein ist mir jetzt geblieben, meine einzige Hoffnung!“ rief er plötzlich, wie von einer neuen Idee erleuchtet. „Jetzt ist nur er es allein, mein armer Junge, der mich retten kann und – warum kommt er denn noch nicht? Mein Sohn, mein Petruscha ... und wenn ich’s auch nicht verdient habe – Vater zu heißen, eher ein Tiger bin ... so ... laissez-moi mon ami[85] ... ich werde ein wenig schlafen, um meine Gedanken zu sammeln. Ich bin so müde, so müde, ja, und auch Sie müssen, glaube ich, zu Bett, voyez-vous[86] ... es ist schon zwölf.“
Diesmal war Schatoff nicht starrköpfig, sondern erschien, auf meinen Brief hin, richtig um zwölf Uhr. Wir trafen fast zu gleicher Zeit ein, denn auch ich war gekommen, um meine erste Visite zu machen. Lisa, die „Mamá“ und Mawrikij Nicolajewitsch saßen alle drei im großen Salon und stritten sich gerade. Die Mamá wünschte, daß Lisa ihr einen bestimmten Walzer vorspiele, und als Lisa das tat, behauptete sie, das sei ein anderer Walzer. Mawrikij Nicolajewitsch trat in seiner Einfalt für Lisa ein und beteuerte, daß es wirklich der gewünschte Walzer gewesen sei, doch da begann die alte Dame vor Ärger zu weinen. Sie war krank und konnte kaum gehen. Ihre Füße waren geschwollen, und nun tat sie schon seit ein paar Tagen nichts anderes, als daß sie launisch war und mit allen und jedem Streit anfing, obgleich sie Lisa immer ein wenig fürchtete. Über unseren Besuch war man sehr erfreut. Lisa errötete vor Freude, und nachdem sie mir merci gesagt hatte (natürlich wegen Schatoff), ging sie auf ihn zu. In ihren Augen lag Neugier.
Schatoff war linkisch an der Tür stehen geblieben. Sie dankte ihm dafür, daß er gekommen war, und führte ihn dann zur Mutter.
„Das ist Herr Schatoff, Mama, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, und hier ist Herr G–ff, ein Freund von mir und Stepan Trophimowitsch.“
„Wer von Ihnen ist nun der Professor?“
„Keiner von ihnen ist Professor, Mama.“
„Wieso, einer ist doch Professor. Du hast mir selbst gesagt, daß ein Professor kommen wird – wahrscheinlich ist es der?“ und sie wies dabei auf Schatoff.
„Ich habe Ihnen nichts von einem Professor gesagt. Herr G–ff ist Beamter und Herr Schatoff ist Student.“
„Student, Professor – die sind doch beide von der Universität. Du willst immer nur streiten. Der Schweizer sah anders aus.“
„Mama nennt Pjotr Stepanowitsch immer ‚Professor‘,“ sagte Lisa und führte Schatoff in die andere Salonecke zu einem Sofa, auf dem sie dann Platz nahm. „Wenn ihre Füße schmerzen, ist sie immer so, sie ist nämlich krank,“ sagte sie dabei leise zu ihm, während sie ihn wieder neugierig betrachtete und besonders auf seinen abstehenden Haarschopf sah.
„Sind sie Militär?“ fragte mich Madame Drosdoff, der mich Lisa unbarmherzig überlassen hatte.
„Nein, ich diene ...“
„Herr G–ff ist Stepan Trophimowitschs bester Freund,“ rief Lisa ihr aus der anderen Ecke zu.
„Sie dienen bei Stepan Trophimowitsch? Aber der ist doch auch Professor!“
„Ach, Mama, Sie machen ja schon alle Menschen zu Professoren!“ rief Lisa unwillig.
„Es gibt ihrer auch so schon zu viele! Du aber willst nur wieder deiner Mutter widersprechen. – Waren Sie hier, als Nicolai Wszewolodowitsch das erste Mal, vor vier Jahren, bei Warwara Petrowna war?“
Ich antwortete bejahend.
„War irgendein Engländer mit ihm hier?“
„Nein, nicht, daß ich wüßte.“
Lisa fing an zu lachen.
„Sehen Sie nun, Mama, daß überhaupt kein Engländer hier gewesen ist – also, wieder Lügen! Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch lügen alle beide. Ja, und überhaupt – alle lügen! Gestern,“ erklärte sie darauf, zu uns gewandt, „fanden nämlich tante und Stepan Trophimowitsch eine Ähnlichkeit zwischen Nicolai Wszewolodowitsch und dem Prinzen Heinz aus Shakespeares ‚Heinrich IV.‘, und daher glaubt Mama nun, daß ein Engländer mit ihm hier gewesen sei.“
„Wenn kein Engländer da war, so war auch kein Heinz da, und euer Nicolai Wszewolodowitsch machte nur seine eigenen Streiche.“
„Mama tut nur mit Absicht so,“ fand Lisa für nötig, Schatoff auseinander zu setzen. „Sie kennt Shakespeare sehr gut; ich habe ihr selbst den ersten Akt von ‚Othello‘ vorgelesen. Sie ist jetzt immer so gereizt, wissen Sie. – Mama, hören Sie, es schlägt zwölf, Sie müssen Ihre Medizin einnehmen.“
„Der Doktor ist gekommen,“ meldete das Dienstmädchen.
Die Alte erhob sich und rief ihr Hündchen: „Semirka, Semirka, komm du doch wenigstens mit mir.“ Aber das widerliche alte Tierchen Semirka gehorchte ihr nicht, sondern kroch zu Lisa unter das Sofa.
„Du willst also nicht? Nun, dann will ich dich auch nicht mehr. Leben Sie wohl, mein Lieber, Ihren Namen habe ich leider vergessen,“ wandte sie sich an mich.
„Anton Lawrentjewitsch ...“
„Schon gut, lassen Sie nur, bei mir geht’s doch bloß zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Begleiten Sie mich nicht, Mawrikij Nicolajewitsch, ich habe nur Semirka gerufen. Noch kann ich, Gott sei Dank, allein gehen, und morgen werde ich spazieren fahren!“
Und sichtlich geärgert verließ sie langsam den Salon.
„Anton Lawrentjewitsch, Sie unterhalten sich inzwischen mit Mawrikij Nicolajewitsch, – nicht wahr? Ich kann Sie versichern, daß Sie beide nur gewinnen werden, wenn Sie nähere Bekanntschaft machen,“ sagte Lisa und lächelte Mawrikij Nicolajewitsch freundschaftlich zu. Er aber erstrahlte förmlich unter ihrem Blick.
So mußte ich mich denn, wohl oder übel, mit Mawrikij Nicolajewitsch unterhalten.
Die Angelegenheit, die Lisaweta Nicolajewna mit Schatoff besprechen wollte, erwies sich zu meinem Erstaunen als tatsächlich rein literarisch. Ich weiß nicht, warum ich überzeugt gewesen war, daß sie ihn aus einem anderen Grunde zu sich gerufen hätte. Als wir nun sahen, daß sie aus ihrem Anliegen kein Geheimnis vor uns machte und auch nicht leise sprach, hörten wir unwillkürlich zu; und bald zog sie uns sogar mit ins Gespräch und bat auch uns um Rat. Sie hatte, wie sie uns auseinandersetzte, schon lange die Herausgabe eines ihrer Meinung nach sehr nützlichen Buches geplant. Da sie aber in solchen literarischen Sachen keine Erfahrung besaß, so brauchte sie einen Mitarbeiter. Der Ernst, mit dem sie Schatoff ihren Plan zu erklären versuchte, setzte mich wirklich in Erstaunen.
„Also auch eine von den Modernen,“ dachte ich. „Sie scheint nicht umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.“
Schatoff hörte ihr aufmerksam zu, den Blick eigensinnig an den Boden geheftet, und ohne jegliche Verwunderung darüber, daß ein junges Mädchen der Gesellschaft sich mit solchen Sachen abgab.
Es handelte sich um Folgendes. In einem Lande wie Rußland erscheint jährlich eine große Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften aller Art, und in ihnen wird tagaus tagein von allen möglichen Ereignissen berichtet. Aber wenn dann das Jahr vergangen ist, werden die alten Zeitungen überall weggeräumt, in Schränke gesteckt, oder sie liegen herum, werden zerrissen, werden zum Einschlagen verwandt usw. Manch eines von den mitgeteilten Ereignissen bleibt wohl im Gedächtnis des Lesers haften, wenn es auf ihn einen Eindruck gemacht hat, und gerät erst nach Jahren in Vergessenheit. Nun würden aber viele später gern nachschlagen und das einmal Gelesene wieder lesen wollen, aber was gäbe das für eine Arbeit, in diesem Meer von Blättern die Stelle zu finden, zumal man sich oft nicht einmal erinnert, in welchem Jahre oder Monat und in welcher Zeitung man die betreffende Sache gelesen hat. Indessen könnte, wenn man alle derartigen Geschehnisse eines ganzen Jahres sammelte und in einem einzigen Bande herausgäbe – selbstverständlich nach einem bestimmten Plan und nach einem bestimmten leitenden Gedanken geordnet, mit einteilenden Überschriften, mit einem Index und mit übersichtlicher Angabe der Zeit (Monate und Tage) – so könnte eine solche Zusammenfassung des Stoffes in einem übersichtlichen Werke die ganze Charakteristik des russischen Lebens im Laufe dieses Jahres veranschaulichen, obwohl von den Ereignissen selbst, im Vergleich zu all den unzähligen Geschehnissen, von denen die Zeitungen berichten, natürlich nur ein kleiner Bruchteil gebracht werden soll.
„Wir würden also statt einer Menge Blätter mehrere dicke Bücher haben, und das wäre alles,“ bemerkte Schatoff.
Doch Lisaweta Nicolajewna verteidigte ihren Gedanken mit großem Eifer, obgleich es schwer war, ihn einleuchtend zu erklären, ganz abgesehen davon, daß sie sich auch nicht recht auszudrücken verstand. Es müsse nur ein einziger Band werden, und nicht einmal ein sehr dicker, beteuerte sie. Oder wenn es auch ein dickes Buch werden sollte, so müsse es doch übersichtlich sein, und deshalb sei die Hauptsache der Plan und die Art der Einteilung des Stoffes. Selbstredend dürfe nicht alles genommen und abgedruckt werden. Erlasse, Regierungsmaßnahmen, örtliche Verordnungen, Gesetze – so wichtig das alles auch sei – in das Buch brauchte man davon doch nichts aufzunehmen. Überhaupt könnte man vieles weglassen und sich auf eine Auswahl von Geschehnissen beschränken, die mehr oder weniger das ethische und persönliche Leben des Volkes, sozusagen die Persönlichkeit des russischen Volkes im gegebenen Augenblicke ausdrückten. Freilich käme alles in Betracht: Kuriositäten, Brände, Spenden, Stiftungen, die verschiedensten guten oder schlechten Handlungen, verschiedene Aussprüche und Reden, ja, schließlich auch Nachrichten von Überschwemmungen, ja meinethalben auch einzelne Regierungserlasse, aber aus allem müsse nur das herausgesucht werden, was die Epoche kennzeichnet. Alles müsse eben unter einem bestimmten Gesichtswinkel erfaßt und hingestellt werden, und hinter allem müsse ein Gedanke stehen, der den Zusammenhang des Ganzen sichtbar werden lasse. Und schließlich müsse das Buch sogar als Lektüre interessant und fesselnd sein, ganz zu schweigen von seinem Wert als notwendiges Nachschlagebuch! Es wäre also gewissermaßen ein Bild des geistigen, sittlichen, inneren russischen Lebens im Laufe eines Jahres. „Es muß so sein, daß alle es kaufen, es muß zu einem richtigen Handbuch werden,“ behauptete Lisa. „Ich weiß wohl, daß hierbei der Plan die Hauptsache ist, und deshalb wende ich mich an Sie,“ schloß Lisa. Sie war recht in Eifer geraten, und obgleich sie sich unklar und unvollständig ausgedrückt hatte, begann Schatoff zu begreifen.
„Es würde also doch so etwas mit einer Tendenz werden, eine Zusammenstellung von Fakten unter einem bestimmten Gesichtswinkel,“ brummte er, immer noch ohne den Kopf zu erheben.
„Keineswegs mit einer Tendenz, das ist gar nicht nötig! Nichts als Objektivität – das soll die ganze Richtschnur sein.“
„Aber die Richtung wäre ja an sich nichts Schlimmes,“ sagte Schatoff und bewegte sich endlich, „auch ließe sich das wohl nicht vermeiden, sobald man überhaupt eine Auswahl trifft. In der Art der Auswahl und Zusammenstellung wird eben schon der Hinweis enthalten sein, wie man das Ganze verstehen soll. Ihre Idee ist nicht schlecht.“
„So glauben Sie, daß man ein solches Buch zustande bringen kann?“ fragte Lisa erfreut.
„Man muß sich das noch überlegen. Es würde ein großes Unternehmen werden. So plötzlich läßt sich nichts ausdenken. Da muß man Erfahrungen sammeln. Selbst während der Arbeit dürften wir noch nicht recht wissen, wie es am besten zu machen wäre. Vielleicht finden wir das erst nach vielen Versuchen. Aber der Gedanke fängt an, einem klar zu werden. Es ist ein nützlicher Gedanke.“
Endlich sah er auf und seine Augen leuchteten sogar vor Vergnügen, so sehr war er jetzt interessiert.
„Haben Sie sich das selbst ausgedacht?“ fragte er Lisa freundlich und, wie das so seine Art war, fast verschämt.
„Ach, das Ausdenken war kein Kunststück, dafür aber ist das der Plan um so mehr,“ erwiderte Lisa lächelnd. „Ich verstehe wenig davon und bin nicht sehr klug, ich verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...“
„Sie verfolgen?“
„Das ist wohl nicht das richtige Wort?“ forschte Lisa schnell und wißbegierig.
„Nein, doch ... man kann es sagen. Ich fragte nicht deswegen.“
„Ich habe mir schon im Auslande gesagt, daß auch ich der allgemeinen Sache irgendwie nützlich sein könnte. Ich besitze mein eigenes Geld, und es liegt tot da. Warum soll ich nicht gleichfalls arbeiten? Und zudem kam mir jene Idee ganz von selbst, ich habe mich gar nicht angestrengt oder sie mir ausgedacht –, der Gedanke war auf einmal da, und da freute ich mich sehr. Ich sah nur gleich ein, daß es ohne einen Mitarbeiter nicht gehen würde, da ich allein doch nichts verstehe. Der Mitarbeiter soll natürlich auch gleich der Mitherausgeber sein. Wir machen es dann zur Hälfte: von Ihnen kommt der Plan und die Arbeit, von mir die Idee und die Mittel zur Herausgabe. Das Buch wird sich doch bezahlt machen!“
„Wenn wir den richtigen Plan finden, wird das Buch schon gehen.“
„Ich muß nur vorausschicken, daß ich es nicht wegen des möglichen Überschusses tue, aber ich möchte doch sehr, daß es viel gekauft wird, und auf einen Überschuß wäre ich natürlich furchtbar stolz.“
„Aber was soll ich denn dabei?“
„Aber ich bitte doch gerade Sie, dieser Mitarbeiter zu sein ... Wir teilen dann. Sie werden doch den Plan ausdenken.“
„Woher wissen Sie, ob ich das kann?“
„Man hat mir schon von Ihnen erzählt ... ich weiß, daß Sie sehr klug sind und ... zu arbeiten verstehen und ... viel denken. Mir hat Pjotr Stepanowitsch Werchowenski in der Schweiz von Ihnen erzählt,“ fügte sie eilig hinzu. „Er ist ein sehr kluger Mensch, nicht wahr?“
Schatoff sah sie im Nu mit einem gleichsam huschenden Blick an, der kaum über sie hinglitt, senkte aber sofort wieder die Augen.
„Auch Nicolai Stawrogin hat mir viel von Ihnen erzählt.“
Schatoff wurde plötzlich rot.
„Übrigens, hier sind schon Zeitungen.“ Sie nahm hastig ein zusammengebundenes Paket, das auf einem Stuhl bereit lag. „Ich habe schon versucht, eine Auswahl zu treffen und ein bißchen zusammenzustellen – ich habe die Stellen angestrichen und nummeriert ... Sie werden schon selbst sehen ...“
Schatoff nahm das Paket.
„Nehmen Sie es mit nach Haus, sehen Sie es dort durch – Sie wohnen doch irgendwo?“
„In der Bogojawlenskstraße, im Filippoffschen Hause.“
„Ich weiß, wo das ist. Dort soll, wie ich gehört habe, neben Ihnen auch irgendein Hauptmann wohnen, ein Herr Lebädkin?“ fuhr Lisa mit derselben hastenden Eile fort.
Schatoff saß, das Paket, wie er es genommen hatte, frei in der Hand haltend, wohl eine ganze Minute ohne zu antworten da und blickte zu Boden.
„Zu diesen Sachen werden Sie sich doch wohl einen anderen aussuchen müssen, denn ich – tauge nicht dazu,“ sagte er schließlich mit ganz eigentümlich gesenkter Stimme, ja, fast flüsternd.
Lisa flammte auf.
„Von was für Sachen reden Sie? Mawrikij Nicolajewitsch!“ rief sie diesen, „bitte geben Sie mir jenen Brief.“
Auch ich trat nach Mawrikij Nicolajewitsch an den Tisch.
„Sehen Sie dies hier,“ wandte sie sich plötzlich an mich, während sie in sichtlich großer Erregung den Brief entfaltete. „Haben Sie schon je etwas Ähnliches gesehen? Bitte, lesen Sie es laut vor. Ich will, und es ist nötig, daß auch Herr Schatoff es hört,“ wandte sie sich darauf an mich, „haben Sie schon je in Ihrem Leben so was gelesen? Bitte, lesen Sie laut vor. Auch Herr Schatoff soll’s hören.“
Ich las nicht wenig erstaunt das Folgende:
„An die vollendete Schönheit, die Jungfrau Lisaweta Nicolajewna Tuschina.
Gnädiges Fräulein!
O, wie ist sie wunderbar,
Lisaweta Tuschina!
Wenn sie morgens ausreitet
Und durch ihre Locken der Wind gleitet!
Dann wünsch’ ich mir von ihr alle Wonne
Und denk’, sie sei meine Frau und meine Sonne.
(Gedichtet von einem Ungelehrten nach einem
Streite.)
Gnädiges Fräulein!
Am meisten bedauere ich, daß ich vor Sebastopol nicht einen Arm zum Ruhme der Tapferkeit verloren habe, sintemal ich dort überhaupt nicht gewesen bin, sondern man mich während des ganzen Feldzuges mit der Lieferung von ganz gemeinem Proviant beschäftigt hat. Sie aber sind eine Göttin im Altertum und ich bin vor Ihnen nichts, doch jetzt ahne ich, was Unermeßlichkeit ist. Betrachten Sie alles, was ich Ihnen sage, als Verse, denn Verse sind Poesie, und Poesie ist Unsinn, aber sie entschuldigt das, was man in der Prosa Unverschämtheit nennt. Wie aber sollte sich eine Sonne über eine Infusorie ärgern, wenn es doch, mit dem Mikroskop betrachtet, unendlich viele Infusorien schon in einem Wassertropfen gibt! Sogar der große Klub der Nächstenliebe zu großem Viehzeug in Petersburg, der mitleidig für die Rechte von Hunden und Pferden kämpft, nimmt sich der kleinen Infusorie nicht an, weil sie nicht ausgewachsen ist. Auch ich bin noch nicht ausgewachsen. Der Gedanke an eine Heirat würde komisch sein. Aber durch einen Menschenhasser, den Sie verachten, werde ich bald zweihundert ehemalige Seelen besitzen. Kann vieles mitteilen, und habe Dokumente in der Hand, wofür es sogar nach Sibirien gehen kann. Verachten Sie also nicht meinen Antrag. Dieser Brief ist rein poetisch zu verstehen.
Hauptmann Lebädkin,
Ihr ergebenster Freund, der immer Zeit hat.“
„Das hat ein Betrunkener geschrieben,“ rief ich aus, „ein erbärmlicher Mensch! – Ich kenne ihn!“
„Ich erhielt ihn gestern,“ begann Lisa, hochrot im Gesicht, uns hastig zu erklären. „Ich begriff sofort, daß irgend ein Narr ihn geschrieben hat. Deshalb habe ich ihn Mama auch gar nicht gezeigt, um sie nicht aufzuregen. Doch was soll ich tun, wenn er mir noch mehr solche Briefe schreibt? Mawrikij Nicolajewitsch wollte zu ihm gehen, um es ihm zu verbieten. Sie aber, Herr Schatoff, da Sie doch im selben Hause wohnen, Sie können mir vielleicht etwas Näheres über ihn mitteilen?“
„Ein verkommener Mensch,“ murmelte Schatoff zur Antwort.
„Ist er immer so dumm?“
„O nein, wenn er nicht betrunken ist, ist er durchaus nicht dumm.“
„Ich habe einen General gekannt, der in seinen Mußestunden genau solche Gedichte schrieb,“ bemerkte ich amüsiert.
„Sogar aus diesem Brief ist zu ersehen, daß er nicht dumm sein kann,“ sagte der sonst so schweigsame Mawrikij Nicolajewitsch überraschenderweise.
„Man sagt, er habe hier eine Schwester bei sich?“ fragte Lisa.
„Ja, eine Schwester.“
„Und er soll sie tyrannisieren, ist das wahr?“
Schatoff sah Lisa wieder kurz an, runzelte die Stirn, brummte nur: „Was geht das mich an!“ und wandte sich zur Tür.
„Ach, aber so warten Sie doch,“ rief Lisa erregt, „wohin wollen Sie denn schon? Wir müssen doch noch so vieles besprechen! ...“
„Was denn besprechen? Ich werde Ihnen morgen Bescheid sagen ...“
„Aber die Hauptsache ist doch, wie wir es drucken! Glauben Sie mir doch endlich, daß es mir mit dem Buch wirklich ernst ist!“ beteuerte Lisa in wachsender Unruhe. „Wenn wir es nun herauszugeben beschließen, wo soll das Buch dann gedruckt werden? Wir werden doch deshalb nicht nach Moskau reisen, und die hiesige Druckerei kommt für eine solche Ausgabe doch nicht in Frage. So habe ich denn beschlossen, eine eigene Druckerei zu gründen, sagen wir, auf Ihren Namen, und Mama würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn es auf Ihren Namen geschieht ...“
„Woher wissen Sie, daß ich zu drucken verstehe?“ fragte Schatoff finster.
„Ja, das hat mir Pjotr Stepanowitsch Werchowenski schon in der Schweiz gesagt, daß Sie das alles verstehen, und er wollte mir sogar einen Brief an Sie mitgeben, aber dann habe ich’s vergessen ...“
Wie ich mich jetzt erinnere, ging hierauf eine Veränderung in Schatoffs Gesicht vor sich. Er stand noch ein paar Sekunden da und plötzlich verließ er das Zimmer.
Lisa ärgerte sich.
„Geht er immer so weg?“ fragte sie mich.
Ich zuckte nur mit der Schulter – doch in diesem Augenblick kam Schatoff schon zurück und legte das Paket auf den Tisch.
„Ich kann nicht Ihr Mitarbeiter sein, habe keine Zeit ...“
„Aber warum, warum denn nicht? Sie haben sich wohl über irgend etwas geärgert?“ fragte Lisa ganz traurig und ihre Stimme klang bittend.
Und dieser Ton in ihrer Stimme schien ihn stutzig zu machen: ein paar Augenblicke lang sah er sie unverwandt an, als wolle er bis in ihre Seele hineinschauen.
„Einerlei,“ murmelte er dann dumpf, „ich will nicht ...“
Und er ging wirklich weg.
Lisa blieb ganz niedergeschlagen zurück – sogar weit niedergeschlagener, als man es nach dem Vorgefallenen hätte verstehen können; wenigstens schien es mir damals so.
„Ein äußerst sonderbarer Mensch,“ bemerkte Mawrikij Nicolajewitsch.
Allerdings wirkte Schatoff „sonderbar“, aber schließlich war an diesem ganzen Vorfall doch gar zu vieles unklar. Es mußte da hinter manchem noch ein anderer Sinn stecken. Diese Buchgeschichte z. B. kam mir durchaus unglaubhaft vor und ich dachte bei mir, daß sie wohl nur ein Vorwand zu irgendwelchen anderen Zwecken sein könne. Und dann dieser verrückte Brief mit dem Versprechen von Mitteilungen und „Dokumenten“, und warum hatten sie es vermieden, davon zu sprechen, warum sprachen sie sogleich von ganz etwas anderem? Warum war Schatoff so plötzlich fortgegangen, und so auffallenderweise gerade dann, als man von der Druckereifrage zu sprechen begann? Alles das gab mir zu denken und ich kam zu der Überzeugung, daß hier etwas Geheimnisvolles vorliegen müsse. – – Doch es war Zeit, daß auch ich mich verabschiedete.
Lisa schien meine Anwesenheit im Zimmer ganz vergessen zu haben. Sie stand immer noch tief nachdenklich auf demselben Platz am Tisch und starrte vor sich hin.
„Ach, auch Sie wollen gehen? Nun, auf Wiedersehen,“ sagte sie freundlich. „Grüßen Sie Stepan Trophimowitsch von mir und reden Sie ihm doch zu, daß er so bald wie möglich zu mir komme. Mama kann sich leider nicht von Ihnen verabschieden ... Sie entschuldigen gewiß!“
Ich verabschiedete mich noch von Mawrikij Nicolajewitsch und ging hinaus. Als ich schon die Treppe hinabgegangen war, kam mir der Diener nachgelaufen.
„Das gnädige Fräulein lassen Sie sehr bitten, zurückzukommen.“
Als ich daraufhin wieder zurückging und eintrat, war Mawrikij Nicolajewitsch ganz allein im großen Salon. Lisa dagegen erwartete mich im anstoßenden kleineren Empfangszimmer, dessen Tür nur angelehnt war.
Bleich und augenscheinlich noch unentschlossen stand sie mitten im Zimmer und lächelte mir zu, als ich eintrat. Plötzlich ergriff sie meine Hand und zog mich schnell zum Fenster.
„Ich will sie sehen,“ flüsterte sie und sah mich mit heißem, starkem, ungeduldigem Blick an, der jeden Widerspruch unmöglich machte. „Ich muß sie mit meinen eigenen Augen sehen, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.“
Sie schien wirklich außer sich und ganz verzweifelt zu sein.
„Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nicolajewna?“ fragte ich erschrocken.
„Diese Lebädkina, diese Lahme ... Es ist doch wahr, daß sie lahm ist?“
„Ich habe sie nie gesehen, aber ich hörte noch gestern, daß sie allerdings lahm sein soll,“ antwortete ich rasch und sprach gleichfalls so leise wie möglich.
„Ich ... muß sie unbedingt sehen! Können Sie das nicht heute noch einrichten?“
Lisa tat mir furchtbar leid.
„Das ... das scheint mir ganz unmöglich. Wie ... sollte man –?“ Ich wollte ihr den Gedanken ausreden. Doch als ich sah, daß sie ganz verzweifelt war, sagte ich: „Ich könnte ja zu Schatoff gehen ...“
„Wenn Sie mir nicht helfen, dann werde ich morgen selbst zu ihr gehen. Allein. Denn Mawrikij Nicolajewitsch weigert sich, mich dorthin zu begleiten. Ich hoffe jetzt nur noch auf Sie, denn sonst habe ich ja niemanden. Mit Schatoff habe ich töricht gesprochen. Aber ich weiß, Sie sind ein Ehrenmann, und vielleicht mir ein wenig zugetan. Tun Sie es! Bitte, bitte!“
Da erfaßte mich der leidenschaftliche Wunsch, ihr in allem behilflich zu sein.
„Gut,“ sagte ich entschlossen, nachdem ich eine Weile überlegt hatte. „Ich werde noch heute selbst hingehen und den Versuch machen, sie zu sehen und zu sprechen. Unter allen Umständen. Ich werde Ihren Wunsch erfüllen. Ich gebe Ihnen mein Wort. Nur müssen Sie mir gestatten, vorher mit Schatoff darüber zu sprechen.“
„Ja, sagen Sie ihm, daß ich sie sehen muß! Daß ich nicht länger warten kann! Und sagen Sie ihm, daß ich ihn vorhin wirklich nicht zum besten gehabt habe. So etwas hat er wohl geglaubt. Deshalb scheint er ja fortgegangen zu sein. Seine Ehrlichkeit, sein Ehrgefühl war gekränkt. Ich habe ihm aber ganz gewiß nichts vorgespiegelt. Ich will wirklich das Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...“
„Ja, Schatoff ist der ehrlichste Mensch,“ beteuerte ich eifrig.
„Und wenn es Ihnen nicht gelingt, dann – dann gehe ich morgen selbst zu ihr. Einerlei, was daraus entsteht. Und wenn auch alle es erfahren!“
„Aber vor drei Uhr kann ich unmöglich bei Ihnen sein!“
„Gut, also dann morgen um drei. Und nicht wahr, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht, bei Stepan Trophimowitsch, als ich Sie für ein wenig – mir zugetan hielt?“ lächelte sie mir zu, drückte mir zum Abschied die Hand und ging schnell in den großen Salon, in dem Mawrikij Nicolajewitsch offenbar auf sie wartete.
Ich verließ das Haus, bedrückt von meinem Versprechen und unfähig, fassen zu können, was geschehen war. Ich hatte einen Menschen in wirklicher Verzweiflung gesehen, ein junges Mädchen, das sich nicht scheute, sich bloßzustellen und einem ihr fremden Menschen ihr ganzes Vertrauen zu schenken. Ihr Lächeln, das Lächeln einer Frau, die Anspielung, daß sie wisse, wie ich ihr zugetan sei, das alles regte mich nicht wenig auf. Doch sie tat mir leid, so, so leid! Ihre Geheimnisse wurden für mich plötzlich zu etwas Heiligem. Wenn man mir diese Geheimnisse hätte mitteilen wollen, – ich würde nicht zugehört haben. Ich ahnte ja mancherlei ... Aber wie sollte ich nun dieses seltsame, dieses unheimliche Zusammentreffen zustandebringen? Meine ganze Hoffnung setzte ich auf Schatoff. Ich sagte mir zwar gleich, daß er dabei wenig werde helfen können. Aber immerhin, ich ging sofort zu ihm.
Erst am Abend, um acht Uhr, traf ich ihn zu Haus. Zu meiner Verwunderung hatte er Besuch: Alexei Nilytsch Kirilloff und ein Herr Schigaleff – der Bruder der Frau Wirginski – waren bei ihm.
Dieser Schigaleff war erst seit ungefähr zwei Monaten in unserer Stadt; ich weiß nicht, woher er kam. Wirginski hatte ihn mir gelegentlich auf der Straße vorgestellt und ich wußte von ihm wenig mehr, als daß in einem fortschrittlichen Petersburger Blatt einmal ein Artikel von ihm erschienen war. Wir hatten uns damals nur flüchtig begrüßt und kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das einzige, was ich von ihm behalten hatte, war der Eindruck, in meinem ganzen Leben noch nie ein so finsteres, griesgrämiges, mürrisches Gesicht gesehen zu haben. Er schaute drein, als erwarte er den Untergang der ganzen Welt, und zwar nicht nach irgendwelchen Voraussagungen, die schließlich auch nicht in Erfüllung zu gehen brauchten, sondern genau so, als wisse er sogar schon die Stunde des Untergangs mit tödlicher Sicherheit: etwa übermorgen früh, punkt fünf Minuten vor halb elf. Und dann waren mir noch ganz besonders seine Ohren aufgefallen, Ohren von einer geradezu übernatürlichen Größe, lang, breit und dick, die noch obendrein fast im rechten Winkel nach links und rechts vom Kopf wegstrebten. Seine Bewegungen waren plump und langsam. Wenn Liputin vielleicht hin und wieder davon geträumt hatte, daß die Phalansterien sich auch in unserem Gouvernement verwirklichen könnten, so wußte dieser Schigaleff sicher Tag und Stunde voraus, wann das geschehen werde. Jedenfalls hatte er geradezu den Eindruck eines Unheilverkünders auf mich gemacht; und daß ich gerade ihn jetzt bei Schatoff antraf, wunderte mich sehr, – um so mehr, als Schatoff Besuch schon an und für sich nicht ausstehen konnte.
Bereits auf der Treppe hörte ich, daß sie alle drei ungewöhnlich laut miteinander sprachen und, wie mir schien, sich heftig stritten. In dem Augenblick aber, als ich eintrat, verstummten sie sofort. Und plötzlich setzten sie sich, während sie bis dahin gestanden hatten. So mußte auch ich mich setzen. Wir schwiegen alle. Schigaleff tat so, als kenne er mich überhaupt nicht. Mit Kirilloff tauschte ich einen Gruß, und ich weiß nicht, weshalb wir uns nicht die Hand reichten. Schigaleff sah mich streng und finster an, mit einem Ausdruck, der völlig naiv die feste Überzeugung zeigte, daß ich sofort aufstehen und wieder weggehen würde. Da erhob sich endlich Schatoff und die anderen folgten seinem Beispiel. Sie gingen fort, ohne ein Wort zu sagen, noch sich zu verabschieden. Erst an der Tür wandte sich Schigaleff noch einmal zu Schatoff und sagte in drohendem Tone:
„Vergessen Sie aber nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind!“
„Zum Teufel mit eurer Rechenschaft, ich bin keinem von euch etwas schuldig!“ rief Schatoff ihnen wütend nach, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um.
„Narren!“ sagte er, nachdem sein Blick mich gestreift hatte, mit kurzem, eigentümlich gehässigem Auflachen.
Sein Gesicht sah böse aus, und ich wunderte mich, daß er diesmal als erster zu sprechen begann. Früher war es gewöhnlich so gewesen, wenn ich ihn besuchte, was freilich sehr selten geschah, daß er sich mißmutig in einen Winkel setzte und auf meine Fragen mürrisch antwortete. Erst nach längerer Zeit begann er aufzutauen und dann erst sprach er mit Vergnügen. Beim Abschied aber wurde er jedesmal wieder unwirsch, und wenn er einen zur Tür geleitete, tat er es mit einer Miene, als dränge er seinen persönlichen Feind aus dem Hause.
„Ich habe gestern bei diesem Herrn Kirilloff Tee getrunken,“ sagte ich, um ein Gespräch anzuknüpfen. „Bei ihm scheint der Atheismus ein bißchen zur fixen Idee geworden zu sein.“
„Der russische Atheismus ist noch nie über ein schlechtes Wortspiel hinausgekommen,“ brummte Schatoff, während er den alten Lichtstumpf aus dem Leuchter nahm und ein neues Licht einsetzte.
„Ich glaube nicht, daß es diesem Kirilloff um Wortspiele zu tun ist. Er versteht ja, wie’s scheint, überhaupt kaum zu sprechen – wie sollte er da noch an Wortspiele denken!“
„Papierene Menschen; aus Lakaientum kommen ihnen alle diese Gedanken,“ bemerkte Schatoff ruhig, nachdem er sich in der Zimmerecke auf einen Stuhl gesetzt und die Handflächen auf die Kniee gestützt hatte.
„Haß ist auch dabei,“ sagte er nach einer Weile des Schweigens. „Diese Leute würden selbst als erste sterbensunglücklich sein, wenn Rußland sich auf irgendeine Weise veränderte, und wäre es auch genau nach ihrem Wunsch, und plötzlich unermeßlich reich und glücklich werden würde. Dann hätten sie ja niemanden mehr, den sie hassen, auf den sie spucken, über den sie spotten könnten! Hier ist’s nichts als ein einziger tierischer, grenzenloser Haß auf Rußland, der sich in ihren Organismus hineingefressen hat ... Und von irgendwelchen heimlichen Tränen, die sich angeblich hinter dem sichtbaren Lachen verbergen sollen[30], ist hier überhaupt keine Spur vorhanden! Noch nie ist in Rußland etwas Dümmeres gesagt worden, als dieses falsche Wort von den ‚heimlichen Tränen‘!“ sagte er fast jähzornig.
„Weiß Gott, Sie sind aber wütend!“ sagte ich lachend.
„Und Sie sind ‚gemäßigt liberal‘.“ Schatoff lächelte flüchtig. „Wissen Sie,“ sagte er nach einer Weile ganz plötzlich, „ich habe das vorhin vielleicht falsch gesagt, das vom ‚Lakaientum der Gedanken‘. Sie werden gewiß bei sich gedacht haben: ‚Das sagt er nur, weil er von einem Lakai geboren ist, ich aber bin’s nicht.‘“
„Aber das habe ich durchaus nicht gedacht ... wie kommen Sie darauf! ...“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich fürchte Sie nicht. Früher stammte ich nur von einem Lakaien ab, jetzt bin ich selber zu einem geworden, zu genau so einem, wie auch Sie einer sind. Unser russischer Liberaler ist vor allen Dingen Lakai und wartet nur darauf, wie und wo er jemandem die Stiefel putzen kann.“
„Was für Stiefel? Was meinen Sie mit dieser Allegorie?“
„Was Allegorie! Sie lachen, wie ich sehe ... Stepan Trophimowitsch hat ganz recht, wenn er sagt, daß ich unter einem Stein liege, schon halb erdrückt, aber noch nicht zerdrückt bin und mich nur noch in den letzten Krämpfen winde. Das hat er gut gesagt.“
„Stepan Trophimowitsch behauptet, daß die Deutschen Ihnen zur fixen Idee geworden sind,“ entgegnete ich leichthin. „Und es ist ja auch etwas Wahres dabei: wir haben uns doch vieles Deutsche eingesackt.“
„Ja, zwanzig Kopeken haben wir von ihnen genommen und dafür hundert Rubel vom eigenen Kapital gegeben.“ – Wir schwiegen ... „Diese Ideen hat er sich in Amerika an den Hals gelegen.“
„Wer das? Was an den Hals gelegen?“
„Ich meine Kirilloff. Wir haben dort beide vier Monate lang in einer Hütte auf dem Fußboden gelegen.“
„Ja, sind Sie denn je in Amerika gewesen?“ fragte ich verwundert. „Sie haben nie davon gesprochen.“
„Wozu davon sprechen. Vor drei Jahren zogen wir mit einem Emigrantentransport für unser letztes Geld nach den Vereinigten Staaten von Amerika, um das Leben eines amerikanischen Arbeiters, oder vielmehr: ‚um den Zustand eines Menschen in der allerschwersten sozialen Lage praktisch, d. h. durch persönliche Erfahrung kennen zu lernen.‘ Das war unser Ziel, war der Grund, warum wir auswanderten.“
„Herrgott!“ rief ich aus. „Das hätten Sie doch ebensogut zur Erntezeit in unserem Gouvernement durch ‚persönliche Erfahrung‘ kennen lernen können, ohne deshalb nach Amerika dampfen zu müssen!“
Doch Schatoff fuhr fort: „Wir verdingten uns als Arbeiter bei einem Exploiteur. Im ganzen waren wir sechs Russen: Studenten, sogar Gutsbesitzer und Offiziere waren unter uns, und alle hatten dasselbe großartige Ziel. Und so arbeiteten wir denn, quälten uns und rackerten uns ab – bis Kirilloff und ich fortgingen: wir wurden krank, hielten es nicht aus. Bei der Abrechnung zog uns dann der Exploiteur noch das Fell gehörig über die Ohren, zahlte anstatt der dreißig Dollar, die er uns laut der Abmachung schuldig war, mir nur acht und Kirilloff fünfzehn aus. Übrigens hat man uns obendrein noch geprügelt, und nicht nur einmal ... Ja, und damals war es denn, daß wir beide in einem elenden Städtchen vier Monate lang zusammen in einer Hütte auf dem Fußboden lagen. Kirilloff dachte seine Gedanken und ich dachte meine Gedanken.“
„Und der Exploiteur hat Sie wirklich geprügelt? Da werden Sie ihm wohl auch nicht schlecht mitgespielt haben?“
„Keineswegs. Im Gegenteil, wir sahen beide sofort ein, daß ‚wir Russen im Vergleich zu den Amerikanern kleine Kinder sind und daß man entweder in Amerika geboren oder lange Jahre mit ihnen zusammen gearbeitet haben muß, um die Höhe ihrer Leistung zu erreichen‘. Wir waren natürlich entzückt von Amerika und lobten dort alles: den Spiritismus, das Lynchgesetz, die Revolver und die Vagabunden. Und wenn man für eine Dreikopekensache von uns einen Dollar verlangte, so zahlten wir ihn nicht nur mit Vergnügen, sondern mit Begeisterung. Einmal, in der Eisenbahn, zog mein Nachbar aus meiner Rocktasche meine Haarbürste heraus und begann sich damit sein Haar zu striegeln. Kirilloff und ich tauschten nur einen Blick aus und stimmten sofort darin überein, daß mein Nachbar vollkommen im Recht war und seine Handlungsweise uns sehr gefiel ...“
„Sonderbar, daß solche Ideen uns Russen nicht nur in den Kopf kommen, sondern von uns auch vollführt werden,“ bemerkte ich.
„Papierene Menschen,“ wiederholte Schatoff.
„Aber immerhin, über einen ganzen Ozean schwimmen, in ein unbekanntes Land, und wenn auch ‚um durch persönliche Erfahrung‘ usw. etwas kennen zu lernen – darin liegt, weiß Gott, doch eine gewisse Großzügigkeit ... Wie sind Sie denn wieder zurückgekommen?“
„Ich schrieb an einen Menschen nach Europa und der schickte mir hundert Rubel.“
Die ganze Zeit, während der Schatoff sprach, hatte er, wie immer, zu Boden gesehen, selbst dann, wenn er erregt sprach. Jetzt aber hob er plötzlich den Kopf.
„Wollen Sie wissen, wer dieser Mensch war?“
„Nun, wer war es denn?“
„Nicolai Stawrogin.“
Er stand plötzlich auf, trat an seinen Schreibtisch – es war ein einfacher Tisch aus Lindenholz – und tat, als suche er etwas auf ihm.
Es ging bei uns damals das dunkle, aber glaubwürdige Gerücht, Schatoffs Frau hätte mit Nicolai Stawrogin in Paris eine Zeitlang gelebt, und zwar gerade vor etwa zwei Jahren, also in eben der Zeit, als Schatoff in Amerika war – freilich schon lange nachdem sie ihn in Genf verlassen hatte. „Wenn es sich so verhält, was plagte ihn dann, mir jetzt diesen Namen zu nennen und das ... noch breitzutreten?“ fragte ich mich.
„Ich habe sie ihm bis heute noch nicht zurückgegeben,“ sagte er, sich wieder zu mir wendend, und nachdem er mich kurz, aber prüfend angesehen hatte. Dann setzte er sich wieder. Und plötzlich fragte er mich schroff und schon in ganz anderem Tone:
„Sie sind natürlich mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen; was wünschen Sie?“
Ich erzählte ihm sofort alles und betonte besonders, daß ich Lisa unter allen Umständen helfen und das ihr gegebene Wort halten möchte. Auch beteuerte ich ihm, daß sie ihn mit der Buchangelegenheit keineswegs habe beleidigen wollen, daß er sie völlig mißverstanden haben müsse. Sein plötzlicher Aufbruch habe sie denn auch aufrichtig betrübt.
Er hörte mich sehr aufmerksam an.
„Vielleicht habe ich in der Tat wieder einmal eine Dummheit gemacht ... Aber wenn sie nicht verstanden hat, warum ich fortging – um so besser für sie!“
Er stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und horchte hinaus.
„Sie wollen sie selbst sehen?“
„Ja, das ist es ja eben! Wie ließe sich das machen?“ Ich erhob mich schon erfreut.
„Gehen wir ganz einfach hin, solange sie noch allein ist. Lebädkin darf natürlich nicht erfahren, daß wir bei ihr gewesen sind, sonst peitscht er sie wieder. Heimlich gehe ich oft zu ihr. Gestern habe ich ihn gründlich geprügelt, als er sie wieder zu schlagen anfing.“
„Ist das wirklich wahr, daß er sie schlägt?“
„Gewiß; an den Haaren hab ich ihn von ihr fortgerissen. Er wollte sich schon mit den Fäusten auf mich stürzen, aber ich konnte ihm doch noch einen Schrecken einjagen. Dabei blieb es. Nun fürchte ich, ihm könnte das wieder einfallen, wenn er heute betrunken zurückkehrt, und dann wird er sie erst recht hauen.“
Wir gingen sogleich nach unten.
Die Tür zu Lebädkins war nicht verschlossen und so traten wir ungehindert ein. Ihre ganze Wohnung bestand aus nur zwei erbärmlichen kleinen Zimmern mit verräucherten Wänden, an denen die schmutzigen Tapeten buchstäblich in Fetzen herabhingen.
Früher hatte sich in diesen Räumen Filippoffs Schenke befunden, die jetzt in das neue Haus übergeführt worden war. Die übrigen Zimmer, die früher auch noch zur Schenke gehört hatten, waren jetzt verschlossen, nur diese beiden hatte man an Lebädkin vermietet. An Möbeln standen in der Wohnung ein paar einfache Holzbänke, Tische aus rohen Brettern und nur ein einziger alter Sessel mit einer abgebrochenen Armlehne. Im Hinterzimmer stand in einer Ecke ein Bett mit einer Kattundecke. Das war das Bett von Lebädkins Schwester. Der Hauptmann aber schlief einfach auf dem Fußboden, und da er fast immer betrunken nach Hause kam, nicht selten so, wie er war, in den Kleidern. Überall war Schmutz, lagen Krümchen und Fetzchen auf dem Fußboden; in der Mitte des ersten Zimmers lag ein großer, dicker, ganz nasser Lappen, um den sich eine richtige Pfütze gebildet hatte, und in dieser stand ein alter schiefgetretener Schuh. Man sah an allem, daß hier niemand etwas tat; kein Ofen wurde geheizt, kein Essen gekocht; ja, sie besaßen nicht einmal einen Samowar, wie Schatoff mir ausführlicher berichtete. Der Hauptmann war mit seiner Schwester ohne eine Kopeke hier eingetroffen und hatte in der ersten Zeit tatsächlich, wie Liputin erzählte, seine Bekannten um ein paar Kopeken angebettelt. Dann aber, als er plötzlich in den Besitz von großen Summen geriet, hatte er sofort zu trinken angefangen und sich seitdem natürlich noch weniger um den Haushalt gekümmert.
Marja Timofejewna Lebädkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß ruhig und lautlos im zweiten Zimmer, in einer Ecke, hinter einem einfachen Küchentisch auf einer Bank. Auch als wir eingetreten waren, hatte sie uns nicht angerufen, noch sich überhaupt gerührt. Schatoff sagte, daß ihre Flurtür nie verschlossen werde, und einmal sei sie sogar die ganze Nacht sperrangelweit offen geblieben. Beim schwachen Schein eines dünnen Lichtchens in einem eisernen Leuchter erkannte ich ein krankhaft mageres weibliches Wesen von vielleicht dreißig Jahren, in einem dunklen alten Kattunkleide, mit langem, bloßem Halse und dünnem, dunklem Haar, das im Nacken zu einem kleinen Knoten, von der Größe des Fäustchens eines zweijährigen Kindes, zusammengedreht war. Sie sah uns ziemlich heiter entgegen. Außer dem Licht stand vor ihr auf dem Tisch ein kleiner billiger Spiegel, wie man ihn bei Bauern sieht, lag ein altes Spiel Karten, ein zerblättertes Liederbuch und ein kleines Weißbrot, von dem sie bereits ein- oder zweimal abgebissen hatte. Man merkte, daß sie sich gepudert und geschminkt und die Lippen mit irgend etwas rot gefärbt hatte; ja, selbst die Brauen, die ohnehin schon lang, fein gezeichnet und dunkel zu sein schienen, hatte sie noch gestrichen, – aber auf ihrer schmalen und hohen Stirn sah man trotz des Puders drei lange, tiefe Falten. Ich wußte schon, daß sie hinkte, doch diesmal stand sie während unserer Anwesenheit nicht auf, so sah ich sie auch nicht gehen. Irgend einmal, vielleicht in der ersten Jugend, konnte dieses abgezehrte Gesicht vielleicht nicht unschön gewesen sein; aber ihre stillen, freundlichen grauen Augen fielen auch jetzt noch auf. Etwas Träumerisches und Inniges lag in ihrem stillen, fast frohen Blick. Diese stille, ruhige Freude, die sich auch in ihrem Lächeln ausdrückte, wunderte mich nach allem, was ich von der Kosakenpeitsche und allen Niederträchtigkeiten ihres Bruders gehört hatte. Sonderbar, daß ich dieses Mal statt des drückenden und bangen Widerwillens, den man sonst stets in der Gegenwart solcher von Gott gezeichneten Geschöpfe empfindet, – daß es mir diesmal, und fast vom ersten Augenblick an, geradezu angenehm war, sie zu betrachten und zu beobachten, und höchstens Mitleid, doch keine Spur von Abscheu, bemächtigte sich meiner später.
„Sehen Sie, so sitzt sie hier ganze Tage mutterseelenallein und rührt sich nicht, legt Karten oder betrachtet sich im Spiegelchen,“ sagte Schatoff noch an der Tür zu mir. „Er gibt ihr ja auch nichts zu essen. Die Alte aus dem Nebenhause, die Kirilloff bedient, bringt ihr zuweilen etwas aus bloßem Erbarmen. Wie man sie nur so mit dem Licht allein lassen kann!“
Schatoff sagte das zu meiner Verwunderung ganz laut, als ob wir allein im Zimmer wären.
„Guten Tag, Schatuschka!“ begrüßte ihn plötzlich Marja Timofejewna.
„Ich habe dir, Marja Timofejewna, einen Gast gebracht,“ erwiderte Schatoff.
„Gut, der Gast soll mir willkommen sein. Ich weiß nicht, wen du da mitgebracht hast, ich glaube aber, solch einen habe ich noch nie gesehen.“ Dabei sah sie mich, über das Licht hinweg, aufmerksam an. Gleich darauf wandte sie sich jedoch wieder zu Schatoff, und zu diesem allein sprach sie dann auch die ganze Zeit (mich aber beachtete sie weiter überhaupt nicht mehr, ganz als wäre ich gar nicht anwesend).
„Es wurde dir wohl langweilig, da oben im Dachkämmerlein einsam umherzugehen?“ fragte sie lachend. Da sah ich, daß sie sehr schöne Zähne hatte.
„Auch das, aber vor allem wollte ich dich wieder einmal besuchen.“
Schatoff zog eine Bank an den Tisch, setzte sich, und wies auch mir einen Platz neben sich an.
„Unterhaltung habe ich immer gern, nur bist du so drollig, Schatuschka, bist ganz wie ein Mönch! Wann hast du dich zum letztenmal gekämmt? Komm her, ich werde es wohl wieder tun müssen“ – und sie zog aus ihrer Kleidertasche einen Kamm. „Du hast wohl seit dem letzten Mal, als ich dich kämmte, dein Haar überhaupt nicht mehr angerührt.“
„Ja, wie soll ich denn? Ich habe doch keinen Kamm,“ sagte auch Schatoff heiter.
„Wirklich nicht? Warte mal, dann werde ich dir meinen schenken, nicht diesen, einen andern ... nur mußt du mich daran erinnern.“
Und mit dem ernsthaftesten Gesicht machte sie sich daran, ihn zu kämmen, zog ihm sogar auf der Seite einen Scheitel, bog sich dann zurück, um zu sehen, ob er gut geraten war – und steckte schließlich den Kamm wieder in die Tasche.
„Weißt du was, Schatuschka?“ sagte sie und schüttelte dabei den Kopf, „du bist doch ein vernünftiger Mensch und trotzdem grämst du dich. Es wird mir ganz sonderbar, wenn ich euch alle so sehe: ich verstehe nicht, wie können Menschen sich grämen und immer traurig sein? Sehnsucht ist doch nicht Traurigkeit. Mir ist immer froh zu Mut.“
„Auch mit dem Bruder?“
„Du meinst Lebädkin? Ach, der ist mein Knecht. Mir ist es ganz gleich, ob er hier ist oder nicht. Ich befehle nur: ‚Lebädkin, bring mir Wasser, Lebädkin, gib mir die Stiefel‘, und er läuft schon. Zuweilen sündige ich wohl auch und lache über ihn.“
„Und genau so ist es,“ sagte Schatoff zu mir gewandt, und zwar wieder mit lauter Stimme, ohne sich zu genieren. „Sie behandelt ihn tatsächlich wie ihren Diener, ich habe es selbst gehört, wie sie ihm zuruft: ‚Lebädkin, bring mir Wasser‘, und dabei lacht sie. Der Unterschied besteht nur darin, daß er nicht nach dem Wasser läuft, sondern sie dafür prügelt, – und trotzdem fürchtet sie ihn tatsächlich nicht im geringsten. Sie hat immer ihre nervösen Anfälle, fast täglich, die wirken natürlich auf ihr Gedächtnis, so daß sie alles vergißt und verwechselt. Glauben Sie, daß sie noch weiß, wann und wie wir hereingekommen sind? Übrigens, vielleicht weiß sie’s doch noch, jedenfalls aber hat sie es sich auf ihre Art umgedichtet und hält uns wohl jetzt für Gott weiß was, nur nicht für das, was wir sind – obschon sie dabei ganz genau weiß, daß ich ‚Schatuschka‘ bin. Das macht auch nichts, daß ich jetzt laut spreche, ja selbst wenn ich zu ihr spreche, stört das sie nicht mehr, sobald sie einmal mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt ist. Sie ist eine große Träumerin, acht Stunden, zuweilen den ganzen Tag sitzt sie auf demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Sehen Sie das Weißbrot da: angebissen hat sie es vielleicht heute früh, aufessen wird sie es vielleicht erst morgen. Da legt sie auch schon wieder Karten aus ...“
„Rate ich doch aus den Karten und rate, Schatuschka, aber immer kommt es so wie nicht richtig heraus,“ sagte plötzlich Marja Timofejewna, die das letzte Wort Schatoffs wohl gehört hatte, und ohne aufzusehen streckte sie die linke Hand mechanisch nach dem Weißbrot aus (auch das vom Brot mochte sie gehört haben).
Die Hand fand auch schließlich das Brötchen, doch sie selbst ließ sich von neuen Gedanken wieder gefangennehmen, und nachdem sie das Brötchen eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, legte sie es mechanisch wieder zurück, ohne es zum Munde geführt zu haben.
„Es ist immer dasselbe: ein Weg, ein böser Mann, ein Sterbebett, ein Brief irgendwoher, eine unvorhergesehene Nachricht, Trug und Hinterlist. Ach – alles Lügen, denke ich! – Was meinst du dazu, Schatuschka? Wenn Menschen lügen, warum sollen dann nicht auch Karten lügen?“ und sie mischte plötzlich die Karten durcheinander. „Dasselbe habe ich auch einmal der Mutter Praskowja gesagt ... das war eine ehrwürdige alte Frau. Immer kam sie zu mir in die Zelle, um sich von mir die Karten legen zu lassen, aber heimlich, daß die Mutter-Äbtissin es nicht sah. Und nicht sie allein kam zu mir. Sie seufzen und stöhnen dann immer, schütteln alle die Köpfe, raten hin und her und denken und bereiten sich auf etwas Großes vor – ich aber lache. ‚Woher wollen Sie denn plötzlich einen Brief bekommen, Mutter Praskowja,‘ sage ich, ‚wenn zwölf Jahre keiner gekommen ist?‘ Ihre Tochter aber hat der Mann irgendwohin nach der Türkei gebracht und zwölf Jahre hat sie von ihr kein Lebenszeichen erhalten. Und wie ich gerade so am nächsten Abend beim Tee sitze, bei der Äbtissin – aus fürstlichem Hause war sie bei uns – sitzt da bei ihr noch eine angereiste Dame und auch noch ein Mönchlein aus dem Kloster vom Berge Athos, so ein drolliger, kleiner Mensch. Was glaubst du wohl, Schatuschka, dieser selbe Mönch hat am selben Morgen der Mutter Praskowja von der Tochter aus der Türkei einen Brief gebracht – da hast du den Karo-Buben, die unvorhergesehene Nachricht! Wir trinken also Tee und der Mönch vom Berge Athos sagt zu der Mutter-Äbtissin: ‚Und vor allem‘, sagt er, ‚ehrwürdige Mutter-Äbtissin, hat der Herr Euer Kloster gesegnet, seitdem es einen so kostbaren Schatz in seinem Schoße birgt‘, sagt er. ‚Was für einen Schatz?‘ fragt die Mutter-Äbtissin. ‚Nun, die heilige Lisaweta doch!‘ sagt er. Diese Lisaweta war nämlich bei uns in einer Zelle in der Klostermauer eingemauert, wie in einem Käfig, und der war nur einen Faden lang und anderthalb Faden hoch, und da sitzt sie schon siebzehn Jahre lang hinter einem eisernen Gitter, Winter und Sommer nur in einem hanfleinenen Hemde, und sticht immer mit einem Strohhälmchen oder einem Reisigstückchen in die Leinwand und spricht kein Wort und kämmt sich nicht und wäscht sich nicht all diese siebzehn Jahre. Im Winter, wenn es kalt wird, steckt man ihr ein Pelzchen zu und täglich ein Kästchen mit Brot und einen Krug mit Wasser. ‚Wahrlich, ein schöner Schatz,‘ sagt die Mutter-Äbtissin (hat sich geärgert – sie konnte die Lisaweta nicht leiden). ‚Lisaweta,‘ sagt sie, ‚sitzt nur aus Bosheit und Eigensinn, und alles das ist Verstellung.‘ Mir gefiel das nicht, was sie sagte, denn ich wollte mich auch so einschließen lassen. ‚Ich glaube,‘ sage ich, ‚Gott und die Natur ist alles eins.‘ Alle rufen sie da, wie aus einem Munde: ‚Hört doch, hört!‘ Die Äbtissin lachte und fing mit der Dame zu tuscheln an, ich weiß nicht worüber, und rief mich nachher zu sich, streichelte mich, und die Dame schenkte mir ein rosa Bändchen – willst du, ich zeige es dir? Und das Mönchlein fing gleich an, mich zu belehren und sprach freundlich und demütig zu mir und wohl auch mit viel Verstand. Ich sitze und höre zu. ‚Hast du verstanden?‘ fragte er mich dann. ‚Nein,‘ sage ich, ‚ich habe gar nichts verstanden und lassen Sie mich lieber in meiner Ruh‘, sage ich – und seit der Zeit haben sie mich auch ganz in meiner Ruh gelassen, Schatuschka. Aber wenn ich dann aus der Kirche kam, flüsterte mir unsere Greisin, eine alte, alte Nonne zu – die büßte bei uns für ihre Weissagungen –: ‚Was ist das, die Mutter Gottes, wie dünkt es dich?‘ – ‚Die große Mutter,‘ antwortete ich, ‚das ist die große Hoffnung, die ewige Zuversicht des Menschengeschlechts.‘ – ‚Ganz recht,‘ sagt sie, ‚die Mutter Gottes – das ist die große Mutter, unsere fruchtbare Erde, und wahrlich ich sage dir, eine große Freude liegt in ihr für den Menschen. Und jedes Erdenleid und jede Erdenträne ist uns eine Freude. Und wenn du mit deinen Tränen die dunkle Erde unter dir tränkst, einen halben Meter tief, so wird dir wahrlich zur selbigen Stunde noch alles zur Freude gereichen. Und gar keinen, gar keinen Kummer wirst du mehr haben,‘ sagt sie, ‚denn sieh,‘ sagt sie, ‚eine solche Weissagung gibt es.‘ Das konnte ich nie mehr vergessen. Seit der Zeit begann ich zu beten, ich beugte mich zur Erde und küßte die Erde und weinte. Und sieh, ich sage dir, Schatuschka, es ist nichts Schlechtes in diesen Tränen, und wenn du auch gar kein Leid hast, du wirst die Tränen vor lauter Freude weinen. Die Tränen weinen sich selbst. Zuweilen ging ich zum See, an das Ufer: auf der einen Seite vom See stand unser Kloster und auf der anderen unser spitzer Berg, wir nannten ihn denn auch einfach den Spitzberg. Und so steige ich denn auf diesen Berg und wende mich mit dem Gesicht nach Osten und falle auf die Erde nieder und weine und weine, und weiß nicht, wie lange ich weine, und habe dann alles vergessen und ich weiß gar nichts mehr. Dann stehe ich auf und wende mich zurück, und die Sonne geht unter so groß, und es ist eine Pracht und Herrlichkeit – liebst du’s auch, so die Sonne zu sehen, Schatuschka? Schön ist es, aber traurig ... Und ich wende mich wieder zurück nach Osten, und der Schatten, der Schatten von unserem Berge läuft schmal und lang wie ein Zeiger über den See, eine Werst weit oder noch weiter – bis zur Insel im See, und teilt diese steinige Insel, wie sie da ist, gerade in zwei Hälften. Und wie er sie so teilt, da geht auch die Sonne ganz unter und alles erlischt plötzlich. Und dann kommt wieder die Sehnsucht so über mich, und plötzlich kommt auch die Erinnerung wieder, und ich fürchte die Dunkelheit, Schatuschka. Und immer mehr weine ich dann um mein kleines Kind ...“
„Hast du denn eines gehabt?“ fragte Schatoff, der ihr die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, und stieß mich leicht mit dem Ellenbogen an.
„Wie denn nicht! Ein kleines, rosiges, mit so winzigen Fingerchen, und all mein Leid ist nur, daß ich nicht mehr weiß, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Zuweilen erinnere ich mich dessen, daß es ein Knabe war, und zuweilen scheint es mir wieder, daß es ein Mädchen war. Als ich es damals gebar, da wickelte ich es gleich in Batist und Spitzen und band es mit rosa Bändchen zu und bettete es auf Blumen und sprach ein Gebet über ihm und trug das Ungetaufte und trage es durch den Wald und fürchte mich im Walde, denn ich habe Angst und weine, und am meisten weine ich darüber, daß ich geboren habe und doch den Mann nicht kenne.“
„Vielleicht kanntest du ihn doch?“ fragte Schatoff vorsichtig.
„Drollig bist du doch, Schatuschka, mit deiner Vernunft. Vielleicht, vielleicht hatte ich ihn auch ... aber was liegt daran, wenn es doch ebenso ist, als wenn ich ihn nicht gehabt hätte? Da hast du nun ein unschweres Rätsel, nun rat einmal!“ sagte sie lächelnd.
„Wohin hast du denn das Kind getragen?“
„In den Teich hab ich’s getragen,“ seufzte sie.
Schatoff berührte mich wieder mit dem Ellenbogen.
„Aber was dann, wenn du das Kind überhaupt nicht gehabt hast und alles bei dir nur Phantasie ist?“
„Eine schwere Frage gibst du mir auf, Schatuschka,“ sagte sie grübelnd und ohne jegliche Verwunderung über die Frage. „Ich kann dir aber hierauf gar nichts sagen, vielleicht habe ich auch keines gehabt. Mir scheint, daß du nur aus Neugier so fragst; aber ich werde deshalb nicht aufhören, um mein Kind zu weinen, ich habe es doch nicht im Traum gesehen?“ Große Tränen erglänzten in ihren Augen. „Schatuschka, Schatuschka, ist es wahr, daß deine Frau von dir fortgelaufen ist?“ fragte sie plötzlich, legte ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihn mitleidig an. „Aber du ärgere dich nicht, mir ist ja dabei auch weh. Weißt du, Schatuschka, was für einen Traum ich gehabt habe – er kommt wieder zu mir und lockt mich: ‚Kätzchen,‘ sagte er, ‚mein Kätzchen, komm her zu mir!‘ Sieh, über das ‚Kätzchen‘ freute ich mich am meisten: er liebt mich, dachte ich.“
„Vielleicht kommt er auch bald in Wirklichkeit,“ murmelte Schatoff halblaut.
„Nein, Schatuschka, das ist schon ein Traum ... er kann nicht in Wirklichkeit kommen. Kennst du das Lied:
Ich brauche nicht Dein neues, hohes Schloß!
Hier in dieser Zelle will ich bleiben,
Leben und beten,
Beten zu Gott – für dich ...
Ach, Schatuschka, mein Liebling, warum fragst du mich denn nie etwas?“
„Du wirst ja doch nichts sagen, darum frage ich auch lieber gar nicht.“
„Nein, nein, ich sage nichts und wenn du mich auch totschlügest!“ beteuerte sie schnell. „Verbrenne mich lebendig, ich sage nichts! Und wie es auch schmerzte, nichts werde ich sagen, nichts werden die Menschen erfahren!“
„Nun, siehst du, jeder hat das Seine,“ sagte Schatoff noch leiser, und senkte noch tiefer den Kopf.
„Aber wenn du mich bätest, vielleicht würde ich es dir dann doch sagen ... vielleicht würde ich es dir dann doch sagen!“ flüsterte sie wie verzückt. „Warum bittest du mich nicht? Bitt’ mich, bitt’ mich ordentlich, Schatuschka, vielleicht werde ich’s dir dann sagen. Flehe mich an, Schatuschka, bitte und beschwöre mich, damit ich dann selbst einwillige ... Schatuschka, Schatuschka!“
Aber Schatuschka schwieg. Eine Minute lang schwiegen wir alle. Langsam flossen die Tränen über ihre gepuderten Wangen. Die Hände hielt sie immer noch auf seinen Schultern, sie hatte sie vergessen aber sie sah ihn nicht mehr an.
„Eh, was geht das mich an, wäre auch Sünde,“ sagte Schatoff plötzlich und erhob sich von der Bank. „Stehen Sie auf!“ Er zog ärgerlich die Bank fort und schob sie auf ihren Platz zurück:
„Damit er nichts merkt, wenn er kommt. Wir müssen jetzt gehen.“
„Ach, du sprichst wieder von meinem Diener!“ lachte Marja Timofejewna auf. „Hast Angst! Nun, dann lebt wohl, meine lieben Gäste, aber hör, nur noch einen Augenblick, was ich dir sagen will! Neulich kam dieser Nilytsch her, mit Filippoff, dem Hauswirt, dem Rotkopf, weißt du, gerade als meiner auf mich losschlug. Wie ihn der Hauswirt da packt und durchs Zimmer schleift, schreit er: ‚Bin nicht schuld, bin nicht schuld, muß für fremde Schulden dulden!‘ Glaubst du wohl, wir haben alle so darüber gelacht ...“
„Aber das war doch ich,“ sagte Schatoff, „ich zog ihn doch gestern an den Haaren von dir fort. Der Hauswirt dagegen war vor drei Tagen nur hergekommen, um sich mit euch zu schimpfen, ... hast wohl wieder alles verwechselt?“
„Wart einmal, ja, ich habe es wirklich verwechselt, vielleicht warst du es. Aber wozu über solche Nebensachen streiten, ist es nicht einerlei, wer ihn fortriß?“ lachte sie.
„Gehen wir, schnell!“ Schatoff zog mich am Ärmel, „die Pforte knarrt: trifft er uns bei ihr, so wird er sie wieder schlagen.“
Kaum waren wir die Treppe hinaufgelaufen, als wir auch schon betrunkenes Geschimpfe hörten. Schatoff zog mich in sein Zimmer und verschloß die Tür.
„Sie werden einen Augenblick hier sitzen müssen, wenn Sie keine Geschichten mit ihm haben wollen. Hören Sie? Er quiekt wie ein Ferkel, ist wohl wieder über die Schwelle gestolpert – fast jedesmal fällt er lang hin.“
Aber ohne „Geschichten“ ging es einstweilen doch nicht ab.
Schatoff stand an der Tür und horchte hinaus. Plötzlich sprang er zurück.
„Er kommt herauf, das wußte ich ja!“ rief er wütend mir leise zu. „Jetzt haben wir ihn bis Mitternacht auf dem Halse!“
Ein paar starke Faustschläge an die Tür kündeten Lebädkin an.
„Schatoff! ... Schaa–toff, mach auf!“ brüllte der Betrunkene. „Schatoff, Freund ...“ Und plötzlich sang er los – die bekannte Romanze –:
„‚Kam zu dir mit einem Gruß,
Um zu künden, daß der Mo–o–orgenstrahl
Glühend ... be–ebend ... seinen ersten Kuß
Von den Wipfeln dieser Wä–e–elder stahl!
Laß dir künden vom Erwachen ...‘
Kchä – hm! zum Teufel!“ räusperte er sich –
„‚Vom Erwachen unter Zwei–e–eigen ...‘
Haha! klingt ja fast wie unter Ruten! Nein, lieber von was anderem! ...
‚Jeder Vogel – hat mal Durst!
Weißt du auch, was ich trinke?
Trinke, ja, trinke?
Weiß ich doch ... selber es nicht ...
Was ich ... was ich ...‘
Hm! ... Hol’ sie der Teufel, diese dumme Neugier! Schatoff, begreifst du auch, wie schön es auf Erden zu leben ist!“
„Antworten Sie nicht!“ flüsterte mir Schatoff zu.
„Hör’, mach doch auf! ... Begreifst du auch, daß es etwas Höheres gibt, als Raufereien unter ... der Menschheit? ... Es gibt, weißt du, es gibt Augenblicke im Leben eines edlen Menschen ... Schatoff, ich bin gut, ich verzeihe dir alles ... Nur, weißt du, mach doch auf! ... Schatoff, höre – zum Teufel mit den Proklamationen! – Wie?“
Schweigen.
„Begreifst du auch, Esel, daß ich verliebt bin! Ich habe mir einen Frack gekauft, sieh, einen Frack der Liebe für die Liebe, – fünfzehn Silberrubel! Eines Hauptmannes Liebe verlangt eben gesellschaftlichen Anstand ... Mach auf!“ brüllte er plötzlich wie ein wildes Tier und begann von neuem, in toller Wut mit den Fäusten an die Tür zu donnern.
„Scher’ dich zum Teufel!“ schrie nun auch Schatoff.
„S–s–s–kla–a–ve! Leibeigener Skla–ve, und deine Schwester ist auch eine Skla–a–vin ... eine Die–bin!“
„Und du hast deine Schwester verkauft!“
„Du lügst! Ich dulde aus Edelmut, während ich ... Mit einer einzigen Erklärung könnte ich ... Begreifst du auch, wer sie eigentlich ist?“
„Nun, wer denn?“ Schatoff trat neugierig an die Tür.
„Wirst du es aber auch begreifen?“
„Werd schon begreifen, wenn du es nur sagst – nun, wer ist sie denn?“
„Ich habe den Mut, es zu sagen! Ich habe immer den Mut, dem Publikum alles zu sagen!“
„Scheint doch nicht,“ neckte ihn Schatoff geflissentlich und nickte mir zu, jetzt nur gut aufzumerken.
„Was, du meinst, ich wa–age es nicht?“
„Natürlich wagst du es nicht.“
„Wie, ich wa–a–ge es nicht?“
„So sag’s doch, wenn du die herrschaftlichen Ruten nicht fürchtest ... Bist doch ein Feigling – und willst ein Hauptmann sein!“
„Ich ... ich ... sie ... sie ist ...“ stotterte Lebädkin.
„Nun?“ Schatoff legte das Ohr ans Schlüsselloch.
Ein Schweigen entstand und dauerte mindestens eine halbe Minute an.
„Du Sch–sch–u–uft!“ ertönte es endlich hinter der Tür, und der Hauptmann stolperte so schnell wie er nur konnte und keuchend wie ein Samowar die Treppe hinunter, wobei jede Stufe unter seinem Gewicht knarrte.
„Nein, er ist schlau, selbst in der Betrunkenheit wird er sich nicht verraten.“ Schatoff kam langsam von der Tür zurück.
„Aber was soll denn das alles bedeuten?“ fragte ich.
Schatoff winkte nur mit der Hand, ging wieder zur Tür, öffnete sie und begann nach unten zu lauschen. Lange horchte er, ging sogar ein paar Stufen hinab ... endlich kam er wieder zurück.
„Es ist nichts zu hören, hat sie also nicht geprügelt, wird wohl gleich eingeschlafen sein. Es ist Zeit, Sie müssen nach Hause gehen.“
„Hören Sie, Schatoff, was soll ich aus all dem schließen?“
„Eh, schließen Sie daraus, was Sie wollen!“ antwortete er mit müder und schlecht gelaunter Stimme und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Ich ging. Ein unerhörter Gedanke bemächtigte sich meiner mehr und mehr. Mit Sorge dachte ich an den nächsten Tag.
Dieser nächste Tag – der Sonntag, an dem Stepan Trophimowitschs Schicksal sich unwiderruflich entscheiden sollte – war einer der merkwürdigsten Tage meiner Geschichte, war ein Tag der Überraschungen, an dem Altes seine Lösung fand und Neues sich knüpfte, ein Tag greller Erklärungen und – noch schlimmerer Verwirrung.
Wie ich schon erzählt habe, mußte ich meinen Freund am Morgen zu Warwara Petrowna begleiten, und um drei Uhr sollte ich dann bei Lisaweta Nicolajewna sein, um ihr zu erzählen ... ja, ich wußte selbst nicht, was! und ihr zu verhelfen – wozu? das wußte ich ebensowenig. Und nun fand plötzlich alles eine Lösung, die weder ich noch sonst jemand erwartet hatte ... Kurz, es war ein Tag seltsam zusammentreffender Zufälle.
Er begann damit, daß wir, Stepan Trophimowitsch und ich, als wir um elf bei Warwara Petrowna erschienen, sie nicht zu Hause antrafen: sie war noch nicht aus der Kirche zurückgekehrt. Mein armer Freund war aber dermaßen nervös oder innerlich erregt, daß schon dieser eine Umstand ihn sofort gleichsam vernichtete, und völlig erschöpft sank er im Empfangssalon auf einen Sessel. Ich bot ihm ein Glas Wasser an, doch trotz seines bleichen Gesichts und seiner zitternden Hände lehnte er es mit Würde ab. Übrigens möchte ich hier bemerken, daß er diesmal mit geradezu erlesener Eleganz gekleidet war: er trug die feinste Batistwäsche, die weiße Halsbinde war meisterhaft geschlungen, hielt in der einen Hand einen neuen Hut und strohfarbene Handschuhe, und zu all dem kam noch ein leiser, ganz leiser Parfümduft.
Kaum hatten wir uns gesetzt, als Schatoff, vom Diener geführt, eintrat. Warwara Petrowna hatte offenbar auch ihn um diese Zeit zu sich gebeten. Stepan Trophimowitsch erhob sich schon, um ihm die Hand zu reichen, doch Schatoff, der zunächst aufmerksam zu uns herübersah, wandte sich plötzlich zur Seite und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ohne uns auch nur mit dem Kopf zuzunicken. Mein armer Freund sah mich wieder ganz erschrocken an.
So saßen wir noch eine ganze Weile in tiefstem Schweigen. Stepan Trophimowitsch begann zwar einmal mir irgend etwas zuzuflüstern, doch da er wahrscheinlich selbst nicht recht wußte, was er sagen wollte, so verstummte er bald wieder. Nach einiger Zeit kam der Diener noch einmal herein, um irgend etwas auf dem Tisch zu ordnen; oder richtiger – um nach uns zu sehen. Da wandte sich plötzlich Schatoff an ihn und fragte laut:
„Alexei Jegorytsch, ist Darja Pawlowna gleichfalls zur Kirche gefahren?“
„Nein, Warwara Petrowna geruhten allein zum Gottesdienst zu fahren, Darja Pawlowna aber sind zu Hause geblieben, sie fühlten sich nicht ganz wohl,“ meldete Alexei Jegorytsch mit Anstand.
Mein armer Freund warf mir hierauf wieder einen erregten Blick zu, so daß ich mich schon geärgert von ihm abwenden wollte. Da ertönte draußen das Rollen einer Equipage, die vorfuhr, und ein gewisses fernes Hinundher im Hause kündete uns an, daß die Herrin zurückgekehrt war. Wir standen auf. Schritte näherten sich. Aber was war das? Wir hörten Schritte von mehreren Personen. War denn Warwara Petrowna nicht allein zurückgekehrt? Das war doch etwas sonderbar, da sie selbst uns zu dieser Stunde und zu diesem besonderen Zweck zu sich gebeten hatte. Schließlich vernahmen wir seltsam schnelle Schritte, fast ein Eilen, so aber pflegte Warwara Petrowna sonst doch nicht zu gehen. Und plötzlich flog die Türe auf und tatsächlich – Warwara Petrowna erschien, atemlos und in ungewöhnlicher Erregung. Hinter ihr aber kam, langsamer, leiser, Lisaweta Nicolajewna, und die führte an der Hand – Marja Timofejewna Lebädkina! Hätte ich das im Traum gesehen, so hätte ich selbst dann meinen Augen nicht getraut.
Was war geschehen?
Nun muß ich um etwa eine Stunde zurückgreifen und erzählen, was sich inzwischen in der Kirche zugetragen hatte.
An eben diesem Sonntage war der Adel und die ganze Gesellschaft der Stadt fast vollzählig zum Morgengottesdienst erschienen. Man wußte, daß die neue Gouverneurin zum erstenmal nach ihrer Ankunft bei uns in die Kirche gehen werde. Es hatte sich schon herumgesprochen, daß sie eine Freidenkerin sei und die „neuesten Anschauungen“ teile. Und überdies wußten schon alle Damen, daß sie in einer prächtigen, sehr eleganten Toilette erscheinen werde, weshalb sich denn alle gleichfalls auf das sorgfältigste geputzt hatten. Nur Warwara Petrowna war wieder schlicht und ganz in Schwarz erschienen, genau so, wie sie sich in den letzten vier Jahren immer kleidete. Während des Gottesdienstes stand sie auf ihrem alten Platz, links, in der ersten Reihe, und vor ihr hatte ihr Diener in Livree ein Samtkissen hingelegt, kurz, alles war so, wie es immer gewesen war. Manche Leute wollten zwar bemerkt haben, daß Warwara Petrowna an diesem Morgen ganz besonders lange und inbrünstig gebetet habe; ja, später, als man sich alles wieder vergegenwärtigte, versicherte man sogar, sie habe Tränen in den Augen gehabt. Die Messe war schließlich zu Ende und unser Oberpriester, der Vater Pawel, trat aus der Sakristei, um eine feierliche Predigt zu halten. Seine Predigten wurden bei uns sehr geschätzt und man hatte ihm schon oft zugeredet, sie doch drucken zu lassen, wozu er sich aber nie entschließen konnte. An diesem Sonntage nun fiel die Predigt jedoch besonders lang aus.
Da kam, nachdem die Predigt schon begonnen hatte, noch eine Dame in einer leichten Mietdroschke angefahren, in einem von jenen altmodischen Vehikeln, auf denen Herren rittlings, Damen nur seitlich sitzen konnten, weshalb sie sich an dem Gürtel des Kutschers festhalten mußten, da sie bei jedem Stoß des Wagens wie ein Wiesengräschen im Winde schaukelten. Diese Droschken gibt es auch heute noch in unserer Stadt. Der Kutscher hielt an der Kirchenecke, da er wegen der vielen Equipagen und sogar Gendarmen vor dem Portal nicht weiterzufahren wagte. Die Dame sprang ab und gab dem Kutscher vier Kopeken.
„Was, ist es zu wenig, Wanjä?“[31] fragte sie erschrocken, als sie sah, daß der Kutscher ein Gesicht schnitt. „Das ist aber alles, was ich habe,“ fügte sie traurig hinzu.
„Nun, schon gut ... hab nicht an Verdienst gedacht ...“ Der Wanjka winkte mit der Hand und sah sie an, als dächte er: „Wäre ja auch Sünde, dich zu kränken ...“
Er steckte seinen Lederbeutel unter die Bluse und fuhr, begleitet vom Spott der anderen wartenden Kutscher, wieder davon. Spötteleien und Verwunderung begleiteten auch die Dame, so lange sie sich durch die Volksmenge und die wartenden Diener bis zur Kirchentür drängte. Aber es war auch wirklich etwas Ungewöhnliches und Überraschendes in dem Erscheinen einer solchen Person so plötzlich irgendwoher und am Sonntagmorgen mitten unter dem Volk.
Sie war krankhaft mager und hinkte; ihr Gesicht war stark gepudert und geschminkt und der lange Hals war unbedeckt. Sie hatte weder ein Tuch noch einen Umwurf, war nur in einem alten dunklen Kattunkleide, trotz des kühlen, windigen, wenn auch sonnigen Septembertages. Ihr Kopf war gleichfalls unbedeckt und in den kleinen Haarknoten im Nacken hatte sie an der rechten Seite eine Rose aus Seidenpapier gesteckt, eine von solchen, mit denen die Ostercherubim geschmückt werden. So einen Ostercherub in einem Kranz aus Papierrosen hatte ich gerade am Abend vorher unter den Heiligenbildern bemerkt, als ich bei Marja Timofejewna saß. Hinzu kam, daß die Dame, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen, doch mit einem beinahe mehr als heiteren, fast verschmitzten Lächeln durch das Volk ging. Vielleicht hätte man sie, wenn sie noch einen Augenblick länger in der Menge geblieben wäre, überhaupt nicht in die Kirche eintreten lassen. So aber gelang es ihr noch, durch das Portal zu schlüpfen, und unauffällig schob sie sich dann weiter nach vorn.
Obgleich die Predigt noch nicht zu Ende war und die ganze Kirche andächtig zuhörte, wandten sich manche Augen doch interessiert und verwundert heimlich der Neueingetretenen zu. Diese kniete zunächst nieder, beugte ihr gepudertes Gesicht auf den Fußboden, und berührte ihn mit der Stirn; so kniete sie lange, und wie es schien, weinte sie; nachdem sie sich aber wieder aufgerichtet und von den Knien erhoben hatte, begann sie alsbald fast heiter und mit sichtlichem Vergnügen die Menschen und die Kirchenwände zu betrachten. Einzelne Damen schienen sie besonders zu interessieren, und sie stellte sich sogar auf die Fußspitzen, um besser sehen zu können, und zweimal kicherte sie dabei ganz eigentümlich. Doch schließlich erreichte auch die Predigt ihr Ende und man trug das Kreuz vor den Altar. Die Gouverneurin trat sofort vor, doch schon nach ein paar Schritten blieb sie stehen, um Warwara Petrowna den Vortritt zu geben, die gleichfalls gerade auf das Kreuz zuschritt und dabei tat, als sei ihr niemand im Wege. Die ungewöhnliche Bescheidenheit der Gouverneurin sollte natürlich ein feiner Stich für Warwara Petrowna sein – so faßten es wenigstens die Damen der Gesellschaft auf. Auch Warwara Petrowna hatte den Stich wohl verstanden, übersah ihn jedoch und küßte mit unerschütterlicher Vornehmheit das Kreuz, worauf sie dann sofort dem Ausgange der Kirche zuschritt. Ihr Diener in Livree bemühte sich ganz unnützerweise, einen Weg durch die Anwesenden zu bahnen, da alle schon von selbst höflich vor ihr zur Seite traten. Da geschah es aber, daß in der Vorhalle, wo das Volk dicht gedrängt stand, Warwara Petrowna dennoch einen Augenblick stehen bleiben und warten mußte. Und hier nun drängte sich plötzlich das sonderbare Geschöpf, mit der Papierrose im Haar, durch das Volk zu ihr hin – und fiel vor ihr auf die Kniee. Warwara Petrowna, die man nicht leicht erschrecken konnte, besonders nicht in der Öffentlichkeit, sah ruhig, streng und erhaben auf die Kniende herab.
Ich muß hier bemerken, daß Warwara Petrowna, wenn sie auch sparsamer, ja, wie manche behaupteten, sogar ein bißchen geizig geworden war, zu wohltätigen Zwecken doch immer noch viel Geld ausgab. Noch vor einem Jahr, als in einzelnen Gegenden unseres Gouvernements Hungersnot herrschte, hatte sie an das Hilfskomitee fünfhundert Rubel gesandt. Und schließlich hatte sie noch in der letzten Zeit, kurz vor der Ernennung des neuen Gouverneurs, bereits ein Damenkomitee zustandegebracht, das den ärmsten Wöchnerinnen in der Stadt und im Gouvernement Unterstützungen zukommen lassen sollte. Man warf ihr bei uns Ehrgeiz vor, doch ihr fester, durchsetziger Wille hatte die Hindernisse fast schon beseitigt, das Komitee war bereits so gut wie gegründet, und Warwara Petrowna dachte schon mit Begeisterung daran, ein ähnliches Komitee auch in Moskau zu gründen, und wie dieser Gedanke schließlich in jedem Gouvernement fruchtbar gemacht werden könnte. Da kam aber der Wechsel des Gouverneurs, und alles geriet ins Stocken; die neue Gouverneurin aber hatte, wie es hieß, schon Zeit gehabt, in der Gesellschaft einige spitze und schließlich nicht ganz unsachliche Bemerkungen über die Unzweckmäßigkeit des Grundgedankens solcher Komitees zu äußern. Diese Bemerkungen aber waren – selbstredend mit Ausschmückungen – Warwara Petrowna sofort hinterbracht worden. Zwar kann nur Gott allein wissen, was in der Tiefe eines Menschenherzens vorgeht, aber in diesem Fall glaube ich doch, annehmen zu dürfen, daß Warwara Petrowna in diesem Augenblick nicht ungern vor der Knienden stehen blieb, zumal sie ja wußte, daß sogleich die Gouverneurin und dann die ganze höhere Gesellschaft an ihr vorübergehen mußte. – „So mag sie jetzt doch sehen, wie gleichgültig mir das ist, was sie da über meinen Ehrgeiz in meinen Wohltätigkeitsplänen spöttelt. Was geht sie mich an!“
„Was haben Sie, meine Liebe, um was bitten Sie?“ fragte Warwara Petrowna und musterte aufmerksam die vor ihr kniende Bittstellerin.
Diese sah mit entsetzlich zaghaftem, verschämtem und fast andächtigem Blick zu ihr auf, und plötzlich lachte sie wieder mit jenem absonderlichen Kichern.
„Was hat sie? Wer ist sie?“ Warwara Petrowna sah mit befehlendem und fragendem Blick die Umstehenden an.
Alles schwieg.
„Sie sind wohl unglücklich? Sie brauchen eine Unterstützung?“
„Ich kam ... ich wollte ...“ stammelte die Kniende mit einer Stimme, die vor Aufregung versagte. „Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu küssen“ ... und wieder kicherte sie. Und mit einem schmeichelnden Ausdruck im Gesicht, wie kleine Kinder ihn haben, wenn sie etwas erbitten möchten, wollte sie schon Warwara Petrownas Hand ergreifen, doch plötzlich, als hätte irgend etwas sie erschreckt, zog sie ihre Hände bang zurück.
„Nur deshalb sind Sie gekommen?“ Warwara Petrowna lächelte mitleidig, zog schnell ihr Perlmutterportemonnaie hervor, entnahm ihm einen Zehnrubelschein und gab ihn der Unbekannten.
Diese nahm ihn an. Warwara Petrowna war sichtlich sehr interessiert und hielt die Unbekannte offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin.
„Sieh, volle zehn Rubel hat sie gegeben!“ flüsterte jemand in der Volksmenge.
„Ihre Hand, bitte,“ stammelte wieder die Kniende, die mit den Fingern der linken Hand den Schein nur an einem Eckchen krampfhaft festhielt, während der Windzug ihn bewegte.
Warwara Petrowna runzelte aus einem unbekannten Grunde ein wenig die Stirn, reichte jedoch mit ernster, strenger Miene ihre Hand hin: die Unglückliche küßte sie andächtig. Ihr dankbarer Blick leuchtete jetzt geradezu wie in Seligkeit auf.
Und gerade in diesem Augenblick kam die Gouverneurin, strömte die ganze Schar unserer Damen und höheren Würdenträger dem Ausgang zu. Die Gouverneurin mußte vor dem Gedränge am Portal stehen bleiben und ein wenig warten, und die anderen folgten ihrem Beispiel.
„Sie zittern ja, Sie haben wohl kalt?“ fragte plötzlich Warwara Petrowna, warf sofort ihren Mantel ab, den der Diener auffing, und zog von ihren Schultern einen schwarzen (keineswegs billigen) Schal, den sie eigenhändig um den entblößten Hals der immer noch vor ihr Knienden schlang.
„Aber so stehen Sie doch auf, stehen Sie auf, ich bitte Sie!“
Diese erhob sich.
„Wo wohnen Sie? Weiß denn hier wirklich niemand, wo sie wohnt?“ wandte sich Warwara Petrowna wieder ungeduldig an die Umstehenden.
„Ich glaube, das ist die Lebädkin,“ meinte schließlich jemand – es war das unser ehrenwerter Kaufmann Andrejeff: ein Mann mit langem Bart, einer in Silber gefaßten Brille und in russischer Tracht. Seinen runden Filzhut hielt er jetzt in der Hand. „Die wohnen bei Filippoff in der Bogojawlenskstraße,“ fügte er hinzu.
„Lebädkin? Bei Filippoff? Ich habe den Namen gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semjonytsch, aber wer ist dieser Lebädkin?“
„Nennt sich ‚Hauptmann‘ ... ein Mensch, der sozusagen ... keinen Halt hat. Die hier ist wohl seine Schwester. Sie muß aber, denke ich, seiner Aufsicht entlaufen sein,“ bemerkte er leiser und blickte dabei Warwara Petrowna bedeutsam an.
„Ich verstehe schon, danke, Nikon Semjonytsch. Meine Liebe, Sie sind Fräulein Lebädkin?“
„Nein, ich heiße nicht Lebädkin.“
„Aber vielleicht heißt Ihr Bruder Lebädkin?“
„Mein Bruder heißt Lebädkin.“
„Also, hören Sie, meine Liebe, ich werde Sie jetzt zu mir bringen und von mir aus wird man Sie dann zu Ihnen nach Hause fahren. Wollen Sie mit mir kommen?“
„Ach ja, ach ja, ich will, ich will!“ und Fräulein Lebädkin klatschte in die Hände vor Vergnügen.
„Tante, Tante! Nehmen Sie auch mich mit!“ ertönte plötzlich Lisaweta Nicolajewnas Stimme.
Lisa war an diesem Sonntage mit der Gouverneurin, ihrer Verwandten, zum Gottesdienst erschienen, während Praskowja Iwanowna auf den Rat des Arztes hin eine Spazierfahrt unternommen und Mawrikij Nicolajewitsch gebeten hatte, sie zu begleiten. Lisa, die mit der Gouverneurin die Kirche verlassen wollte, ließ nun plötzlich ihre Verwandte einfach stehen und drängte sich ungestüm zu Warwara Petrowna.
„Liebling, du weißt doch, daß ich dich immer gern bei mir sehe, aber was wird deine Mutter dazu sagen?“ begann Warwara Petrowna würdevoll, doch plötzlich gewahrte sie Lisas ungewöhnliche Aufregung und wurde unsicher.
„Tante, Tante, ich muß jetzt unbedingt mit Ihnen fahren!“ flehte Lisa und küßte Warwara Petrowna ungestüm.
„Mais qu’avez-vous donc, Lise?“[87] fragte die Gouverneurin mit ausdrucksvoller Verwunderung.
„Ach, verzeihen Sie, Liebste, chère cousine![88] Ich fahre zu Tante!“ Lisa hatte sich schon im Fluge zu ihrer unangenehm berührten chère cousine herumgewandt und küßte sie schnell zweimal. „Bitte, sagen Sie maman, daß sie gleich zu Tante kommen soll, um mich abzuholen. Maman wollte heute unbedingt zu Tante fahren, sie hat es gestern selbst gesagt, ich vergaß nur, Ihnen das vorhin schon zu sagen!“ beteuerte Lisa, zitternd vor Aufregung. „Verzeihen Sie mir, Julie, seien Sie mir nicht böse ... chère cousine! ... Tante, ich bin bereit!“
„Tante,“ flüsterte sie dieser zu, „wenn Sie mich jetzt nicht mitnehmen, laufe ich zu Fuß Ihrer Equipage nach!“
Zum Glück hörte das niemand. Warwara Petrowna trat vor Schreck sogar einen Schritt zurück und sah entsetzt das anscheinend wahnsinnige Mädchen an. Dieser Blick entschied: sie beschloß, Lisa auf jeden Fall mitzunehmen.
„Dem muß ein Ende gemacht werden!“ entfuhr es ihr unwillkürlich. „Ich nehme dich mit Vergnügen mit, Lisa,“ fügte sie laut hinzu, „aber natürlich nur, wenn Julija Michailowna damit einverstanden ist,“ wandte sich Warwara Petrowna mit offenem Blick und freundlicher Würde unmittelbar an die Gouverneurin.
„Oh, gewiß! Ich werde sie doch nicht um dieses Vergnügen bringen wollen,“ zwitscherte mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit die Gouverneurin Julija Michailowna, „zumal ich ja schon weiß, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen auf diesem Hälschen sitzt!“ – und sie lächelte geradezu bezaubernd.
„Ich danke Ihnen aufrichtig,“ dankte Warwara Petrowna mit sehr höflichem Gruß, aber wie immer noch voll Würde.
„Und es ist mir um so angenehmer, diesen Wunsch Lisas zu erfüllen,“ fuhr Julija Michailowna in ihrer plappernden Redeweise fort und errötete sogar vor angenehmer Erregung, „als Lisa jetzt nicht nur das Vergnügen haben wird, zu Ihnen zu fahren, sondern mit diesem Vergnügen noch einer so schönen Regung nachgeben kann, wie es das Mitgefühl mit dieser ...“ (sie blickte bezeichnend auf die „Unglückliche“) „... wie es die Barmherzigkeit ist ... und ... und das noch gewissermaßen an der Schwelle der Kirche ...“
„Eine solche Auffassung macht Ihnen unbedingt Ehre,“ äußerte Warwara Petrowna in bewundernder Weise ihren Beifall.
Und Julija Michailowna streckte sofort mit liebenswürdigem Eifer die Hand aus und Warwara Petrowna drückte sie mit aufrichtiger Bereitwilligkeit. Der allgemeine Eindruck war vorzüglich. Die Gesichter der Anwesenden erstrahlten vor Vergnügen und viele lächelten süß und wohlgefällig.
Kurz, die ganze Stadt sah plötzlich ein, daß nicht die Gouverneurin aus angeblicher Mißachtung Warwara Petrowna bisher noch nicht ihren Besuch gemacht hatte, sondern daß, im Gegenteil, Warwara Petrowna es war, die zu Julija Michailowna „Distance wahrte,“ während diese, wie man jetzt meinte, wohl schon zu Fuß zu Warwara Petrowna geeilt wäre, wenn sie nur gewußt hätte, ob sie überhaupt empfangen werden würde. Und so stieg denn Warwara Petrownas Ansehen plötzlich wieder aufs höchste.
„Steigen Sie ein, meine Liebe,“ sagte Warwara Petrowna zu der Lebädkin und wies auf die vorgefahrene Equipage.
Und die Unglückliche eilte fröhlich zum Wagenschlag, wo der Diener schon bereitstand und sie hineinhob.
„Wie! Sie hinken!“ rief plötzlich Warwara Petrowna entsetzt und erbleichte. (Alle haben es damals bemerkt, jedoch nicht verstanden, warum.) ...
Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas Stadthaus lag ganz in der Nähe der Kirche. Lisa erzählte mir später, die Lebädkin habe während der ganzen drei Minuten der Fahrt hysterisch gelacht, Warwara Petrowna aber habe dagesessen „wie in einem hypnotischen Schlaf“ – das waren Lisas Worte.
Warwara Petrowna klingelte sofort nach einem Diener und warf sich dann in der Nähe des Fensters erschöpft in einen Sessel.
„Setzen Sie sich dorthin, meine Liebe,“ wies sie Marja Timofejewna an dem großen runden Tisch, der in der Mitte des Salons stand, einen Platz an. Darauf wandte sie sich zu uns: „Stepan Trophimowitsch, wer ist das? Sehen Sie sie an, wer ... was ist sie?“
„Ich ... ich ...“ stammelte Stepan Trophimowitsch.
In diesem Augenblick trat der Diener ein.
„So schnell wie möglich ein Tasse Kaffee! Und die Equipage soll warten!“
„Mais chère et excellente amie ... dans quelle inquiétude![89] ...“ rief Stepan Trophimowitsch unsicher aus.
„Ach, französisch, französisch!“ Marja Timofejewna klatschte in die Hände vor Vergnügen. „Gleich merkt man, daß man in vornehmer Gesellschaft ist!“ Und sie schickte sich mit Entzücken an, dem französischen Gespräche zuzuhören.
Warwara Petrownas Augen ruhten auf ihr mit Befremden, ja, mit Entsetzen.
Wir schwiegen alle und warteten ungewiß auf irgendeine Lösung oder Erklärung. Schatoff erhob kein einziges Mal seinen gesenkten Kopf und Stepan Trophimowitsch schaute so erschrocken drein, als trüge er die Schuld an allem. Ich selbst blickte auf Lisa, die fast neben Schatoff saß. Lisa wiederum sah gespannt bald auf Warwara Petrowna, bald auf die Lahme: um ihre Lippen zuckte ein Lächeln, kein gutes Lächeln, – und Warwara Petrowna bemerkte es wohl. Währenddessen ließ Marja Timofejewna es sich gut gefallen: sie betrachtete entzückt und ohne jede Befangenheit die Möbel, die Teppiche, die Bilder an den Wänden, die alte gemalte Decke, die große Bronzestatue in der Ecke, die Porzellanlampe, die Albums und die Nippsachen auf dem Tisch.
„Ach, auch du bist hier, Schatuschka!“ rief sie plötzlich, lustig lachend, aus. „Denk nur, ich seh’ dich schon lange und sag’ mir: das kann er doch nicht sein! Wie soll der wohl hierher kommen?“
„Sie kennen diese Dame?“ fragte Warwara Petrowna sofort, sich zu Schatoff wendend.
„Ja,“ sagte Schatoff leise und brummig wie immer – rückte dabei auf seinem Stuhle einmal hin und her, blieb aber sitzen.
„Was wissen Sie denn von ihr? Etwas schneller, wenn ich bitten darf!“
„Ja, was denn ...“ er stockte und lächelte unnötigerweise. „Sie sehen doch selbst ...“
„Was sehe ich? Aber so reden Sie doch!“
„Sie wohnt in demselben Hause, in dem ich wohne ... mit ihrem Bruder ... einem Offizier.“
„Nun, und?“
Schatoff stockte wieder. „Wozu davon sprechen,“ knurrte er schließlich und verstummte endgültig – und wurde sogar rot.
„Natürlich, von Ihnen kann man ja auch nicht mehr erwarten!“ Warwara Petrowna wandte sich unwillig von ihm ab. Sie begriff, daß hier alle etwas Bestimmtes wußten und nur deshalb nicht auf ihre Fragen antworteten, weil sie es ihr verheimlichen wollten.
Der Diener trat wieder ein, mit der bestellten Tasse Kaffee auf silbernem Teebrett, und präsentierte sie auf Warwara Petrownas Wink Marja Timofejewna.
„Meine Liebe, Sie werden kalt gehabt haben! Trinken Sie etwas Heißes, das wird Sie erwärmen.“
„Merci.“ Marja Timofejewna nahm die Tasse – platzte aber plötzlich laut darüber aus, daß sie dem Diener „merci“ gesagt hatte. Da sie jedoch gleichzeitig einen wütenden Blick Warwara Petrownas auffing, erschrak sie und stellte schnell die Tasse auf den Tisch.
„Tante,“ fragte sie darauf mit einem leichtsinnigen Ausdruck von Koketterie, „Tante, sind Sie mir vielleicht böse?“
„Wa–as?“ Warwara Petrowna richtete sich kerzengrade in ihrem Sessel auf. „Was für eine Tante –? Wie meinten Sie das?“
Marja Timofejewna hatte offenbar einen solchen Zorn nicht erwartet: ein Zittern erschütterte sie förmlich und sie drückte sich angstvoll an die Stuhllehne. „Ich ... ich dachte ..., daß man so – muß,“ flüsterte sie, den Blick starr auf Warwara Petrowna gerichtet. „Lisa hat Sie auch so genannt.“
„Was für eine Lisa?“
„Da, dort, dieses Fräulein!“ sagte Marja Timofejewna und wies mit dem Zeigefinger auf Lisaweta Nicolajewna.
„So ist die für Sie schon zur Lisa geworden?“
„Sie haben sie doch vorhin selbst so genannt.“ Marja Timofejewna faßte Mut. „Und im Traume habe ich genau solch eine Schönheit gesehen,“ und sie lachte gleichsam unwillkürlich.
Warwara Petrowna dachte einen Augenblick nach und wurde ersichtlich ruhiger: ja, sie lächelte sogar über Marja Timofejewnas letzte Bemerkung. Als diese aber das Lächeln bemerkte, stand sie auf und trat mit schüchternem Ausdruck hinkend auf sie zu.
„Bitte, nehmen Sie, ich vergaß ganz, das Tuch Ihnen zurückzugeben, seien Sie mir nicht böse –“ und sie nahm den Schal, den ihr Warwara Petrowna in der Kirche umgelegt hatte, von den Schultern.
„Nehmen Sie ihn sofort wieder um und behalten Sie ihn ganz. Setzen Sie sich! Trinken Sie Ihren Kaffee, und fürchten Sie sich bitte nicht vor mir, meine Liebe! Ich fange schon an, Sie zu verstehen.“
„Chère amie ...“ erlaubte sich Stepan Trophimowitsch wieder anzufangen ...
„Ach, Stepan Trophimowitsch, hier verliert man auch ohne Sie schon den Verstand! Verschonen Sie mich wenigstens ... Ziehen Sie bitte an der Klingel fürs Mädchenzimmer, dort!“
Neues Schweigen entstand. Warwara Petrownas Blick glitt mißtrauisch über die Gesichter der Anwesenden. Da erschien Agascha, ihre bevorzugte Kammerzofe.
„Mein kariertes Tuch. Das ausländische. Was macht Darja Pawlowna?“
„Sie fühlen sich nicht ganz wohl.“
„Geh’, und sag’ ihr, ich lasse sie herbitten. Sage ihr, ich ließe sie sehr darum bitten. Auch wenn sie krank ist.“
In diesem Augenblick ertönte aus dem Vorzimmer Geräusch von Schritten und Stimmen und plötzlich erschien in der Tür rot und atemlos Praskowja Iwanowna, von Mawrikij Nicolajewitsch fürsorglich gestützt.
„Ach Gott, endlich da! Lisa, du Wahnsinnige! Was tust du deiner Mutter an!“ rief sie mit ihrer kreischenden Stimme, in die sie nach Art aller reizbaren Menschen ihren ganzen Ärger legte, schon von der Tür aus ins Zimmer.
„Warwara Petrowna, meine Liebe, ich bin nur deshalb zu Ihnen gekommen, um meine Tochter abzuholen!“
Warwara Petrowna sah sie unmutig an, erhob sich aber, um sie zu begrüßen, und sagte mit kaum verhehltem Verdruß: „Guten Tag, Praskowja Iwanowna. Setze dich, bitte. Ich wußte ja, daß du kommen würdest.“
Für Praskowja Iwanowna konnte in einem solchen Empfang nichts Unerwartetes liegen. Warwara Petrowna hatte sie von Kindheit an unter dem Anschein der Freundschaft von oben herab, ja, in der Pensionszeit sogar mit Verachtung behandelt. In den letzten Tagen hatte sich ihr Verhältnis jedoch noch in einer ganz neuen und bedenklichen Weise zugespitzt. Die Gründe des drohenden Bruches waren Warwara Petrowna noch völlig unklar und daher um so beleidigender für sie. Vor allem mußte es sie kränken, daß Praskowja Iwanowna ihr gegenüber mit einem Male einen so unglaublich hochmütigen Ton anschlug. Hinzu kamen die sonderbaren Gerüchte, die ihr zu Ohren gedrungen waren, und die sie nun, eben infolge ihrer Unklarheit und Unbestimmtheit, so aufregten. Warwara Petrownas ganzes Wesen war gerade, offen und stolz, nichts haßte sie daher mehr, als versteckte Anschuldigungen. Jeglichem Ränkespiel hätte sie stets einen ehrlichen Krieg vorgezogen. Doch wie dem auch war, jedenfalls hatten sich die beiden Damen jetzt schon seit fünf Tagen nicht mehr gesehen. Warwara Petrowna war die letzte gewesen, die der anderen einen Besuch gemacht hatte – einen Besuch, von dem sie gekränkt und geärgert zurückgekehrt war. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß Praskowja Iwanowna mit der naiven Überzeugung eintrat, Warwara Petrowna müsse und werde aus irgendeinem Grunde vor ihr Angst bekommen. Andererseits richtete sich in Warwara Petrowna sofort ihr ganzer Stolz auf, als sie an dem Gesichte Praskowja Iwanownas wahrnahm, daß diese sie als irgendwie unterlegen behandeln wollte. Praskowja Iwanowna wiederum war, wie so viele unbedeutende Menschen, die sich sonst im allgemeinen ruhig tyrannisieren lassen, eines jähen und frechen Angriffes fähig, mit dem sie dann plump bei irgendeiner Gelegenheit herausplatzte. Zudem war sie noch krank und daher doppelt reizbar.
Daß noch andere zugegen waren, konnte in diesem Falle den Ausbruch eines Streites zwischen den beiden Jugendfreundinnen nicht verhindern: denn Stepan Trophimowitsch, Schatoff und ich galten einfach als Hausfreunde, auf deren Gegenwart man weiter nicht Rücksicht zu nehmen brauchte. Stepan Trophimowitsch hatte übrigens seit dem Eintritt seiner chère amie noch immer gestanden: jetzt, als auch noch Praskowja Iwanowna auf der Türschwelle kreischend erschien, sank er ganz erschöpft in einen Sessel und warf mir nur noch einen verzweifelten Blick zu. Schatoff dagegen drehte sich brüsk und brummend auf seinem Stuhle um: und es schien beinahe, als wolle er aufstehen und fortgehen. Lisa hatte sich zuerst halb erhoben, aber sich gleich wieder gesetzt; sie schenkte der Gegenwart ihrer Mutter überhaupt keine Beachtung, doch tat sie das nicht aus „Widerspenstigkeit“ oder „Trotz“, sondern weil sie augenscheinlich ganz unter der Macht ihrer eigenen Gedanken stand – sie starrte zerstreut in die Luft und hatte sogar für Marja Timofejewna nicht mehr die frühere Aufmerksamkeit übrig.
„Ach, hierher!“ Praskowja Iwanowna zeigte auf den Lehnstuhl am Tisch, und ließ sich mit Mawrikij Nicolajewitschs Hilfe schwer auf ihn nieder. „Würde mich sonst nicht bei Ihnen hinsetzen, meine Liebe, wenn es nicht die Füße wären –“
Warwara Petrowna erhob ein wenig den Kopf, und legte die Hand an die rechte Schläfe, in der sie augenscheinlich einen stechenden Schmerz empfand – „le tic douloureux“,[90] wie ihn Stepan Trophimowitsch nannte.
„Warum denn nicht, Praskowja Iwanowna? Warum solltest du dich bei mir nicht setzen? Dein Mann war mir sein Lebelang freundschaftlich zugetan. Und mit dir habe ich noch als Kind in der Pension Puppen gespielt.“
Praskowja Iwanowna winkte nur mit der Hand ab: „Ich konnte es mir ja schon denken, daß Sie wieder von der Pension anfangen würden! Das tun Sie ja stets, wenn Sie Vorwürfe machen wollen.“
„Es scheint, daß du schon in schlechter Laune hergekommen bist. Wie geht es mit deinen Füßen? Da wird dir Kaffee gebracht! Nimm bitte ein Täßchen, trink und ärgere dich nicht.“
„Meine Liebe, Sie gehen ja mit mir um, als ob ich ein kleines Mädchen wäre! Ich will keinen Kaffee, danke!“ und sie winkte eigensinnig dem Diener ab, der mit dem Tablett zu ihr getreten war. Für Kaffee dankten übrigens auch die anderen, außer Mawrikij Nicolajewitsch und mir. Stepan Trophimowitsch nahm zwar ein Täßchen, stellte es aber gleich wieder auf den Tisch. Marja Timofejewna hätte ersichtlich allzu gern auch eines, ihr zweites, genommen. Sie streckte schon die Hand aus, bedachte sich aber noch im letzten Augenblick und dankte – worauf sie sich, offenbar sehr zufrieden mit sich selbst, wieder zurücklehnte.
Warwara Petrowna lächelte verzogen.
„Weißt du, meine Liebe, du hast dir wohl wieder einmal etwas eingebildet. Wäre nichts Neues! Du hast ja von jeher nur von Einbildungen gelebt. Wenn ich von der Pension anfange, so ärgerst du dich. Aber weißt du noch, wie du ankamst? Wie du der ganzen Klasse erzähltest, der Husarenleutnant Schablykin hätte um dich angehalten, und wie Madame Lefebure dich sofort der Lüge zieh? Dabei hattest du ja gar nicht gelogen. Du hattest dir die ganze Geschichte eben einfach eingebildet. Und so war’s immer und so wird’s wohl auch jetzt wieder sein. Also erzähle nur, womit du diesmal hergekommen bist, was du dir jetzt wieder einbildest?“
„Dabei hat sie sich in der Pension in den Popen verliebt – hahaha!“ rief Praskowja Iwanowna mit gehässigem Lachen, das bald in Husten überging.
„Ah! das hast du also nicht vergessen?“ Warwara Petrowna sah sie durchdringend an und ihr Gesicht wurde farblos vor Ärger.
Praskowja Iwanowna wurde plötzlich ernst. Dann aber fuhr es aus ihr heraus: „Warum ... warum haben Sie meine Tochter in Gegenwart der ganzen Stadt in Ihren Skandal verwickelt?“
„In meinen Skandal?“ Warwara Petrowna richtete sich drohend auf.
„Mama, ich möchte Sie doch sehr bitten, sich etwas zu mäßigen,“ sagte Lisaweta Nicolajewna plötzlich zu ihr.
„Wie! Was ... was sagtest du da?“ Aber gleich darauf schwieg sie vor dem aufblitzenden Blick ihrer Tochter.
„Was reden Sie von einem Skandal, Mama? Ich bin freiwillig hierhergekommen, mit Julija Michailownas Erlaubnis, weil ich die Geschichte dieser Unglücklichen da erfahren wollte, um ihr helfen zu können.“
„Geschichte dieser Unglücklichen?“ wiederholte Praskowja Iwanowna langsam, mit bösem Lachen. „Was mischst du dich in solche Geschichten? Ach, meine Liebe, wir haben jetzt genug von Ihrer Herrschsucht!“ fuhr sie darauf wieder Warwara Petrowna an. „Bisher haben Sie die ganze Stadt kritisiert, jetzt aber kommt die Reihe auch einmal an uns!“
Warwara Petrowna saß in einer Haltung da, als wolle sie sich sofort auf Praskowja Iwanowna stürzen; dabei war aber ihr Blick kalt und unbeweglich auf die Gegnerin geheftet.
„Sei froh, meine Liebe,“ sagte sie mit eisiger Ruhe, „daß wir hier unter uns sind. Du hast viel Überflüssiges gesagt.“
„Ich, meine Liebe, ich fürchte die öffentliche Meinung nicht so sehr, wie gewisse andere Leute. Die Furcht haben Sie vielmehr! Und daß wir hier ‚unter uns‘ sind – nun, um so besser für Sie, wenn wir hier nicht unter Fremden sind!“
„Du bist wohl etwas klüger geworden? In der letzten Woche?“
„O nein, ich bin nicht klüger geworden in der letzten Woche, aber die Wahrheit ist ans Licht gekommen in der letzten Woche.“
„Was für eine Wahrheit ist ans Licht gekommen? In der letzten Woche? Was soll das heißen? Was willst du damit sagen?“
„Da, da ... da sitzt sie ja, die ganze Wahrheit!“ Und Praskowja Iwanowna wies plötzlich auf Marja Timofejewna mit jener verzweifelten Entschlossenheit, die nicht mehr an die Folgen denkt, sondern nur im Augenblick treffen will.
Marja Timofejewna, die inzwischen mit einer fröhlichen Neugierde die alte Dame betrachtet hatte, lachte lustig auf, als sie jetzt deren Finger auf sich gerichtet sah, und bewegte sich vergnügt auf ihrem Sessel.
„Herr Jesus Christus, sind denn heute alle von Sinnen!“ murmelte Warwara Petrowna und lehnte sich zurück.
Und plötzlich wurde sie so blaß, daß wir alle erschrocken auf sie zutraten. Stepan Trophimowitsch war als erster bei ihr. Ich folgte ihm. Auch Lisa stand auf. Am erschrockensten war aber Praskowja Iwanowna selbst: sie stieß einen kurzen Schrei aus, erhob sich, so weit sie es konnte, und rief bittend mit weinerlicher Stimme:
„Meine Liebe, verzeihen Sie, das war ja nur so gesagt! – Aber so geben Sie ihr doch wenigstens Wasser!“
„Bitte, rege dich nicht auf. Und Sie, meine Herren, bitte, setzen Sie sich wieder.“ Warwara Petrowna suchte sich zu fassen.
„Meine Liebe,“ begann Praskowja Iwanowna von neuem, nachdem sie sich ein bißchen beruhigt hatte, „es war ja töricht, es war ja häßlich von mir ... Aber man hat mich mit all diesen anonymen Briefen, die mir weiß der Himmel was für Leute zuschicken, dermaßen gereizt ... wenn sie sie doch wenigstens Ihnen zuschicken würden, da sie doch von Ihnen handeln ... aber ich, meine Liebe, ich habe eine Tochter!“
Warwara Petrowna, die inzwischen wieder vollständig Herrin ihrer selbst geworden war, hatte ihr erstaunt zugehört und sah sie noch stumm mit großen Augen an, als sich eine Seitentür öffnete und Darja Pawlowna eintrat. Sie blieb stehen und sah sich um – wahrscheinlich ohne zunächst Marja Timofejewna zu erblicken, von deren Anwesenheit man ihr nichts gesagt hatte. Unsere Aufregung schien sie zu erschrecken. Stepan Trophimowitsch hatte sie zuerst bemerkt, er machte eine schnelle Bewegung, errötete und sagte plötzlich laut: „Darja Pawlowna!“ – so daß aller Augen sich der Eintretenden zuwandten.
„Das also ist eure Darja Pawlowna!“ rief Marja Timofejewna. „Ach, Schatuschka, deine Schwester gleicht dir aber gar nicht! Wie kann nur meiner solch ein schönes Wesen die Leibeigene Daschka nennen!“
Darja Pawlowna war schon an Marja Timofejewna vorübergegangen und auf Warwara Petrowna zugeschritten, als der Ausruf sie traf. Sie kehrte sich jäh um und blieb wie versteinert stehen, mit langem, entsetztem Blick auf die Lahme starrend.
„Setze dich, Dascha,“ sagte Warwara Petrowna mit unheimlicher Ruhe. „Auch sitzend wirst du sie sehen können. Kennst du sie?“
„Ich habe sie nie gesehen,“ antwortete Dascha leise, nach kurzem Schweigen. Und dann fügte sie schneller hinzu: „Ich glaube, es ist die kranke Schwester eines Herrn Lebädkin.“
„Und auch ich sehe Sie zum ersten Male, aber ich wollte Sie schon lange kennen lernen, denn in jeder Ihrer Bewegungen sehe ich die gute Erziehung!“ rief Marja Timofejewna entzückt. „Und was da mein Diener schimpft, – oh, wie wäre es wohl möglich, daß Sie Geld entwendet hätten!? Sie, die Sie so wohlerzogen und lieb sind? Denn Sie sind lieb und lieb und lieb! Das sage ich Ihnen von mir aus!“ schloß sie ganz begeistert und mit einer heftigen Handbewegung.
„Verstehst du etwas davon?“ fragte Warwara Petrowna Darja Pawlowna mit stolzer Würde.
„Ich verstehe ...“
„Das von dem Gelde hast du auch gehört?“
„Damit meint sie gewiß jenes Geld, das ich, auf Nicolai Wszewolodowitschs Bitte in der Schweiz einem gewissen Herrn Lebädkin, ihrem Bruder jedenfalls, zu übergeben übernahm.“
„Hat Nicolai Wszewolodowitsch dich selbst darum gebeten?“
„Ja, ihm lag sehr viel daran, dieses Geld zu übersenden – es waren dreihundert Rubel. Da er aber Herrn Lebädkins Adresse nicht kannte und nur wußte, daß er hierher ziehen werde, so bat er mich, ich möge ihm das Geld bei seiner Ankunft zustellen.“
„Und was für ein Geld ist da ... abhanden gekommen? Sie sagte soeben –“
„Das weiß ich nicht. Ich habe auch schon gehört, daß Herr Lebädkin von mir gesagt haben soll, ich hätte ihm nicht das ganze Geld übersandt, aber das verstehe ich nicht. Es waren genau dreihundert Rubel und genau dreihundert Rubel habe ich eingezahlt.“
Darja Pawlowna hatte sich wieder beruhigt. Es war überhaupt schwer, dieses Mädchen irgendwie aus der Fassung zu bringen – mochte sie innerlich noch so stark bewegt sein. Jetzt antwortete sie auf jede Frage leise, aber ruhig und bestimmt und ohne die geringste Verwirrung, die doch das Bewußtsein von einer, wenn auch noch so kleinen Schuld immer hervorruft.
Warwara Petrowna ließ während der ganzen Zeit, in der Darja Pawlowna sprach, auch nicht ein einziges Mal den Blick von ihr.
„Wenn Nicolai Wszewolodowitsch sich in dieser Angelegenheit nicht einmal an mich, seine Mutter, gewandt hat,“ sagte sie ernst und offenbar sich an alle Anwesenden wendend, obwohl sie dabei Darja Pawlowna allein ansah – „wenn er vielmehr dich um diese Gefälligkeit gebeten hat, so wird er auch bestimmt seine Gründe dazu gehabt haben. Ich halte mich also gar nicht für berechtigt, weiter nach ihnen zu forschen. Und schon, daß du dabei beteiligt bist, das beruhigt mich vollkommen. Das sollst du vor allem einmal wissen, Dascha. Aber sieh, meine Liebe, du hast vielleicht doch eine Unvorsichtigkeit begangen. Mit reinem Gewissen. Einfach aus Lebensunkenntnis. Ich meine: allein schon, daß du mit diesem Menschen in Berührung gekommen bist. Und was er jetzt über dich herumerzählt, bestätigt es ja. Doch ich bin nicht umsonst deine Beschützerin. Ich werde dich schon zu verteidigen wissen. – Aber jetzt muß man alledem ein Ende machen ...“
„Am besten ist,“ fiel Marja Timofejewna ihr ins Wort, „Sie schicken ihn, wenn er selbst zu Ihnen kommt, einfach in die Dienerstube, dort kann er dann Karten spielen und wir können hier sitzen und Kaffee trinken. Ein Täßchen kann man ja auch ihm schicken, aber sonst verachte ich ihn tief!“ und sie nickte ausdrucksvoll mit dem Kopf.
„Dem muß man ein Ende machen,“ wiederholte Warwara Petrowna, nachdem sie ihr aufmerksam zugehört hatte. „Stepan Trophimowitsch, bitte klingeln Sie.“
Stepan Trophimowitsch klingelte, trat aber plötzlich erregt vor.
„Wenn ... wenn ich ... wenn ich auch die widerlichste Novelle, oder besser – schändlichste Verleumdung gehört habe ... mit dem allergrößten Unwillen ... enfin, c’est un homme perdu et quelque chose comme un forçat évadé.“[91]
Er brach ab. Warwara Petrowna maß ihn mit zugekniffenen Augen vom Kopf bis zu den Füßen. Doch schon gleich darauf trat ihr würdevoller Diener, Alexei Jegorowitsch, ein.
„Die Equipage!“ befahl Warwara Petrowna. „Du wirst Fräulein Lebädkina nach Hause begleiten.“
„Herr Lebädkin wartet unten bereits seit einiger Zeit auf sie und hat sehr gebeten, ihn anzumelden.“
„Das ist unmöglich, Warwara Petrowna,“ sagte, plötzlich vortretend, Mawrikij Nicolajewitsch, der bis dahin unerschütterlich geschwiegen hatte. „Sie erlauben, aber das ist kein Mensch, den man in der Gesellschaft empfangen kann. Das ... das ist ... mit einem Wort, das ist unmöglich, Warwara Petrowna.“
„Warten, er soll warten!“ wandte sich diese an den Diener, der sofort verschwand.
„C’est un homme malhonnête et je crois même que c’est un forçat évadé ou quelque chose dans ce genre,“[92] sagte wieder Stepan Trophimowitsch erregt.
„Lisa, es ist Zeit, daß wir fahren!“ rief jetzt auch Praskowja Iwanowna und erhob sich von ihrem Lehnstuhl. Sie schien bereits zu bereuen, daß sie vorhin im ersten Schreck alles zurückgenommen hatte. Schon als Darja Pawlowna sprach, hatte sie wieder mit hochmütiger Miene zugehört. Doch am meisten wunderte ich mich über Lisaweta Nicolajewna, die, als Darja Pawlowna eintrat, das junge Mädchen schon mit gar zu offenem Haß und unverhohlener Verachtung angesehen hatte.
„Bitte, gedulde dich noch einen Augenblick!“ hielt Warwara Petrowna sie auf. „Sei so gut und setze dich wieder. Ich habe die Absicht, alles zu sagen, und du hast kranke Füße. So, danke. Ich habe dir vorhin, als mir die Geduld riß, ein paar unangenehme Worte gesagt. Sei so freundlich und verzeih sie mir. Es war überflüssig und töricht von mir. Ich sehe das selbst ein. Und da ich immer Gerechtigkeit liebe, so sage ich’s. Natürlich hast auch du allerlei Überflüssiges gesagt, wie zum Beispiel das von den anonymen Briefen. Anonyme Briefe sind schon deshalb verächtlich, weil der Schreiber ein Feigling ist. Faßt du es anders auf, so beneide ich dich nicht. Jedenfalls würde ich mit so etwas in der Tasche nicht zu meiner Freundin gehen und mich damit breit machen. Übrigens, da du nun einmal davon angefangen hast, so laß dir sagen, daß auch ich einen Brief bekommen habe. Vor sechs Tagen. Gleichfalls ohne Unterschrift. Darin teilt mir der Absender mit, daß mein Sohn den Verstand verloren habe. Ferner, daß ich mich vor einem hinkenden Frauenzimmer hüten soll, ‚das in Ihrem Leben eine große Rolle spielen wird‘, hieß es wörtlich. Ich dachte nach, und da ich wußte, daß Nicolai Wszewolodowitsch unzählige Feinde hat, schickte ich sofort nach einem Menschen, dem rachsüchtigsten und verächtlichsten von allen seinen Feinden. Im Gespräch mit ihm erriet ich denn auch sofort, woher der Brief stammte. Wenn man auch dich, Praskowja Iwanowna, mit solchen Briefen behelligt hat, meinetwegen behelligt hat, so bin ich die erste, der es leid tut. Verzeih, daß ich die unschuldige Ursache gewesen bin. – Übrigens habe ich mich entschlossen, diesen verdächtigen Menschen da unten sofort hereinzulassen. Mawrikij Nicolajewitsch hat wohl kein ganz richtiges Wort gebraucht, als er sagte, daß man ihn nicht empfangen könne. Besonders Lisa wird hier nichts zu tun haben. Komm her, Lisa, mein Liebling. Laß mich dich noch einmal küssen.“
Lisa stand auf und ging stumm zu Warwara Petrowna. Diese küßte sie, faßte ihre Hände, beugte sich etwas zurück, um sie besser sehen zu können, und blickte sie liebevoll an. Darauf bekreuzte sie sie und küßte sie nochmals. „Nun, leb wohl, Lisa,“ (in ihrer Stimme zitterten fast Tränen). „Glaub mir, daß ich nie aufhören werde, dich zu lieben. Was dir das Schicksal auch bringen mag! Gott sei mit dir, mein Kind, ich habe immer Seinen Willen gesegnet ...“ Wie es schien, wollte sie noch etwas hinzufügen, aber sie nahm sich zusammen und schwieg.
Lisa ging wie in tiefen Gedanken zu ihrem Platz zurück, doch plötzlich blieb sie vor ihrer Mutter stehen.
„Mama, ich werde jetzt noch nicht nach Hause fahren, ich möchte noch bei Tante bleiben,“ sagte sie mit leiser Stimme, doch in diesen leisen Worten lag trotzdem eine unerschütterliche Entschlossenheit.
„Großer Gott, was hast du nur wieder?“ Und ganz erschöpft ließ ihre Mutter die schon erhobenen Hände sinken.
Doch Lisa antwortete ihr nicht; sie setzte sich still wieder auf ihren Platz in der Ecke, um von neuem ins Leere zu starren.
In Warwara Petrownas Augen leuchtete etwas Sieghaftes und Stolzes auf.
„Mawrikij Nicolajewitsch, ich habe eine große Bitte an Sie. Würden Sie so gütig sein und nach unten gehn, um dort nach jenem Menschen zu sehen, und, wenn es irgend geht, ihn hereinzulassen?“
Mawrikij Nicolajewitsch verbeugte sich und verließ das Zimmer. Eine Minute später trat er mit Lebädkin wieder ein.
Ich habe schon einmal von der äußeren Erscheinung dieses Herrn gesprochen: ein großer, krausköpfiger, stämmiger Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit einem roten, ein wenig gedunsenen Gesicht, fleischigen Wangen, die bei jeder Kopfbewegung erzitterten, kleinen, vom Blutandrang geröteten Augen, die zuweilen einen recht schlauen Ausdruck annehmen konnten, mit einem Schnurrbart und Backenbart und der Anlage zu einem fleischigen Doppelkinn, das schon ziemlich unangenehm aussah. Doch am meisten überraschte an ihm, daß er jetzt in einem Frack und in sauberer Wäsche erschien. „Es gibt Menschen, zu denen saubere Wäsche nicht paßt, ja, für die sie sich einfach nicht schickt,“ hatte Liputin einmal auf Stepan Trophimowitschs scherzhaft gemachten Vorwurf, daß er, Liputin, in seiner Kleidung nachlässig sei, nicht unrichtig erwidert. Der „Hauptmann“ aber hatte plötzlich auch neue schwarze Handschuhe, von denen er den rechten in der Hand hielt, während der linke – den er wohl nur mit großer Mühe so weit bekommen hatte – seine fleischige linke Tatze nur bis zur Hälfte bedeckte, geschweige denn sich zuknöpfen ließ. Und in dieser linken Hand hielt er einen nagelneuen, offenbar gleichfalls zum erstenmal benutzten runden Hut. So hatte es denn doch seine Richtigkeit mit dem „Frack der Liebe“, von dem er gestern Abend Schatoff berichtet hatte. Alle diese Kleidungsstücke waren schon früher auf Liputins Rat gekauft worden (wie ich später erfuhr), und jedenfalls zu einem bestimmten geheimnisvollen Zweck. Zweifellos war er auch jetzt nicht aus eigenem Antriebe hierhergekommen: selbst wenn er die Szene an der Kirchentür sofort erfahren hätte, würde er doch niemals in einer dreiviertel Stunde allein einen solchen Entschluß haben fassen und gar ausführen können. Betrunken war er dabei nicht, befand sich aber in jenem stumpfen, nebligen Zustande eines Menschen, der plötzlich nach langer Betrunkenheit wieder zu sich gekommen ist. Doch ich glaube, man hätte ihn nur zu schütteln brauchen und er wäre sofort wieder betrunken gewesen.
Allem Anscheine nach wollte er mit Temperament ins Zimmer treten, doch stolperte er zum Unglück sofort über eine Teppichecke an der Tür, worüber dann Marja Timofejewna vor Lachen fast verging. Er warf der Schwester einen wütenden Blick zu und näherte sich mit ein paar Schritten Warwara Petrowna.
„Gnädige Frau, ich bin gekommen ...“ begann er dröhnend laut, wie durch eine Trompete.
„Seien Sie so freundlich, mein Herr, sich dort – auf jenen Stuhl dort zu setzen,“ sagte Warwara Petrowna, die steif aufgerichtet dasaß. „Ich werde Sie auch von dort aus hören und so kann ich Sie besser sehen.“
Der „Hauptmann“ blieb stehen, sah blöde vor sich hin, kehrte dann aber doch zurück und setzte sich auf den bezeichneten Stuhl an der Tür. Der gänzliche Mangel an Zutrauen zu sich selbst und zu gleicher Zeit unendliche Gereiztheit drückten sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte furchtbare Angst, das sah man, aber auch seine Eigenliebe schien stark zu leiden, und so konnte man nicht sicher sein, ob er sich nicht im gegebenen Moment plötzlich, trotz der Feigheit, zu irgend etwas, zur größten Gemeinheit vielleicht, aufraffen würde. Augenscheinlich scheute er jede Bewegung seines vierschrötigen Körpers. Bekanntlich ist der größte Schmerz solcher Wesen, wenn sie irgend einmal in Gesellschaft erscheinen, der Gedanke an ihre Hände: das ununterbrochen wache Bewußtsein, sie nirgendwohin auf anständige Weise verschwinden lassen zu können. Der „Hauptmann“ nun saß wie betäubt da, hielt krampfhaft Hut und Handschuh fest und konnte seinen zunächst völlig blöden Blick nicht von Warwara Petrownas strengem Gesicht losreißen. Er hätte sich gewiß gern umgesehen, aber er wagte es einfach nicht. Marja Timofejewna, die wohl wieder etwas an ihm äußerst komisch fand, lachte laut auf, aber auch jetzt rührte er sich noch nicht. So hielt ihn Warwara Petrowna unbarmherzig in diesem Schweigen und betrachtete ihn wohl eine geschlagene Minute lang schonungslos vom Scheitel bis zur Sohle.
„Zuerst gestatten Sie, von Ihnen selbst Ihren Namen zu erfahren,“ sagte sie endlich gemessen und vollkommen ruhig.
„Hauptmann Lebädkin,“ dröhnte sofort die Antwort. „Ich bin gekommen, gnädige Frau ...“ Und schon war er wieder im Begriff, sich zu erheben.
„Erlauben Sie!“ hielt ihn Warwara Petrowna auf. „Dieses bemitleidenswerte Geschöpf, das ich in der Kirche angetroffen habe und das mein Interesse erregt, ist Ihre Schwester?“
„Jawohl, gnädige Frau, meine Schwester, die meiner Aufsicht entschlüpft ist, denn da sie sich in solchen Umständen befindet ...“ er verstummte plötzlich und wurde feuerrot.
„Das heißt, mißverstehen Sie das nicht, gnädige Frau,“ verwickelte er sich noch mehr, „der leibliche Bruder würde so was nicht sagen ... In solchen Umständen, das heißt nicht etwa in solchen Umständen, im Sinne von – in einem Sinne, der die Ehre befleckt ... ich meine, den Ruf ...“
Er brach ab.
„Mein Herr!“ Warwara Petrowna hob den Kopf.
„Das heißt in solchem Zustande!“ schloß er plötzlich und unvermutet, mit dem steifen Finger sich vor die Stirn tippend.
Alle schwiegen eine Zeitlang.
„Leidet sie schon lange daran?“ fragte Warwara Petrowna endlich.
„Gnädige Frau, ich bin gekommen, um für die an der Kirchentür erwiesene Großmut zu danken, so recht auf russische, auf brüderliche Art ...“
„Auf brüderliche –?“
„Das heißt, gnädige Frau, nicht auf brüderliche ... oder nur in dem Sinne auf brüderliche Art, daß ich der Bruder meiner Schwester bin, gnädige Frau, und, glauben Sie mir, gnädige Frau,“ begann er wieder schneller zu sprechen, mit hochrotem Kopf, „daß ich gar nicht so ungebildet bin, wie ich auf den ersten Blick in Ihrem Salon erscheinen mag. Wir, meine Schwester und ich, sind überhaupt nichts, im Vergleich mit der Pracht, die wir hier sehen. Dazu haben wir noch Verleumder. Aber auf seinen Ruf hält Lebädkin viel und ist stolz darauf, gnädige Frau, und ... und ich ... ich bin gekommen, um mich zu bedanken ... gnädige Frau, hier ist das Geld!“
Und er riß sein Portefeuille aus der Brusttasche und begann, zitternd vor Ungeduld, mit bebenden Fingern die Papierscheine hervorzuzerren. Man fühlte, daß er so schnell wie möglich irgend etwas aufklären wollte. Andererseits fühlte er wieder, daß diese Geschichte mit dem Gelde ihn noch dümmer erscheinen ließ, und so verlor er denn die letzte Kaltblütigkeit. Die Finger zitterten, die Scheine wollten sich nicht zählen lassen, und zur Erhöhung der peinlichen Situation fiel noch ein grüner Papierschein, im Zickzack niedertaumelnd, auf den Teppich.
„Zwanzig Rubel, gnädige Frau.“ Mit den Scheinen in der Hand wollte er auf Warwara Petrowna zutreten. Als er den gefallenen Schein bemerkte, bückte er sich schon, um ihn aufzuheben, bedachte sich aber, schämte sich entsetzlich und winkte schließlich mit der Hand ab.
„Für Ihre Leute, gnädige Frau, für den Diener, wenn er hier aufräumt – mag er an Lebädkin denken!“
„Aber das kann ich unmöglich zulassen!“ sagte Warwara Petrowna schnell.
„In dem Falle ...“ er bückte sich, hob den Schein auf, wurde dabei purpurrot im Gesicht und trat schnell ein paar Schritte vor – die zwanzig Rubel in der Hand Warwara Petrowna hinhaltend.
„Was wollen Sie?!“ Warwara Petrowna erschrak nun doch so, daß sie im Schreck sogar den Sessel zurückschob.
Mawrikij Nicolajewitsch, Stepan Trophimowitsch und ich traten unwillkürlich vor ...
„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, ich bin nicht verrückt, bei Gott, ich bin nicht verrückt!“ beteuerte der Hauptmann nach allen Seiten hin.
„Nein, mein Herr, Sie scheinen doch nicht bei vollem Verstande zu sein!“
„Gnädige Frau, das ist ja alles nicht das, was Sie denken! Ich bin selbstverständlich nur ein Nichtswürdiger ... Oh, gnädige Frau, reich sind Ihre Prunkgemächer, aber arm sind sie bei Maria der Unbekannten, meiner Schwester, der geborenen Lebädkin, die wir vorläufig ‚Maria die Unbekannte‘ nennen wollen. Aber nur vorläufig, gnädige Frau, nur zeitweilig, sintemal Gott selber es nicht zulassen wird, daß wir es ewig tun müssen! Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Rubel gegeben, und sie hat das Geld angenommen, aber nur, weil Sie es waren, gnädige Frau! Hören Sie es wohl, von niemandem in der ganzen Welt würde sie etwas annehmen, diese ‚unbekannte Maria‘, denn sonst müßte sich der Stabsoffizier, ihr Großvater, der im Kaukasus unter den Augen Ermoloffs fiel, noch im Grabe umdrehen! Aber von Ihnen wird sie alles annehmen, gnädige Frau, aber wenn sie mit der einen Hand zehn Rubel nimmt, so wird sie mit der anderen zwanzig zurückgeben, als Gabe an einen der Wohltätigkeitsvereine, deren Mitglied Sie sind, gnädige Frau. Sie haben doch in den ‚Moskauer Nachrichten‘ angezeigt, daß sich jeder hier in dem Buche Ihres Wohltätigkeitsvereins einschreiben kann ...“
Der „Hauptmann“ stockte wieder und atmete schwer, wie nach einer übergroßen Kraftanstrengung; auf seiner Stirn perlten buchstäblich dicke Schweißtropfen. Die Rede über den Wohltätigkeitsverein schien er schon vorbereitet zu haben und wahrscheinlich gleichfalls unter Liputins Leitung. Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an.
„Dieses Buch,“ sagte sie streng, „liegt unten bei meinem Portier. Dort können Sie sich zu jeder Zeit einschreiben, wenn Sie wollen. Jetzt aber bitte ich Sie, Ihr Geld wieder einzustecken und nicht so in der Luft damit herumzufuchteln ... So! Auch bitte ich Sie, sich wieder auf Ihren alten Platz zu setzen ... So! Es tut mir leid, mein Herr, daß ich mich im Falle Ihrer Schwester so versehen und ihr ein Almosen gegeben habe, während sie reich ist. Nur eines verstehe ich nicht – warum sie nur von mir allein und sonst von niemandem etwas annehmen würde. Sie haben das so betont, daß ich darüber gern eine nähere Erklärung hören würde.“
„Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das erst im Grabe begraben sein wird!“ antwortete der „Hauptmann“.
„Was ... wollen Sie damit sagen?“ fragte Warwara Petrowna mit nicht mehr ganz so fester Stimme wie bisher.
„Gnädige Frau ... gnädige Frau ...!“ er verstummte, blickte finster zu Boden und drückte die rechte Hand aufs Herz. Warwara Petrowna wartete, doch ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Gnädige Frau!“ rief er plötzlich aus, „gestatten Sie mir, eine Frage an Sie zu stellen, nur eine einzige, ganz offen, gerade heraus, auf russische Art, also unmittelbar aus der Seele?“
„Bitte.“
„Haben Sie je gelitten im Leben, gnädige Frau?“
„Sie wollen damit wohl sagen, daß Sie durch irgend jemanden gelitten haben oder noch leiden?“
„Gnädige Frau, ach, gnädige Frau!“ rief er erregt, sprang wieder auf und schlug sich an die Brust. „Hier in diesem Herzen hat sich so viel aufgehäuft, so viel, sage ich Ihnen, daß Gott selbst sich wundern wird, wenn er es beim jüngsten Gericht erfährt!“
„Hm, stark gesagt!“
„Gnädige Frau, ich ... vielleicht spreche ich – mit zu großer Dreistigkeit ...“
„Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde schon wissen, wann es nötig sein wird, Sie zu unterbrechen.“
„Kann ich noch eine Frage an Sie stellen, gnädige Frau?“
„Fragen Sie.“
„Kann man vor lauter Seelengröße sterben?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe mir nie diese Frage gestellt.“
„Sie wissen es nicht! Sie haben sich nie diese Frage gestellt!“ rief er mit pathetischer Ironie. „Wenn’s so ist, wenn’s so ist, dann freilich –
‚Schweig stille, mein Herze!‘“
und er schlug sich von neuem verzweifelt an die Brust.
Schon ging er wieder im Zimmer umher. Die erste Eigenschaft von Menschen seiner Art pflegt die vollständige Unfähigkeit zu sein, sich irgendwie selbst im Zaume zu halten: sie folgen im Gegenteil machtlos dem ununterdrückbaren Bedürfnis, alles, was ihnen gerade einfällt, sofort auch zu äußern. Gerät dann einmal ein derartiger Mensch in eine Gesellschaft, in die er nicht hineingehört, so wird er sich zunächst vielleicht ganz schüchtern geben, dann aber, in demselben Grade, in dem man ihn gewähren läßt, aus sich herausgeben und am Ende zu Unverschämtheiten, wenn nicht gar Tätlichkeiten übergehen.
Der „Hauptmann“ war schon in eine bedrohliche Erregung geraten: fuchtelnd ging er auf und ab, überhörte die Fragen, die man an ihn stellte, und sprach so schnell, daß die Zunge bei den Zischlauten sich gleichsam überschlug und er häufig von einem Satz zusammenhanglos auf den andern übersprang. Ganz nüchtern war er wohl wirklich nicht. Lisa schien er gar nicht zu beachten. Und doch war es andererseits klar, daß gerade ihre Anwesenheit ihn maßlos aufregte.
So mußte es denn doch wohl, bedachte man die ganze unglaubliche Situation, einen tieferen Grund haben, warum Warwara Petrowna ihren Widerwillen unterdrückte und diesen Menschen immer noch anhörte. Praskowja Iwanowna zitterte einfach vor Angst, doch begriff sie wohl kaum, um was es sich eigentlich handelte. Stepan Trophimowitsch zitterte gleichfalls, er jedoch, weil er wie gewöhnlich viel mehr zu „begreifen“ glaubte, als da überhaupt zu begreifen war. Mawrikij Nicolajewitsch hielt sich so, als fühle er sich für unsere allgemeine Sicherheit verantwortlich, während Lisa blaß und mit großen Augen unablässig den wilden Hauptmann anstarrte. Schatoff saß wie immer mit gesenktem Kopf.
Aber am befremdlichsten war, daß Marja Timofejewna nicht nur zu lachen aufgehört hatte, sondern ganz traurig geworden war: den rechten Arm auf den Tisch gestützt, so folgte sie mit traurigem Blick den Gesten und Deklamationen ihres Bruders. Nur Darja Pawlowna schien mir ruhig zu sein.
„Das sind ja lauter unsinnige Allegorien,“ sagte plötzlich Warwara Petrowna geärgert. „Sie haben mir noch immer nicht auf meine Frage geantwortet: warum? Ich will es wissen!“
„Ich habe nicht gesagt, ‚warum‘? Sie wollen eine Antwort auf dieses ‚Warum‘?“ wiederholte Lebädkin und zwinkerte. „Ja, gnädige Frau, dieses kleine Wörtchen ‚warum‘ ist über das ganze Weltall ergossen, schon seit dem ersten Tage der Schöpfung, und die ganze Schöpfung selber schreit täglich ihrem Schöpfer zu: ‚warum‘? Und nun sind es schon siebentausend Jahre, daß sie keine Antwort darauf erhält! Muß nun wirklich einzig und allein der Hauptmann Lebädkin eine Antwort darauf geben? Ist diese Forderung auch gerecht, gnädige Frau?“
„Aber das ist ja Unsinn, nichts als Unsinn!“ Warwara Petrowna ärgerte sich und verlor endlich die Geduld. „Sie kommen wieder mit Allegorien, und reden in einem Tone, mein Herr, den ich mir verbitten möchte.“
„Gnädige Frau!“ – der „Hauptmann“ hörte sie wieder gar nicht an – „vielleicht würde ich gerne Ernest heißen wollen, und während dessen bin ich gezwungen, den einfachen Namen Ignatius zu tragen – warum das? hä?! Ich möchte vielleicht gerne Prince de Montbar heißen und doch muß ich mich nur Lebädkin nennen – hä! Warum das? Ich bin ein Poet, gnädige Frau, in meiner Seele ein Poet, und ich könnte von einem Verleger mit Kußhand tausend Rubel bekommen, und doch bin ich gezwungen, in einem elenden Loche zu wohnen – warum das? hä! Warum das? Gnädige Frau, und meiner Meinung nach ist Rußland überhaupt nur eine Farce der Natur und nichts weiter!“
„Etwas Bestimmteres können Sie wohl auf meine Frage nicht sagen?“
„Ich kann Ihnen ein Gedicht von einer Schabe vortragen, gnädige Frau!“
„Wa–a–as?“
„Nein, übergeschnappt bin ich noch nicht, gnädige Frau! Aber das werde ich später einmal sein, bloß vorläufig bin ich’s noch nicht! Gnädige Frau, einer meiner Freunde hat eine Kryloffsche Fabel gedichtet. Das ist die Fabel von der Schabe, und wenn ich sie hersagen soll –?“
„Sie wollen eine Kryloffsche Fabel deklamieren?“
„Nein, keine Kryloffsche Fabel, gnädige Frau, sondern eine von mir verfaßte Lebädkinsche Fabel! Glauben Sie mir doch, gnädige Frau, daß ich gebildet genug bin, um den großen Fabeldichter Kryloff zu kennen, für den der Kultusminister in Petersburg im Sommergarten ein Denkmal errichtet hat, um das jetzt die Kinder herumlaufen. Sie fragen ‚warum‘?, gnädige Frau, ‚warum‘? – Die Antwort darauf ist auf dem Hintergrunde dieser Fabel mit goldenen Lettern geschrieben!“
„Nun schön, so tragen Sie Ihre Fabel vor.“
Und Lebädkin begann sofort:
„Es war einmal eine Schabe,
Eine Schabe von Kindheit an,
Die kletterte und fiel
Gerade in ein Fliegenglas,
Das Fliegengift enthielt ...“
„Mein Gott, was ist denn das wieder!“ Warwara Petrowna sah sich um.
„Was das ist, gnädige Frau? Das ist, wenn im Sommer,“ – der „Hauptmann“ gestikulierte wieder wie wild und hatte ganz die gereizte Ungeduld eines Redners, den man in seinem Vortrag unterbrochen hat – „wenn im Sommer viele Fliegen ins Glas kriechen, so daß Fliegensäure entsteht, was doch jeder Esel weiß ... Unterbrechen Sie mich nicht, um Gottes willen, unterbrechen Sie mich nicht ... Sie werden schon sehen, sie werden schon sehen! –
‚Die Fliegen riefen: was ist das?
Das ist doch wirklich toll!
Wir haben selber wenig Naß,
Das Glas ist so wie so schon voll!
Und schrien wie verrückt
Zum Jupiter empor.
Da kam der Diener Nikiphor ...‘
– weiter habe ich es eigentlich noch nicht fertig,“ brach hier der Hauptmann ab. „Nikiphor nimmt aber das Glas und gießt es aus, die ganze Komödie, die Fliegen, die große Schabe, ohne aufs Geschrei zu achten, was man schon längst hätte tun sollen! Doch passen Sie auf, gnädige Frau, passen Sie auf, die Schabe klagt nicht! Und da haben Sie auch gleich die Antwort auf Ihre Frage – auf Ihre Frage ‚warum?‘“ rief er triumphierend aus. „Die Schabe klagt nicht! ... Der Nikiphor ist natürlich ganz einfach die Natur selbst,“ fügte er schnell hinzu und ging zufrieden auf und ab.
Warwara Petrowna war außer sich. „Erlauben Sie, daß nun auch ich Sie etwas frage! Was ist das für ein Geld, das Ihnen Nicolai Wszewolodowitsch übersandt haben soll? Ein Geld, das Sie nicht vollzählig erhalten haben wollen? Weshalb Sie sich erdreisten, eine zu meinem Hause gehörige Person zu verdächtigen, den Rest unterschlagen zu haben?“
„Verleumdung!“ brüllte Lebädkin mit tragisch erhobener rechter Hand.
„Nein, das ist keine Verleumdung.“
„Gnädige Frau, es gibt Umstände, die einen zwingen, eher eine Familienschande zu tragen, als laut die Wahrheit zu verkünden! – Lebädkin wird nichts ausplaudern, gnädige Frau!“
Er war wie geblendet: er schien entzückt zu sein und fühlte seine Bedeutung. Jetzt wollte er bereits beleidigen, Rätsel aufgeben, seine Macht zeigen ...
„Klingeln Sie bitte, Stepan Trophimowitsch,“ bat Warwara Petrowna.
„Oh, Lebädkin ist klug, gnädige Frau!“ fuhr er fort und zwinkerte ihr mit unangenehmem Lächeln zu. „Lebädkin ist klug, aber auch er hat ein Hindernis, auch er hat eine Vorstufe der Leidenschaften! Und diese Vorstufe – das ist die alte kriegerische Husarenflasche! Wenn Lebädkin in diesem Vorraum ist, gnädige Frau, so geschieht es wohl auch, daß er einen Brief in Versen abschickt, in pr–r–rachtvollen Versen, aber den er dann mit allen Tränen seines Lebens zurückkaufen möchte, sintemal durch ihn das Maß des Schönen gestört ward. Doch der Vogel ist ausgeflogen – kannst ihn nicht mehr am Schwänzchen einfangen! Sehen Sie, gnädige Frau, das ist der Vorraum. Lebädkin konnte wohl ein Wort fallen lassen, als er über das edle Mädchen sprach – in der Form eines edlen Unwillens, einer durch Beleidigungen aufgebrachten edlen Seele, wessen sich jedoch, unedel genug, seine Verleumder sofort bedient haben. Aber Lebädkin ist klug, gnädige Frau, und umsonst sitzt über ihm der unheilbringende Wolf, ewig ihn reizend und auf den Augenblick wartend: Lebädkin wird sich nicht vergessen und ausplaudern! Und auf dem Boden der Flasche erweist sich jedesmal anstatt des Erwarteten – die Schlauheit Lebädkins! Doch genug, oh, genug, gnädige Frau! Ihre Prunkgemächer könnten dem edelsten aller menschlichen Lebewesen gehören, doch die Schabe klagt nicht! Begreifen Sie, oh, begreifen Sie doch endlich, daß die Schabe nicht klagt, und ehren Sie ihren großen Geist!“
In diesem Augenblick ertönte unten am Portal die Klingel und bald darauf erschien der alte würdige Alexei Jegorowitsch, etwas außer Atem, da er auf das Klingelzeichen nicht sofort erschienen war.
„Nicolai Wszewolodowitsch haben geruht einzutreffen und kommen schon hierher,“ sagte er auf Warwara Petrownas fragenden Blick.
Ich erinnere mich noch heute deutlich dieses Augenblicks. Warwara Petrowna erblaßte zuerst, dann aber richtete sie sich mit einem Ausdruck starrer Entschlossenheit in ihrem Sessel auf. Wir waren alle erstaunt, ja beinahe erschreckt, – nicht nur durch diese plötzliche Ankunft Nicolai Wszewolodowitschs, der erst einen Monat später erwartet wurde, sondern mehr noch durch das geradezu unheimliche Zusammentreffen dieser Zufälle. Selbst der „Hauptmann“ blieb wie ein Pfosten mitten im Zimmer stehen und starrte mit offenem Munde und dummem Gesicht auf die Tür.
Doch da hörten wir auch schon vom Nebenzimmer her, einem langen großen Saal, schnelle, kleine Schritte sich nähern, Schritte, die auffallend rasch und kurz klangen. Und auf der Schwelle erschien – nicht Nicolai Wszewolodowitsch, sondern ein vollkommen unbekannter junger Mann.
Es war ein Mensch von etwa siebenundzwanzig Jahren, ein wenig über mittelgroß, mit dünnem, blondem, ziemlich langem Haar und einem kaum sich abhebenden unscheinbaren Schnurrbart und Bärtchen. Er war sauber und sogar modern gekleidet, aber nicht elegant. Auf den ersten Blick schien er ungelenk und griesgrämig zu sein, obgleich er in Wirklichkeit weder das eine noch das andere, sondern im Gegenteil, äußerst gewandt und unterhaltend war. Einem kurzen, oberflächlichen Eindruck nach hätte man ihn für einen Sonderling halten können, und doch sollte sich hernach sein Benehmen als gut und sein Gespräch als vollkommen sachlich herausstellen.
Niemand hätte im Grunde sagen können, daß er häßlich sei – und doch gefällt sein Gesicht niemandem. Sein Schädel ist von beiden Seiten gleichsam zusammengedrückt und der Hinterkopf auffallend groß, so daß denn das Gesicht dadurch etwas Spitzes bekommt. Seine Stirne ist hoch und schmal, aber die eigentlichen Gesichtszüge sind klein: ein kleines Näschen, scharfe Augen, dünne und lange Lippen. Dabei sieht er kränklich aus, aber das scheint nur so. In seinen Wangen ist, unter den Backenknochen, eine gewisse trockene Falte, die ihm das Aussehen eines Rekonvaleszenten nach einer schweren Krankheit verleiht. Und doch ist er vollkommen gesund, stark, und ist sogar nie in seinem Leben krank gewesen.
Er geht und bewegt sich immer sehr schnell, doch ohne sich dabei eigentlich zu beeilen. Ich glaube nicht, daß irgend etwas ihn verwirren könnte. In allen Lebenslagen und in jeder Gesellschaft bleibt er immer der gleiche. Es ist eine große Selbstzufriedenheit in ihm, doch er selbst weiß nichts davon. Er spricht schnell und hastend, aber voll Selbstvertrauen, und nie braucht er nach Worten zu suchen. Die Gedanken, die er vorbringt, sind bereits völlig zu Ende gedacht. Seine Aussprache ist ungemein deutlich: jedes Wort fällt wie ein glattes, rundes Körnchen aus einer großen Vorratskammer. Anfänglich gefällt das wohl, aber schon bald werden alle diese gleichsam schon fertigen Worte unangenehm und schließlich geradezu widerlich, und zwar gerade wegen dieser schon allzu deutlichen Aussprache, wegen dieses Perlengesickers ewig bereiter Worte. Und man stellt sich unwillkürlich vor, seine Zunge müsse ganz besonders geformt, ungewöhnlich lang, dünn und rot sein, mit einer dünnen, sich ununterbrochen drehenden Spitze.
Dieser junge Mann also kam in den Salon gleichsam hereingeflogen. Ich glaube wirklich, er begann schon im Vorsaal zu sprechen. Sprechend wenigstens trat er ein, und in einem Augenblick stand er schon vor Warwara Petrowna.
„... Denken Sie doch nur, Warwara Petrowna, ich komme und glaube, daß er schon vor einer Viertelstunde hier angelangt sei. Wir trafen uns bei Kirilloff, er ging vor einer halben Stunde fort und sagte mir, ich solle in einer Viertelstunde herkommen –“
„Wer das? Wer hat Sie beauftragt, herzukommen?“ fragte Warwara Petrowna.
„Aber Nicolai Wszewolodowitsch doch! So erfahren Sie es wirklich erst jetzt? Sein Gepäck muß doch schon längst hier eingetroffen sein! Hat man Ihnen denn das nicht gesagt? Übrigens könnte man ihm einen Wagen entgegenschicken, aber ich denke, er wird jeden Augenblick kommen, und zwar, wie’s scheint, gerade in einem Augenblick, der seinen Erwartungen und, soweit ich wenigstens beurteilen kann, auch einigen seiner Berechnungen durchaus entspricht.“ Bei diesen Worten sah er sich die Anwesenden an und ganz besonders scharf den „Hauptmann“. „Ah, Lisaweta Nicolajewna, wie es mich freut, Ihnen gleich auf meinem ersten Wege zu begegnen ... Gestatten Sie –“ und er flog schnell zu ihr, um das ihm lächelnd entgegengestreckte Händchen Lisas zu drücken. „Und auch unsere hochverehrte Praskowja Iwanowna hat ihren ‚Professor‘ nicht vergessen, und scheint sich noch nicht einmal über ihn und sein Erscheinen zu ärgern, wie es in der Schweiz immer geschah. Aber wie steht es denn jetzt mit Ihren Füßen? Hatte man recht, als man Ihnen schließlich als bestes Mittel Heimatluft verschrieb? ... Wie? Kompressen? Ja, das mag ganz gut sein! Wie habe ich es nur bedauert, Warwara Petrowna,“ – er drehte sich schnell schon wieder herum – „daß ich Sie schließlich in der Schweiz nicht mehr antraf, zumal ich Ihnen so vieles mitzuteilen hatte! Ich habe allerdings an meinen Alten geschrieben, aber der wird nach seiner Gewohnheit wohl wieder –“
„Petruscha!“ rief da Stepan Trophimowitsch aus, erst jetzt plötzlich aus der Erstarrung erwachend: er warf die Arme in die Luft und stürzte zu seinem Sohn. „Pierre, mon enfant,[93] ich habe dich nicht einmal erkannt!“ und er umarmte ihn krampfhaft, während Tränen ihm über die Wangen liefen.
„Schon gut, schon gut, keine Albernheiten und keine Gesten, wenn ich bitten darf, aber so laß doch!“ wehrte Petruscha schnell ab und gab sich alle Mühe, sich aus den Armen des Vaters zu befreien.
„Ich habe dir immer, immer Unrecht getan!“
„Schon gut. Davon später. Konnte mir schon denken, daß du wieder Albernheiten machen würdest! So sei doch ein wenig nüchterner, ich bitte dich.“
„Aber ich habe dich doch zehn Jahre lang nicht gesehen!“
„Um so weniger Grund zu solchem Überschwang ...“
„Mais, mon enfant!“[94]
„Glaub’s schon, glaub’s schon, daß du mich liebst, nimm nur, bitte, die Hände weg ... Du störst doch auch die anderen ... Ah, da ist ja auch schon Nicolai Wszewolodowitsch ... aber so höre doch endlich auf mit den Albernheiten, ich bitte dich!“
Nicolai Wszewolodowitsch war in der Tat schon im Salon: er war sehr geräuschlos eingetreten und einen Augenblick in der Tür stehen geblieben, während sein ruhiger Blick die Versammlung überflog.
Genau so wie vor vier Jahren, als ich ihn zum ersten Male sah, war ich auch jetzt wieder erstaunt über seine Erscheinung. Ich hatte ihn durchaus nicht vergessen; aber ich glaube, es gibt Gesichter, die jedesmal, wenn sie auftauchen, wieder etwas Neues mit sich bringen, etwas, das man bis dahin noch nicht an ihnen bemerkt hat. Äußerlich war er anscheinend ganz derselbe wie vor vier Jahren: genau so elegant, genau so unnahbar, beim Eintreten genau so gemessen wie damals, ja, fast war er sogar ebenso jung. Sein leichtes Lächeln war wieder so offiziell freundlich und selbstbewußt, und sein Blick unverändert streng, in sich hineindenkend und doch gleichsam zerstreut. Kurz, es war mir, als hätte ich ihn gestern zuletzt gesehen. Nur eines machte mich stutzig: man hatte ihn zwar immer schön gefunden, aber sein Gesicht glich tatsächlich manchmal einer Maske, wie einzelne gehässige Damen unserer Gesellschaft behaupteten. Jetzt aber – ich weiß nicht, weshalb – jetzt erschien er mir schon auf den ersten Blick von vollendeter, unbestreitbarer Schönheit, so daß man unter keinen Umständen noch hätte sagen können, sein Gesicht erinnere an eine Maske. Kam das vielleicht daher, daß er ein wenig bleicher war als früher und, wie mir schien, ein wenig abgenommen hatte? Oder leuchtete jetzt vielleicht ein neuer Gedanke in seinem Blick?
„Nicolai Wszewolodowitsch!“ rief Warwara Petrowna, sich steif aufrichtend, doch ohne sich von ihrem Lehnstuhl zu erheben, und indem sie den Eingetretenen mit einer befehlenden Handbewegung zum Stehenbleiben zwang – „bleibe dort noch einen Augenblick! ...“
Um die nun folgende furchtbare Frage Warwara Petrownas verstehen zu können (um derentwillen sie ihn mit dieser Bewegung und diesem Befehl nicht nähertreten ließ), diese Frage, die ich Warwara Petrowna nie und nimmer zugetraut hätte, ja, selbst deren Möglichkeit mir undenkbar erschienen wäre, – um diese Frage wirklich zu verstehen, muß man sich zunächst den Charakter Warwara Petrownas vergegenwärtigen, wie er seit jeher war und von welcher ungestümen Gewalttätigkeit er in manchen außergewöhnlichen Augenblicken sein konnte. Ich bitte auch in Erwägung zu ziehen, daß ungeachtet ihrer großen seelischen Festigkeit, des nicht geringen Verstandes und des guten Teiles von Takt- und Zartgefühl, den sie besaß, in ihrem Leben dennoch ständig Augenblicke wiederkehrten, wo sie sich völlig und, wenn man so sagen darf, ohne sich im Zaum zu halten, für etwas einsetzte oder sich für etwas hingab. Ferner bitte ich, nicht zu vergessen, daß der gegenwärtige Augenblick für sie tatsächlich einer von jenen sein konnte, in denen sich plötzlich alles Wesentliche eines Menschenlebens wie in einem Fokus vereinigt – alles Durchlebte, alles Gegenwärtige und ... warum nicht auch alles Zukünftige? Und schließlich sei noch an den anonymen Brief erinnert, den sie erhalten hatte und von dem sie kurz vorher in der Gereiztheit zu Lisas Mutter einiges hatte verlauten lassen, – freilich: ohne den weiteren Inhalt des Briefes zu verraten! Gerade in diesem aber lag vielleicht die ganze Erklärung der Möglichkeit dieser furchtbaren Frage, mit der sie sich jetzt plötzlich an den Sohn wandte.
„Nicolai Wszewolodowitsch,“ wiederholte sie mit fester Stimme, jede Silbe deutlich aussprechend, „ich bitte Sie, hier sofort zu sagen, ohne sich von der Stelle zu rühren, ob es wahr ist, daß diese unglückliche, lahme Person – diese da, sehen Sie sie an! ... Ob es wahr ist, daß das ... Ihre rechtmäßige Frau ist?“[32]
Ich erinnere mich dieses Augenblickes noch heute mit voller Deutlichkeit. Nicolai Wszewolodowitsch zuckte mit keiner Wimper, sah nur unverwandt seine Mutter an. Auch nicht die geringste Veränderung ging auf seinem Gesichte vor. Endlich lächelte er langsam ein gleichsam nachsichtiges Lächeln und trat, ohne ein Wort zu sagen, still auf seine Mutter zu, erfaßte ihre Hand und führte sie ehrerbietig an die Lippen. Und so stark war sein unwiderstehlicher Einfluß auf seine Mutter, daß sie ihre Hand ihm auch jetzt nicht zu entziehen vermochte. Sie blickte ihn nur an und ihre ganze Seele lag in diesem fragenden Blick. Noch ein Augenblick und sie würde, so schien es, die Ungewißheit nicht länger ertragen haben.
Nicolai Wszewolodowitsch aber schwieg auch jetzt noch. Nachdem er ihre Hand geküßt hatte, überflog sein Blick noch einmal die Anwesenden, und mit demselben langsamen Schritt trat er zu Marja Timofejewna. Es ist schwer, die Gesichter der Menschen in gewissen Augenblicken zu beschreiben. In meiner Erinnerung habe ich z. B., daß Marja Timofejewna damals, fast vergehend vor Schreck, sich erhob und die Hände wie ihn anflehend faltete. Aber ich entsinne mich auch, daß zu gleicher Zeit in ihren Augen ein Entzücken aufleuchtete, ein so sinnloses, so maßloses Entzücken, wie Menschen es kaum oder nur schwer zu ertragen vermögen. Vielleicht war beides richtig: der Schreck, wie das Entzücken? Ich weiß es nicht: ich weiß nur, daß ich damals schnell einen Schritt vortrat, weil ich das Gefühl hatte, sie werde sogleich in Ohnmacht fallen.
„Sie können nicht hier bleiben,“ sagte Nicolai Stawrogin mit freundlicher, klangvoller Stimme zu ihr und in seinen Augen, die sie ansahen, lag plötzlich eine große Zärtlichkeit.
Er stand in der ehrerbietigsten Haltung vor ihr und jede Bewegung verriet ungeheuchelte Hochachtung.
Und ungestüm, atemlos, halb flüsternd stammelte die Arme zu ihm empor:
„Aber kann ich ... darf ich ... jetzt gleich ... vor Ihnen niederknien?“
„Nein, das dürfen Sie auf keinen Fall,“ sagte er mit einem entzückenden Zulächeln, so daß sie plötzlich glückselig auflachte.
Und mit derselben melodischen Stimme, gut und lieb, als ob er einem kleinen Kinde zuredete, fügte er ernster hinzu:
„Vergessen Sie nicht, daß Sie ein Mädchen sind und ich Ihr ergebenster Freund zwar, doch immerhin ein Ihnen fremder Mensch bin, weder Ihr Gatte, noch Vater, noch Bräutigam. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen den Arm reiche, und lassen Sie uns gehen. Ich werde Sie zum Wagen führen und, wenn Sie es erlauben, auch nach Hause begleiten.“
Sie hörte ihn an und senkte wie sinnend den Kopf.
„Gehen wir,“ sagte sie dann, seufzte und nahm seinen Arm.
Hierbei geschah ihr aber ein kleines Unglück: sie mußte wohl zu hastig, wahrscheinlich mit ihrem kranken, dem zu kurzen Fuß aufgetreten sein, – jedenfalls knickte sie und fiel seitwärts gegen den Sessel und wäre wohl zu Boden gefallen, wenn Nicolai Wszewolodowitsch sie nicht sofort aufgefangen und gehalten hätte. Er legte ihre Hand auf seinen Arm, stützte sie stark und führte sie, teilnehmend und helfend, behutsam zur Tür. Sie war sichtlich sehr betrübt über ihren Fall, war verlegen und schämte sich schrecklich. Stumm, mit niedergeschlagenen Augen, tief hinkend wackelte sie neben ihm her, fast hängend an seinem Arm. So gingen sie hinaus. Ich sah, wie Lisa, die aus irgendeinem Grunde plötzlich aufsprang, ihnen mit starrem Blick die ganze Zeit nachsah bis zur Tür. Dann setzte sie sich wortlos wieder hin, doch in ihrem Gesicht war ein krampfartiges Zucken, als hätte sie etwas Ekelhaftes berührt.
Während der ganzen Szene zwischen Nicolai Wszewolodowitsch und Marja Timofejewna hatte die größte Stille geherrscht.
Als sich jetzt die Türe hinter ihnen schloß, fingen plötzlich alle auf einmal zu sprechen an.
Das heißt, nein, es wurde nicht gesprochen: es waren wohl nur Ausrufe, die man hörte. Die Reihenfolge derselben habe ich in der allgemeinen Verwirrung, die herrschte, vergessen. Sogar Mawrikij Nicolajewitsch sagte ein paar Worte. Stepan Trophimowitsch rief wieder etwas auf Französisch aus und schlug die Hände zusammen. Doch am meisten ereiferte sich sein Sohn Pjotr Stepanowitsch: er bemühte sich verzweifelt und mit großen Gesten, Warwara Petrowna von etwas zu überzeugen, er wandte sich an Praskowja Iwanowna, er wandte sich an Lisaweta Nicolajewna, ja, er rief im Eifer sogar seinem Vater etwas zu – kurz, er drehte sich mit größter Lebendigkeit im Zimmer umher. Warwara Petrowna hatte sich, hochrot im Gesicht, im ersten Augenblick von ihrem Platz erhoben und erregt Praskowja Iwanowna zugerufen: „Hast du gehört, hast du gehört, was er ihr hier soeben gesagt hat?“ Doch diese konnte nicht mehr antworten; sie winkte nur abwehrend mit der Hand und murmelte etwas Unverständliches: sie hatte eine neue Sorge, und immer wieder wandte sie den Kopf zu Lisa hin – doch aufstehen und davonfahren, das wagte sie nicht mehr, bevor sich die Tochter nicht selbst dazu entschloß. Inzwischen suchte sich der „Hauptmann“ fortzuschleichen, aber der Schreck, der ihm bei dem Erscheinen Nicolai Wszewolodowitschs in die Glieder gefahren war, lähmte ihn noch so sehr, daß er es ungeschickt genug anfing und Pjotr Stepanowitsch ihn, gerade als er aus der Tür schlüpfen wollte, noch am Ärmel erwischte und zurückzog.
„Das ist unbedingt nötig, unbedingt,“ sagte er, seine Silben wieder wie Perlen streuend, zu Warwara Petrowna, die er noch immer von irgend etwas zu überzeugen suchte.
Er stand vor ihr, sie aber hatte sich schon wieder gesetzt und hörte ihn mit Spannung an, woraus hervorging, daß er sich endlich ihre volle Aufmerksamkeit errungen hatte. „Das ist unbedingt nötig, unbedingt! Sie sehen doch selbst, daß hier ein Mißverständnis vorliegt. Es ist aber alles viel einfacher, als es scheint. Ich weiß sehr wohl, daß mich niemand bevollmächtigt hat, Ihnen das alles zu erzählen, und es scheint vielleicht geradezu, daß ich mich Ihnen aufdränge. Aber ganz abgesehen davon, daß Nicolai Wszewolodowitsch selbst dieser ganzen Sache weiter gar keine Bedeutung zuschreibt, gibt es doch auch Fälle, in denen es einem schwer fällt, persönlich die nötigen Erklärungen zu geben – und da ist es denn unbedingt geboten, daß ein anderer sich dazu entschließt, dem es weit leichter fällt, von gewissen zarten Dingen zu sprechen. Glauben Sie mir, Nicolai Wszewolodowitsch war durchaus nicht im Unrecht, als er Ihnen keine radikale Antwort auf Ihre Frage vorhin gab, – ganz abgesehen davon, daß die Geschichte überhaupt nicht so wichtig ist. Ich kenne Nicolai Wszewolodowitsch schon von Petersburg her und ich kann Sie versichern, daß alles, was da vorliegt, ihm nur Ehre macht – wenn man dieses unbestimmte Wort ‚Ehre‘ nun schon einmal gebrauchen soll ...“
„Sie wollen damit sagen, daß Sie Augenzeuge eines Geschehnisses waren, aus dem dann diese ganze ... dieses Mißverständnis entstanden ist?“
„Jawohl, Augenzeuge, und sogar Teilnehmer, wenn Sie wollen,“ bestätigte Pjotr Stepanowitsch schnell.
„Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben können, daß es die Gefühle meines Sohnes zu mir nicht kränken wird, zu mir, der er nicht das Ge–ring–ste verheimlicht ... und wenn Sie dabei so überzeugt sind, daß Sie ihm damit einen Gefallen erweisen –“
„Unbedingt einen Gefallen, und mir selbst wird es ein Vergnügen sein. Ich bin überzeugt, er würde mich selbst darum bitten.“
Es war gewiß sonderbar, daß dieser plötzlich vom Himmel gefallene Mensch so aufdringlich fremde Erlebnisse aufdecken wollte. Er hatte aber an Warwara Petrownas schmerzhafteste Stelle gerührt und sie dahin gebracht, wo er sie zu haben wünschte. Ich selbst wußte damals von diesem Menschen noch so gut wie nichts, um so weniger konnte ich seine Absichten durchschauen.
„Sie meinen?“ sagte Warwara Petrowna, zunächst noch vorsichtig und zurückhaltend, denn sie litt offenbar darunter, daß sie sich so weit herabließ.
Und wieder fielen, eine nach der anderen, die klaren Silben seiner Rede, wie kleine Glasperlen von einer Schnur.
„Die Sache ist ganz einfach. Im Grunde ist es kaum mehr, als eine Anekdote. Ein Romanschriftsteller würde vielleicht einen Roman daraus machen. Und uninteressant ist der Stoff auch wirklich nicht. Praskowja Iwanowna und auch Lisaweta Nicolajewna werden gewiß gern zuhören, denn er enthält, wenn auch nicht wunderbare, so doch viele wunderliche Dinge. Als vor fünf Jahren in Petersburg Nicolai Wszewolodowitsch diesen Herrn Lebädkin, der sich da soeben drücken wollte – Sie sehen, mein abgesetzter Herr Beamter des Proviantwesens, ich kenne Sie noch sehr gut, und nicht minder sind mir, wie Nicolai Wszewolodowitsch, Ihre Gaunerstreiche bekannt, über die Sie noch Rechenschaft zu geben haben werden ... Ich bitte sehr um Entschuldigung, Warwara Petrowna, – vor fünf Jahren also, in Petersburg, da nannte Nicolai Wszewolodowitsch diesen Herrn seinen Falstaff: das muß offenbar irgendein ehemaliger ‚caractère bourlesque‘[95] gewesen sein,“ fügte er plötzlich erklärend hinzu, „– ein Mann, der allen erlaubte, über ihn zu lachen, wenn man ihm dafür nur zahlte. Nicolai Wszewolodowitsch führte damals in Petersburg ein Leben, ich kann mich nicht anders ausdrücken, aber es war ein spottsüchtiges Leben: denn blasiert pflegt dieser Mensch nie zu sein, sich aber mit irgendeiner Arbeit zu beschäftigen, das verschmähte er damals. Ich rede, wie gesagt, nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna. Dieser Lebädkin also hatte eine Schwester bei sich, dieselbe, die soeben hier saß. Bruder und Schwester hatten keinen eigenen Herd. Er trieb sich vor den großen Warenhäusern herum, selbstverständlich stets in seiner alten Uniform, redete von den Vorübergehenden an, wer ihm von ihnen günstig erschien, und vertrank dann das auf diese Weise erbettelte Geld. Das Schwesterlein aber nährte sich wie ein Vogel Gottes, half in den Winkeln und Ecken, wo sie lebte, bald dem einen, bald dem anderen, und verdiente sich so das Notwendigste. Es war das schrecklichste Sodom: ich übergehe die Schilderung dieses Lebens, an dem damals auch Nicolai Wszewolodowitsch aus ‚Verschrobenheit‘ Anteil nahm. Das ist sein eigener Ausdruck. Er pflegt mir vieles nicht zu verheimlichen. Mit Fräulein Lebädkin nun traf er eine Zeitlang öfter zusammen; sie begeisterte sich für ihn und er war – nun, er war so etwas wie der Brillant auf dem schmutzigen Fond ihres Lebens. Doch ich merke, daß ich ein schlechter Schilderer menschlicher Gefühle bin und fahre darum mit den Tatsachen fort. Törichte Leute begannen sie damals gleich zu necken und zu verspotten, und da wurde sie traurig. Überhaupt lachte man dort immer über sie, aber früher hatte sie das nicht bemerkt. Schon damals war ihr Verstand nicht ganz klar, wenn auch lange nicht so schwach und wirr wie jetzt. Es ist anzunehmen, daß sie als Kind – vielleicht dank irgendeiner Wohltäterin – eine etwas bessere Erziehung erhalten hat. Nicolai Wszewolodowitsch schenkte ihr zunächst nicht die geringste Aufmerksamkeit, wenn er dort mit ihrem Bruder und den kleinen Beamten zusammensaß und Karten spielte. Aber einmal, als man sie wieder beleidigte, packte er den betreffenden Beamten einfach am Kragen und warf ihn – es war im zweiten Stock – zum Fenster hinaus. Einen besonderen Unwillen, gekränkte Ritterlichkeit oder dergleichen konnte man an ihm dabei nicht wahrnehmen. Die ganze Szene ging vielmehr unter allgemeinem Gelächter vor sich und am meisten amüsierte sie Nicolai Wszewolodowitsch selbst. Als alles glücklich ohne gebrochene Glieder abgelaufen war, versöhnte man sich wieder und begann Punsch zu trinken. Nur die Lebädkin konnte den Vorfall und ihren Beschützer nicht vergessen – und das endete dann schließlich mit der vollständigen Zerrüttung ihres Verstandes. Ich wiederhole nochmals, daß ich ein schlechter Schilderer von Gefühlen bin. Das Wichtigste war hierbei eben ihr Wahn. Und Nicolai Wszewolodowitsch tat dann noch alles, um ihn zu verstärken. Statt gleichfalls zu lachen, begann er sie plötzlich mit überraschender Hochachtung zu behandeln. Kirilloff, der auch dabei war, – das ist ein sonderbarer und origineller Mensch, Warwara Petrowna, Sie werden ihn vielleicht noch einmal sehen, denn er ist jetzt hier – dieser Kirilloff also, der sonst nur zu schweigen pflegt, sagte plötzlich: er behandelt sie wie eine Marquise und macht sie damit noch ganz verrückt. Und was glauben Sie, was er diesem Kirilloff, den er übrigens achtet, darauf geantwortet hat? ‚Sie scheinen anzunehmen, Herr Kirilloff, daß ich mich über sie lustig mache. Seien Sie versichert, daß ich sie in der Tat denkbar hoch achte, denn sie ist besser, als wir alle.‘ Und das sagte er noch, wissen Sie, in vollkommen ernstem Ton. Dabei hatte er ihr aber in all den Monaten kaum mehr als ‚guten Tag‘ und ‚Adieu‘ gesagt. Jetzt freilich brachte er sie bald so weit, daß sie ihn für ihren Bräutigam hielt, der sie nur infolge von allen möglichen romantischen Familienhindernissen vorläufig nicht ‚entführen‘ könnte – wir aber hatten unser weidliches Vergnügen daran. Die Geschichte endete damit, daß Nicolai Wszewolodowitsch, als er endlich abreisen mußte, das war also vor jetzt etwa vier Jahren – er kam damals hierher zu Ihnen – ihr eine jährliche Pension, ich glaube ungefähr dreihundert Rubel, wenn nicht mehr, aussetzte. Mit einem Wort, es war höchstens der phantastische Streich eines Beschäftigungslosen oder, wie Kirilloff sagte, es war eine neue Etude eines übersättigten Menschen, um zu erfahren, wie weit man eine arme Närrin bringen kann. ‚Sie haben,‘ sagte Kirilloff, ‚sich absichtlich das letzte Geschöpf unter den Menschen ausgesucht, ein krüppeliges Wesen, das sowieso schon mit Schlägen und Schande bedeckt ist, und von dem Sie von vornherein ganz genau wissen, daß es an seiner tragikomischen Liebe zu Ihnen zugrunde gehen muß – und plötzlich beginnen Sie, sie absichtlich zu betrügen, nur um zu sehen, was dabei wohl herauskommen wird.‘ Nun, ich meinerseits sehe nicht ein, wie ein Mensch daran schuld sein soll, wenn ein verrücktes Weib seinetwegen sich tolle Gedanken macht. Ein Weib, wohlverstanden, mit dem der betreffende Mensch kaum ein paar oberflächliche Worte gewechselt hat! Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man nicht nur nicht klug sprechen kann, sondern über die überhaupt zu sprechen schon nicht klug ist. Doch mag es nun Laune oder Sonderbarkeit gewesen sein, aber mehr kann man schon auf keinen Fall sagen; währenddessen aber macht man hier eine ganze Historie daraus ... Ich bin zum Teil darüber unterrichtet, was hier vorgeht.“
Pjotr Stepanowitsch brach plötzlich ab und wandte sich wieder Lebädkin zu. Doch Warwara Petrowna hielt ihn, beinah zitternd vor Aufregung, zurück.
„Sind Sie fertig?“ fragte sie.
„Nein, noch nicht. Zur Vervollständigung möchte ich noch diesen Herrn Lebädkin, wenn Sie gestatten ... Sie werden gleich sehen, um was es sich handelt –“
„Genug, später, warten Sie einen Augenblick, ich bitte Sie! Oh, wie gut war es doch, daß ich Sie sprechen ließ!“
„Und vergessen Sie nicht, Warwara Petrowna,“ Pjotr Stepanowitsch fuhr gleichsam auf, „daß Nicolai Wszewolodowitsch persönlich Ihnen überhaupt keine Antwort auf Ihre Frage geben konnte – die vielleicht wirklich etwas zu kategorisch war.“
„Oh ja, das war sie nur zu sehr!“
„Und hatte ich nicht Recht, als ich sagte, einem Fremden ist es leichter, gewisse Dinge zu erklären, als einem Beteiligten?“
„Ja, ja ... aber in einer Beziehung haben Sie sich doch geirrt, und wie ich mit Bedauern sehe, irren Sie sich auch jetzt noch.“
„Wirklich? Und worin wäre das?“
„Ja, sehen Sie ... Aber wie wäre es, wenn Sie sich setzten, Pjotr Stepanowitsch?“
„Oh, wie Sie wünschen, ich bin auch müde, besten Dank.“
Er zog gewandt einen Sessel heran und drehte ihn so, daß er zwischen Warwara Petrowna und Praskowja Iwanowna, die sich am Tisch niedergelassen hatte, sitzen konnte, während Lebädkin, den er nicht aus dem Auge ließ, ihm nun gerade gegenüber stand.
„Ich meine, Sie irren sich, wenn Sie dieses eine ‚Laune‘, eine ‚Sonderbarkeit‘ nennen ...“
„Oh, wenn es nur das ist –“
„Nein, nein, nein, warten Sie,“ unterbrach ihn Warwara Petrowna, die sich offenbar zu einem langen und eingehenden Gespräch vorbereitete.
Kaum gewahrte das Pjotr Stepanowitsch, da war er schon die Aufmerksamkeit selbst.
„Nein, das ist etwas Höheres als eine Laune. Das ist, ich versichere Sie, beinahe etwas Heiliges. Das ist Prinz Heinz, wie ihn Stepan Trophimowitsch früher so treffend nannte, und was vollkommen richtig wäre, wenn er nicht noch mehr an Hamlet erinnern würde.“
„Et vous avez raison,“[96] bestätigte Stepan Trophimowitsch mit Empfindung und Nachdruck.
„Ich danke Ihnen, Stepan Trophimowitsch. Ich danke Ihnen ganz besonders für Ihren unerschütterlichen Glauben an Nicolas, an den Adel seiner Seele. Diesen Glauben haben Sie auch in mir befestigt, als ich den Mut schon verlieren wollte.“
„Chère, chère ...“
Stepan Trophimowitsch wollte schon vortreten, überlegte aber dann doch, daß es immerhin gewagt wäre, sie zu unterbrechen.
„Und wenn Nicolas stets einen stillen, treuen und starken Horatio neben sich gehabt hätte – auch einer Ihrer schönen Vergleiche, Stepan Trophimowitsch –, so wäre er vielleicht längst erlöst“ (Warwara Petrowna geriet schon in einen singenden Ton) „von diesem ‚Dämon der Ironie‘ – auch diesen Ausdruck hat Stepan Trophimowitsch geprägt, – der ihn sein Lebelang martert. Doch Nicolas hat nie weder einen Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hat nur eine Mutter gehabt. Aber was kann eine Mutter in solchen Dingen tun? Wissen Sie, Pjotr Stepanowitsch, es ist mir jetzt vollkommen klar, daß ein Mensch wie Nicolas sogar in diese schmutzigen Winkel hinabsteigen konnte. Ich begreife jetzt alles. Ich begreife diese Lust zum Spott über das Leben, auf die auch Sie vorhin so vorzüglich hinwiesen. Ich begreife diesen unersättlichen Durst nach Gegensätzen, diesen trüben und unheimlichen Hintergrund seines damaligen Lebens, von dem er sich dann wie eine leuchtende Erscheinung abhob. Und in dieser schrecklichen Welt trifft er dann ein Wesen, das alle beleidigen und verspotten, eine Krüppelige, eine Irrsinnige, und zugleich doch einen Menschen, der die edelsten Gefühle hat! ...“
„Hm ... ja, nehmen wir an –“
„Und Sie sagen, Sie können nicht begreifen, weshalb er zunächst nicht wie alle die anderen über sie lacht! Oh, ihr Menschen! Und Sie können nicht verstehen, daß er sie dann vor den Beleidigern beschützt und sie wie eine ‚Marquise‘ behandelt! Dieser Kirilloff muß ein tiefer Menschenkenner sein, wenn er auch Nicolas nicht verstanden hat! Ja, vielleicht ist es gerade dieser Kontrast, aus dem diese ganze unselige Geschichte entstanden ist. Wäre die Beklagenswerte in anderen Verhältnissen, in einer anderen Umgebung gewesen, dann hätte sie wohl überhaupt nicht diesen törichten Gedanken gefaßt. Das allerdings, Pjotr Stepanowitsch, kann nur eine Frau verstehen, und wie schade ist es doch, daß Sie ... das heißt ... ich will natürlich nicht sagen, wie schade, daß Sie keine Frau sind, aber daß Sie das ganze Verständnis einer Frau nun einmal nicht haben können.“
„Das heißt also: je schlimmer, desto besser – ich verstehe, ich verstehe schon, Warwara Petrowna. Das ist so, wie in der Religion und im Staat: je schlechter es ein Mensch im Leben hat, oder je unterdrückter ein Volk ist, desto eigensinniger wird an die Belohnung, die einen im Jenseits erwartet, gedacht. Und wenn dabei noch hunderttausend Geistliche mitwirken und den Gedanken anfachen, auf den sie selbst spekulieren, so ... oh, ich verstehe Sie, Warwara Petrowna, seien Sie unbesorgt.“
„Ich glaube – doch wohl nicht so ganz. Aber sagen Sie, hätte denn Nicolas, um jenen unseligen Gedanken in diesem unglücklichen Organismus zu ertöten,“ (weshalb sie hier dieses Wort gebrauchte, verstand ich nicht) „hätte er wirklich ebenso über sie lachen und höhnen müssen, wie die anderen rohen Kumpane? Begreifen Sie denn wirklich nicht dieses große Mitleiden, diesen edlen Schauer einer edlen Seele, mit dem Nicolas plötzlich ernst diesem Kirilloff antwortet: ‚Ich lache durchaus nicht über sie.‘ Oh, diese vornehme, diese heilige Antwort.“
„Sublime!,“[97] murmelte Stepan Trophimowitsch.
„Und vergessen Sie nicht, er ist durchaus nicht reich, wie Sie vielleicht denken: ich bin reich, aber nicht er, und damals hat er meine Hilfe niemals in Anspruch genommen.“
„Ich verstehe das, ich verstehe das alles, Warwara Petrowna,“ beteuerte Pjotr Stepanowitsch und bewegte sich bereits etwas ungeduldig auf seinem Stuhl.
„Oh, das ist mein Charakter! In Nicolas erkenne ich mich selbst wieder. Ich kenne diese Jugend, diese Möglichkeiten stürmisch drängender Ausbrüche ... Und wenn wir uns jemals nähertreten sollten, Pjotr Stepanowitsch, was ich meinerseits aufrichtig wünsche, um so mehr, als ich Ihnen schon so verpflichtet bin, so werden Sie dann vielleicht verstehen –“
„Oh, auch ich wünsche, glauben Sie mir –“
„– Diesen Drang, in dem man in blindem Edelmute plötzlich einen Menschen nimmt, womöglich einen, der unser gar nicht wert ist, einen Menschen, der Sie nicht im geringsten versteht und bereit ist, Sie bei jeder Gelegenheit zu quälen: und diesen Menschen macht man plötzlich wider alle Vernunft zu seinem Idealbild, zu seinem Wahnbild, legt in ihn alle Hoffnungen, beugt sich vor ihm, liebt ihn sein Lebelang, ohne auch nur zu wissen weshalb, – vielleicht gerade deshalb, weil er das gar nicht verdient hat ... Oh, wie ich mein ganzes Leben lang gelitten habe, Pjotr Stepanowitsch!“
Stepan Trophimowitsch suchte erregt meinen Blick, doch ich konnte mich noch rechtzeitig abwenden.
„Und noch vor kurzem, noch vor kurzem – oh, wie viel mir Nicolas verzeihen muß! ... Sie werden es mir nicht glauben, wie alle mich gequält haben! Gequält von allen Seiten, alle, alle, Feinde und Freunde, und die Freunde vielleicht noch mehr als die Feinde. Und als ich den ersten anonymen Brief erhielt, Pjotr Stepanowitsch, Sie werden es mir nicht glauben, aber meine Verachtung reichte einfach nicht aus für diese ganze Gemeinheit ... Nie, nie werde ich mir diesen Kleinmut vergeben!“
„Von diesen anonymen Briefen habe ich schon gehört,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, plötzlich wieder belebt, „seien Sie unbesorgt, den Verfasser werde ich schon herausbekommen.“
„Aber Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was für Intriguen hier gesponnen worden sind! Sogar unsere arme Praskowja Iwanowna hat man beunruhigt – und dazu war doch wirklich kein Grund vorhanden! Liebe Praskowja Iwanowna, heute mußt du mir schon verzeihen,“ fügte sie plötzlich in einer großmütigen Regung hinzu, aber doch nicht ohne einen leisen triumphierenden Klang in der Stimme.
„Schon gut, meine Liebe,“ murmelte diese widerwillig. „Ich aber meine, man könnte jetzt endlich aufhören, es ist schon viel zu viel gesprochen worden.“ Und wieder sah sie scheu ihre Lisa an, die aber blickte auf Pjotr Stepanowitsch.
„Und dieses arme, unglückliche Geschöpf, diese Irrsinnige, die alles verloren, nur das Herz behalten hat, die – werde ich in mein Haus aufnehmen!“ rief Warwara Petrowna plötzlich entschlossen aus. „Das ist eine heilige Pflicht und ich will sie erfüllen! Vom heutigen Tage an stelle ich sie unter meinen Schutz!“
„Und das wird sogar sehr gut sein, in einem gewissen Sinne wenigstens!“ Pjotr Stepanowitsch war wieder ganz Leben. „Entschuldigen Sie, aber vorhin bin ich nicht ganz zu Ende gekommen. Gerade was den Schutz betrifft. Stellen Sie sich vor, Warwara Petrowna, – ich fange dort an, wo ich stehen blieb, – stellen Sie sich also vor, daß damals, als Nicolai Wszewolodowitsch fortgefahren war, dieser Herr da drüben, dieser Herr Lebädkin, nichts Besseres zu tun wußte, als das seiner Schwester ausgesetzte Geld eilends und restlos zu vertrinken. Ich weiß nicht genau, in welcher Weise Nicolai Wszewolodowitsch die Zahlungsart in der ersten Zeit angeordnet hatte. Ich weiß nur, daß er sich schließlich genötigt sah, wenn er Lebädkins Schwester einigermaßen sicherstellen wollte, sie in einem fernen Kloster unterzubringen – was denn auch geschah, selbstredend unter aller nur denkbaren Rücksicht auf ihre Person, aber unter freundschaftlicher Aufsicht, Sie verstehen schon! Doch was glauben Sie wohl, wozu Herr Lebädkin sich entschloß? Erst suchte er mit aller Gewalt zu erfahren, wo man sein Zinspapier, das heißt also seine Schwester, untergebracht hatte, und dann, als ihm dies gelungen war, erwirkte er, indem er irgendwelche Rechte vorschützte, daß man sie ihm herausgab, und darauf schleppte er sie hierher. Hier nun gab er ihr nichts zu essen, sondern schlug sie, und als er auf irgendeine Weise von Nicolai Wszewolodowitsch eine größere Geldsumme herausbekommen hatte, ging das alte, wüste Trinkleben sofort von neuem an. Von Dankbarkeit Nicolai Wszewolodowitsch gegenüber natürlich keine Spur; im Gegenteil, nur sinnlose neue Forderungen stellte er an ihn und drohte gar mit dem Gericht, wenn er nicht Zahlungen erhalten würde – nahm also frech als pflichtmäßig an, was freiwillig war. – Herr Lebädkin, ist alles wahr, was ich hier soeben gesagt habe?“
Der „Hauptmann“, der bis dahin stumm und mit gesenkten Augen dagestanden hatte, trat schnell zwei Schritte vor, – das Blut schoß ihm ins Gesicht.
„Pjotr Stepanowitsch ... Sie haben mich ... grausam behandelt,“ brachte er stockend hervor.
„Wieso grausam? Doch über Grausamkeit oder Zartheit können wir später sprechen, jetzt aber wollen Sie mir gefälligst auf meine Frage antworten: ist alles wahr, was ich hier gesagt habe, oder nicht?“
„Ich ... Sie wissen ja selbst, Pjotr Stepanowitsch ...“ der „Hauptmann“ stockte und schwieg.
Pjotr Stepanowitsch saß im Lehnstuhl mit übergeschlagenen Beinen und Lebädkin stand in der ehrerbietigsten Haltung vor ihm. Lebädkins Unentschlossenheit schien Pjotr Stepanowitsch sehr wenig zu gefallen: in seinem Gesicht zuckte es und sein Ausdruck wurde böse.
„Ja, wollen Sie nicht vielleicht etwas sagen?“ fragte Pjotr Stepanowitsch scharf, wobei er mit zusammengekniffenen Augen durchdringend den „Hauptmann“ anblickte. „In dem Falle – bitte. Haben Sie die Güte, wir hören.“
„Sie wissen doch selbst, Pjotr Stepanowitsch, daß ich nichts sagen kann.“
„Nein, das weiß ich durchaus nicht, höre es sogar zum erstenmal; warum können Sie denn nicht?“
Lebädkin schwieg und blickte zu Boden.
„Erlauben Sie mir, Pjotr Stepanowitsch, fortzugehen,“ sagte er endlich entschlossen.
„Nicht, bevor Sie mir eine Antwort auf meine Frage gegeben haben. Noch einmal: ist alles wahr, was ich gesagt habe?“
„Ja, es ist wahr,“ sagte Lebädkin dumpf und blickte kurz zu seinem Peiniger auf.
An seinen Schläfen trat sogar Schweiß hervor.
„Ist alles wahr?“
„Alles ist wahr.“
„Haben Sie nicht noch etwas hinzuzufügen, oder zu bemerken? Wenn Sie fühlen, daß wir Ihnen irgendwie Unrecht getan haben, so sagen Sie es. Protestieren Sie, geben Sie laut Ihre Unzufriedenheit kund!“
„Nein, ich habe nichts ...“
„Haben Sie vor kurzem Nicolai Wszewolodowitsch gedroht?“
„Das ... das ... war mehr Alkohol, Pjotr Stepanowitsch!“ (Er hob plötzlich den Kopf.) „Pjotr Stepanowitsch! Wenn die beleidigte Familienehre und die unverdiente Schande im Menschenherzen aufheulen, ist dann – ist dann wirklich der Mensch noch verantwortlich?“ brüllte er plötzlich wieder los, wie vorher sich nicht mehr im Zaum haltend.
„Sind Sie nüchtern, Herr Lebädkin?“ Pjotr Stepanowitsch sah ihn durchdringend an.
„Ich ... bin nüchtern.“
„Was soll das bedeuten: ‚beleidigte Familienehre‘ und ‚unverdiente Schande‘?“
„Das habe ich nur so ... ich wollte niemanden ...“ Der Hauptmann sank wieder zusammen.
„Meine Bemerkungen über Sie und Ihr Benehmen scheinen Sie gekränkt zu haben. Sie sind ja sehr empfindlich, Herr Lebädkin. Aber erlauben Sie mal, ich habe doch noch gar nichts über Ihr Benehmen im eigentlichen Sinne gesagt. Ich werde erst anfangen, über Ihr Benehmen im eigentlichen Sinne zu sprechen. Ja, es ist sogar sehr leicht möglich, daß ich davon anfangen werde ...“
Lebädkin erzitterte plötzlich und starrte wahrhaft entsetzt Pjotr Stepanowitsch an.
„Pjotr Stepanowitsch, ich fange jetzt erst an, aufzuwachen!“
„Hm! Und ich bin es wohl, der Sie jetzt aufgeweckt hat?“
„Ja, Sie haben mich aufgeweckt, Pjotr Stepanowitsch, ich aber habe vier Jahre unter der schwebenden Wolke geschlafen ... kann ich jetzt fortgehen, Pjotr Stepanowitsch?“
„Jetzt können Sie es ... wenigstens, wenn nicht Warwara Petrowna –?“
Die aber winkte nur mit beiden Händen ab.
Der „Hauptmann“ verbeugte sich und ging, doch nach drei Schritten blieb er plötzlich wieder stehen, preßte die Hand aufs Herz, wollte etwas sagen, tat es aber doch nicht – und ging dann endlich schnell zur Türe. Doch gerade wie er hinaus wollte, wurde sie von außen geöffnet und er stieß mit Nicolai Wszewolodowitsch beinahe zusammen. Der „Hauptmann“ duckte sich gleichsam vor ihm und erstarb auf der Stelle, ohne seine Augen von ihm abwenden zu können, wie ein Kaninchen vor einer Riesenschlange.
Einen Augenblick wartete Stawrogin, dann schob er ihn mit der Hand leicht zur Seite und trat ein.
Stawrogin war heiter und ruhig. Möglich, daß er etwas sehr Angenehmes erfahren hatte, was wir noch nicht wußten ... jedenfalls war er, wie es schien, mit irgend etwas ganz ausnehmend zufrieden.
„Kannst du mir verzeihen, Nicolas?“ Warwara Petrowna konnte sich nicht bezwingen und erhob sich sogar eilig ihm entgegen.
„Das fehlte noch!“ rief er gutmütig und scherzhaft. „Ich sehe schon, es ist euch alles bekannt. Und ich machte mir bereits Vorwürfe während der Fahrt in der Equipage: ‚Wenigstens hätte ich doch den Scherz erzählen müssen, denn sonst, wer geht denn so fort.‘ Als mir aber einfiel, daß Pjotr Stepanowitsch hier geblieben war, sprang die Sorge von mir ab.“
Während er sprach, blickte er sich flüchtig im Zimmer um.
„Pjotr Stepanowitsch hat uns eine alte Petersburger Geschichte aus dem Leben eines eigentümlichen Menschen erzählt,“ sagte Warwara Petrowna, noch ganz entzückt, „eines launischen, eines halb wahnsinnigen Menschen, der aber in seinen Gefühlen immer edel bleibt, immer adlig, immer ritterlich –“
„Also so hoch habt ihr mich schon erhoben,“ scherzte Stawrogin. „Übrigens bin ich Pjotr Stepanowitsch diesmal sehr dankbar für seine Eilfertigkeit“ (hier tauschte er mit ihm einen blitzartig kurzen Blick). „Sie müssen nämlich wissen, maman, daß Pjotr Stepanowitsch stets der allgemeine Friedensstifter ist: das ist nun einmal seine Rolle, seine Krankheit, sein Steckenpferd, und in der Beziehung kann ich ihn besonders empfehlen. Übrigens kann ich mir schon denken, worüber er hier Bericht erstattet hat. Er erstattet ja immer Bericht, wenn er etwas erzählt. In seinem Kopf hat er eine Kanzlei. Man merke sich nur, daß er in seiner Eigenschaft als Realist nicht lügen kann und daß die Wahrheit ihm teurer ist als der Erfolg ... selbstverständlich außer in jenen besonderen Fällen, wenn ihm der Erfolg teurer ist als die Wahrheit.“ (Stawrogin sah sich, während er sprach, immer noch um.) „Sie sehen also, maman, daß nicht Sie mich um Verzeihung zu bitten haben, und daß, wenn hier irgendwo eine Schuld ist, sie natürlich nur mich treffen kann ... oder sagen wir, wenn hier eine Verrücktheit vorliegt, ich folglich der Verrückte bin – man muß doch seinen Ruf aufrechterhalten!“ und er umarmte seine Mutter und küßte sie zärtlich. „Jedenfalls aber ist die Sache jetzt erzählt, und ich dächte, nun könnte man aufhören, von ihr zu sprechen.“ Seine letzten Worte hatten plötzlich einen trockenen, harten Unterton.
Warwara Petrowna kannte diesen Ton, doch ihre Erregung verging deshalb noch nicht, sogar im Gegenteil.
„Aber wie kommt es nur, daß du heute schon hier bist, Nicolas, du wolltest doch erst in einem Monat –“
„Ich werde Ihnen natürlich alles erzählen, maman, doch augenblicklich –“ Und er trat zu Praskowja Iwanowna.
Doch diese schien ihn diesmal überhaupt nicht bemerken zu wollen: während noch vor einer halben Stunde, als er zum ersten Male erschienen war, ihre ganze Aufmerksamkeit von ihm in Anspruch genommen wurde, war diese jetzt auf etwas ganz anderes gelenkt. In dem Augenblick, als der „Hauptmann“ mit Stawrogin beinahe zusammengestoßen war, hatte Lisa plötzlich zu lachen angefangen – zuerst nur leise und verhalten, dann aber immer lauter und bemerkbarer. Sie wurde rot. Dieser Gegensatz zu ihrem kurz vorher noch so düsteren Aussehen war doch zu auffallend. Als Nicolai Wszewolodowitsch noch mit Warwara Petrowna sprach, winkte sie Mawrikij Nicolajewitsch zu sich heran, als wolle sie ihm etwas sagen: doch kaum beugte er sich zu ihr nieder, da lachte sie schon von neuem. Ja, es schien, als lache sie geradezu über den armen Mawrikij Nicolajewitsch. Dabei strengte sie sich furchtbar an, ernst zu bleiben, und preßte immer wieder ihr Taschentuch an die Lippen, doch es gelang ihr nicht, sich zu bezwingen.
Nicolai Wszewolodowitsch trat mit der unschuldigsten, aufrichtigsten Miene an sie heran, um sie zu begrüßen.
„Verzeihen Sie, bitte,“ sagte sie schnell, „Sie ... Sie haben gewiß auch Mawrikij Nicolajewitsch gesehen ... Gott, wie verboten lang Sie sind, Mawrikij Nicolajewitsch!“ Und wieder lachte sie.
Mawrikij Nicolajewitsch war allerdings hoch von Wuchs, aber durchaus nicht so auffallend, wie sie es plötzlich zu finden schien.
„Sie ... sind vor nicht langer Zeit angekommen?“ fragte sie, sich gewaltsam zusammennehmend, sogar verlegen, doch mit blitzenden Augen.
„Vor ungefähr zwei Stunden,“ antwortete Stawrogin und sah sie aufmerksam an. Ich muß hier bemerken, daß er ungewöhnlich zurückhaltend war in seiner Höflichkeit, doch ohne diese würde er vollständig gleichgültig, fast gelangweilt ausgesehen haben.
„Und wo werden Sie wohnen?“
„Hier.“
Warwara Petrowna beobachtete sie gleichfalls, plötzlich fiel ihr etwas ein.
„Aber Nicolas, wo warst du denn bis jetzt, diese zwei Stunden?“ fragte sie erstaunt, „der Zug kommt doch um zehn Uhr an.“
„Ich brachte zuerst Pjotr Stepanowitsch zu Kirilloff. Ich hatte ihn in Matwejewo (drei Stationen vor unserer Stadt), getroffen. So fuhren wir die letzte Strecke zusammen.“
„Ich aber wartete schon seit Mitternacht in Matwejewo,“ griff Pjotr Stepanowitsch schnell in das Gespräch ein. „Unsere letzten Wagen waren in der Nacht aus den Schienen gesprungen, wir hätten uns beinahe noch die Beine gebrochen!“
„Mein Gott,“ rief Lisa, „Mama, und wir wollten in der vorigen Woche auch nach Matwejewo fahren!“
„Gott erbarme dich!“ Praskowja Iwanowna bekreuzte sich.
„Ach, Mama, Mama, liebe Mama, erschrecken Sie nicht, wenn ich mir bei einer solchen Gelegenheit auch einmal ein Bein breche, mir könnte das ja nur zu leicht geschehen! Sie sagen doch selbst, daß ich jeden Tag nur ausreite, um mir das Genick zu brechen. Mawrikij Nicolajewitsch, würden Sie mich führen, wenn ich hinke?“ fragte sie wieder lachend. „Ich würde dann nur Ihnen erlauben, mich zu führen, verlassen Sie sich darauf! Sagen wir, ich breche mir ein Bein? – Aber so seien Sie doch so liebenswürdig, Mawrikij Nicolajewitsch, und sagen Sie sofort, daß Sie sich glücklich schätzen würden!“
„Was kann das für ein Glück sein, wenn man ein Krüppel ist?“ sagte Mawrikij Nicolajewitsch ernstlich ungehalten.
„Dafür würden Sie allein mich führen dürfen, nur Sie, sonst niemand!“
„Auch dann würden Sie mich führen, Lisaweta Nicolajewna,“ sagte der Offizier leise und noch ernster.
„Gott, er wollte einen Witz machen,“ rief Lisa fast entsetzt aus. „Mawrikij Nicolajewitsch, unterstehen Sie sich niemals, einen Witz zu machen! Aber Sie sind wirklich bis zu einem unglaublichen Grade Egoist! Doch ich bin überzeugt, zu Ihrer Ehre sei es gesagt, daß Sie sich selbst verleumden. Im Gegenteil, Sie würden mir von früh bis spät versichern, daß ich ohne Fuß weit interessanter sei! Eines ist aber unvereinbar: Sie sind übermäßig lang, ich aber würde, wenn ich hinken müßte, ganz klein sein – wir würden also ein schlechtes Paar abgeben!“
Und sie lachte krampfhaft.
Die Anspielungen waren flach und herbeigezogen, doch ihr war es diesmal offenbar nicht um den Ruhm zu tun, geistreich zu sein.
„Hysterie,“ flüsterte mir Pjotr Stepanowitsch zu, „ein Glas Wasser, schnell!“
Er hatte es erraten: eine Minute später liefen wir hin und her und endlich brachte man denn auch Wasser. Lisa umarmte ihre Mutter, küßte sie leidenschaftlich, weinte verzweifelt – bis sie dann plötzlich wieder auflachte. Darauf fing auch die Alte zu weinen an. Da führte denn Warwara Petrowna sie beide durch dieselbe Tür, durch die Darja Pawlowna eingetreten war, hinaus. Doch sie blieben nicht lange im Nebenzimmer, sondern erschienen schon nach wenigen Minuten wieder im Salon.
Kaum waren sie draußen, da trat Stawrogin an uns heran und begrüßte uns – außer Schatoff, der noch immer in seiner Ecke saß und den Kopf womöglich noch tiefer gesenkt hielt. Stepan Trophimowitsch versuchte sogleich, irgendein geistreiches Gespräch anzuknüpfen, doch Stawrogin wandte sich ab und wollte zu Darja Pawlowna gehen. Unterwegs jedoch hielt ihn Pjotr Stepanowitsch auf, der ihn fast mit Gewalt zum Fenster zog und ihm dort etwas anscheinend sehr Wichtiges zuzuflüstern begann. Nicolai Wszewolodowitsch freilich hörte, während der andere lebhaft gestikulierte, nur zerstreut, fast gelangweilt zu, mit seinem offiziellen, leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen – und schließlich wurde er ungeduldig und machte sich los.
In diesem Augenblick traten die Damen wieder ein.
Warwara Petrowna führte Lisa zu ihrem alten Platz und versicherte lebhaft, daß es den gereizten Nerven unmöglich gut tun könne, wenn sie gleich an die frische Luft ginge: sie solle sich doch erst wenigstens zehn Minuten erholen! Und sie setzte sich neben Lisa und bemühte sich in einer schon recht auffallenden Weise um diese.
Pjotr Stepanowitsch lief auch gleich hinzu und begann ein lebhaftes und lustiges Gespräch.
Währenddessen trat nun Stawrogin endlich mit seinen langsamen Schritten zu Darja Pawlowna. Dascha schrak förmlich zurück, als sie ihn auf sich zukommen sah, und feuerrot, verwirrt, fast taumelnd erhob sie sich schnell.
„Ich glaube, man kann Ihnen gratulieren ... oder noch nicht?“ Er fragte es mit einem sonderbaren Zug um den Mund, den ich noch nie an ihm bemerkt hatte.
Dascha antwortete ihm irgend etwas, aber die Worte konnte ich nicht verstehen.
„Verzeihen Sie, bitte, die Aufdringlichkeit,“ sagte er und sprach lauter, „aber Sie wissen doch, daß man mich absichtlich davon benachrichtigt hat? Wissen Sie das?“
„Ja, ich weiß, daß Sie absichtlich davon benachrichtigt worden sind.“
„Nun, ich hoffe, mein Glückwunsch hat nicht gestört,“ meinte er lachend, – „und wenn Stepan Trophimowitsch ...“
„Wozu, wozu gratulieren?“ Pjotr Stepanowitsch lief schnell herbei, „wozu, wozu gratulieren, Darja Pawlowna? Bah! doch nicht etwa dazu? Wirklich! Ihre Farbe beweist, daß ich recht geraten habe! In der Tat gibt es doch nur eine einzige Art Glückwunsch, bei dem unsere schönen, sittsamen jungen Damen zu erröten pflegen. Nun, so empfangen Sie ihn denn auch von mir, wenn ich’s richtig erraten habe! Bezahlen Sie aber auch bitte die Wette! Sie werden sich doch noch erinnern, daß wir in der Schweiz gewettet haben? Sie sagten, daß Sie niemals heiraten würden und ich sagte das Gegenteil. Nun, und eigentlich bin ich ja halbwegs deshalb aus der Schweiz hierher gereist ... Apropos – Schweiz! Aber sag mir doch,“ er drehte sich schnell zu Stepan Trophimowitsch herum, „wann fährst du denn jetzt in die Schweiz?“
„Ich? ... in die Schweiz?“ fragte Stepan Trophimowitsch überrascht und verwirrt.
„Ja, wie denn? Fährst du denn nicht? Aber du heiratest doch ... du schriebst es doch!“
„Pierre!“ rief Stepan Trophimowitsch streng.
„Was denn, Pierre! Sieh mal, wenn es dir angenehm zu hören ist, so bin ich hierher geflogen, um dir mitzuteilen, daß ich durchaus nichts dagegen einzuwenden habe! Du wolltest doch meine Meinung möglichst bald wissen! Wenn man dich aber ‚retten‘ muß, wie du in demselben Brief schreibst, so stehe ich dir dito zu Diensten. Ist es wahr, daß er heiratet, Warwara Petrowna?“ und wieder drehte er sich schnell zu dieser. „Ich nehme an, daß ich hier nicht von Geheimnissen rede. Er schreibt ja selbst, daß die ganze Stadt es bereits weiß, daß ihm alle bereits ihre Glückwünsche darbringen wollen, und daß er, um dem zu entgehen, nur noch in der Nacht das Haus verlassen kann. Den Brief habe ich in der Tasche. Ganz klug bin ich freilich nicht aus ihm geworden. Sag selbst, Stepan Trophimowitsch, was soll man nun eigentlich: – soll man dir ‚gratulieren‘? – oder soll man dich ‚retten‘? Sie glauben nicht, Warwara Petrowna, unmittelbar neben den glücklichsten Zeilen stehen solche der größten Verzweiflung. Zunächst bittet er mich um Verzeihung: nun, schön, das sind so seine Sentimentalitäten ... Aber übrigens – nein, es ist unmöglich, nicht davon zu sprechen: stellen Sie sich vor, er hat mich im ganzen Leben nur zweimal gesehen, und auch dann nur zufällig; jetzt plötzlich aber, wie er sich zum dritte Male verheiraten will, bildet er sich ein, damit mir gegenüber irgendwelche väterlichen Pflichten zu verletzen. Und so fleht er mich tatsächlich über tausend Werst hinweg an, ihm nicht böse zu sein und meine Erlaubnis zu seiner Vermählung zu geben! Du, ärgere dich bitte nicht, Stepan Trophimowitsch, es ist ein Zug unserer Zeit, alles zu verstehen, und ich verurteile dich ja auch nicht, ja, schließlich macht dir das alles sogar, wie man das zu nennen pflegt, nur Ehre, usw., usw. Doch davon wollte ich ja gar nicht sprechen. Die Hauptsache ist vielmehr, daß mir – nun, eben die Hauptsache nicht klar ist. Schreibst da irgend etwas von Schweizer Sünden ... ‚Heirate sozusagen fremde Sünden‘, oder wie du dich da ausdrückst, – mit einem Wort: ‚Sünden‘ sind dabei. ‚Das Mädchen‘, schreibst du, ‚ist ein Juwel‘, und du, nun natürlich, du bist ihrer ‚nicht wert‘. Das ist nun einmal sein Stil,“ sagte er wieder zu Warwara Petrowna gewandt. „Wegen irgendwelcher ‚fremden Sünden‘ ist er ‚gezwungen, zum Altar zu gehen und in die Schweiz zu reisen‘, und darum: ‚fliege her, um mich zu retten!‘ Begreifen Sie etwas? Aber ich sehe ... mir scheint ... ich bemerke am Ausdruck der Gesichter, daß –“ er drehte sich nach allen Seiten um und sah die Anwesenden mit dem unschuldigsten Lächeln an, – „daß ich nach meiner Gewohnheit wieder einmal eine Dummheit gemacht habe ... mit meiner Aufrichtigkeit, oder, wie Nicolai Wszewolodowitsch sagt – Eilfertigkeit ... Ich glaubte doch, daß wir hier unter Freunden sind? Das heißt selbstverständlich unter deinen Freunden, Stepan Trophimowitsch, nur unter deinen, denn ich bin hier ja fremd ... und nun sehe ich ... sehe ich, daß alle irgend etwas wissen, und nur ich dieses ‚Etwas‘ nicht weiß ...“
Er sah sich noch immer im Kreise um.
„So hat Ihnen Stepan Trophimowitsch geschrieben, daß er ‚fremde Sünden‘ heiraten müsse?“ Warwara Petrowna trat mit entstelltem, fast gelbem Gesicht und zuckenden Mundwinkeln auf Pjotr Stepanowitsch zu.
„Ja, sehen Sie, das heißt, wenn ich hier etwas nicht verstanden haben sollte, so ist das natürlich meine Schuld. Aber ich denke doch ... selbstverständlich: er schreibt so! Hier habe ich ja den Brief – den wichtigsten. Wissen Sie, Warwara Petrowna, endlose Briefe und schließlich einfach ein Brief nach dem anderen, so daß ich sie später gar nicht mehr zu Ende las ... Verzeih mir das Geständnis, Stepan Trophimowitsch, aber, nicht wahr, im Grunde hast du sie, wenn du sie auch an mich adressiert hast, doch mehr für die Nachgeborenen geschrieben. Reg’ dich nicht auf, es macht ja weiter nichts. Aber diesen Brief hier, Warwara Petrowna, den habe ich ganz gelesen. Denn diese ‚Sünden‘, diese ‚fremden Sünden‘: das sind doch bestimmt irgendwelche von seinen eigenen Sünden und ich könnte wetten, die allerunschuldigsten – er aber macht daraus selbstredend eine furchtbare Geschichte, so eine mit einem edlen Zuge, und vielleicht ist die ganze Geschichte nur um dieses Zuges willen herbeigezogen. Es gibt da nämlich noch gewisse Abrechnungen, die nicht ganz stimmen mögen, wozu das verheimlichen! Denn, wissen Sie, man muß es doch endlich gestehen, wir pflegen dem Kartenspiel nun einmal etwas zugetan zu sein ... Aber nein, Verzeihung, das ist schon überflüssig, das ist schon wirklich ganz überflüssig, Verzeihung! Doch was ich sagen wollte, Warwara Petrowna, erschreckt hat er mich tatsächlich, und ich schickte mich schon allen Ernstes an, ihn zu ‚retten‘. Bin ich denn ein Halsabschneider? Er schreibt da etwas von einer Mitgift ... Aber übrigens, heiratest du nun wirklich, Stepan Trophimowitsch? Doch wir reden hier und reden und ich langweile Sie bestimmt nur ... und Sie, Warwara Petrowna, verurteilen mich gewiß ...“
„Im Gegenteil, im Gegenteil, ich sehe nur, daß Sie die Geduld verloren haben und dazu hatten Sie ja auch Grund genug,“ sagte Warwara Petrowna mit einem bösen Lächeln.
Sie hatte die ganze Zeit mit boshafter Genugtuung Pjotr Stepanowitsch zugehört, der augenscheinlich eine bestimmte Rolle spielte. (Was für eine, und wozu? – das wußte ich damals nicht! Aber er spielte eine Rolle, und spielte sie ungeschickt.)
„Ganz im Gegenteil,“ fuhr Warwara Petrowna fort, „ich bin Ihnen nur zu dankbar dafür. Ohne Sie hätte ich nichts erfahren. So öffne ich jetzt zum erstenmal seit zwanzig Jahren die Augen und sehe. Nicolai Wszewolodowitsch, Sie erwähnten vorhin, daß Sie absichtlich benachrichtigt worden seien. Hat Stepan Trophimowitsch auch Ihnen in dieser Art und Weise geschrieben?“
„Ich erhielt von ihm allerdings einen ganz unschuldigen und ... und sehr ... edelmütigen Brief ...“
„Sie stocken, Sie suchen nach Worten – schon gut! Stepan Trophimowitsch, Sie haben mir einen großen Gefallen zu erweisen,“ wandte sie sich plötzlich mit blitzenden Augen an diesen. „Haben Sie die Güte, uns sofort zu verlassen und die Schwelle meines Hauses nie mehr zu überschreiten.“
Was mich an der ganzen Szene am meisten wunderte, das war die erstaunliche Würde, mit der Stepan Trophimowitsch sich hielt. Während der ganzen „Überführung“ durch seinen Sohn und selbst unter dem „Fluch“ Warwara Petrownas machte er nicht ein einziges Mal Miene, sich auch nur zu verteidigen. Woher nahm er so viel Charakterfestigkeit? Ich habe später erfahren, daß ihn seines Sohnes Betragen gleich beim ersten Wiedersehen tief und schmerzlich gekränkt hatte. Das aber war schon ein ehrliches, ein echtes Leid. Und hinzu kam dann noch der andere Schmerz: die quälende Selbsterkenntnis, daß er sich niedrig benommen hatte. Das alles gestand er mir später selbst mit seiner ganzen Offenherzigkeit. Nun, und ein wirkliches Leid und ein echter Schmerz können doch sogar einen außergewöhnlich leichtsinnigen und oberflächlichen Menschen ernst und standhaft machen, wenn auch nur auf kurze Zeit. Ja, wirkliches Leid hat selbst aus Dummköpfen Kluge gemacht, wenn auch freilich gleichfalls nur auf kurze Zeit; das ist schon so eine Eigenschaft des Leides. Wenn dem aber so ist, was konnte dann nicht alles mit einem Menschen wie Stepan Trophimowitsch geschehen? Da konnte ja echter Schmerz eine vollkommene Umwandlung bewirken! – Freilich auch hier nur auf einige Zeit ...
Er verbeugte sich würdevoll vor Warwara Petrowna, und ohne ein Wort zu sagen (allerdings blieb ihm ja auch nichts anderes übrig), wollte er schon hinausgehen, als er es doch nicht über sich gewann und zu Darja Pawlowna trat. Diese mochte das schon vorausgefühlt haben, denn sie ging ihm sofort entgegen und begann, in ihrem Schreck, schnell selbst zu sprechen, als hätte sie ihm nur ja zuvorkommen wollen.
„Sagen Sie nichts, Stepan Trophimowitsch, sagen Sie nichts, um Gottes willen,“ sie streckte ihm erregt die Hand entgegen, in ihrem Gesicht zuckte es schmerzlich. „Seien Sie versichert, daß ich Sie immer hochachten werde, Stepan Trophimowitsch, und denken Sie auch von mir nicht schlecht, Stepan Trophimowitsch, ich ... ich werde das immer sehr, sehr schätzen ...“
Stepan Trophimowitsch verbeugte sich tief vor ihr.
„Es ist dein freier Wille, Darja Pawlowna, du weißt, daß du in dieser ganzen Angelegenheit vollkommen frei handeln kannst,“ sagte plötzlich Warwara Petrowna bedeutsam.
„Ach! Nun – nun begreife ich alles!“ rief da Pjotr Stepanowitsch aus und schlug sich vor die Stirn. „Aber ... aber in was für eine Lage hat man mich denn nun gebracht? Oh, verzeihen Sie mir, Darja Pawlowna, verzeihen Sie, wenn Sie können! ... Du aber,“ wandte er sich an seinen Vater, „du hast mich ja in eine schöne Lage gebracht!“
„Pierre, du könntest dich auch anders ausdrücken, wenn du mit mir sprichst,“ sagte Stepan Trophimowitsch halblaut.
„Schrei nur nicht so! Fang nur nicht an zu schreien, ich bitte dich,“ fiel ihm Pierre, mit den Armen fuchtelnd, ins Wort. „Glaub mir, das sind alles nur alte kranke Nerven und Schreien nutzt da gar nichts. Sag mir lieber, warum du mich dann nicht gleich darauf vorbereitet hast? Konntest dir doch denken, daß ich hier nach meiner Ankunft sogleich auch darauf zu sprechen kommen würde!“
Stepan Trophimowitsch blickte ihm offen in die Augen.
„Pierre, du, der du so viel von dem weißt, was hier vorgeht, solltest du wirklich von dieser Sache nichts, nicht das Geringste gewußt, gehört haben?“
„W–a–as? Na, hör mal ... aber das ist doch! Wir sind also nicht nur ein altes Kind, sondern auch noch ein böses dazu? ... Haben Sie gehört, Warwara Petrowna?“
Es entstand eine Unruhe im Zimmer. Da sollte aber plötzlich etwas geschehen, was niemand auch nur hätte für möglich halten oder gar voraussehen können.
Zunächst muß ich noch erwähnen, daß in den letzten zwei bis drei Minuten Lisaweta Nicolajewna von einer neuen Unruhe ergriffen worden war. Sie hatte schnell ihrer Mutter etwas zugeflüstert, und dann Mawrikij Nicolajewitsch, der sich zu ihr niederbeugte. Ihr Gesicht war erregt, doch zugleich drückte es Entschlossenheit aus. Offenbar hatte sie es jetzt sehr eilig, fortzukommen, denn als Mawrikij Nicolajewitsch die Mama vorsichtig aus dem Lehnstuhle zu heben begann, wollte sie schon helfen – aber sie bezwang sich noch.
Doch das Schicksal schien es nicht zu wollen, daß sie oder sonst jemand das Zimmer verließ, ohne das Ende des Ganzen mit angesehen zu haben.
Schatoff, den alle in seiner Ecke völlig vergessen hatten, und der, wie es schien, selbst nicht recht wußte, warum er da saß und noch nicht fortgegangen war – erhob sich plötzlich von seinem Stuhl und ging mit nicht schnellen, doch festen Schritten durch das ganze Zimmer auf Nicolai Stawrogin zu, ihm gerade ins Gesicht sehend.
Stawrogin war der erste, der sofort bemerkte, daß Schatoff sich erhob, und er lächelte kaum – kaum merklich; doch als Schatoff unmittelbar vor ihm stand, hörte er auf, zu lächeln.
Jetzt erst, als Schatoff schweigend vor ihm stehen blieb und keinen Blick von ihm abwandte, bemerkten auch die anderen die beiden.
Alle verstummten – Pjotr Stepanowitsch ganz zuletzt. Lisa und die Mama blieben mitten im Zimmer stehen.
So vergingen ungefähr fünf Sekunden.
Der Ausdruck dreister Befremdung in Nicolai Stawrogins Gesicht verwandelte sich in Zorn, er runzelte die Brauen und – plötzlich ...
Und plötzlich holte Schatoff mit seinem langen, schweren Arm weit aus und schlug ihn ins Gesicht.
Schatoff hatte ganz eigentümlich geschlagen, nicht so, wie man sonst Ohrfeigen zu geben pflegt, nicht mit der flachen Hand, sondern mit der festen, geballten Faust – die aber war bei ihm groß, schwer, knochig, mit rötlichem Flaum und Sommersprossen bedeckt. Wenn der Schlag das Nasenbein getroffen hätte, so würde er es unfehlbar zerschlagen haben, doch er traf mehr die Wange, den linken Mundwinkel und den Oberkiefer, aus dem denn auch sofort Blut zu tropfen begann.
Ich glaube, wir schrien alle auf. Oder vielleicht war es auch nur Warwara Petrowna, die aufschrie. Ich weiß es nicht mehr, jedenfalls war es gleich darauf totenstill. Übrigens dauerte der ganze Zwischenfall nicht länger als zehn Sekunden.
Trotzdem geschah in diesen zehn Sekunden unendlich viel.
Nicolai Stawrogin gehörte zu den Naturen, die Angst überhaupt nicht kennen. Im Duell stand er, während sein Gegner auf ihn zielte, mit der größten Kaltblütigkeit da. Kam er zum Schuß, so zielte und tötete er mit einer Ruhe, die fast tierisch war. Wenn ihn jemand ins Gesicht geschlagen hätte, so würde er ihn gar nicht erst lange gefordert, sondern ihn einfach auf der Stelle totgeschlagen haben: gerade zu diesen Menschen gehörte er, die mit vollem Bewußtsein töten, und nicht etwa in einem Zustande, in dem der Mensch außer sich und unzurechnungsfähig ist. Ja, ich glaube sogar, solche Wutausbrüche, die einen blenden und benommen machen, kannte er überhaupt nicht. Selbst bei dem unermeßlichen Zorn, der sich seiner bisweilen bemächtigte, behielt er sich immer noch vollkommen in der Gewalt, und war sich dessen bewußt, daß ein Totschlag, den er nicht im Duell beging, ihn zum sibirischen Sträfling machen würde; und dennoch würde er den Beleidiger auf der Stelle erschlagen haben, und zwar ohne auch nur einen Augenblick davor zurückzuschrecken.
Ich habe mich immer bemüht, Nicolai Stawrogin richtig zu verstehen. Dank mancher glücklichen Umstände weiß ich vieles über ihn. Nahe liegt mir vor allem, ihn mit gewissen großen russischen Männern zu vergleichen, von denen sich bei uns noch einige legendäre Erinnerungen erhalten haben.
So erzählt man zum Beispiel von dem Dekabristen[33] L–n, er habe immer mit Absicht die Gefahr gesucht, habe sich an ihr berauscht und sie zu seinem Lebensbedürfnis gemacht: als junger Mensch habe er sich fast grundlos herumduelliert, in Sibirien sei er, nur mit einem Messer bewaffnet, auf die Bärenjagd gegangen und habe in den Wäldern mit entsprungenen Verbrechern, die, nebenbei bemerkt, noch gefährlicher als Bären sind, zusammenzutreffen gesucht. Zweifellos kannte ein Mann wie dieser L–n ganz genau das Gefühl der Angst: aber gerade dieses Gefühl in sich zu überwinden – das war es, was ihn reizte. Übrigens hatte dieser selbe L–n in der letzten Zeit vor seiner Verschickung nach Sibirien eine furchtbare Hungerzeit durchgemacht und sich durch die schwerste Arbeit sein Brot verdient, nur weil er sich den Wünschen seines reichen Vaters nicht fügen wollte. Also hatte er nicht nur im Kampf mit Bären und im Duell seine Standhaftigkeit und Willensstärke zu erproben und zu beweisen gesucht.
Doch seitdem sind viele Jahre vergangen, und die nervöse, zerquälte und gespaltene Natur der Menschen unserer Zeit läßt das Bedürfnis nach solchen unmittelbaren und ungeteilten Empfindungen, wie sie damals von manchen in ihrem Lebensdrang unruhigen Männern der guten alten Zeit so sehr gesucht wurden, überhaupt nicht mehr aufkommen. Stawrogin hätte auf diesen L–n vielleicht hochmütig herabgesehen, hätte ihn einen Feigling genannt, der sich immer selbst ermutigen müsse, ein Hähnchen, oder so ähnlich – nur würde er sich nie laut darüber geäußert haben. Auch er hätte im Duell den Gegner erschossen wie er es ja tatsächlich getan, auch er hätte mit Bären gekämpft, und auch dem Räuber im Walde wäre er ebenso sicher und furchtlos entgegengetreten: nur hätte er alles das ohne das geringste Empfinden eines Genusses, sondern einfach aus unangenehmer Notwendigkeit getan – schlaff, faul, vielleicht sogar gelangweilt. Das Böse in ihm war selbstredend gewachsen, im Vergleich zu L–n, ja selbst zu Lermontoff. In ihm war es vielleicht noch größer als in diesen beiden zusammen, aber dieses Böse war, wie gesagt, kalt und ruhig, war, wenn ich mich so ausdrücken darf, vernünftig – und somit das Widerlichste, das Furchtbarste, das es überhaupt geben kann.
Also noch einmal: ich hielt ihn damals und halte ihn auch heute noch, nachdem alles schon vorüber ist, für gerade so einen Menschen, der, wenn er einen Schlag ins Gesicht erhält, den Beleidiger sofort und ohne Zögern totschlägt.
Und doch geschah in diesem Falle etwas ganz anderes – etwas Rätselhaftes.
Kaum stand Nicolai Stawrogin wieder fest und aufrecht, nachdem er unter der Wucht des Schlages schmählich gewankt hatte, kaum war der gemeine, gleichsam nasse Schall des Schlages verhallt – da packte er auch schon Schatoff mit beiden Händen fest an den Schultern. Aber sofort, ja schon im selben Augenblick, riß er die Hände wieder zurück und kreuzte sie auf dem Rücken. Er schwieg. Er sah nur Schatoff an. Und sein Gesicht wurde fahl. Doch sonderbar: sein Blick erlosch gleichsam. Aber schon nach zehn Sekunden blickten seine Augen wieder kalt und – ich bin überzeugt, daß ich mich nicht getäuscht habe – vollkommen ruhig: nur bleich war er noch wie ein Hemd. Freilich weiß ich nicht, was in seinem Innern vorging, ich sah nur das Äußere.
Ich glaube, ein Mensch, der z. B. ein rotglühendes Eisenstück ergreift und es in der Hand preßt, um seine Standhaftigkeit zu erproben, und der dann zehn Sekunden lang einen unerträglichen Schmerz aushält und damit endet, daß er ihn bezwingt – ich glaube, ein solcher Mensch würde ähnliches empfinden wie Nicolai Stawrogin in diesen zehn Sekunden.
Der erste von beiden, der die Augen niederschlug, war Schatoff, und wie man sah, weil er dazu gezwungen war. Darauf wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer, doch nicht mehr mit demselben festen Schritt, mit dem er vorhin auf Stawrogin zugeschritten war. Er ging leise und ganz besonders ungelenk hinaus, mit gehobenen Schultern, gleichsam bucklig und mit gesenktem Kopf, als dächte er schweren Gedanken nach. Ich glaube, er murmelte irgend etwas. Bis zur Tür ging er vorsichtig, ohne irgendwo anzustoßen oder etwas umzuwerfen, die Tür selbst aber öffnete er nur ein wenig, so daß er sich dann beinahe seitwärts wie durch einen Spalt durchschob. Gerade dort an der Tür war sein Haarschopf, der steif auf dem Kopfwirbel abstand, ganz besonders bemerkbar.
Kaum war die Türe hinter ihm geschlossen, als noch vor allen Ausrufen ein furchtbarer Schrei durch das Zimmer gellte. Ich sah, wie Lisaweta Nicolajewna ihre Mutter an der Schulter und Mawrikij Nicolajewitsch am Arm packte, sie zwei- oder dreimal mitriß, als wolle sie so schnell wie nur möglich weg von hier, doch plötzlich stieß sie den Schrei aus und stürzte ohnmächtig längelang hin. Noch jetzt glaube ich zu hören, wie ihr Kopf auf den Teppich schlug.
Es vergingen acht Tage. Jetzt, wo alles vorüber ist und ich die Chronik schreibe, wissen wir, was hinter dem Ganzen sich verbarg; doch damals wußten wir noch nichts, und nur natürlich ist es, daß uns vieles seltsam erschien. Wir, d. h. Stepan Trophimowitsch und ich, zogen uns zunächst vollständig zurück und beobachteten aus der Ferne, – nicht ohne Schrecken. Nur ich begab mich hin und wieder unter Menschen und brachte meinem Freunde verschiedene Nachrichten, ohne die er es nicht aushielt.
In der Stadt sprach man selbstverständlich über nichts anderes als die Ohrfeigengeschichte, Lisas Ohnmachtsanfall und all das andere, was an jenem Sonntag Vormittag geschehen war. Nur eines war dabei befremdlich: durch wen waren diese Begebnisse so schnell und so genau bekannt geworden? Eigentlich hatte doch keiner von den Anwesenden irgendeinen Vorteil davon, wenn er das Geschehene ausplauderte. Dienstboten waren nicht zugegen gewesen. So blieb Lebädkin: er allein hätte das eine oder andere erzählen können, weniger aus Bosheit, als einfach deshalb, weil er Geheimnisse nun einmal nicht für sich behalten konnte. Lebädkin aber war am anderen Tage mitsamt seiner Schwester spurlos verschwunden und im Filippoffschen Hause konnte mir niemand über seinen Verbleib Auskunft geben. Schatoff jedoch, bei dem ich mich nach Marja Timofejewna erkundigen wollte, hatte seine Tür zugeschlossen und verließ in dieser ganzen ersten Woche kein einziges Mal sein Zimmer. Ich ging am Dienstag wieder zu ihm und klopfte an die Tür, und da ich, obgleich alles still blieb, fest überzeugt war, daß er in seinem Zimmer sei, klopfte ich wieder und wieder. Plötzlich hörte ich, wie er aufsprang, wahrscheinlich von seinem Bett, mit schnellen Schritten zur Tür kam und mit lauter Stimme „Schatoff ist nicht zu Hause!“ rief. Da blieb mir nichts anderes übrig, als fortzugehen.
Schließlich kamen Stepan Trophimowitsch und ich auf einen Gedanken, der uns zunächst gewagt erschien, doch zu dem wir uns gegenseitig immer wieder ermutigten, nämlich, daß es nur sein Sohn Pjotr Stepanowitsch gewesen sein konnte, der die ganze Geschichte in der Stadt verbreitet hatte, obwohl er in einem Gespräch mit seinem Vater versichert hatte, er habe schon am Montag früh an allen Ecken und Enden von den Vorfällen erzählen gehört, aber namentlich Abends im Klub, und sogar dem Gouverneur und seiner Frau seien selbst die kleinsten Kleinigkeiten bereits bekannt gewesen. Bemerkenswert ist auch noch, daß Liputin, den ich an eben diesem Montag abends auf der Straße traf, mir auch schon alles Vorgefallene fast Wort für Wort und Zug für Zug zu erzählen wußte.
Viele Damen, besonders die der besten städtischen Gesellschaft, erkundigten sich auch angelegentlich nach der „rätselhaften Lahmen“, wie man Marja Timofejewna allgemein nannte. Und nicht minder interessierten sie sich für den Ohnmachtsanfall Lisaweta Nicolajewnas, zumal dieser ja auch Julija Michailowna, als Lisas Verwandte und besondere Beschützerin, anging. Und was erzählte man sich nicht alles in den verschiedenen Kreisen der Stadt! Hinzu kam, daß beide Häuser für alle und jeden verschlossen blieben. Lisaweta Nicolajewna, hieß es alsbald, läge im stärksten Nervenfieber, und dasselbe erzählte man auch von Nicolai Stawrogin, wobei man sich dann in den widerlichsten ausführlichen Beschreibungen seines Zustandes, über einen angeblich ausgeschlagenen Zahn und eine geschwollene Backe, nicht genug tun konnte. In verschwiegenen Winkeln aber glaubte man schon ganz genau zu wissen, daß in der nächsten Zeit ein Mord stattfinden werde, ein heimlicher, wie in einer korsischen Vendetta, denn Stawrogin sei nicht der Mann, der eine solche Beleidigung vergäße. Im allgemeinen sah man deutlich, wie der alte Haß gegen Nicolai Stawrogin wieder auflebte, denn selbst ehrwürdige, sonst ganz gutmütige Leute wußten nichts Besseres zu tun, als ihn zu beschuldigen, allerdings ohne selber recht zu wissen, was er verbrochen haben sollte.
Vor allem aber erzählte man sich flüsternd, natürlich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, daß es zwischen Nicolai Stawrogin und Lisa Tuschina in der Schweiz zu einer bösen Geschichte gekommen sei, und er ihre Ehre auf dem Gewissen habe, und daß sie später durch eine Intrigue entzweit worden seien. Freilich beobachteten vorsichtigere Leute eine gewisse Zurückhaltung solchen Geschichten gegenüber, aber zuhören taten doch alle mit Begierde.
Aber es gab auch noch andere Gerüchte, nur wurden sie nicht so allgemein, sondern nur dann besprochen, wenn man unter sich war. Ja, eigentlich war es kaum mehr als ein Gemunkel, das ich nur erwähne, um den Leser im Hinblick auf die späteren Ereignisse zum Aufmerken zu veranlassen. Es handelte sich dabei um folgendes: manche Leute sprachen nämlich, indem sie unmutig die Stirn runzelten, von dem Gott weiß woher aufgetauchten Gerücht, Nicolai Stawrogin sei zu einem ganz bestimmten Zweck in unser Gouvernement geschickt worden; durch den Grafen K. habe er in Petersburg zu irgendwelchen höchsten Spitzen Beziehungen angeknüpft, ja, vielleicht sei er sogar in den Staatsdienst getreten und jetzt womöglich mit irgendwelchen hochwichtigen Aufträgen hergesandt. Als nun gewichtige und ernsthafte Leute über dieses Gerücht lächelten und vernünftig bemerkten, daß ein Mensch, der von Skandalen lebte und bei uns damit begann, daß er sich ungestraft ohrfeigen ließ, einem Staatsdiener nicht gerade ähnlich sähe, da wurde ihnen leise zugetuschelt, daß er ja gar nicht offiziell, sondern nur sozusagen konfidentiell diesen Auftrag erhalten habe, und in solchem Falle sei es im Interesse der Sache sogar wünschenswert, daß der betreffende Vertrauensmann möglichst wenig an einen Staatsdiener erinnere. Diese Vorhaltungen verfehlten ihre Wirkung nicht, denn es war bei uns bekannt, daß man die Landesvertretung in unserem Gouvernement dort in der Hauptstadt mit einer gewissen besonderen Aufmerksamkeit im Auge behielt. Doch wie gesagt, dieses Gemunkel dauerte nur eine Zeitlang an und verstummte sogleich, als Nicolai Stawrogin wieder persönlich erschien. Im übrigen aber muß ich noch erwähnen, daß der Ursprung vieler dieser Gerüchte zum Teil ein paar kurze, doch gehässige Bemerkungen gewesen waren, die der Gardeoffizier a. D., Rittmeister Artemij Pawlowitsch Gaganoff, ein sehr reicher Gutsbesitzer unseres Gouvernements und Kreises, dabei Petersburger Weltmann, im Klub hatte fallen lassen, wenn auch in etwas unklaren und schroffen Worten. Dieser Rittmeister a. D. war der Sohn des verstorbenen Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, jenes selben alten Würdenträgers, den Nicolai Stawrogin vor vier Jahren im Klub auf so unverzeihliche Weise beleidigt hatte.
Bekannt war auch schon geworden, daß Julija Michailowna Warwara Petrowna einen Besuch hatte machen wollen, man ihr aber an der Vorfahrt mitgeteilt habe, Warwara Petrowna könne „wegen Krankheit“ leider nicht empfangen; ferner, daß Julija Michailowna zwei Tage darauf ihren Diener zu Warwara Petrowna geschickt hätte, um sich nach deren Befinden zu erkundigen; und schließlich hatte sie sogar angefangen, Warwara Petrowna persönlich zu „verteidigen“, wenn auch nur in höherem Sinne, d. h. in einer ganz allgemeinen Weise. Alle anfänglichen Bemerkungen über den Vorfall an jenem Sonntag hörte sie kalt und streng an, so daß man schon sehr bald in ihrer Gegenwart nicht mehr davon zu sprechen wagte. Zugleich verbreitete sich dadurch die Überzeugung, Julija Michailowna habe nicht nur wie die anderen einzelne Gerüchte gehört, sondern wisse sogar alle letzten Einzelheiten, und zwar wie eine „Mitbeteiligte“. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß es Julija Michailowna zum Teil schon gelungen war, jenen höheren Einfluß zu erringen, nach dem sie so augenscheinlich strebte. Ein Teil der Gesellschaft sprach ihr bereits praktischen Verstand zu und viel Takt – aber davon später! Jedenfalls war es nicht zum wenigsten ihre Protektion, die den schnellen Aufstieg Pjotr Stepanowitschs in unserer Gesellschaft erklärte – seine gesellschaftlichen Erfolge, die damals am meisten seinen Vater Stepan Trophimowitsch in Erstaunen setzten.
Pjotr Stepanowitsch wurde fast im Nu mit der ganzen Stadt bekannt. Am Sonntag war er angekommen, und schon am Dienstag sah ich ihn mit dem stolzen, hochmütigen, sonst geradezu unnahbaren Artemij Pawlowitsch Gaganoff, in freundschaftlichem Gespräch begriffen, in einer Equipage vorüberfahren. Im Hause des Gouverneurs wurde Pjotr Stepanowitsch gleichfalls vorzüglich aufgenommen, so daß er dort schon nach wenigen Tagen die Rolle des gehätschelten jungen Mannes spielte und fast täglich bei ihnen speiste. Die Bekanntschaft Julija Michailownas hatte er allerdings schon in der Schweiz gemacht, aber nichtsdestoweniger war sein schneller Erfolg im Hause Seiner Exzellenz zum mindesten etwas sonderbar. Hatte es denn nicht von ihm geheißen, er sei ein Revolutionär? Hatte er sich nicht an allen möglichen ausländischen Veröffentlichungen und Kongressen beteiligt? „Aus alten Zeitungen kann ich Ihnen das sogar schwarz auf weiß nachweisen!“ sagte einmal Aljoscha Telätnikoff wütend zu mir, er, der Arme, der im Hause des alten Gouverneurs auch einmal der gehätschelte Junge gewesen war und nun als abgesetzter Beamter sein Leben fristete. Tatsache war eines: der ehemalige Revolutionär trat in Rußland ohne die geringste Behelligung auf – also waren alle Gerüchte vielleicht völlig unbegründet gewesen? Liputin flüsterte mir einmal zu, Pjotr Stepanowitsch habe sich die Begnadigung durch die Angabe anderer Namen erkauft und stehe seitdem in Beziehung zu hohen Stellen. Ich teilte diese gehässige Äußerung Liputins Stepan Trophimowitsch mit, der darob sehr nachdenklich wurde. Später stellte es sich heraus, daß Pjotr Stepanowitsch mit sehr guten Empfehlungen zu uns gekommen war: so z. B. hatte er Julija Michailowna von der Gattin einer der ersten Persönlichkeiten Petersburgs einen langen Brief überbracht, in dem unter anderem erwähnt war, daß auch Graf K. Pjotr Stepanowitsch durch Nicolai Stawrogin kennen gelernt und ihn einen „interessanten jungen Mann, trotz der früheren Verirrungen“, genannt habe. Julija Michailowna schätzte ihre spärlichen, so mühevoll aufrecht erhaltenen Beziehungen zur „hohen Gesellschaft“ bis zur Unglaublichkeit, und so hatte sie sich denn über den Brief jener hohen, alten Dame ungemein gefreut. Trotzdem gab es hier noch etwas Unerklärliches. Sogar ihren Mann stellte sie zu Pjotr Stepanowitsch in fast familiäre Beziehung, so daß Herr von Lembke sich schon beklagte – doch davon gleichfalls später! Bemerken möchte ich nur noch, daß selbst Karmasinoff, der „große Schriftsteller“, sich äußerst wohlwollend zu Pjotr Stepanowitsch verhielt und ihn sofort zu sich einlud – eine Eilfertigkeit dieses eingebildeten Menschen, die Stepan Trophimowitsch noch schmerzhafter als alles andere verletzte. Ich erklärte sie mir allerdings anders, nämlich: daß Karmasinoff durch diesen „Nihilisten“, für den er Pjotr Stepanowitsch zweifellos hielt, mit der fortschrittlichen Jugend in Fühlung treten wollte. Der „große Schriftsteller“ zitterte geradezu vor der Revolutionsbewegung der Studentenkreise, und da er sich in seiner Unkenntnis der Sache einbildete, in ihren Händen liege der Schlüssel zur Zukunft Rußlands, so wollte er, nachdem er es erst mit den Alten gehalten hatte, es auch mit den Jungen nicht verderben, und suchte ihnen, hauptsächlich deshalb, weil sie ihrerseits für ihn nur Mißachtung hatten, in jeder nur möglichen, und wenn auch für ihn erniedrigenden Weise zu schmeicheln.
Pjotr Stepanowitsch war übrigens nur zweimal zu seinem Vater gekommen, doch zu meinem Bedauern stets in meiner Abwesenheit. Das erste Mal hatte er ihn am Mittwoch besucht, also ganze vier Tage nach seinem Eintreffen, und auch dann nur in Geschäften.
Die Abrechnung wegen des Gutes war sozusagen im stillen abgetan worden. Warwara Petrowna hatte einfach alles auf sich genommen und die ganze Summe für das Gütchen, fünfzehntausend Rubel, Pjotr Stepanowitsch ausgezahlt. Stepan Trophimowitsch wurde erst benachrichtigt, nachdem alles schon abgeschlossen war. Ihr Kammerdiener Alexei Jegorowitsch überbrachte ihm irgendein Schriftstück, das er dann stumm und würdevoll unterzeichnete. Ja, eines möchte ich bei der Gelegenheit noch ausdrücklich bemerken: unser „Alter“ bewahrte in diesen Tagen eine Haltung, wie nie zuvor, war würdevoll schweigsam, schrieb aber tatsächlich nicht einen einzigen Brief an Warwara Petrowna, was ich früher einfach nicht für möglich gehalten hätte, so daß ich unseren früheren Stepan Trophimowitsch kaum wiedererkannte, und vor allem war er ganz ruhig. Diese Ruhe hatte er offenbar plötzlich in einer bestimmten großen Idee gefunden, und nun saß er da und wartete auf irgend etwas. Ganz zuerst freilich, gleich am Montag früh, da war er krank – wenn sich auch bloß seine übliche Cholerine einstellte. Erzählte ich ihm von dem, was man in der Stadt sprach, so hörte er aufmerksam zu. Wollte ich dann aber auf den Kern der Sache übergehen, so winkte er mir sofort ab. Die beiden Besuche seines Sohnes hatten ihn selbstverständlich sehr erregt, aber nicht erschüttert oder wankend gemacht. Wohl legte er sich nachher jedesmal, mit einer Essigkompresse um den Kopf, auf den Diwan: aber im „höheren Sinne“ blieb er, wie gesagt, doch ruhig.
Übrigens kam es zuweilen doch vor, daß er mir auch nicht abwinkte, wenn ich mit meinen Erzählungen allzu sehr ins einzelne gehen wollte. Und zuweilen schien es mir, als ob ihn seine geheimnisvolle Entschlossenheit im Stiche ließe und er gegen neue stürmisch andrängende Ideen innerlich zu kämpfen hätte.
Das geschah zwar nur in Augenblicken, aber ich erwähne sie. Ich ahnte wohl, daß ihn dann der Wunsch anwandelte, aus seiner Einsamkeit hervorzutreten, sich wieder zu zeigen und einen letzten Kampf zu wagen.
„Oh, cher, wie ich sie aufs Haupt schlagen würde!“ rang es sich am Donnerstag abend aus ihm hervor, nach Petruschas zweitem Besuch, als Stepan Trophimowitsch wieder mit einer Essigkompresse auf dem Diwan lag. Bis zu diesem Augenblick hatte er mit mir noch nicht ein einziges Wort gesprochen.
„... ‚Fils‘, ‚fils chéri‘[98] und so weiter ... ich gebe ja zu, daß diese Ausdrücke Unsinn sind, aus dem Wortschatz der Köchinnen stammen, meinetwegen, ich gebe es selbst zu. Ich habe ihn nicht genährt noch gekleidet, ich habe ihn gleich als Säugling aus Berlin per Post nach Rußland geschickt. Ich gebe das, wie gesagt, ja vollkommen zu ... ‚Du hast mich nicht genährt, nicht gekleidet, sondern per Post fortgeschickt,‘ sagt er, ‚und hier hast du mich obendrein noch bestohlen.‘ Aber, Unseliger, rufe ich ihm zu, für wen hat denn mein Herz mein ganzes Leben lang geblutet, wenn ich dich auch damals per Post fortgeschickt habe!? Il rit.[99] Aber ich gebe ja zu, ich gebe ja zu ... wenn auch per Post –“ schloß er, wie im Fieber phantasierend.
„Passons,“[100] begann er dann nach fünf Minuten wieder. „Ich kann Turgenjeff nicht verstehen. Sein Basaroff[34] ist eine fiktive Persönlichkeit, die überhaupt nicht existiert. Ich war ja selbst mit unter den ersten, die sie als unmöglich zurückwiesen. Dieser Basaroff ist gewissermaßen ein verschwommenes Gemisch von Nosdreff[35] und Byron. Oui, c’est le mot,[101] – Nosdreff und Byron. Betrachten Sie sie einmal aufmerksam: sie schlagen Purzelbäume und quieken vor Freude wie die jungen Hunde im Sonnenschein ... sie sind glücklich, sie sind Sieger! Doch was Byron! Lassen wir den hier aus dem Spiel ... Und zudem – wie viel Alltag! Welch eine köchinnenhafte Reizbarkeit der Eigenliebe! Welch ein erbärmliches Dürsten nach faire du bruit autour de son nom, ohne zu bemerken, daß son nom[102] ... Oh, Karikaturen! – Aber erlaube, rufe ich ihm zu, willst du denn wirklich dich selbst, so wie du bist, als Ersatz für Christus vorschlagen? Il rit. Il rit beaucoup. Il rit trop. Er hat so ein sonderbares Lächeln. Seine Mutter hatte nicht solch ein Lächeln. Il rit toujours.“[103]
Wieder trat Schweigen ein.
„Sie sind schlau! Am Sonntag hatten sie sich verabredet ...“ platzte er plötzlich heraus.
„Zweifellos,“ sagte ich schnell und spitzte die Ohren, „und dazu war die ganze Komödie noch mit weißem Faden zusammengenäht und so ungeschickt vorgespielt!“
„Davon rede ich nicht. Aber wissen Sie auch, daß das Ganze sogar absichtlich mit weißem Faden zusammengenäht war? Damit es die merkten, die es merken sollten? Verstehen Sie?“
„Nein, ich verstehe nicht –“
„Tant mieux. Passons.[104] Ich bin heute etwas irritiert.“
„Ja, aber worüber haben Sie sich denn mit ihm gestritten, Stepan Trophimowitsch?“
„Je voulais convertir. Sie lachen natürlich. Cette pauvre Tantchen, elle entendra de belles choses![105] Oh, mein Freund, werden Sie es mir glauben, daß ich mich vorhin ganz als Patriot fühlte! Übrigens habe ich mich immer als Russe empfunden ... Und ein echter Russe kann auch gar nicht anders sein, als wir beide sind. Il y a là dedans quelque chose d’aveugle et de louche.“[106]
„Unbedingt,“ versetzte ich.
„Mein Freund, die wirkliche Wahrheit ist immer unwahrscheinlich, wissen Sie das auch? Um die Wahrheit wahrscheinlich zu machen, muß man unbedingt etwas Lüge hinzumischen. Und so haben es die Menschen denn auch stets gehalten. Vielleicht ist hierbei etwas, was wir nicht verstehen können. Was meinen Sie, ist hier nicht etwas, was wir nicht verstehen, in diesem siegesgewissen Gekreisch? Ich würde wünschen, daß es so wäre. Ich würde es wünschen ...“
Ich schwieg. Und auch er schwieg recht lange.
„Man sagt: ‚französischer Verstand!‘ ...“ begann er plötzlich von neuem und fast wie im Fieber. „Aber das ist eine Lüge. So ist es bei uns schon immer gewesen. Wozu den französischen Verstand verleumden? Hier ist es einfach russische Faulheit, unsere Kraftlosigkeit, unsere erniedrigende Unfähigkeit, eine Idee hervorzubringen, unsere widerliche Parasitenrolle unter den Völkern. Ils sont tout simplement des paresseux,[107] – aber nicht ‚französischer Verstand‘! Die Russen müßten zum Wohle der übrigen Menschheit ganz einfach vertilgt werden ... wie schädliche Parasiten! Wir, in unserer Jugend, wir haben nach etwas ganz, ganz anderem gestrebt. Jetzt verstehe ich nichts mehr, ich habe ganz einfach aufgehört, zu verstehen! Ja, siehst du denn nicht ein, rief ich ihm zu, siehst du denn nicht ein, daß bei euch die Guillotine nur deshalb auf dem ersten Plan steht, weil Kopfabschneiden viel, viel leichter ist, als eine Idee haben? Vous êtes des paresseux! Votre drapeau est une guenille, une impuissance![108] Diese Wagen, oder wie sie da ... ‚das Rollen der Wagen, die Brot der Menschheit bringen‘ ... nützlicher als die Sixtinische Madonna, oder wie sie da ... une bêtise dans ce genre.[109] Aber siehst du denn nicht ein, rief ich ihm zu, siehst du denn nicht ein, daß ein Mensch außer dem Glück genau ebensosehr und genau in demselben Maße das Unglück nötig hat? Il rit! – ‚Du reißt hier Witze‘, sagte er mir, ‚und ... schonst dabei deine Knochen (er drückte sich gemeiner aus) auf einem Diwan, der mit Samt bezogen ist‘ ... Und vergessen Sie nicht, daß er mich dabei duzt, den Vater, als Sohn.[36] Nun, ich wollte ja nicht sagen, wenn wir beide einerlei Meinung wären ... aber so, wenn wir uns nun zanken?“
Wir schwiegen wieder.
„Cher,“ sagte er plötzlich, sich schnell erhebend, „wissen Sie auch, daß das unbedingt mit irgend etwas enden muß?“
„Nun, freilich,“ sagte ich.
„Vous ne comprenez pas. Passons.[110] Aber ... gewöhnlich endet es im Leben mit nichts, hier jedoch wird es ein Ende geben, unbedingt, unbedingt!“
Er stand auf und ging in größter Aufregung hin und her – bis er sich dann schließlich wieder kraftlos auf den Diwan niedersinken ließ.
Am Freitag morgen fuhr Pjotr Stepanowitsch irgendwohin fort in die Umgegend, und erschien erst am Montag wieder bei uns.
Von dieser Fahrt erfuhr ich durch Liputin: und ebenfalls war es Liputin, der mir erzählte, daß die beiden Lebädkins auf der anderen Flußseite in der Fabrikvorstadt wohnten. „Ich selbst habe sie hinübergeschafft,“ fügte er hinzu, brach aber sofort ab und teilte mir nur noch mit, daß Lisaweta Nicolajewna sich mit Mawrikij Nicolajewitsch verlobt habe – offiziell habe man es zwar noch nicht bekanntgegeben, aber nichtsdestoweniger sei es Tatsache.
Lisaweta Nicolajewna sah ich übrigens am nächsten Morgen, als sie, zum erstenmal nach ihrer Krankheit, mit Mawrikij Nicolajewitsch ausritt. Sie erblickte mich, ihre Augen blitzten auf und sie nickte mir lachend und sehr freundschaftlich zu.
Ich erzählte natürlich alles Stepan Trophimowitsch, doch nur der Nachricht über die Lebädkins schenkte er einige Aufmerksamkeit. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Jetzt aber, nachdem ich das Wichtigste aus diesen acht Tagen unserer rätselvollen Ungewißheit erzählt habe, will ich die weiteren Geschehnisse anders wiedergeben: mit Kenntnis des ganzen Sachverhalts, d. h. so, wie sich schließlich alles, als es an den Tag kam, in seinen Zusammenhängen erklärte. Ich beginne mit dem achten Tage nach jenem Sonntag, also mit dem Montagabend – denn im Grunde war es dieser Abend, an dem die „neue Geschichte“ begann.
Es war sieben Uhr abends. Nicolai Stawrogin saß allein in seinem Arbeitszimmer, das er schon früher von allen anderen Räumen des Hauses zu seinem Kabinett erwählt hatte. Es war ein hoher Raum mit schönen Teppichen und etwas schweren, altertümlichen Möbeln.
Er saß in der Ecke des Diwans, wie zum Ausgehen angekleidet, doch anscheinend hatte er nicht die Absicht, aufzubrechen und irgendwohin zu gehen. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Lampe mit einem Lampenschirm. Die Seiten und Ecken des großen Raumes blieben dunkel. Sein Blick war nachdenklich und zusammengefaßt, doch nicht ganz ruhig; sein Gesicht sah müde und ein wenig abgemagert aus. Er war tatsächlich krank, wenn auch nur an einer Erkältung, verbunden mit einem gewissen Ohrenreißen; aber das Gerücht von einem ausgeschlagenen Zahn war doch übertrieben: der Zahn hatte anfänglich nur gewackelt, war jedoch inzwischen wieder fest geworden. Auch die von innen verletzte Oberlippe war bereits zugeheilt. Das Zahngeschwür aber, das mit der Erkältung zusammenhing, hatte er nur deshalb nicht aufschneiden lassen, um nicht den Arzt empfangen zu müssen. Doch übrigens hatte er nicht nur nicht den Arzt, sondern selbst seine Mutter kaum auf ein paar Minuten eintreten lassen und auch das höchstens einmal am Tage und nur um die Dämmerstunde, wenn es schon dunkelte und das Licht noch nicht brannte.
Auch Pjotr Stepanowitsch, der zwei- bis dreimal täglich bei Warwara Petrowna vorgesprochen hatte, war nicht von ihm empfangen worden. Erst jetzt, eben an jenem Montag, nachdem Pjotr Stepanowitsch am Morgen von seiner dreitägigen Reise zurückgekehrt, schon überall in der Stadt herumgelaufen war, dann bei Julija Michailowna zu Mittag gespeist hatte und erst gegen Abend bei Warwara Petrowna erschien, verkündete sie ihm, die ihn bereits ungeduldig erwartete, daß das Verbot aufgehoben sei und Nicolas wieder empfange. Darauf begleitete sie den Gast selbst bis zur Tür des Arbeitszimmers ihres Sohnes, denn sie hatte schon längst ein Wiedersehen der beiden gewünscht. Pjotr Stepanowitsch hatte ihr versprochen, nachher noch zu ihr zu kommen und zu berichten, wie er Nicolas fand. Sie klopfte vorsichtig an die Tür und wagte sogar, als sie keine Antwort erhielt, den Türflügel drei Finger breit zu öffnen.
„Nicolas, darf ich Pjotr Stepanowitsch eintreten lassen?“ fragte sie leise und gehalten, während sie sich zugleich bemühte, sein Gesicht hinter der Lampe zu erkennen.
„Gewiß, gewiß darf man, das versteht sich doch von selbst!“ rief laut und aufgeräumt Pjotr Stepanowitsch, öffnete die Tür mit eigener Hand und trat ein.
Stawrogin hatte das Klopfen seiner Mutter überhört und nur die scheue Frage vernommen, aber noch nicht antworten können. Vor ihm lag in diesem Augenblick ein Brief, den er gerade erst durchgelesen hatte und über den er dann in tiefes Nachdenken versunken war. Als er nun plötzlich den Anruf Pjotr Stepanowitschs hörte, fuhr er zusammen und suchte schnell mit einem Briefbeschwerer den Brief zu bedecken, was ihm aber nur halb gelang, denn eine Ecke des Briefes und fast das ganze Kuvert waren noch zu sehen.
„Ich habe absichtlich so laut gerufen, um Ihnen Zeit zu geben, sich vorzubereiten,“ flüsterte Pjotr Stepanowitsch, der im Nu am Tisch war und sofort mit aufmerksamem Blick das Kuvert musterte, mit wunderlich naiver Aufrichtigkeit.
„– Und haben gewiß noch glücklich bemerken können, wie ich vor Ihnen diesen Brief zu verbergen suchte,“ sagte Stawrogin ruhig, ohne sich von seinem Platz zu rühren.
„Einen Brief? Na, Sie mit Ihren Briefen ... was gehn mich Ihre Briefe an,“ versetzte der andere. „Aber ... die Hauptsache, –“ fuhr er wieder leise fort, indem er sich zur Tür wandte, die Warwara Petrowna schon geschlossen hatte, und wies mit dem Kopf nach dieser Richtung.
„Sie horcht nie,“ bemerkte Stawrogin kalt.
„Na, ich meinte bloß – und wenn sie auch horchen sollte!“ Pjotr Stepanowitsch erhob sofort wieder die Stimme und setzte sich in einen Sessel. „Ich habe ja sonst nichts dagegen, nur bin ich diesmal gekommen, um mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen. Also endlich, vor allen Dingen, wie steht es mit der Gesundheit? Sehe schon, daß es gut steht, und morgen werden Sie vielleicht erscheinen, wie?“
„Vielleicht.“
„Sie müssen die Leute doch endlich beruhigen und ebenso auch mich!“ begann er plötzlich heftig gestikulierend, sah aber dabei ganz heiter und zufrieden aus. „Wenn Sie wüßten, was ich ihnen alles habe vorschwatzen müssen! Aber übrigens, Sie wissen es ja.“ Er lachte auf.
„Alles weiß ich nicht. Ich habe nur von meiner Mutter gehört, daß Sie sich sehr ... gerührt haben.“
„Das heißt, ich habe ja nichts Bestimmtes –,“ wehrte Pjotr Stepanowitsch schnell ab, als verteidige er sich gegen einen furchtbaren Angriff. „Ich habe nur Schatoffs Frau so ein bißchen unter die Leute gebracht, das heißt, ich meine die Gerüchte über Ihre Beziehungen zu ihr in Paris, was jenen Vorfall vom Sonntag dann durchaus erklären könnte ... Sie ärgern sich doch nicht?“
„Bin überzeugt, daß Sie sich sehr bemüht haben.“
„Nun, das allein war es, was ich fürchtete! Aber übrigens, was heißt denn das: ‚sehr bemüht‘? – das klingt ja ganz wie ein Vorwurf. Doch ich sehe, daß Sie die Sache wenigstens nicht schief auffassen: das war meine größte Sorge, als ich herkam – Sie würden sie nicht gerade nehmen ...“
„Ich will überhaupt nichts gerade nehmen,“ sagte Stawrogin mit einer gewissen Gereiztheit, doch gleich darauf lächelte er spöttisch.
„Ach, ich rede doch nicht davon, nicht davon, Sie irren sich, nicht davon!“ rief Pjotr Stepanowitsch und fuchtelte wieder abwehrend und streute die Worte wie Erbsen hin, schien aber zugleich sehr erfreut über die Reizbarkeit Stawrogins zu sein. „Ich werde Sie doch jetzt nicht mit unserer Sache ärgern, in der Lage, in der Sie jetzt sind! Ich kam nur her wegen der Affäre am Sonntag, und auch das nur zum allerkleinsten Teil, denn, nicht wahr, es geht doch nicht so! Ich bin mit den aufrichtigsten Erklärungen gekommen, die für mich notwendig sind, nicht für Sie – dies mag für Ihre Eigenliebe gesagt sein, aber zu gleicher Zeit ist es auch wahr. Ich bin gekommen, um von nun an immer aufrichtig zu sein.“
„Das heißt so viel, daß Sie früher unaufrichtig waren?“
„Das wissen Sie doch selbst ganz genau. Ich habe oft Kniffe angewandt ... Sie lächeln; freut mich sehr, denn das Lächeln ist für mich ein Vorwand zur Auseinandersetzung. Ich habe ja absichtlich das Lächeln mit der kleinen Prahlerei hervorgelockt, damit Sie sich sofort wieder ärgern: wie wagte ich zu denken, daß ich mit Kniffen Sie zu betrügen vermöchte, und zweitens, damit ich Grund habe, mich sofort zu erklären. Sehen Sie, wie aufrichtig ich bin. Na, schön, wäre es Ihnen jetzt recht, mich anzuhören?“
Stawrogins Gesicht, das bis dahin verachtend ruhig und beinahe spöttisch ausgesehen hatte, trotz der augenscheinlichen Absicht seines Gastes, ihn mit diesen zudringlichen, vorbereiteten und bewußt plumpen Naivitäten zu ärgern, verriet jetzt doch eine gewisse unruhige Neugier.
„Also hören Sie,“ begann Pjotr Stepanowitsch, noch lebhafter als vorhin. „Als ich hierher kam, das heißt, überhaupt hierher in diese Stadt, vor zehn Tagen, da entschloß ich mich natürlich, hier eine Rolle zu spielen. Besser freilich, sollte man meinen, wär’s ganz ohne Rolle, wie ... wie ... nun, als individuelle Persönlichkeit – nicht wahr? Allerdings kann nichts schlauer sein, als die Rolle einer individuellen Persönlichkeit, denn die würde mir doch niemand zutrauen. Aber wissen Sie, zuerst wollte ich schon den Rüpel spielen, weil das viel leichter ist. Aber der Rüpel ist zugleich auch schon das Äußerste, und da das Äußerste immer Aufsehen und Neugier erregt, so entschied ich mich denn endgültig für die individuelle Persönlichkeit. Nun ja, aber wie ist denn nun meine individuelle Persönlichkeit? – Doch einfach die goldene Mitte: weder klug noch dumm, mäßig begabt und ein bißchen vom Mond herabgefallen, wie hier die vernünftigen Leute sagen. Nicht wahr?“
„Möglich, daß es auch wahr ist,“ sagte Stawrogin mit einem kaum merklichen Lächeln.
„Ah, Sie geben’s zu – freut mich sehr. Ich wußte ja im voraus, daß ich Ihre Gedanken treffen würde ... Beunruhigen Sie sich nicht, nicht nötig, gar nicht nötig, ich nehme es durchaus nicht übel. Ich habe mich auch durchaus nicht in dieser Weise dargestellt, um mir von Ihnen indirekte Lobsprüche herauszuholen, à la ‚Nein, Sie sind nicht unbegabt, nein, Sie sind klug‘, oder so ähnlich ... Ah, Sie lächeln wieder! Bin ich von neuem hereingefallen? ‚Sie sind klug‘ würden Sie ja gar nicht sagen. Nun gut, meinetwegen; ich gebe alles zu. Passons,[100] wie Papachen sagt, und in Klammern: ärgern Sie sich bitte nicht über meinen Wortschwall. Übrigens, da haben wir ja gleich ein Beispiel: ich rede immer viel zu viel, d. h., ich mache immer viel zu viel Worte, und rede viel zu eilig – und doch kommt nichts dabei heraus. Warum? weil ich nicht zu reden verstehe. Die gut reden, die reden kurz. Und damit, nicht wahr, damit haben wir gleich einen Beweis für meine Unbegabtheit! Doch da diese Gabe der Unbegabtheit bei mir nun einmal eine natürliche Gabe ist – warum sollte ich sie da nicht noch künstlich gebrauchen? Nun – und so gebrauche ich sie denn so und so. Zuerst, als ich hier ankam, gedachte ich zu schweigen: aber zum Schweigen, dazu gehört ein großes Talent, und somit wäre es nichts für mich. Und da Schweigen außerdem auch noch gefährlich ist, so habe ich denn endgültig eingesehen, daß es am besten ist, wenn ich rede, und zwar gerade so auf unbegabte Art und Weise rede, das heißt, viel, viel, unendlich viel rede, mich immer beeile, etwas zu beweisen und zum Schluß mich in meinen Beweisen immer so verwickele, daß der Zuhörer womöglich davonläuft und dabei womöglich noch ausspuckt. Das hat dann drei Vorteile: erstens, daß man sich von meiner Offenherzigkeit überzeugt, zweitens, daß man meiner äußerst überdrüssig wird, und drittens, daß man mich dabei noch nicht einmal versteht – also alle drei Vorteile auf einen Hieb! Wer wird dann noch vermuten, daß ich geheimnisvolle Absichten habe? Ein jeder würde sich ja persönlich beleidigt fühlen, wenn ihm dann noch jemand sagte, ich hätte geheimnisvolle Absichten! Die Leute verzeihen mir ja jetzt schon alles, weil sich nun herausgestellt hat, daß ich, die revolutionäre Intelligenz, die einst Proklamationen verfaßt hat, dümmer bin, als sie. Ist’s nicht so? An Ihrem Lächeln erkenne ich schon, daß Sie zustimmen.“
Stawrogin dachte nicht daran, zu lächeln oder zuzustimmen, im Gegenteil, er hörte finster und ein wenig ungeduldig zu.
„Wie? Was? Sie sagten: ‚gleichgültig‘?“
Stawrogin hatte kein Wort gesagt.
„Natürlich, selbstverständlich, ich versichere Sie, daß ich das durchaus nicht darum ... nun, um Sie mit meiner Freundschaft zu kompromittieren ... Aber wissen Sie, Sie sind heute furchtbar übelnehmend! Ich komme zu Ihnen mit offenem, frohem Herzen, und Sie – Sie legen jedes meiner Worte auf die Wagschale! Ich werde heute über nichts Kitzliches mit Ihnen sprechen, ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Und mit allen Ihren Bedingungen bin ich von vornherein einverstanden!“
Stawrogin schwieg immer noch.
„Wie? Was? Sagten Sie nicht etwas? Sehe schon, hab’ wieder nicht das Rechte getroffen. Sie haben keine Bedingungen gestellt und werden auch keine stellen. Glaub’s schon, glaub’s schon, beruhigen Sie sich nur: ich weiß ja selbst, daß es sich gar nicht lohnt, sie zu stellen – nicht wahr? Ich übernehme schon im voraus die Verantwortung für Sie, wenn Sie wollen – und tue das selbstredend aus Unbegabtheit – also nichts als Unbegabtheit und Unbegabtheit ... Sie lachen? Wie? Was?“
„Nichts ...“ Stawrogin lächelte endlich, „mir fiel nur soeben ein, daß ich Sie in der Tat einmal gewissermaßen unbegabt genannt habe, aber da Sie damals nicht zugegen waren, wird man es Ihnen hinterbracht haben ... Im übrigen bitte ich, etwas schneller zur Sache kommen zu wollen.“
„Aber ich bin ja gerade dabei! Ich rede doch nur wegen Sonntag!“ rief Pjotr Stepanowitsch aus und tat sehr erstaunt. „Nun, was war ich am Sonntag, was meinen Sie? Genau und nichts anderes als die eilfertige, mittelmäßige Unbegabtheit in Person. Und genau in meiner allerunbegabtesten Art und Weise bemächtigte ich mich des Gespräches! Doch man hat mir schon alles verziehen. Erstens, wie gesagt, weil ich vom Monde gefallen bin, denn davon ist man tatsächlich allgemein überzeugt, und zweitens, weil ich ein so nettes Geschichtchen zum besten gab ... und euch allen heraushalf, nicht wahr? So ist es doch?“
„Sie haben absichtlich so erzählt, daß der Zweifel bleibt und man die Mache merkt, während eine Abmachung überhaupt nicht vorlag und ich Sie um nichts gebeten hatte.“
„Das ist’s ja! Das ist’s ja!“ bestätigte wie in hellem Entzücken Pjotr Stepanowitsch. „Ich habe es ja absichtlich so gemacht, daß Sie die ganze Mechanik merken mußten. Ihretwegen habe ich ja gerade die ganze Komödie gespielt, nur um Sie zu fangen und zu kompromittieren. Ich wollte ja nur wissen, bis zu welchem Grade Sie sich fürchten.“
„Es wäre interessant zu wissen, warum Sie jetzt so aufrichtig sind!“
„Oh, ärgern Sie sich nicht, ärgern Sie sich nicht, und funkeln Sie bitte nicht so mit den Augen ... Übrigens tun Sie das ja gar nicht. Also interessant wäre es, zu wissen, warum ich jetzt so aufrichtig bin? Ganz einfach, weil sich jetzt alles verändert hat! Ich habe eben meine Ansichten über Sie geändert, das ist es. Den früheren Weg habe ich für immer verlassen. Ich werde Sie von nun ab nicht mehr auf die alte Art und Weise zu kompromittieren versuchen. Ich habe nun einen neuen Weg.“
„Also die Taktik geändert?“
„Von Taktik kann hier gar keine Rede sein. Von jetzt ab soll in allem nur Ihr freier Wille den Ausschlag geben. Sagen Sie ‚ja‘, – so ist’s gut. Wollen Sie ‚nein‘ sagen – bitte! Da haben Sie meine ganze neue Taktik. Doch an unsere Sache werde ich auch nicht mit dem kleinsten Finger rühren, und zwar genau so lange nicht, bis Sie es selbst befehlen. Sie lachen? Wohl bekomm’s! Auch ich lache ja. Aber soeben meine ich’s ernst, vollkommen ernst, wenn auch ein Mensch, der sich so beeilt, natürlich unbegabt ist, nicht wahr? Einerlei, meinetwegen bin ich auch unbegabt, nur rede ich jetzt im Ernst, das heißt wirklich vollkommen ernst!“
Er sprach in der Tat diesmal ernst, in einem ganz anderen Tone und mit einer seltsamen Erregung, so daß Stawrogin ihn aufmerksam anblickte.
„Sie sagen, Sie hätten Ihre Ansicht über mich geändert?“
„Ja; in dem Augenblick, als Sie damals von Schatoff Ihre Hände zurückzogen. Aber genug, genug davon, und bitte keine Fragen weiter! Mehr sage ich jetzt nicht!“
Er war schon aufgesprungen und fuchtelte wieder mit den Händen, als wollte er sich an ihn gestellter Fragen erwehren: da aber überhaupt keine gestellt wurden und er noch nicht die Absicht hatte, wegzugehen, so setzte er sich wieder hin und beruhigte sich allmählich.
„Nebenbei bemerkt, in Klammern,“ plapperte er sofort wieder los, „man schwatzt hier und wettet schon darauf, daß Sie ihn unbedingt totschlagen würden. Lembke beabsichtigte sogar, die Polizei in Bewegung zu setzen, doch Julija Michailowna hat es ihm verboten ... Aber genug davon, genug, ich sagte es Ihnen nur, um Sie zu benachrichtigen. Doch halt, noch eins: ich habe, wie Sie wissen, die Lebädkins noch am selben Tage auf die andere Flußseite geschafft – meinen Brief mit der neuen Adresse haben Sie doch erhalten?“
„Ja, gleich damals.“
„Dies aber habe ich nicht aus ‚Unbegabtheit‘ getan, sondern einfach aus Bereitwilligkeit. Wenn es ‚unbegabt‘ herausgekommen sein sollte, so war’s dafür doch aufrichtig gemeint.“
„Schon gut, vielleicht war es gerade so richtig ...“ murmelte Stawrogin nachdenklich. „Nur schicken Sie mir keine Briefe mehr.“
„Diesmal ging’s nicht anders, und es war ja nur ein einziger.“
„So weiß Liputin davon?“
„Es war nicht anders möglich. Aber Sie wissen ja selbst, daß Liputin nichts darf ... Übrigens müßte man einmal wieder zu den unsrigen gehen, – das heißt zu jenen da, nicht zu den Unsrigen, kreiden Sie es mir nur nicht gleich wieder an. Beunruhigen Sie sich nicht: es braucht ja nicht gleich zu sein – irgend wann einmal. Augenblicklich regnet es. Ich werde es denen dann sagen und sie können sich versammeln – wir gehen dann am Abend hin. Da sitzen sie nun mit offenen Mäulern, wie die jungen Waldraben im Nest, und warten gespannt darauf, was für einen Bissen wir ihnen gebracht haben – kratzen Bücher hervor und fangen gar an zu streiten. Wirginski ist Allmensch, Liputin Fourierist mit starker Neigung zu Polizeimethoden. Ein Mensch, sag ich Ihnen, der in einer Beziehung kostbar ist, aber in den meisten anderen Beziehungen streng angefaßt werden muß. Und der dritte, der mit den trauernden Ohren, trägt gar ein eigenes System vor. Beleidigt sind sie übrigens alle: weil ich mich so wenig um sie kümmere und sie ein bißchen kaltgestellt habe, haha! Aber hingehen muß man zu ihnen.“
„Sie haben mich jenen wohl als so eine Art Führer vorgestellt?“ fragte Stawrogin so nachlässig wie möglich.
Pjotr Stepanowitsch sah ihn blitzschnell an. Dann ging er schnell auf ein anderes Thema über und tat so, als hätte er die Frage ganz überhört: „Übrigens bin ich täglich zwei- bis dreimal zu Warwara Petrowna gekommen und war gezwungen, viel zu sprechen ...“
„Nein, denken Sie nicht das! Ich habe einfach nur versichert, daß Sie Schatoff nicht totschlagen würden – und so ähnliche süße Sachen. Aber stellen Sie sich vor: gleich am anderen Tage hatte sie schon erfahren, daß Marja Timofejewna von mir über den Fluß geschafft worden war – haben Sie ihr das gesagt?“
„Nicht daran gedacht.“
„Wußt ich’s doch, daß nicht Sie ... Aber wer außer Ihnen hätte es ihr dann erzählen können?“
„Liputin, selbstredend.“
„N–nein, nicht Liputin,“ murmelte Pjotr Stepanowitsch geärgert. „Aber ich werde es schon erfahren, wer es war. Ich denke da eher an Schatoff. Aber nein, Unsinn, lassen wir das! Aber schließlich ist’s doch verdammt wichtig ... Übrigens habe ich immer erwartet, daß Ihre Mutter plötzlich mit der Hauptfrage herausplatzte ... Ja! Nur alle die letzten Tage war sie furchtbar niedergeschlagen, fast finster, heute aber, wie ich ankomme: siehe da – sie strahlt förmlich. Woher kommt denn das?“
„Das kommt daher, daß ich ihr heute mein Wort gegeben habe, nach fünf Tagen um Lisaweta Nicolajewnas Hand anzuhalten,“ sagte Stawrogin plötzlich mit unvermuteter Offenheit.
„Ah, so ... nun ja ... ja gewiß ...“ stotterte Pjotr Stepanowitsch und blieb stecken. „Man spricht zwar schon von ihrer Verlobung mit Mawrikij Nicolajewitsch. Sie wissen doch? Es wird auch schon stimmen. Aber Sie haben recht: sie läuft auch vom Altare fort, wenn Sie sie nur rufen. Sie ärgern sich doch nicht darüber, daß ich so ...?“
„Ich sehe, daß es heute furchtbar schwer ist, Sie zu ärgern, und fange an, Sie zu fürchten ... Bin sehr gespannt darauf, wie Sie morgen erscheinen werden. Sicher haben Sie schon vieles in petto. Ärgern Sie sich wirklich nicht über mich, daß ich so ...?“
Stawrogin antwortete wieder nicht, was Pjotr Stepanowitsch vollends reizte.
„Übrigens: haben Sie das in betreff Lisaweta Nicolajewnas Ihrer Mutter im Ernst gesagt?“ fragte er.
Stawrogin sah ihn kalt und prüfend an.
„Ah, so, ich verstehe schon: um sie zu beruhigen, nun ja.“
„Und wenn ich es im Ernst gesagt habe?“ fragte Stawrogin hart.
„Ja ... nun ... na, dann mit Gott, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt. Würde ja der Sache nichts schaden. (Sehen Sie, ich habe nicht gesagt, ‚unserer‘ Sache, da Sie das Wort ‚unser‘ nun einmal nicht lieben.) Ich aber ... ich – nun ja, ich stehe zu Ihren Diensten, wie Sie wissen.“
„Sie meinen?“
„Gar nichts, gar nichts meine ich!“ wehrte Pjotr Stepanowitsch lachend ab, „denn ich weiß, daß Sie sich Ihre Angelegenheiten im voraus genug überlegen, und daß Sie alles schon bis zu Ende durchgedacht haben. Im übrigen aber wollte ich nur sagen, daß ich im Ernst jederzeit zu Ihren Diensten stehe, jederzeit und unter allen Umständen und in jedem Fall, – das heißt wortwörtlich in je–dem! Sie verstehen doch?“
Stawrogin gähnte.
„Ich langweile Sie schon, wie ich sehe,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, plötzlich aufspringend, ergriff seinen runden, ganz neuen Hut und tat, als sei er im Begriff, aufzubrechen, indessen blieb er immer noch und sprach ununterbrochen weiter, jetzt allerdings stehend. Zuweilen schritt er hin und her, und wenn er sehr lebhaft sprach, schlug er sich mit dem Hut ans Knie. „Ja, eigentlich wollte ich Ihnen noch etwas Ergötzliches von den Lembkes erzählen und Sie damit erheitern!“ schwatzte er weiter, anscheinend gut gelaunt.
„Nein, das doch lieber ein nächstes Mal. Wie geht es übrigens mit Julija Michailownas Gesundheit?“
„Was das bei Ihnen allen für gesellschaftliche Gewohnheiten sind! Julija Michailownas Gesundheit ist Ihnen ja so gleichgültig, wie die Gesundheit irgendeiner Katze, und doch erkundigen Sie sich! Aber das lobe ich mir. Also: Julija Michailowna fühlt sich wohl und hat eine Hochachtung vor Ihnen, na, bis zum Aberglauben. Und was Sie von Ihnen alles erwartet, grenzt auch schon an Aberglauben. Über den Sonntag schweigt sie, und ist überzeugt, daß Sie alles sofort niederschlagen werden, sobald Sie nur wieder auf der Bildfläche erscheinen. Bei Gott, sie glaubt ohne weiteres, daß Sie weiß der Teufel was alles vermögen! Mir scheint, sie bildet sich ein, Sie könnten einfach Wunder zustande bringen. Überhaupt sind Sie jetzt ein noch viel rätselhafteres Wesen als je, dazu dieser Nimbus von Romantik, der sich um Sie gebildet hat – wahrhaftig, eine äußerst vorteilhafte Stellung. Und wie gespannt, wie neugierig man auf Sie ist! Bevor ich verreiste, war es schon heiß, doch als ich zurückkehrte, war die Hitze noch gestiegen. Danke übrigens nochmals bestens für die Beschaffung des Briefes. Graf K... wird hier allgemein mit Andacht gefürchtet. Und Sie hält man für so eine Art höheren Spion. Ich nicke dazu. Sie ärgern sich doch nicht?“
„Nein.“
„Das ist nämlich für alles Weitere sogar unbedingt nötig. Die Leute haben ja hier ihre besonderen Bräuche. Ich sporne selbstverständlich noch an. Julija Michailowna ist die Anführerin, Gaganoff der zweite ... Sie lachen? Aber ich lebe doch jetzt nach meiner neuen Taktik: ich lüge und lüge, und dann sage ich plötzlich ein kluges Wort, und zwar gerade in dem Augenblick, wenn alle ein solches suchen. Darauf umringt man mich sofort, fragt und horcht, – ich aber bin schon wieder mitten im Lügen. Jetzt haben mich schon alle aufgegeben. ‚Ach, der!‘ sagen sie und winken ab. ‚Nicht dumm, aber ein bißchen doch vom Monde herabgefallen.‘ Lembke redet mir zu, in den Staatsdienst zu treten, damit ich mich bessere. Ach, wenn Sie wüßten, wie ich ihn trätiere, das heißt, eigentlich kompromittiere. Er glotzt mich nur so an mit seinen Kalbsaugen. Julija Michailowna hilft mir dabei womöglich noch. Doch was ich sagen wollte: Gaganoff ist grenzenlos wütend auf Sie. Gestern hat er in Duchowo ganz gemein über Sie gesprochen. Ich habe ihm natürlich gleich die ganze Wahrheit gesagt, oder vielmehr, versteht sich, nicht die ganze Wahrheit. Ich war gestern vom morgen bis zum Abend draußen bei ihm. Prächtiges Gut übrigens, auch das Herrenhaus ist schön.“
„So ist er jetzt in Duchowo?“ rief Stawrogin plötzlich lebhaft, ja, fast sprang er auf, – wenigstens beugte er sich hastig nach vorn.
„Nein, jetzt nicht mehr, er hat mich selbst hierher gebracht, wir kamen zusammen zurück,“ sagte Pjotr Stepanowitsch ruhig, anscheinend ohne Stawrogins Erregung zu bemerken. „Was ist das? – Da habe ich ein Buch heruntergeworfen,“ und er bückte sich, um den Band aufzuheben. „‚Die Frauen von Balzac‘? Illustriert. Habe nicht gelesen. Lembke schreibt auch Romane.“
„Was Sie sagen?“ Stawrogin tat, als interessiere es ihn sehr.
„Jawohl, in russischer Sprache; selbstredend heimlich. Nur Julija Michailowna weiß es und erlaubt es ihm. Er ist so eine richtige Schlafmütze, aber mit Manieren. Wie das alles ausgearbeitet ist! Welch eine Strenge der Formen, welch eine Folgerichtigkeit und Disziplin! Übrigens, es wäre gut, wenn auch wir etwas davon hätten!“
„Sie loben die Verwaltung?“
„Wie sollte ich nicht! Sie ist doch das einzige, was bei uns in Rußland natürlich und in einem gewissen Grade fertig ist ... nein, nein, ich werde nicht, ich werde nicht, seien Sie unbesorgt, ich werde nicht!“ brach er plötzlich ab. „Über das Delikate kein Wort, seien Sie unbesorgt, kein Wort! Und jetzt leben Sie wohl. – Sie sind ja fast grün.“
„Ich bin erkältet.“
„Das ist glaubwürdig. Legen Sie sich hin! Doch ja, was ich noch sagen wollte: hier im Bezirk gibt es auch einige von der Skopzensekte, interessante Leute ... Doch davon später. Halt ja, eine kleine Anekdote muß ich doch noch erzählen! Hier in der Nähe steht bekanntlich ein Infanterieregiment. Freitag abend habe ich in B... mit den Offizieren zusammen gekneipt. Wir haben doch dort drei Genossen – vous comprenez?[111] Nun, es wurde über den Atheismus gesprochen, und selbstredend ward Gott zum so und so vielten Male kassiert. Man gröhlte und quiekte vor Freude. Übrigens: Schatoff meint, daß man unbedingt mit dem Atheismus beginnen müsse, wenn man es in Rußland zu einem Umsturz bringen wolle – vielleicht hat er recht. Ja, wie gesagt, es wurde über Gott gesprochen – aber da saß auch ein schon ergrauter schnauzbärtiger Hauptmann, saß und saß, schwieg die ganze Zeit. Plötzlich stand er auf, blieb mitten im Zimmer stehen, breitete die Arme aus, und sagte laut, aber doch wie zu sich selbst: ‚Wenn es keinen Gott gibt, was bin ich dann noch für ein Hauptmann?‘ Und damit nahm er seine Mütze und ging.“
„Hat einen ganz klugen Gedanken ausgedrückt,“ sagte Stawrogin und gähnte – jetzt schon zum dritten Male.
„Ja? Ich hab’s nicht verstanden – wollte Sie fragen. Und was war da doch noch –? Ja, so: ganz interessant ist die Spigulinsche Fabrik. Fünfhundert Arbeiter, ein vorzüglicher Choleraherd, ist schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr gereinigt, und vom Arbeitslohn wird immer ein Teil abgezogen, die Besitzer aber sind Millionäre. Seien Sie überzeugt, von den Arbeitern haben schon eine ganze Reihe durchaus richtige Vorstellungen von der Internationale und Revolution. Wie, Sie lächeln? Sie werden schon sehen, geben Sie mir nur eine ganz, ganz kleine Weile Zeit! Ich habe Sie schon einmal um Zeit gebeten. Jetzt tue ich’s zum zweiten Male. Doch Verzeihung, ich höre ja schon auf! Runzeln Sie nicht die Stirn, ich höre ja schon auf! Leben Sie wohl. – Ach so!“ er kehrte nochmals um und kam zurück. – „Die Hauptsache vergesse ich ganz! Man hat mir vorhin gesagt, daß unsere Koffer aus Petersburg angekommen sind.“
„Ja, und? ...“ Stawrogin sah ihn an, ohne zu verstehen.
„Das heißt, Ihre Koffer, Ihre Sachen, mit den Fracks, Beinkleidern, der Wäsche – sind die schon hier?“
„Ja, man sagte mir vorhin so etwas ...“
„Ach, könnte man da nicht gleich ...?“
„Fragen Sie den Alexei.“
„Schön! Aber morgen, morgen könnte ich sie doch bekommen? Es sind nämlich mein Frack, ein Anzug und drei Paar Beinkleider darin ... Die von Charmeur, die er mir noch auf Ihre Empfehlung hin gemacht hat, erinnern Sie sich?“
„Ich habe gehört, Sie sollen hier den Dandy spielen,“ lächelte Stawrogin. „Ist es wahr, daß Sie sogar Reitstunden nehmen wollen?“
Pjotr Stepanowitsch verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln.
„Wissen Sie,“ sagte er dann plötzlich ungeheuer schnell, mit einer eigentümlich abbrechenden Stimme, in der etwas zu zucken schien. „Wissen Sie, Nicolai Wszewolodowitsch, wir wollen das Persönliche lieber aus dem Spiel lassen, nicht wahr, ein für allemal? Sie können mich dabei natürlich verachten, so viel Sie wollen, wenn Ihnen etwas lächerlich erscheint. Aber, wie gesagt, unter uns wollen wir das Persönliche eine Zeitlang fortlassen, nicht wahr?“
„Gut, ich werde es nicht mehr ...“ sagte Stawrogin vor sich hin.
Pjotr Stepanowitsch lächelte, schlug sich mit dem Hut ans Knie, trat von einem Fuß auf den andern und sein Gesicht nahm wieder den alten Ausdruck an.
„Hier halten mich einige sogar für Ihren Nebenbuhler bei Lisaweta Nicolajewna, wie soll ich mich da nicht um mein Äußeres kümmern?“ sagte er lachend. „Übrigens, wer hinterbringt Ihnen denn das alles? Hm! Es ist schon Punkt acht; ich muß gehen. Habe zwar Warwara Petrowna versprochen, jetzt bei ihr vorzusprechen, werde das aber bleiben lassen. Sie aber – legen Sie sich mal hin, dann sind Sie morgen munterer. Draußen ist es stockdunkel und es regnet – übrigens, ich habe ja meine Droschke, denn in der Nacht ist es hier nicht ganz geheuer in den Straßen ... Doch ja, was ich noch sagen wollte: hier in der Umgegend treibt sich jetzt ein gewisser Fedjka herum, ein entsprungener Zuchthäusler aus Sibirien, und stellen Sie sich vor, er ist mein gewesener Leibeigener, den Papachen vor fünfzehn Jahren unter die Soldaten gesteckt hat, um Geld zu bekommen. Eine äußerst bemerkenswerte Persönlichkeit, dieser Fedjka.“
„Sie ... haben mit ihm gesprochen?“ fragte Stawrogin, indem er einmal kurz aufblickte.
„Ja. Vor mir versteckt er sich nicht. Er ist zu allem bereit, zu allem; für Geld, selbstredend, aber er hat auch Überzeugungen, so in seiner Art, versteht sich ... Ja, und noch etwas: wenn Sie vorhin wirklich im Ernst von dieser Absicht – Sie wissen schon, mit Lisaweta Nicolajewna, – so wiederhole ich nochmals, daß ich gleichfalls eine zu allem bereite Persönlichkeit bin, in jeder Beziehung, in welcher Sie nur wollen, und vollkommen zu Ihren Diensten stehe ... Was, Sie wollen –? Ach so, nein, nicht den Stock. Denken Sie sich, mir schien, daß Sie einen Stock suchten!“
Stawrogin suchte nichts und sagte auch nichts, aber er hatte sich allerdings seltsam plötzlich erhoben, mit einer eigentümlichen Bewegung im Gesicht.
„Und wenn Sie etwas in betreff dieses Herrn Gaganoff brauchen sollten,“ fügte Pjotr Stepanowitsch mit einemmal hinzu und wies dabei mit dem Kopf schon ganz ungeniert auf den Brief und den Umschlag unter dem Briefbeschwerer, „so kann ich natürlich auch da alles ordnen, und ich bin überzeugt, daß Sie mich nicht umgehen werden.“
Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Zimmer – doch bevor er die Tür hinter sich schloß, steckte er noch einmal den Kopf herein:
„Ich bin nur deshalb so ...“ rief er schnell, „... weil doch beispielsweise auch Schatoff nicht das Recht hatte, damals am Sonntag sein Leben zu riskieren, als er zu Ihnen trat – nicht wahr? Ich möchte wünschen, daß Sie dieses nicht vergäßen.“
Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er.
Vielleicht dachte Pjotr Stepanowitsch, daß Nicolai Wszewolodowitsch, sobald er allein wäre, mit den Fäusten an die Wand schlagen würde, welchem Wutausbruch Pjotr Stepanowitsch natürlich für sein Leben gerne heimlich zugesehen hätte, wenn das nur irgendwie möglich gewesen wäre. Doch er täuschte sich sehr. Stawrogin blieb vollkommen ruhig. Wohl ganze zwei Minuten stand er noch in derselben Stellung am Tisch, anscheinend in tiefe Gedanken versunken; doch bald legte sich ein müdes, kaltes Lächeln um seinen Mund. Er setzte sich langsam wieder auf den großen Diwan, auf denselben Platz in der Ecke, und schloß die Augen, wie vor Müdigkeit. Die eine Ecke des Briefes lugte noch immer unter dem Briefbeschwerer hervor, doch er rührte sich nicht einmal, um sie zu bedecken.
Bald vergaß er sich ganz.
Warwara Petrowna hatte sich schon alle die Tage mit Sorgen gequält. Als jetzt auch noch Pjotr Stepanowitsch fortgegangen war, ohne sein Versprechen zu halten und zu ihr zu kommen, hielt sie es nicht länger aus und wagte es, selbst zu ihrem Sohne zu gehen. Die ganze Zeit hatte sie gedacht, vielleicht werde er doch endlich etwas Bestimmtes, Entscheidendes sagen. Leise, wie vorhin, klopfte sie an seine Tür, und da sie keine Antwort erhielt, wagte sie wieder, selbst zu öffnen. Als sie sah, wie er so unbeweglich und sonderbar still dasaß, trat sie, mit klopfendem Herzen, vorsichtig näher. Es machte sie stutzig, daß er so schnell und so aufrecht sitzend eingeschlafen war; sogar das Atmen merkte man kaum. Sein Gesicht war blaß und streng, doch dabei wie völlig erkaltet, regungslos. Die Brauen waren ein wenig zusammengezogen und wirkten finster: so glich er entschieden einer leblosen Wachsfigur. Warwara Petrowna stand wohl ganze drei Minuten vor ihm, mit verhaltenem Atem, und plötzlich wurde sie von einer Angst erfaßt. Auf den Fußspitzen ging sie hinaus, doch an der Tür blieb sie einen Augenblick stehen, wandte sich um, machte das Zeichen des Kreuzes über ihren Sohn und verließ dann unbemerkt den Raum – mit einer neuen schweren Empfindung und neuen Sorgen im Herzen.
Er schlief lange, über eine Stunde, und die ganze Zeit in derselben Erstarrung: kein Muskel seines Gesichtes bewegte sich, nicht das leiseste Zucken ging durch seinen Körper; die Brauen blieben unverändert streng zusammengezogen. Wäre Warwara Petrowna noch weitere drei Minuten vor ihm stehen geblieben, so würde sie das erdrückende Empfinden dieser lethargischen Regungslosigkeit ganz gewiß nicht ertragen und ihn aufgeweckt haben. Doch plötzlich schlug er von selbst die Augen auf, blieb aber, ohne sich zu rühren, wohl noch zehn Minuten unverändert sitzen, nur daß seine offenen Augen jetzt beharrlich und wißbegierig in die eine dunkle Ecke des Zimmers sahen, wie sich hineinsehend in irgendeinen ihn dort fesselnden Gegenstand, obgleich sich dort weder etwas Neues, noch etwas Besonderes befand.
Da begann die große, alte Wanduhr zu schnurren und schlug einen einzigen, schweren Schlag. Stawrogin wandte mit einer gewissen Unruhe den Kopf, um auf das Zifferblatt zu sehen. Doch in demselben Augenblick öffnete sich die Tapetentür, die zum Korridor führte, und der Kammerdiener Alexei Jegorowitsch trat ein. Er brachte einen dicken Mantel, ein Halstuch und einen Hut, und in der rechten Hand hielt er einen silbernen Teller, auf dem ein Zettel lag.
„Halb zehn,“ meldete er mit leiser Stimme und trat, nachdem er den Mantel an der Tür auf einen Stuhl gelegt hatte, zu Nicolai Wszewolodowitsch, dem er das Zettelchen präsentierte, ein kleines, ungeschlossenes Papier, auf dem nur zwei Zeilen mit Bleistift geschrieben standen.
Nachdem Stawrogin sie überflogen hatte, nahm er einen Bleistift vom Tisch und kritzelte ein paar Worte auf dasselbe Papier, das er dann wieder offen auf den Teller zurücklegte.
„Sofort zu übergeben, sobald ich ausgegangen bin,“ sagte er und erhob sich vom Diwan.
Es fiel ihm noch zur rechten Zeit ein, daß er einen leichten Samtrock an hatte, so überlegte er einen Augenblick und befahl dann, ihm einen Tuchrock zu bringen, der zu zeremoniellen Abendbesuchen besser paßte. Nachdem er sich ganz angekleidet und den Hut schon aufgesetzt hatte, verschloß er die Tür, durch die vorhin Warwara Petrowna eingetreten war, zog dann den Brief unter dem Briefbeschwerer hervor, steckte ihn zu sich und ging schweigend aus dem Zimmer. Alexei Jegorowitsch folgte ihm. Aus dem Korridor gingen sie über eine schmale steinerne Hintertreppe in den Hausflur hinab, aus dem man unmittelbar in den Park treten konnte. In einer Ecke des Flurs hatte Alexei Jegorowitsch eine Laterne und einen Regenschirm versteckt.
„Infolge des starken Regens ist der Schmutz in den Straßen ganz unerträglich,“ meldete Alexei Jegorowitsch wie mit einem entfernten letzten Versuch, seinen Herrn von dem Ausgehen abzubringen.
Doch Stawrogin machte den Schirm auf und trat schweigend hinaus in den alten Park, der wie ein Keller dunkel, feucht und naß war. Der Wind brauste und rauschte und schaukelte die Wipfel der großen, halb schon kahlen Bäume, die schmalen Sandwege waren weich und glatt. Alexei Jegorowitsch ging so, wie er war, im braunen Frack und ohne Mütze, mit der kleinen Laterne in der Hand, drei Schritte vor seinem Herrn, und beleuchtete den Weg.
„Wird man es nicht bemerken?“ fragte plötzlich Nicolai Wszewolodowitsch.
„Aus den Fenstern wird man es nicht bemerken und außerdem ist alles vorgesehen,“ antwortete der Diener leise und maßvoll.
„Meine Mutter schläft?“
„Haben sich nach der Gewohnheit der letzten Tage gleich nach neun Uhr zurückgezogen, und daß die gnädige Frau es erfährt, ist ganz ausgeschlossen. Wann befehlen der Herr, daß ich Ihn zurückerwarte?“
„Um eins, halb zwei, nicht später als zwei.“
„Zu Befehl.“
Sie umgingen auf den sich schlängelnden Wegen fast den ganzen Park, bis sie an der Ecke der großen Steinmauer stehenblieben, wo ein kleines Pförtchen auf eine schmale entlegene Nebengasse führte.
„Wird die Tür nicht kreischen?“ fragte Nicolai Wszewolodowitsch. Doch Alexei Jegorowitsch sagte, daß er zweimal, „sowohl gestern wie auch heute,“ die Angeln geschmiert habe. Er war bereits ganz durchnäßt vom Regen. Als er das Pförtchen geöffnet hatte, reichte er Nicolai Wszewolodowitsch den Schlüssel.
„Wenn der Herr geruhen, einen weiten Weg zu unternehmen, so möchte ich vorher darauf aufmerksam machen, daß den Leuten hier herum nicht zu trauen ist, besonders nicht in entlegenen Gassen und ... am allerwenigsten jenseits des Flusses,“ wagte er nochmals zu warnen.
Er war ein alter Diener, der einst Nicolai Wszewolodowitsch auf den Armen gewiegt und wie eine Kinderfrau mit ihm gespielt hatte, ein ernster, strenger Mann, der das Gotteswort kannte und gern in der Bibel las.
„Beunruhige dich nicht, Alexei Jegorowitsch.“
„Gott segne Euch, Herr, aber nur beim Anfang guter Taten.“
„Wie?“ Nicolai Wszewolodowitsch, der schon über die Schwelle getreten war, blieb stehen.
Der alte Diener wiederholte mit fester Stimme seinen Segenswunsch. Nie hätte er sich früher unterstanden, solche Worte zu seinem Herrn zu sagen.
Stawrogin sagte nichts, schloß die Tür, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging die Gasse entlang, wobei seine Füße bei jedem Schritt an die drei Zoll tief im Schlamm versanken. Endlich erreichte er eine lange, einsame Straße, die wenigstens gepflastert war. Die Stadt kannte er genau: immerhin hatte er noch einen weiten Weg bis zur Bogojawlenskstraße.
Es war schon nach zehn Uhr, als er endlich vor der verschlossenen Pforte des Filippoffschen Hauses stehen blieb.
Die untere Etage war unbewohnt, seitdem man Lebädkins fortgeschafft hatte. Die Fensterläden waren geschlossen. Nur oben in Schatoffs Dachzimmer sah man noch Licht. Da es an der Pforte keine Klingel gab, so klopfte Stawrogin. Nichts rührte sich zunächst. Aber schließlich, nach abermaligem Klopfen, öffnete sich oben ein Klappfenster und Schatoff steckte den Kopf heraus. Es war stockdunkel und daher schwer, jemanden zu erkennen.
Schatoff sah lange hinunter.
„Sind Sie es?“ fragte er plötzlich.
Schatoff schlug das Fenster zu, kam nach unten und öffnete die Pforte.
Stawrogin trat über die hohe Schwelle und ging stumm an ihm vorüber in den Flügel zu Kirilloff.
Hier war alles unverschlossen. Der Flur und die beiden ersten Zimmer waren dunkel, doch im dritten, in dem Kirilloff wohnte, war es hell, und dort hörte man Lachen und dazwischen ein seltsames frohes Gequiek.
Stawrogin ging auf das Licht zu, blieb aber vor der offenen Tür stehen, ohne zunächst einzutreten.
Der Teetisch war gedeckt. Mitten im Zimmer stand die Alte, die das Haus beaufsichtigte, in einem Unterrock, in Schuhen, doch ohne Strümpfe, und in einer ärmellosen Pelzjacke aus Hasenfell. Sie trug ein anderthalbjähriges Kindchen mit fast weißen Locken, nur mit einem kurzen Hemdchen bekleidet, mit bloßen, dicken Beinchen und erhitztem, pausbackigem Gesichtchen, auf dem Arm. Offenbar hatte sie es soeben aus der Wiege genommen. Das Kindchen mochte noch vor kurzem geweint haben, denn noch standen dicke Tränen unter seinen Augen, doch war es in diesem Augenblicke froh und lustig, reckte seine Ärmchen und lachte, wie so kleine Kinder zu lachen pflegen: mit juchzenden, schluchzenden Nebentönen.
Vor dem Kindchen spielte Kirilloff mit einem großen roten Gummiball: er warf ihn kräftig auf die Diele, so daß er bis an die Decke sprang, wieder fiel und wieder sprang, während das Kindchen dazu überselig sein „Ba! ... Ba! ...“ rief. Kirilloff fing darauf den „Ba“ auf und gab ihn dem Kindchen, das dann natürlich den „Ba“ wieder gleich mit seinen eigenen, ungeschickten Händchen fortwarf, während Kirilloff ihm nachlief, um ihn aufzuheben. Zum Schluß rollte der „Ba“ unter den Schrank. Kirilloff aber streckte sich sofort längelang auf dem Fußboden aus, um ihn mit der Hand wieder hervorzuholen.
In diesem Augenblick trat Stawrogin ins Zimmer.
Das Kind, das ihn zuerst erblickte, warf sich erschreckt an den Hals der Alten und begann laut ein langgezogenes, eintöniges Kinderweinen, so daß die Alte es sofort hinausbrachte.
„Stawrogin?“ fragte Kirilloff, ohne die geringste Verwunderung über den unerwarteten Besuch, zog seine Hand mit dem Ball unter dem Schrank hervor und erhob sich. „Wollen Sie Tee?“
„Mit dem größten Vergnügen, wenn er warm ist, ich bin ganz durchnäßt.“
„Warm, sogar heiß,“ sagte Kirilloff mit Vergnügen, nachdem er sich davon überzeugt hatte. „Setzen Sie sich. Sie sind schmutzig, tut nichts. Ich kann’s später mit einem nassen Tuch ...“
Stawrogin setzte sich und trank fast auf einen Zug die eingegossene Tasse Tee aus.
„Noch?“
„Nein, danke.“
Kirilloff, der bis dahin gestanden hatte, setzte sich sogleich und fragte: „Wozu sind Sie gekommen?“
„Bitte, lesen Sie diesen Brief. Er ist von Gaganoff. Sie werden sich entsinnen, ich habe Ihnen von ihm schon in Petersburg erzählt.“
Kirilloff nahm den Brief, las ihn durch, legte ihn darauf wieder auf den Tisch und sah Stawrogin erwartungsvoll an.
„Mit diesem Gaganoff,“ erklärte Nicolai Wszewolodowitsch, „bin ich, wie Sie wissen, zum ersten Male in Petersburg vor kaum einem Monat zusammengetroffen, und dann sind wir uns noch ungefähr dreimal in der Gesellschaft begegnet. Wir wurden einander nicht vorgestellt, sprachen auch nicht miteinander und doch fand er Gelegenheit, sich ungezogen mir gegenüber zu benehmen. Ich habe Ihnen das ja damals alles erzählt. Doch was Sie nicht wissen, ist folgendes. Als er darauf Petersburg, noch vor mir, verließ, schrieb er mir einen Brief, der zwar noch nicht so beleidigend war, wie dieser hier, aber doch schon einen durchaus unzulässigen Ton hatte. Dabei stand mit keinem einzigen Worte darin, warum der Brief eigentlich geschrieben worden war. Ich antwortete ihm sofort und erklärte ihm ganz offenherzig, daß ich ‚da es sich wohl um den Vorfall mit seinem Vater vor vier Jahren hier im Klub handeln werde‘, – daß ich meinerseits durchaus bereit sei, ihm noch nachträglich meine Entschuldigung zu machen, einfach aus dem Grunde, weil meine Handlung damals im Krankheitszustande geschehen sei. Er antwortete mir nichts darauf und reiste irgendwohin fort. Nun komme ich hierher und finde ihn hier in einer wahren Tollwut auf mich. Man hat mir öffentliche Äußerungen von ihm mitgeteilt, die regelrechte Beschimpfungen sind, dazu die unglaublichsten Anschuldigungen. Und heute erhalte ich diesen Brief, – einen ähnlichen hat wohl noch nie jemand geschrieben! Mit Ausdrücken wie zum Beispiel ‚Ihre geschlagene Fratze‘. – Ich bin nun zu Ihnen gekommen, da ich hoffe, daß Sie mir nicht abschlagen werden, mein Sekundant zu sein?“
„In der Wut kann man schon ... Puschkin hat auch so geschrieben. Gut, ich komme. Sagen Sie, wie?“
Stawrogin erklärte, daß er ihn bäte, gleich morgen zu Gaganoff zu gehen. Er solle die Entschuldigung wiederholen und sogar noch einen zweiten Entschuldigungsbrief ankündigen – diesen letzteren aber nur unter der Bedingung, daß Gaganoff sein Wort gibt, keinen weiteren Brief irgendwie beleidigenden Inhalts zu schreiben, während sein letzter Brief als nicht erhalten betrachtet werden solle.
„Zu viel Konzessionen, er wird nicht darauf eingehen ...“
„Ich bin vor allem hierhergekommen, um zu erfahren, ob Sie überhaupt bereit sind, ihm solche Bedingungen zu überbringen?“
„Ich werde schon. Aber er wird nicht darauf eingehen ...“
„Das weiß ich.“
„Er will sich schlagen. Sagen Sie, wie?“
„Das ist es eben: ich möchte morgen die ganze Geschichte beendet haben. Sagen wir, um neun sind Sie bei ihm. Er wird Sie anhören und Ihr Ersuchen abschlagen. Dann wird er seinen Sekundanten zu Ihnen schicken, sagen wir – gegen elf. Mit dem besprechen Sie sich also, und um eins oder zwei könnten wir an Ort und Stelle sein. Ich möchte Sie sehr bitten, alles zu tun, was an Ihnen liegt, damit die Angelegenheit diesen Verlauf nimmt. Waffen natürlich Pistolen. Das Weitere – darum bitte ich Sie ganz besonders – richten Sie so ein: Vereinbaren Sie einen Abstand von zehn Schritten zwischen den Barrieren. Stellen Sie einen jeden von uns weitere zehn Schritt von seiner Barriere auf. Nach dem gegebenen Zeichen gehen wir aufeinander zu. Jeder muß unbedingt bis zu seiner Barriere gehen. Doch schießen kann er auch schon früher, im Gehen. So, das wäre alles, denke ich.“
„Zehn Schritt zwischen den Barrieren ist sehr nah,“ bemerkte Kirilloff.
„Nun, dann meinetwegen zwölf, aber nicht mehr. Sie begreifen doch, daß er sich nicht zum Vergnügen duellieren will. Verstehen Sie eine Pistole zu laden?“
„Ja. Ich habe selbst Pistolen. Ich werde mein Wort geben, daß Sie mit meinen noch nicht geschossen haben. Sein Sekundant gibt auch sein Wort für seine Pistolen. Dann werfen wir das Los, ob seine oder unsere.“
„Vorzüglich.“
„Wollen Sie die Pistolen sehen?“
„Meinetwegen.“
Kirilloff hockte vor seinem Koffer nieder, der noch immer unausgepackt in der Ecke stand, zog einen Kasten aus Palmenholz hervor, der innen mit rotem Samt ausgeschlagen war, und entnahm ihm zwei prachtvolle, äußerst kostbare Pistolen.
„Habe alles. Pulver, Kugeln, Patronen. Auch einen Revolver, warten Sie.“
Er kramte wieder in seinem Koffer und zog einen zweiten Kasten mit einem sechsläufigen Revolver hervor.
„Sie haben ja Waffen mehr als nötig! Und sehr teuere.“
„Sehr.“
Der gänzlich mittellose Kirilloff, der übrigens seine Armut selbst nie bemerkte, zeigte sichtlich nicht ohne Stolz seine Kostbarkeiten, die er zweifellos mit unglaublichen Opfern erstanden hatte.
„Sie haben immer noch dieselbe Absicht?“ fragte Stawrogin mit einer gewissen Vorsicht, nach minutenlangem Schweigen.
„Dieselbe,“ antwortete Kirilloff kurz: am Ton der Stimme hatte er sofort erkannt, wovon sein Gast sprach.
„Und – wann?“ fragte Stawrogin noch vorsichtiger, und wieder nach längerem Schweigen.
Kirilloff hatte inzwischen beide Kasten in den Koffer zurückgelegt und setzte sich nun auf seinen alten Platz.
„Das hängt nicht von mir ab. Sie wissen doch. Wann man mir sagen wird,“ murmelte er mehr vor sich hin, als wäre die Frage ihm ein wenig lästig, doch gleichzeitig war er, das fühlte man, durchaus bereit, auf andere Fragen zu antworten.
Er sah dabei mit seinen schwarzen glanzlosen Augen Stawrogin unverwandt an, mit einem seltsam gelassenen, doch guten und freundlichen Gefühl.
„Ich verstehe das gewiß – sich zu erschießen ...“ begann Stawrogin von neuem, nachdem er lange, wohl drei Minuten lang grübelnd geschwiegen hatte, während sein Gesicht sich verdüsterte. „Ich habe mir das selbst zuweilen vorgestellt. Aber es findet sich dann immer ein gewisser neuer Gedanke ein: wie, wenn man, zum Beispiel, ein Verbrechen beginge, oder etwas vor allem Schimpfliches, das heißt Schmachvolles, eine Schande, nur muß sie unendlich gemein sein und zugleich ... lächerlich – eine Schandtat, die von der Menschheit in tausend Jahren nicht vergessen wird, über die sie tausend Jahre lang flucht, und nun plötzlich der Gedanke: ‚ein Schuß in die Schläfe und es ist nichts mehr da‘. Was gehen einen dann noch die Menschen an, und daß sie einem tausend Jahre lang fluchen werden! Ist es nicht so?“
„Sie meinen, das ist ein neuer Gedanke?“ sagte Kirilloff, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte.
„Nein ... das nicht ... aber als ich ihn zum ersten Male dachte, da empfand ich ihn als ganz neu.“
„Sie empfanden einen Gedanken –“ sprach ihm Kirilloff nach. „Das ist gut. Es gibt viele Gedanken, die waren immer da, und plötzlich werden sie neu. Das ist richtig. Jetzt sehe ich vieles wie zum erstenmal.“
„Nehmen wir an, Sie waren auf dem Monde,“ unterbrach ihn Stawrogin, ohne Kirilloffs Worte zu beachten, und spann seinen eigenen Gedanken weiter. „Nehmen wir an, Sie haben dort oben alle diese lächerlichen Schmutzereien begangen. Sie wissen ganz genau, daß man Ihnen dort oben fluchen wird, tausend Jahre lang, ewig, auf dem ganzen Monde ... Aber Sie sind jetzt hier auf der Erde und sehen auf den Mond von hier aus: was geht es Sie dann hier auf der Erde an, was Sie dort oben alles getan haben – und daß die dort tausend Jahre lang bei Ihrem Namen ausspeien werden, – ist es nicht so?“
„Weiß nicht,“ antwortete Kirilloff. „Ich bin nicht auf dem Monde gewesen,“ fügte er hinzu, aber ohne jede Spur von Ironie, einfach als Ausdruck der Tatsache.
„Wessen Kind war das vorhin?“
„Die Schwiegermutter der Alten ist angekommen. Nein, Schwiegertochter ... einerlei. Vor drei Tagen. Liegt jetzt krank mit dem Kind. In der Nacht schreit es viel. Der Magen. Die Mutter schläft, und die Alte bringt es dann her. Ich spiele Ball mit ihm. Ein Hamburger Ball, hab’ ihn in Hamburg gekauft. Das stärkt den Rücken. Ein kleines Mädchen.“
„Sie lieben Kinder?“
„Ja,“ antwortete Kirilloff, übrigens ziemlich gleichmütig.
„Dann lieben Sie wohl auch das Leben?“
„Ja, auch das Leben. Wieso?“
„Wenn Sie doch beschlossen haben, sich zu erschießen.“
„Wieso denn? Warum zusammen? Das Leben für sich und jenes für sich. Leben ist, aber Tod ist überhaupt nicht.“
„So glauben Sie an ein zukünftiges ewiges Leben?“
„Nein, nicht an ein zukünftiges ewiges, sondern an ein diesseitiges ewiges. Es gibt Minuten, sie kommen zu den Minuten, und die Zeit bleibt plötzlich stehen und wird ewig sein.“
„Sie hoffen, zu so einer Minute zu kommen?“
„Ja.“
„Das ist in unserer Zeit wohl kaum möglich,“ meinte Stawrogin, gleichfalls ohne jede Spur von Ironie, langsam und wie in Gedanken verloren. „In der Apokalypse schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr geben werde.“
„Ich weiß. Das ist dort sehr richtig. Ist deutlich und genau. Wenn der ganze Mensch das Glück erreicht, dann wird es keine Zeit mehr geben, weil sie nicht nötig ist. Ein sehr richtiger Gedanke.“
„Wo wird man sie denn hinstecken?“
„Nirgendwo wird man sie hinstecken. Zeit ist kein Gegenstand, sondern eine Idee. Sie wird auslöschen im Verstande.“
„Alte philosophische Gemeinplätze, immer ein und dieselben von allem Anfange an,“ murmelte Stawrogin wie mit einem gewissen angeekelten Bedauern.
„Ein und dieselben! Ja, immer ein und dieselben vom Anfang aller Jahrhunderte an und gar keine anderen niemals!“ griff Kirilloff mit blitzenden Augen Stawrogins Wort auf, ganz als läge in diesem Gedanken fast ein Triumph!
„Ich glaube, Sie sind sehr glücklich, Kirilloff?“
„Ja, sehr glücklich,“ antwortete dieser, als gäbe er die allergewöhnlichste Antwort.
„Aber noch vor kurzem waren Sie doch so betrübt und ärgerten sich über Liputin.“
„Hm! ... Aber jetzt nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß ich glücklich war. Haben Sie ein Blatt gesehn? Ein Blatt vom Baum?“
„Freilich.“
„Ich sah vor kurzem ein gelbes, etwas grün noch, an den Rändern angefault. Es kam mit dem Wind. Als ich zehn Jahre war, schloß ich im Winter die Augen und stellte mir ein Blatt vor, ein grünes, glänzendes, mit Äderchen, und die Sonne leuchtet. Ich schlug die Augen auf und glaubte nicht, denn es war so schön, und schloß sie wieder.“
„Was soll das? Eine Allegorie?“
„N–nein ... warum? Keine Allegorie. Einfach ein Blatt. Nur ein Blatt. Ein Blatt ist gut. Alles ist gut.“
„Alles?“
„Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer es erfährt, der wird sofort gleich glücklich sein, im selben Augenblick. Diese Schwiegertochter wird sterben, und das Kind bleibt – alles ist gut. Ich habe es plötzlich entdeckt.“
„Und wenn jemand vor Hunger stirbt, oder wenn jemand ein kleines Mädchen entehrt und schändet – ist das auch gut?“
„Auch gut. Und wenn man ihm für das Mädchen den Kopf zerspaltet, auch das ist gut. Und wenn man ihm den Kopf nicht zerspaltet, auch das ist gut. Alles ist gut, alles. Für alle die ist es gut, die da wissen, daß – alles gut ist. Wenn sie wüßten, daß sie es gut haben, dann würden sie es auch gut haben. Aber so lange sie nicht wissen, daß sie es gut haben, so lange werden sie es auch nicht gut haben. Das ist der ganze Gedanke, der ganze, und außer ihm gibt es überhaupt gar keinen.“
„Wann haben Sie es denn erfahren, daß Sie so glücklich sind?“
„In der vorigen Woche am Dienstag, nein, am Mittwoch, denn es war schon Mittwoch. In der Nacht.“
„Und bei welcher Gelegenheit denn?“
„Ich weiß nicht mehr. So. Ich ging im Zimmer ... Einerlei. Ich brachte die Uhr zum Stehen. Es war siebenunddreißig Minuten nach zwei.“
„Wohl zum Symbol dessen, daß die Zeit stehen bleiben muß?“
Kirilloff schwieg.
„Die Menschen sind nicht gut,“ begann er plötzlich wieder, „weil sie nicht wissen, daß sie gut sind. Wenn sie es wissen werden, so werden sie auch nicht mehr ein kleines Mädchen vergewaltigen. Sie müssen nur alle erfahren, daß sie gut sind, und alle werden sogleich gut sein. Alle ohne Ausnahme.“
„Nun, Sie selbst, zum Beispiel, Sie haben es nun erfahren, also sind Sie jetzt gut?“
„Ich bin gut.“
„Damit bin ich übrigens einverstanden,“ sagte Stawrogin, mit gerunzelter Stirn, vor sich hin.
„Wer da lehren wird, daß alle gut sind, wird die Welt beenden.“
„Der das lehrte, den haben sie gekreuzigt,“ sagte Stawrogin.
„Er wird kommen und sein Name wird sein Menschgott.“
„Gottmensch?“
„Nein, Menschgott. Das ist der Unterschied.“
„Sind nicht vielleicht Sie es, der hier das Lämpchen vor dem Heiligenbilde angezündet hat?“
„Ja, ich habe es angezündet.“
„Wieder gläubig geworden?“
„Die Alte liebt, daß das Lämpchen ... Heute hatte sie keine Zeit,“ sagte Kirilloff undeutlich.
„Aber selbst beten Sie noch nicht?“
„Ich bete zu allem. Sehen Sie, eine Spinne kriecht dort an der Wand und ich bin ihr dankbar dafür, daß sie kriecht.“
Seine Augen brannten wieder. Er sah immer noch unverwandt Stawrogin an, mit festem, standhaftem Blick. Stawrogin beobachtete ihn finster und widerwillig, doch in seinem Blick lag kein Spott.
„Ich wette, daß Sie, wenn ich nächstens wiederkomme, bereits an Gott glauben werden.“
Er stand auf und nahm seinen Hut.
„Wieso?“ Kirilloff erhob sich gleichfalls.
„Wenn Sie wüßten, daß Sie an Gott glauben, dann würden Sie an ihn glauben. Da Sie aber noch nicht wissen, daß Sie an ihn glauben, so glauben Sie auch noch nicht an ihn,“ sagte Stawrogin mit einem flüchtigen Lächeln.
„Das ist es nicht.“ Kirilloff dachte nach. „Sie haben den Gedanken umgekehrt. Ein Kavalierscherz. Denken Sie daran, was Sie in meinem Leben bedeutet haben, Stawrogin.“
„Leben Sie wohl, Kirilloff.“
„Kommen Sie wieder nachts; wann?“
„Ja, haben Sie denn schon vergessen, was morgen bevorsteht?“
„Ach, richtig, ich vergaß. Aber seien Sie unbesorgt, ich werde nicht verschlafen. Ich verstehe aufzuwachen, wann ich will. Ich lege mich hin und sage: um sieben Uhr – und wache auf um sieben Uhr; um zehn Uhr – und wache auf um zehn Uhr.“
„Sie haben ja merkwürdige Eigenschaften.“ Stawrogin sah in sein bleiches Gesicht.
„Ich werde die Hofpforte aufmachen.“
„Bemühen Sie sich nicht, Schatoff wird mich hinauslassen.“
„Ach so, Schatoff. Gut. Leben Sie wohl.“
Die Flurtür des leeren Hauses, in dem Schatoff wohnte, war nicht verschlossen. Im Flur war es stockdunkel, so daß Stawrogin mit der Hand tastend nach der Treppe zu suchen begann. Da wurde plötzlich im oberen Stock eine Tür aufgemacht und ein Lichtschimmer ließ ihn die Treppe sehen. Schatoff trat selbst nicht heraus, er ließ nur die Tür offen stehen. Als Stawrogin oben anlangte und an der Türschwelle stehen blieb, sah er ihn in der anderen Ecke des Zimmers an seinem Tisch stehen und warten ...
„Würden Sie mich in einer Angelegenheit empfangen?“ fragte Stawrogin, ohne einzutreten.
„Treten Sie ein. Setzen Sie sich,“ antwortete Schatoff. „Schließen Sie die Tür. Warten Sie, ich werde selbst ...“
Er schloß die Tür, drehte den Schlüssel um und setzte sich dann Stawrogin gegenüber. Er war in dieser Woche merklich abgemagert und schien jetzt zu fiebern.
„Sie haben mich müde gequält,“ sagte er halblaut murmelnd, den Blick zu Boden gesenkt. „Warum sind Sie nicht früher gekommen?“
„Sie waren so überzeugt, daß ich kommen werde?“
„Ja ... Warten Sie, ich habe im Fieber phantasiert ... vielleicht phantasiere ich auch jetzt noch ... Warten Sie.“
Er stand auf, ging zu seinem Bücherbrett und nahm von dem obersten der drei Bretter einen Gegenstand: es war ein Revolver.
„In einer Nacht träumte mir im Fieber, daß Sie kommen würden, um mich zu töten. Da habe ich mir am anderen Morgen von dem Taugenichts Lämschin für mein letztes Geld diesen Revolver gekauft. Ich wollte mich Ihnen nicht ergeben. Später kam ich wieder zu mir ... Ich habe weder Kugeln, noch Pulver ... seitdem liegt er hier auf dem Bücherbrett. Warten Sie.“
Er ging schon zum Fenster und wollte es öffnen.
„Nicht doch, warum hinauswerfen!“ rief ihn Stawrogin zurück. „Er kostet Geld ... und morgen würden die Leute davon sprechen, daß unter Schatoffs Fenster Mordwerkzeuge liegen. Legen Sie ihn wieder hin. – So. Und jetzt setzen Sie sich. Sagen Sie, warum beichten Sie mir förmlich Ihren Gedanken, daß ich zu Ihnen kommen würde, um Sie zu töten? Ich bin auch jetzt nicht gekommen, um mich mit Ihnen zu versöhnen, sondern um über etwas sehr Notwendiges mit Ihnen zu sprechen. Erklären Sie mir zunächst eines: Sie haben mich doch nicht wegen meiner Verbindung mit Ihrer Frau geschlagen?“
„Sie wissen doch selbst, daß ich nicht deswegen ...“
Schatoff sah wieder zu Boden.
„Und auch nicht wegen des dummen Klatsches über Darja Pawlowna?“
„Nein, nein, natürlich nicht! Blödsinn! Meine Schwester hat mir gleich zu Anfang gesagt ...“ erwiderte Schatoff mit Ungeduld, schroff, und fast stampfte er mit dem Fuß auf.
„Also habe ich es richtig erraten ... und auch Sie haben das andere erraten,“ fuhr Stawrogin ruhig fort. „Sie irren sich nicht, es ist so: Marja Timofejewna Lebädkin ist meine rechtmäßige, mir vor viereinhalb Jahren in Petersburg angetraute Frau. – Sie haben mich doch ihretwegen geschlagen?“
Ganz bestürzt saß Schatoff da, hörte und schwieg.
„Ich ahnte es und konnte es doch nicht glauben,“ murmelte er endlich und sah dabei Stawrogin sonderbar an.
„Und so schlugen Sie?“
Schatoff wurde feuerrot und stammelte fast zusammenhangslos:
„Ich habe es ... wegen Ihrer Erniedrigung ... für Ihren Fall ... Ihre Lüge ... Ich trat nicht an Sie heran, um Sie zu bestrafen ... Als ich auf Sie zuging, wußte ich selbst noch nicht, daß ich schlagen würde. Ich ... habe es deswegen ... weil Sie so viel in meinem Leben bedeutet haben ... Ich –“
„Verstehe, verstehe schon, sparen Sie die Worte. Es tut mir leid, daß Sie heute fiebern, denn ich muß über eine wichtige Sache mit Ihnen sprechen.“
„Ich habe schon zu lange auf Sie gewartet.“ Schatoff zitterte geradezu und erhob sich vom Stuhl. „Sprechen Sie von Ihrer Angelegenheit, ich werde dann sprechen ... nachher ...“
Er setzte sich wieder.
„Diese Sache hat mit alledem nichts gemein,“ begann Stawrogin, der ihn mit Neugier beobachtete. „Gewisse Umstände haben mich gezwungen, heute noch diese späte Stunde zu wählen, um Sie zu benachrichtigen, daß man Sie vielleicht bald ermorden wird.“
Schatoff blickte ihn wild an.
„Ich weiß, daß mir Gefahr drohen könnte,“ sagte er zurückhaltend, „aber – wie können Sie denn das wissen?“
„Weil ich ebenfalls zu jenen gehöre und eben solch ein Mitglied des Bundes bin, wie Sie.“
„Sie ... Sie ... ein Glied des ... Bundes?“
„Ich sehe an Ihren Augen, daß Sie alles von mir erwartet hätten, nur das nicht,“ sagte Stawrogin, mit kaum merklichem Lächeln. „Aber, erlauben Sie, dann wußten Sie also schon, daß man Sie ermorden will?“
„Nicht einmal gedacht habe ich daran! Und auch jetzt glaube ich es nicht, obschon Sie es sagen! Aber wer kann denn vor diesen Eseln sicher sein!“ rief er plötzlich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich fürchte sie aber nicht! Ich habe mit ihnen gebrochen. Der eine ist viermal zu mir gekommen und hat mir gesagt, daß man austreten kann ... aber –“ er sah auf Stawrogin – „was wissen Sie denn eigentlich davon?“
„O, fürchten Sie nichts, ich betrüge Sie nicht,“ fuhr Stawrogin kühl fort, mit dem Ausdruck eines Menschen, der nur eine Pflicht erfüllt. „Sie wollen mich examinieren: was ich davon weiß? Ich weiß, daß Sie in diesen Verband eingetreten sind, als Sie noch im Auslande waren, kurz vor Ihrer Reise nach Amerika und, ich glaube, gleich nach unserem letzten Gespräch, über das Sie mir dann ja in Ihrem Brief aus Amerika so viel geschrieben haben. Verzeihen Sie, bitte, daß ich nicht gleichfalls mit einem Brief darauf geantwortet habe, und nur ...“
„Das Geld schickten! Warten Sie einen Augenblick,“ unterbrach ihn Schatoff, zog eilig das Schubfach des Tisches auf und suchte unter einem Stoß von Papieren einen Hundertrubelschein hervor. „Hier, bitte, nehmen Sie die hundert Rubel wieder, die Sie mir schickten, ohne Sie wäre ich dort umgekommen. Ich würde Ihnen die Summe noch lange nicht zurückgeben können, ... wenn nicht Ihre Mutter diese hundert Rubel vor neun Monaten ... nach meiner Krankheit ... mir meiner Armut wegen geschenkt hätte. Doch fahren Sie fort, bitte ...“
Schatoff war vor Aufregung ganz atemlos.
„In Amerika änderten Sie dann Ihre Anschauungen, und als Sie nach der Schweiz zurückgekehrt waren, wollten Sie sich vom Bunde lossagen. Man antwortete Ihnen nicht, sondern beauftragte Sie, hier in Rußland von irgend jemandem eine Setzmaschine in Empfang zu nehmen und sie so lange aufzubewahren, bis eine von jenen beauftragte Person sie Ihnen wieder abnehmen würde. Ich bin nicht über alle Einzelheiten unterrichtet, doch in der Hauptsache verhält es sich so, nicht wahr? Sie aber nahmen den Auftrag unter der Bedingung oder vielleicht auch nur in der Hoffnung an, daß es – deren letzte Forderung sei, und Sie dann endgültig frei wären. Alles das habe ich nicht von jenen, sondern ganz zufällig erfahren. Ich möchte Sie nun auf eines aufmerksam machen, was Sie noch nicht zu wissen scheinen: daß nämlich jene Leute durchaus nicht die Absicht haben, Sie freizugeben.“
„Das ist unmöglich!“ brüllte Schatoff auf. „Ich habe ihnen ehrlich erklärt, daß ich geistig nichts mehr mit ihnen gemein habe! Das ist mein Recht, das Recht meines Gewissens und meiner Überzeugung ... Ich werde das nicht dulden! Es gibt keine Macht, die ...“
„Wissen Sie, schreien Sie lieber nicht so,“ fiel ihm Stawrogin sehr ernst ins Wort. „Dieser Werchowenski ist ein Mensch, der vielleicht in diesem Augenblick hier auf Ihrem Treppenflur zuhört, wenn nicht mit eigenen, so doch mit fremden Ohren, – was sich ja schließlich gleich bleibt. Sogar der ewig betrunkene Lebädkin war verpflichtet, Sie zu beobachten, und Sie mußten vielleicht wiederum auf ihn aufpassen, – war’s nicht so? Übrigens, sagen Sie mir lieber, hat sich Werchowenski jetzt mit Ihren Argumenten einverstanden erklärt, oder nicht?“
„Er war einverstanden: er sagte, ich könne – und ich hätte das Recht ...“
„Nun, dann betrügt er Sie. Ich weiß genau, daß sogar Kirilloff, der beinahe überhaupt nicht zu ihnen gehört, beauftragt war, Nachrichten über Sie zu schicken. Agenten haben sie in Mengen, und viele wissen es nicht einmal, daß sie dem Verbande dienen. Auf Sie hat man beständig aufgepaßt. Pjotr Stepanowitsch ist unter anderem auch deshalb hergekommen, um Ihre Angelegenheit endgültig zu erledigen: da Sie zu viel wissen und vielleicht sie alle verraten könnten, hat er die Vollmacht, Sie in einem passenden Augenblick zu beseitigen. Erlauben Sie mir, zu bemerken, daß jene die feste Überzeugung haben, daß Sie ein Spion sind, der, wenn er auch bis jetzt noch nichts verraten hat, es doch bestimmt tun wird. Ist das wahr?“ fragte Stawrogin in einem ruhigen, ganz gewöhnlichen Tone.
Schatoff verzog den Mund, als er eine solche Frage in einem solchen Tone hörte.
„Und wenn ich ein Spion wäre – wem sollte ich denn etwas verraten?“ fragte er hämisch zurück. „Nein, lassen Sie das! Zum Teufel mit mir! Aber Sie!“ rief er aus, sich plötzlich von neuem auf die Nachricht stürzend, die Stawrogin betraf, und die ihn sichtlich weit mehr erschüttert hatte, als die von seiner eigenen Gefahr. „Aber Sie, Sie, Stawrogin, wie konnten Sie sich in eine so schamlose, geistlose Knechtsgesellschaft verlieren! ... Sie, ein Mitglied dieser Bande! Ist denn das die Heldentat Nicolai Stawrogins!?“ rief er ganz verzweifelt aus und erhob wie fassungslos die Hände, als könnte es nichts Bittereres und Trostloseres für ihn geben, als diese Entdeckung.
„Erlauben Sie –“ wunderte Stawrogin sich tatsächlich, „Sie scheinen ja förmlich eine Sonne in mir zu sehen und sich selbst, im Vergleich zu mir, für so etwas wie ein Insekt zu halten? Auch aus Ihrem Brief aus Amerika habe ich das ...“
„Sie ... Sie wissen ... Eh, lassen wir mich aus dem Spiel!“ brach Schatoff plötzlich das ab. „Aber wenn Sie über sich selbst etwas sagen, erklären könnten? ... Auf meine Frage? – So tun Sie es!“ bat er erregt.
„Mit Vergnügen. Sie fragen, wie ich mich in diesen Kreis verlieren konnte, in diese geistige Spelunke? Ich bin jetzt sogar verpflichtet, Ihnen einige Mitteilungen darüber zu machen. Genau genommen, gehöre ich durchaus nicht zu diesem Bunde, habe auch früher nicht zu ihm gehört und habe weit mehr das Recht, als Sie, ihn zu verlassen, da ich ausdrücklich niemals in ihn eingetreten bin. Im Gegenteil, ich habe den Leuten gleich zu Anfang erklärt, daß ich ihnen durchaus nicht sonderlich gewogen bin, – und wenn ich ihnen zufällig einmal geholfen habe, so habe ich das nur wie ein müßiger Mensch getan. Ich habe teilweise an der Reorganisation des Verbandes nach einem neuen Plane mitgearbeitet, doch das ist auch alles. Jene aber sind jetzt bedenklich geworden und mit sich übereingekommen, daß auch ich ihnen gefährlich werden könnte, und deshalb bin auch ich, wenn ich mich nicht irre, zum Tode verurteilt.“
„Oh, mit Todesurteilen sind sie gleich bei der Hand, das geht bei ihnen schnell – und alles vorschriftsmäßig auf bestempeltem Papier, das dann von dreieinhalb Menschen unterschrieben wird! Und Sie glauben, daß die dazu fähig wären! ...“
„Hierin haben Sie teilweise recht, teilweise auch nicht,“ fuhr Stawrogin mit der früheren Gleichmütigkeit, fast Faulheit, fort. „Zweifellos ist auch viel Phantasie dabei, wie ja gewöhnlich in solchen Fällen, und in der Phantasie vergrößert das Häufchen sein Wachstum und seine Bedeutung. Ja, meiner Meinung nach besteht die ganze Gesellschaft, wenn Sie wollen, einzig und allein aus Pjotr Werchowenski, und er ist schon etwas zu bescheiden, wenn er sich nur für einen Agenten des Verbandes hält. Der Hauptgedanke, der der ganzen Sache zugrunde liegt, ist nicht gerade dümmer, als bei anderen Verbänden dieser Art. Sie haben Beziehungen zur Internationale. Es ist ihnen gelungen, sich in Rußland Agenten anzulegen, und sie haben sogar ein ziemlich originelles Verfahren erfunden ... doch selbstverständlich nur theoretisch. Was nun Sie und mich betrifft, ich meine, ihre Absichten mit uns, so ist ihre russische Organisation eine so dunkle Sache, daß man in der Tat auf alles mögliche gefaßt sein kann. Und vergessen Sie nicht, Werchowenski ist ein Mensch, der das, was er will, auch durchsetzt.“
„Diese Wanze, dieser ungebildete Flegel, dieser Flachkopf, der von Rußland überhaupt nichts versteht!“ rief Schatoff wütend aus.
„Sie kennen ihn nur flüchtig. Es ist wahr, daß sie alle nur wenig von Rußland verstehen, aber schließlich doch wohl nur wenig weniger als Sie und ich. Außerdem ist Werchowenski Enthusiast.“
„Werchowenski Enthusiast?“
„O ja. Es gibt einen Punkt, wo er aufhört, bloß Narr zu sein, und sich in einen ... Halbverrückten verwandelt. Erinnern Sie sich bitte eines Ihrer eigenen Aussprüche: ‚wissen Sie auch, wie stark ein einzelner Mensch sein kann‘? Bitte, lachen Sie nicht, er ist sogar sehr fähig, den Hahn eines Gewehres abzudrücken. Die Leute sind überzeugt, daß auch ich ein Spion bin. Und da sie die Sache nicht anzufassen verstehen, so beschuldigen sie mit Vorliebe andere der Spionage.“
„Aber Sie fürchten sie doch nicht.“
„N–nein ... Ich fürchte sie nicht sehr ... Doch mit Ihnen ist es etwas ganz anderes. Ich habe Sie wenigstens gewarnt, damit Sie sich einzurichten wissen. Es braucht einen nicht zu beleidigen, daß einem von Dummköpfen Gefahr droht. Aber wie ich sehe, ist es schon viertel nach elf.“ Stawrogin blickte auf seine Uhr und erhob sich. „Ich möchte nur noch eine ganz nebensächliche Frage an Sie stellen.“
„Um Gottes willen!“ rief Schatoff und sprang jäh auf.
„Sie meinen?“ Stawrogin sah ihn fragend an.
„Sagen Sie, stellen Sie die Frage ... um Gottes willen!“ wiederholte Schatoff in unbeschreiblicher Aufregung. „Aber mit der Bedingung, daß auch ich dann eine Frage stellen kann! Ich flehe Sie an ... daß auch ich ... Ich kann nicht mehr! – Stellen Sie Ihre Frage.“
Stawrogin wartete ein wenig, dann begann er:
„Ich hörte, Sie hätten hier einigen Einfluß auf Marja Timofejewna gehabt, und diese soll Sie gern gesehen und Ihnen zugehört haben. Ist das wahr?“
„Ja ... sie sah ... Ja – sie sah mich ...“ stammelte Schatoff ein wenig wirr.
„Ich habe die Absicht, in diesen Tagen meine Heirat mit ihr hier in der Stadt öffentlich bekanntzumachen.“
„Ist das möglich?“ flüsterte Schatoff fast entsetzt.
„Sie meinen das – in welchem Sinne? ... Es liegen durchaus keine Schwierigkeiten vor. Die Trauzeugen sind hier. Es geschah, wie gesagt, damals in Petersburg vollkommen ruhig und rechtmäßig in Gegenwart der beiden Trauzeugen, Kirilloff und Pjotr Werchowenski, und von Lebädkin, den ich jetzt das Vergnügen habe, meinen Verwandten zu nennen. Es blieb bisher allen unbekannt, weil diese drei ihr Wort gaben, darüber zu schweigen.“
„Ich meinte nicht das ... Sie sagen es so ruhig ... aber fahren Sie fort! Hören Sie, man hat Sie doch nicht mit Gewalt zu dieser Ehe gezwungen, doch nicht mit Gewalt?“
„Nein, mich hat niemand mit Gewalt dazu gezwungen.“ Stawrogin lächelte über Schatoffs einfältigen Eifer.
„Und was sie da von ihrem Kinde redet? ...“ beeilte sich Schatoff, wirr, wie im Fieber.
„Von ihrem Kinde redet? Bah! Das wußte ich nicht; höre es zum erstenmal. Sie hat nie ein Kind gehabt und hätte es auch gar nicht haben können: Marja Timofejewna ist Mädchen.“
„Ah! Das dachte ich mir auch! Hören Sie!“
„Was fehlt Ihnen, Schatoff?“
Schatoff bedeckte sein Gesicht mit den Händen, wandte sich ab, kehrte sich dann wieder um und packte plötzlich Stawrogin fest an den Schultern.
„Wissen Sie denn auch, wissen Sie denn wenigstens,“ rief er wieder laut, „warum Sie das alles getan haben und warum Sie sich jetzt zu dieser Buße entschließen?“
„Ihre Frage ist klug und boshaft, aber ich habe die Absicht, auch Sie in Erstaunen zu setzen. Ja, fast weiß ich es, warum ich damals geheiratet und warum ich mich jetzt entschlossen habe, diese ‚Buße‘, wie Sie sagen, auf mich zu nehmen.“
„Lassen wir das ... davon später ... warten Sie ... sprechen Sie von der Hauptsache, von der Hauptsache ... Ich habe zwei Jahre auf Sie gewartet!“
„Ja?“
„Ich habe schon zu lange auf Sie gewartet, ich habe ununterbrochen an Sie gedacht! Sie sind der einzige Mensch, der’s könnte ... Ich habe Ihnen schon aus Amerika davon geschrieben ...“
„Ich erinnere mich nur zu gut Ihres langen Briefes.“
„Der zu lang war, um durchgelesen zu werden? Einverstanden. Sechs Bogen ... Schweigen Sie, schweigen Sie! Sagen Sie: können Sie mir noch zehn Minuten schenken, aber gleich, jetzt gleich ... Ich habe zu lange auf Sie gewartet!“
„Bitte, auch eine halbe Stunde, aber nicht mehr, wenn’s Ihnen möglich ist, sich damit zu begnügen.“
„Aber ... nur mit der Bedingung,“ unterbrach ihn Schatoff jähzornig, „daß Sie Ihren Ton ändern. Hören Sie, ich verlange es, ich fordere es, während ich Sie doch darum anflehen müßte ... Verstehen Sie, was das heißt, zu fordern, wenn man weiß, daß man flehen müßte?“
„Ich verstehe, daß Sie sich so über alles Gewöhnliche erheben wollen, um eines höheren Zweckes willen.“ Stawrogin lächelte kaum merklich. „Und mit Bedauern sehe ich, daß Sie im Fieber sind.“
„Ich bitte, mich zu achten, ich verlange es!“ rief Schatoff. „Nicht meine Person selbst, zum – Teufel mit ihr, – aber das andere ... nur diesen einen Augenblick, für diese paar Worte ... Wir sind zwei Wesen und treffen uns hier außerhalb von Raum und Zeit ... zum letztenmal in der Welt. Lassen Sie diesen Ihren Ton, und nehmen Sie einen menschlichen an! Sprechen Sie doch ein einziges Mal im Leben mit einer menschlichen Stimme! Nicht um meinetwillen, sondern um Ihretwillen! Verstehen Sie denn nicht, daß Sie mir diesen Schlag in Ihr Gesicht schon deshalb verzeihen müssen, weil ich Ihnen damit Gelegenheit gegeben habe, Ihre grenzenlose Macht zu fühlen. Schon wieder lächeln Sie Ihr verächtliches, angeekeltes Gesellschaftslächeln! Oh, wann werden Sie mich endlich verstehen! Zum Teufel mit dem verfluchten Herrensohn in Ihnen! So begreifen Sie doch, daß ich das verlange, sonst will ich nicht mit Ihnen sprechen, werde es nicht tun, um keinen Preis, für nichts in der Welt!“
Seine fanatische Wut grenzte schon an Fieberwahnsinn. Stawrogins Gesicht verfinsterte sich und er wurde vorsichtiger.
„Da ich nun schon eingewilligt habe, noch eine halbe Stunde hier zu bleiben,“ sagte er eindringlich und ernst, „obgleich meine Zeit sehr kostbar ist, so könnten Sie mir doch glauben, daß ich die Absicht habe, Sie wenigstens mit Interesse anzuhören.“
Er setzte sich wieder auf seinen Platz.
„Setzen Sie sich!“ rief Schatoff plötzlich und setzte sich dann gleichfalls.
„Einstweilen erlauben Sie mir aber noch, Sie daran zu erinnern, daß ich meine Bitte an Sie, wegen Marja Timofejewna, eine Bitte, die wenigstens für Marja Timofejewna von großer Wichtigkeit ...“
„Nun?“ Schatoff ärgerte sich, wie ein Mensch, den man plötzlich an der wichtigsten Stelle seiner Rede unterbricht, und der dann, wenn er seinen Widerpart auch ansieht, doch noch nicht den Sinn der Worte versteht.
„... Und Sie unterbrachen mich, noch bevor ich meine Bitte zu Ende sprechen konnte,“ schloß Stawrogin lächelnd.
„Eh, was, Unsinn, nachher!“ rief Schatoff und winkte, da er endlich diese Anmaßung begriff, nur angewidert ab und ging sofort gerade auf sein Ziel los.
„Wissen Sie auch,“ begann er fast drohend, mit vorgebeugtem Körper und glänzenden Augen, wobei er den Zeigefinger seiner Rechten vor sich erhoben hielt, was er selbst gar nicht zu bemerken schien, „wissen Sie auch, welches jetzt das einzige Gotträgervolk ist, das da kommen wird, die Welt zu erlösen und zu erneuen mit dem Namen des neuen Gottes – das einzige Volk, dem die Quellen des Lebens und des neuen Wortes gegeben sind ... Wissen Sie auch, welches Volk das ist und wie sein Name lautet?“
„Nach Ihrem Gebaren zu urteilen, muß ich unbedingt und wohl so schnell wie möglich sagen, daß dieses Volk das russische sei.“
„Und schon lachen Sie! Oh, Russen!“
Schatoff krallte vor Wut die Hand ins Haar.
„Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum. Im Gegenteil: ich hatte sogar gerade etwas von dieser Art erwartet.“
„Von dieser Art erwartet? Aber Ihnen selbst sind diese Worte nicht bekannt?“
„Oh, sie sind mir durchaus bekannt. Ich sehe nur zu gut, wohin Sie damit wollen. Alles, was Sie sagten, und sogar der Ausdruck ‚Gotträgervolk‘ ist nichts anderes, als die Schlußfolgerung aus unserem Gespräch, das wir vor zwei Jahren im Auslande hatten, kurz vor Ihrer Reise nach Amerika ... Wenigstens so weit ich mich dessen entsinnen kann.“
„Aber das ist ja doch Ihr Ausspruch, vom Anfang bis zum Ende Ihr Ausspruch – und nicht der meinige! Ihre eigenen Worte, und nicht nur die Folgerung aus unserem Gespräch! Und wie können Sie überhaupt sagen ‚unserem‘ Gespräch! Es war da ein Lehrer, der große, mächtige Worte predigte, und es war da ein Schüler, der von den Toten auferstand und zuhörte. Ich war der Schüler und der Lehrer waren Sie.“
„Doch erlauben Sie, wenn ich mich recht entsinne, so war es gerade nach meinen Worten, daß Sie in jenen Bund eintraten und dann nach Amerika reisten?“
„Ja – doch ich schrieb Ihnen darüber aus Amerika. Ich konnte mich damals noch nicht losreißen von all dem, woran ich mich von Kindheit auf festgesogen hatte, das das Entzücken all meiner Hoffnungen gewesen war und die Tränen meines ganzen Hasses und meiner ganzen Verzweiflung ... Oh, es ist schwer, die Götter zu wechseln! Ich glaubte Ihnen damals nicht, denn ich wollte nicht glauben und warf mich noch zum letztenmal in diese ... in diese Kloake ... Doch die Saat blieb und schoß auf und wuchs. Aber sagen Sie im Ernst: haben Sie meinen Brief aus Amerika überhaupt nicht gelesen?“
„Ich habe drei Seiten gelesen, die beiden ersten und die letzte, und das andere überflogen. Übrigens habe ich mir schon immer vorgenommen ...“
„Eh, einerlei, lassen Sie es, zum Teufel damit,“ winkte Schatoff ab. „Wenn Sie aber Ihren früheren Worten untreu geworden sind, wie konnten Sie sie denn damals aussprechen? Das ist es, was mich jetzt würgt!“
„Ich habe auch damals nicht mit Ihnen gescherzt. Als ich Sie überzeugen wollte, bemühte ich mich vielleicht weit mehr um mich selbst, als um Sie,“ antwortete Stawrogin rätselhaft.
„Nicht gescherzt! In Amerika habe ich drei Monate auf Stroh gelegen neben einem ... Unglücklichen, von dem ich erfuhr, daß Sie in derselben Zeit, als Sie in meine Seele Gott und die Heimat pflanzten, das Herz dieses selben, dieses Maniaken Kirilloff, vergifteten ... Sie haben Lüge und Verleumdung in ihm bestätigt und seine Vernunft schließlich zum Wahnsinn gebracht. Gehen Sie, sehen Sie ihn sich an ... Das ist jetzt Ihr Geschöpf! Aber Sie haben ihn ja gesehen ...“
„Erstens möchte ich Ihnen sagen, daß mir Kirilloff soeben selbst gesagt hat, daß er glücklich ist und vollkommen. Was Sie da von ‚derselben Zeit‘ sagen, das ist allerdings fast richtig – aber was liegt daran? Ich wiederhole nochmals, daß ich weder Sie noch ihn betrogen habe.“
„Sie sind Atheist? Sind Sie jetzt Atheist?“
„Ja.“
„Und damals?“
„Ebenso wie heute.“
„Ich habe nicht für mich um Achtung gebeten, als ich das Gespräch begann. Das hätten Sie, bei Ihrem Verstande, wirklich verstehen können,“ murmelte Schatoff unwillig.
„Ich bin nicht bei Ihrem ersten Worte aufgestanden, habe nicht dieses Gespräch abgebrochen, bin nicht fortgegangen, sitze noch jetzt hier und antworte gehorsam auf Ihre Fragen und ... Schreie – also habe ich doch die Achtung vor Ihnen nicht vergessen.“
Schatoff unterbrach ihn mit einer Handbewegung:
„Erinnern Sie sich noch Ihres Ausspruchs: ‚ein Atheist kann nicht Russe sein‘ – ‚ein Atheist hört sofort auf, Russe zu sein‘ – erinnern Sie sich?“
„Ja?“ fragte Stawrogin gleichsam.
„Sie fragen noch? Sie haben es vergessen? Und doch ist es einer der richtigsten Hinweise auf eine der wichtigsten Besonderheiten des russischen Geistes, die Sie erraten haben. Nein, das haben Sie nicht vergessen können! Und ich werde Sie an noch etwas erinnern. Damals sagten Sie sogar: ‚Ja, wer nicht rechtgläubig ist, der kann nicht Russe sein‘ ...“
„Mir scheint, das ist ein Gedanke der Slawophilen.“
„Nein. Die jetzigen Slawophilen würden sich von ihm lossagen. Heute ist ja alle Welt klüger geworden! Sie aber gingen damals noch weiter: Sie sagten, daß der Katholizismus überhaupt nicht mehr Christentum sei. Sie behaupteten, daß der Christus, den Rom verkündet, der dritten Versuchung des Satans nicht widerstanden hat, und daß Rom, wenn es alle Welt lehrt, Christus könne ohne Erdenreich auf der Erde nicht bestehen, damit den Antichrist verkündet und den ganzen Westen zugrunde gerichtet hat. Und Sie wiesen noch darauf hin, daß, wenn Frankreich sich quält, daran einzig der Katholizismus die Schuld trägt, denn Frankreich habe den stinkenden römischen Gott zwar verworfen, einen neuen Gott aber nicht zu finden vermocht. Ja, das alles haben Sie damals sagen können! Ich habe unsere Gespräche behalten.“
„Wenn ich gläubig wäre, so würde ich zweifellos auch jetzt noch dasselbe wiederholen: ich log nicht, als ich wie ein Gläubiger sprach,“ sagte Stawrogin sehr ernst, „aber ich versichere Ihnen, daß diese Wiederholungen meiner früheren Gedanken einen unangenehmen Eindruck auf mich machen. Können Sie nicht abbrechen?“
„Wenn Sie gläubig wären?!“ rief Schatoff, ohne der Bitte die geringste Beachtung zu schenken. „Aber wer war es denn, der mir einst sagte: ‚Wenn man mir mathematisch bewiese, daß die Wahrheit nicht in Christus ist, so würde ich es dennoch vorziehen, mit Christus zu bleiben, als mit der Wahrheit‘ –? Sollten Sie das wirklich nicht gewesen sein? Oder haben Sie das gesagt? Haben Sie’s?“
„Aber erlauben Sie auch mir, endlich zu fragen,“ – Stawrogin erhob nun auch seine Stimme – „was Sie mit diesem ungeduldigen und ... boshaften Examen eigentlich von mir wollen?“
„Dieses Examen vergeht und Sie werden nie wieder daran erinnert werden.“
„Sie bestehen immer noch darauf, daß wir außerhalb von Raum und Zeit sind?“
„Schweigen Sie!“ fuhr ihn Schatoff plötzlich an. „Ich bin dumm und ungeschickt, doch mag mein Name in Lächerlichkeit untergehen – darauf kommt’s nicht an. Aber ... werden Sie mir gestatten, hier vor Ihnen wenigstens noch Ihren größten Gedanken von damals zu wiederholen ... nur zehn Zeilen, nur die letzte Zusammenfassung?“
„Wiederholen Sie ... wenn es wirklich nur die Zusammenfassung ist ...“
Stawrogin wollte schon nach der Uhr sehen, bezwang sich aber und tat es nicht.
Schatoff beugte wieder den Oberkörper vor und auf einen Augenblick erhob er sogar abermals den Zeigefinger.
„Noch kein einziges Volk,“ begann er, als lese er Zeile für Zeile aus einem Buche ab, während er dabei Stawrogin unverändert streng ansah, „noch kein einziges Volk hat sich auf den Grundlagen der Vernunft und Wissenschaft aufgebaut und eingerichtet. Dieses Beispiel hat noch kein Volk gegeben, außer vielleicht für die Dauer von höchstens einem Augenblick, und dann geschah es aus Dummheit. Der Sozialismus muß schon seinem Wesen nach Atheismus sein, denn er verkündet gleich ausdrücklich und mit seinem ersten Satz, daß er seine Welt ausschließlich auf Vernunft und Wissenschaft aufzubauen beabsichtigt. Doch Vernunft und Wissenschaft haben im Leben der Völker stets, sowohl jetzt wie von jeher, nur eine zweitrangige und dienende Aufgabe erfüllt; und das werden sie bis zum Ende der Welt tun. Gestaltet und bewegt aber werden die Völker von einer ganz anderen Kraft, von einer befehlenden und zwingenden, deren Ursprung jedoch unbekannt und unerklärlich bleibt. Es ist die Kraft des unstillbaren Wunsches, zum Ende zu gelangen, und die sich zu gleicher Zeit ständig des Endes erwehrt. Es ist die Kraft der fortwährenden und unermüdlichen Bestätigung des Seins und Verneinung des Todes. Es ist der Geist der ewig fließenden Wasser des Lebens, wie die Heilige Schrift sagt, und mit deren Versiegen die Apokalypse so furchtbar droht. Es ist der ästhetische Trieb, wie die Künstler, es ist der moralische Trieb, wie die Philosophen ihn nennen. Ich sage einfach: ‚Es ist das Suchen nach Gott‘. Das ewige Ziel der ganzen Bewegung eines Volkes, jedes Volkes, und jedes besondere Ziel in jedem Abschnitt seiner Geschichte ist immer und einzig sein Suchen nach Gott, nach seinem Gott, unbedingt nach seinem eigenen, seinem besonderen Gott, und dann der Glaube an diesen Gott als an den einzig wahren. Gott ist die synthetische Persönlichkeit eines ganzen Volkes von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Noch nie ist es vorgekommen, daß zwei oder mehrere Völker ein und denselben Gott gehabt hätten, sondern jedes Volk hat stets seinen eigenen Gott gehabt. Ein Anzeichen des Niedergangs der Völker ist es, wenn ihre Götter allgemein werden. Und wenn die Götter allgemein werden, dann sterben die Götter und stirbt der Glaube an sie zusammen mit den Völkern. Je stärker aber ein Volk ist, desto ausschließlicher ist auch sein Gott. Noch hat es nie ein Volk ohne Religion gegeben, das heißt, ohne Vorstellung von Gut und Böse. Jedes Volk hat seinen eigenen Begriff von Gut und Böse, und sein eigenes Gut und Böse. Wenn bei vielen Völkern die Begriffe von Gut und Böse gemeingültig zu werden beginnen, dann verwischt sich und verschwindet der Unterschied zwischen Gut und Böse und die Völker gehen zugrunde. Noch nie ist die Vernunft fähig gewesen, Gut und Böse zu erklären, oder auch nur Böse und Gut auseinanderzuhalten, wenn auch nur annähernd. Im Gegenteil, stets hat sie Gut und Böse nur schmählich und kläglich miteinander verwechselt. Die Wissenschaft aber hat immer nur rohe, plumpe Antworten gegeben. Und besonders hat sich darin die Halbwissenschaft ausgezeichnet, diese schrecklichste aller Geißeln der Menschheit, furchtbarer als Pest, Hunger und Krieg, die bis zum jetzigen Jahrhundert unbekannt war. Die Halbwissenschaft – die ist ein Despot, wie es bisher noch keinen gegeben hat. Ein Despot, der seine Priester und Sklaven hat, ein Despot, vor dem alles in Liebe und mit einem Aberglauben sich beugt, der bisher undenkbar gewesen wäre, vor dem sogar die Wissenschaft selbst zittert und dem sie schmachvoll genug beipflichtet. – Das sind alles Ihre eigenen Worte, Stawrogin, nur die über die Halbwissenschaft, die sind von mir, der ich selbst solch ein Halbwissenschaftler bin und sie darum hasse, wie ich nur etwas hassen kann. An Ihren Gedanken aber und sogar an Ihren Worten habe ich nichts geändert, nicht eine einzige Silbe.“
„Ich glaube nicht, daß Sie nichts verändert haben,“ bemerkte Stawrogin vorsichtig, „Sie haben alles leidenschaftlich erfaßt und es auch leidenschaftlich verändert – vielleicht ohne es zu bemerken. Schon allein, daß Sie Gott zu einem einfachen Attribut des Volkes erniedrigen –“
Er begann plötzlich, Schatoff mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit zu betrachten, nicht einmal so sehr auf seine Worte zu hören, als ihn selbst zu beobachten.
„Ich erniedrige Gott zu einem Attribut des Volkes! Im Gegenteil, ich erhebe das Volk bis zu Gott! Das Volk, – das ist der Körper Gottes. Jedes Volk ist nur so lange Volk, wie es noch seinen besonderen, seinen eigenen Gott hat, und all die anderen Götter auf der Welt stark und grausam von sich stößt; so lange es noch glaubt, daß es nur mit seinem Gott siegen und alle anderen Götter und Völker sich unterwerfen kann. Das haben alle großen Völker der Erde von sich und ihrem Gotte geglaubt, wenigstens alle einigermaßen hervorragenden, alle, die einmal an der Spitze der Menschheit gestanden. Die Juden haben nur zu dem Zweck gelebt, um den wahren Gott zu erwarten, und so haben sie denn jetzt der Welt den wahren Gott hinterlassen. Die Griechen haben die Natur vergöttert und der Welt ihre griechische Religion, das heißt, Philosophie und Kunst, hinterlassen. Rom hat das Volk im Staate vergöttert und den Völkern den Staat vermacht. Frankreich war in seiner ganzen langen Geschichte nur die Verkörperung und Entwicklung des Gottes ‚Katholizismus‘; und wenn es diesen seinen römischen Gott schließlich in den Orkus warf und sich dem Atheismus hingab, der bei den Franzosen vorläufig noch Sozialismus heißt – so geschah das nur deshalb, weil der Atheismus schließlich doch gesünder ist als der römische Katholizismus. Wenn ein großes Volk nicht glaubt, daß in ihm allein die Wahrheit ist (gerade in ihm allein und unbedingt ausschließlich in ihm), wenn es nicht glaubt, daß es ganz allein fähig und berufen ist, alle anderen Völker zu erwecken und sie mit seiner Wahrheit zu erretten, so wird es sofort zu ethnographischem Material, doch nicht zu einem großen Volk! Ein wahrhaft großes Volk kann sich auch nie mit einer zweitrangigen Rolle in der Menschheit zufrieden geben, ja, noch nicht einmal mit einer erstrangigen, sondern es muß unbedingt und ausschließlich das Erste unter den Völkern sein wollen. Ein Volk, das diesen Glauben verliert, ist kein Volk mehr. Doch da es nur eine Wahrheit gibt, so kann auch nur ein einziges Volk den einzigen wahren Gott haben, mögen andere Völker auch ihre eigenen und noch so großen Götter besitzen. Das einzige Gotträgervolk aber – das sind wir, das ist das russische Volk, und ... und ... und sollten Sie mich wirklich für so dumm halten, Stawrogin,“ brüllte er plötzlich voll Ingrimm, „daß ich nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob diese meine Worte altes, mürbes Gewäsch sind, das von allen möglichen Moskauer Slawophilenmühlen schon durch und durch gemahlen ist, oder ob es neue Worte sind, vollständig reine und neue Worte, die letzten Worte, die einzigen Worte der Erlösung und Auferstehung und ... Eh, was geht mich jetzt in diesem Augenblick Ihr Lachen an! Was geht es mich an, daß Sie mich überhaupt nicht, überhaupt nicht verstehen, kein Wort, keinen Ton ... Oh, wie unsagbar ich es verachte, Ihr stolzes Lachen und Ihren stolzen Blick gerade jetzt!“
Er sprang auf, sogar Schaum war auf seinen Lippen.
„Im Gegenteil, Schatoff, ganz im Gegenteil,“ sagte Stawrogin ungewöhnlich ernst, ohne sich von seinem Platz zu erheben, „im Gegenteil, Sie haben mit Ihren glühenden Worten ungemein starke Erinnerungen in mir wachgerufen. Ich finde meine eigene Stimmung von damals, vor zwei Jahren, wieder, und jetzt werde ich Ihnen schon nicht mehr sagen, daß Sie meine Gedanken vergrößert haben. Es scheint mir sogar, daß ich sie noch schärfer, noch autokratischer damals prägte, und ich versichere Ihnen auf jeden Fall, daß ich sogar sehr gerne alles bestätigen würde, was Sie da sagten, aber ...“
„Aber Sie brauchen den Hasen?“
„Wa–as?“
„Das ist ja Ihr eigener, gemeiner Ausdruck!“ lachte Schatoff höhnisch auf und setzte sich wieder. „‚Um eine Hasensauce zu machen, braucht man einen Hasen, und um an Gott zu glauben, muß erst Gott da sein.‘ Das sollen Sie in Petersburg gesagt haben, à la Nosdreff,[37] der den Hasen an den Hinterbeinen fangen wollte.“
„Nein, Nosdreff prahlte, er hätte ihn bereits gefangen. Übrigens, erlauben Sie eine Frage, zumal ich jetzt wohl das volle Recht dazu haben dürfte: Ist Ihr Hase eigentlich schon gefangen oder läuft er noch?“
„Unterstehen Sie sich nicht, mich mit solchen Worten zu fragen! Fragen Sie mit anderen, mit anderen!“ Schatoff zitterte plötzlich.
„Wie Sie wünschen. Also mit anderen.“ Stawrogin sah ihn mit hartem Blick an. „Ich wollte nur wissen: glauben Sie selbst an Gott, oder nicht?“
„Ich glaube an Rußland, ich glaube an seine Rechtgläubigkeit ... Ich glaube an den Leib Christi ... Ich glaube, daß die neue Wiederkunft in Rußland geschehen wird ... Ich glaube ...“ stammelte Schatoff wie in Verzückung.
„Aber an Gott? An Gott?“
„Ich ... ich werde glauben – an Gott.“
Kein einziger Muskel bewegte sich im Gesicht Stawrogins. Schatoff sah ihn glühend, mit Herausforderung an, ganz als hätte er ihn verbrennen wollen mit seinem Blick.
„Ich habe Ihnen doch nicht gesagt, daß ich überhaupt nicht glaube,“ rief er schließlich. „Ich gebe doch nur zu verstehen, daß ich ein unglückliches, langweiliges Buch bin und vorläufig nichts weiter, vorläufig ... Aber was liegt an mir! Es liegt ja alles bei Ihnen! Ich bin nur ein unbegabter Mensch und kann nur mein Blut hingeben und weiter nichts, wie jeder unbegabte Mensch. So mag denn mein Blut auch fließen! Ich spreche jetzt von Ihnen. Ich habe zwei Jahre hier auf Sie gewartet ... Nur um Ihretwillen tanze ich jetzt hier nackt vor Ihnen. Nur Sie ... Sie allein könnten die Fahne erheben! ...“
Er sprach nicht zu Ende und wie in Verzweiflung stützte er die Arme auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.
„Ich möchte, da Sie darauf zu sprechen gekommen sind, nur eines bemerken, als Kuriosität,“ unterbrach Stawrogin plötzlich die Stille. „Warum wollen mir alle immer eine Fahne aufdrängen? Auch Pjotr Stepanowitsch ist überzeugt, ich allein könnte ihre ‚Fahne erheben‘, – wenigstens hat man mir diesen Ausspruch von ihm wiedergegeben. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, ich wäre fähig, für sie die Rolle eines Stenka Rasin[38] zu spielen, dank meiner ‚ungewöhnlichen Fähigkeit zum Verbrechen‘ – gleichfalls seine Worte.“
„Wie? Dank Ihrer ‚ungewöhnlichen Fähigkeit zum Verbrechen?‘“ fragte Schatoff.
„Hm! ... Aber ist es wahr,“ fragte Schatoff mit einem bösen Lächeln, „daß Sie in Petersburg zu einer viehischen, wollüstigen Gesellschaft gehört haben? Daß Sie sich selbst gerühmt haben, der Marquis de Sade hätte von Ihnen noch lernen können? Daß Sie Kinder zu sich gelockt und verdorben haben? Antworten Sie! Und wagen Sie nicht, zu lügen! Stawrogin kann nicht lügen – vor Schatoff, der ihn ins Gesicht geschlagen hat! Sagen Sie, sagen Sie alles, und wenn es wahr ist, so werde ich Sie auf der Stelle totschlagen!“ schrie Schatoff wie wahnsinnig.
„Diese Worte habe ich gesagt, aber Kindern habe ich nichts angetan,“ sagte Stawrogin schließlich, aber erst nach einem gar zu langen Schweigen.
Er war erblaßt und seine Augen glühten.
„Aber Sie haben es gesagt!“ fuhr Schatoff herrisch fort, ohne seinen sprühenden Blick von ihm abzuwenden. „Und ist es wahr, daß Sie versichert haben, Sie wüßten keinen Schönheitsunterschied zwischen irgendeinem wollüstigen, tierischen Streiche und gleichviel welcher Heldentat, und wäre es selbst das Opfer des Lebens für die Menschheit? Ist es wahr, daß Sie in beiden Polen die gleiche Schönheit fanden, den gleichen Genuß?“
„So zu antworten ist unmöglich ... ich will nicht antworten,“ murmelte Stawrogin, der jetzt sehr gut hätte aufstehen und fortgehen können und doch nicht aufstand und nicht fortging.
„Ich weiß es auch nicht, warum das Böse häßlich und das Gute schön ist, aber ich weiß, warum die Empfindung dieses Unterschieds erlischt und verloren geht bei solchen Herrschaften, wie Stawrogin und seinesgleichen,“ ließ Schatoff, am ganzen Körper bebend, nicht davon ab. „Wissen Sie auch, warum Sie damals geheiratet haben, so schmachvoll, schändlich und gemein? Gerade deshalb, weil hier die Schmach und Gemeinheit schon an Genialität grenzte! Oh, Sie schlendern nicht bloß so am Rande, Sie stürzen sich dreist mit dem Kopf voran in den Abgrund hinab. Aus Leidenschaft zur Qual haben Sie geheiratet, aus Leidenschaft zu Reue und Gewissensbissen, aus geistiger, sittlicher Wollust. Hier waren Ihre Nerven wund ... Die Herausforderung an die gesunde Vernunft, die hierin lag, war schon gar zu verführerisch! Stawrogin! und eine häßliche, schwachsinnige Bettlerin, die dazu noch krüppelig ist! – Als Sie den Gouverneur ins Ohr bissen, empfanden Sie da nicht Wollust? Empfanden Sie sie? Müßiger, sich herumtreibender Herrensohn, empfanden Sie sie?“
„Sie sind Psychologe,“ sagte Stawrogin, der bleicher und bleicher wurde, „obschon Sie sich in den Gründen meiner Heirat teilweise irren ... Wer hat Ihnen übrigens all dieses mitteilen können? ...“ Er zwang sich zu einem Spottlächeln. „Doch nicht Kirilloff? Aber der war ja gar nicht zugegen ...“
„Warum sind Sie bleich geworden?“
„Was wollen Sie nur von mir?“ Stawrogin erhob schließlich die Stimme: „Ich habe hier eine halbe Stunde unter Ihrer Knute gesessen, nun könnten Sie mich doch wenigstens höflich fortgehen lassen ... wenn Sie in der Tat keinen vernünftigen Grund haben, mit mir in dieser Art umzugehen.“
„Vernünftigen Grund?“
„Zweifellos. Es wäre zum mindesten Ihre Pflicht, mir zu sagen, was Sie eigentlich bezwecken. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß Sie es tun würden. Ich habe aber nur eine einzige rasende Bosheit in Ihnen gefunden. Ich bitte Sie, mir die Hofpforte zu öffnen.“
Er erhob sich. Schatoff stürzte ihm nach, wild vor Grimm.
„Küssen Sie die Erde, tränken Sie sie mit Tränen, bitten Sie um Vergebung!“ rief er, ihn an der Schulter packend.
„Ich habe Sie nicht erschlagen ... an jenem Sonntagmorgen ... Ich nahm beide Hände zurück ...“ sagte Stawrogin wie im Schmerz und sah zu Boden.
„So sprechen Sie doch, so sagen Sie doch alles! Sie kamen her, um mich vor der Gefahr zu warnen, Sie ließen es zu, daß ich sprach, und morgen wollen Sie Ihre Heirat öffentlich bekanntmachen! ... Sehe ich es denn nicht Ihrem Gesicht an, daß Sie mit irgendeinem neuen furchtbaren Gedanken ringen ... Stawrogin, warum bin ich dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit an Sie zu glauben? Hätte ich denn mit einem anderen so sprechen können? Ich habe Keuschheit, aber ich habe mich meiner Nacktheit nicht geschämt, – denn es war Stawrogin, vor dem ich sprach! Ich habe mich nicht gefürchtet, den großen Gedanken durch meine Berührung zu karikieren, denn Stawrogin hörte mir zu! ... Und werde ich denn nicht die Spuren Ihrer Tritte küssen, wenn Sie fortgegangen sind? Ich kann nicht, ich kann Sie nicht aus meinem Herzen reißen, Nicolai Stawrogin!“
„Es tut mir leid, daß ich Sie nicht lieben kann, Schatoff!“ sagte Stawrogin kalt.
„Ich weiß, daß Sie es nicht können, und ich weiß auch, daß Sie nicht lügen. Aber hören Sie, ich werde alles gut machen: ich werde Ihnen den Hasen verschaffen!“
Stawrogin schwieg.
„Sie sind Atheist, weil Sie ein Herrensohn sind, der letzte Herrensohn. Sie haben den Unterschied zwischen Gut und Böse verloren, denn Sie haben aufgehört, Ihr Volk zu verstehen ... Es steigt eine neue Generation herauf, unmittelbar aus dem Herzen dieses Volkes, doch Sie werden sie nie erkennen, weder Sie noch die Werchowenski, Vater und Sohn, noch ich, denn auch ich bin ein Herrensohn, ja, ich, der Sohn Ihres leibeigenen Dieners Paschka ... Hören Sie, verschaffen Sie sich Gott durch Arbeit – hierin liegt der ganze Kern ... Oder verschwinden Sie als gemeine, faulende Schimmelschicht ... Erwerben Sie sich Gott durch Arbeit!“
„Gott durch Arbeit? Mit welcher Arbeit?“
„Mit gemeiner Bauernarbeit! Gehen Sie, werfen Sie Ihren ganzen Reichtum hin ... Ah! Sie lachen, Sie fürchten wohl, daß eine Posse dabei herauskommen wird?“
Doch Stawrogin lachte nicht.
„So glauben Sie, daß man Gott durch Arbeit erringen kann, und zwar gerade Bauernarbeit?“ wiederholte er nachdenklich, als hätte man ihm in der Tat etwas Neues und Ernstes gesagt, worüber nachzudenken sich lohnte. „Aber wissen Sie auch,“ sagte er plötzlich, auf etwas anderes übergehend, „daß ich durchaus nicht reich bin und fast nichts mehr hinwerfen könnte? Ich bin sogar kaum imstande, die Zukunft Marja Timofejewnas sicherzustellen ... Ja, und damit ich es nicht vergesse: ich wollte Sie bitten, Marja Timofejewna auch fernerhin, wenn es Ihnen möglich ist, beizustehen, da doch nur Sie allein einen gewissen Einfluß auf ihren armen Verstand haben könnten. Ich sage das nur auf alle Fälle.“
„Schon gut, schon gut!“ Schatoff winkte mit der einen Hand ab, während er mit der anderen das Licht hielt. „Sie reden von Marja Timofejewna, gut, ich werde schon, das ist ja selbstverständlich ... Aber hören Sie, gehen Sie zu Tichon.“
„Zu wem?“
„Zu Tichon. Er ist ein früherer Bischof, der jetzt – krankheitshalber zurückgezogen – hier in der Stadt wohnt, hier in unserem Jefimjeff-Kloster.“
„Und –?“
„Nichts weiter. Man pilgert und fährt jetzt zu ihm. Gehen Sie auch zu ihm, was macht es Ihnen denn aus? Gehen Sie auch!“
„Höre es zum erstenmal und ... Diese Sorte Menschen habe ich noch nie gesehn. Ich danke Ihnen, ich werde hingehen.“
„Hierher!“ Schatoff leuchtete und geleitete ihn die Treppe hinunter.
„So,“ sagte er und stieß die Hofpforte sperrangelweit zur Straße auf.
„Ich werde nicht mehr zu Ihnen kommen, Schatoff,“ sagte Stawrogin leise, indem er durch die Pforte trat.
Die Nacht war nach wie vor finster und der Regen hatte noch immer nicht aufgehört ...
Er ging die ganze Bogojawlenskstraße hinunter; schließlich führte der Weg leicht abwärts, seine Füße glitschten im Schlamm, und plötzlich öffnete sich vor ihm im Dunkeln ein breiter, nebliger, gleichsam leerer Raum – der Fluß. Die Häuser waren hier nicht mehr Häuser zu nennen, sondern Hütten, und die Straße hatte sich in vielen Sackgassen und Gäßchen verloren. Nicolai Wszewolodowitsch ging eine ganze Weile an den Zäunen entlang, ohne sich vom Flußufer zu entfernen, verfolgte aber standhaft seinen Weg, doch eigentlich ohne viel an ihn zu denken. Er war mit ganz anderen Dingen beschäftigt und sah sich erstaunt um, als er sich plötzlich, aus tiefem Denken erwachend, fast in der Mitte unserer langen, nassen Floßbrücke fand. Keine Seele ringsum. Nichts rührte sich. Um so sonderbarer erschien es ihm da, als plötzlich fast unmittelbar neben seinem Ellenbogen eine höflich familiäre, doch übrigens ganz angenehme Stimme ertönte, aber in jenem süßlich abgerundeten Redefluß, mit dem bei uns gar zu zivilisierte Kleinbürger oder lockenhäuptige junge Kommis in den Kaufläden zu paradieren pflegen.
„Würde mir der gnädige Herr nicht erlauben, das Regenschirmchen mit eins zu benützen?“
Und tatsächlich, eine Gestalt drückte sich unter seinen Schirm, oder tat wenigstens so, als wage sie es. Der Strolch ging neben ihm, ihn fast „mit dem Ellenbogen fühlend“, wie unsere Soldaten sagen. Nicolai Wszewolodowitsch verlangsamte den Schritt und beugte sich ein wenig, um dem Unbekannten ins Gesicht sehen zu können, soweit das in der Finsternis möglich war: ein Mensch, nicht groß von Wuchs und in etwa wie ein heruntergekommener, verbummelter Kleinbürger, schlecht und nicht warm gekleidet; auf dem krausen, zottigen Haar saß schief eine nasse Tuchmütze mit halbabgerissenem Schirm. Es schien ein schwarzhaariger Mensch zu sein, mager und braun; die Augen waren groß, unbedingt schwarz, mit jenem starken Glanz und gelben Schimmer, wie ihn Zigeuner haben, – das erriet man in der Dunkelheit. Alt mochte er sein – gegen vierzig, und er war nicht betrunken.
„Du kennst mich?“ fragte Stawrogin.
„Herr Stawrogin, Nicolai Wszewolodowitsch. Man hat Sie mir auf der Bahnstation gezeigt, kaum daß die Maschine hielt, akkurat am vorvergangenen Sonntag. Außer daß man schon früher von Ihnen gehört hat.“
„Von Pjotr Stepanowitsch? Du ... du bist der Zuchthäusler Fedjka?“
„Getauft hat man mich Fjodor Fjodorowitsch. Hab bis auf den heutigen Tag noch eine leibliche Mutter in hiesiger Gegend, eine alte Gottesdienerin, die zur Erde wächst, für uns selber Tag und Nacht alleweil zu Gott betet, damit daß sie nicht ganz umsonst ihre Altweiberzeit auf dem Ofen verliert.“
„Du bist aus dem Zuchthause entsprungen?“
„Ich hab’ halt selber mein Los verändert und ihnen da den ganzen Krempel hingeworfen. Denn ich war halt beinah auf Lebenszeit zur Zwangsarbeit verurteilt, und da war’s denn schon ganz absonderlich lang auf das Ende zu warten ...“
„Was treibst du hier?“
„Ja, so, ein Tag und eine Nacht und immer ist noch nichts gemacht. Die Zeit vergeht halt von selber. Was unser Onkel ist, der ist hier in der vorigen Woche im Gefängnis gestorben, wo er von wegen falscher Gelder saß, und da hab ich denn ein Gedächtnisfeierchen für ihn gemacht und dabei so selbentlich zweimal zehn Rubel an die Hunde gebracht – das ist auch alles von unseren Taten bis eben jetzt. Und dabei haben Pjotr Stepanowitsch die Möglichkeit, uns einen Paschport auf ganz Rußland zu verschaffen, als was das Herz nur will, sogar als Kaufmann. Und da wart ich denn, bis er mir seinen Segen schenkt. Darum sagen sie, – ich meine: er, Pjotr Stepanowitsch –, darum sagt er, daß Papa dich im englischen Klub beim Kartenspiel verspielt hat, und so finde ich, sagt er, ich meine Pjotr Stepanowitsch, so finde ich diese Unmenschlichkeit ungerecht. – Sie könnten mir doch, gnädiger Herr, mit drei Rubelchen so zum Erwärmen, für ein Teechen, wohlwollen?“
„Du hast mir hier also aufgelauert. Das liebe ich nicht. Auf wessen Befehl hast du es getan?“
„Was von Befehl, so ist davon gar nichts gewesen: ich kenn’ nur bloß auch Ihre Menschenliebe, wie alle Welt es eben tut. Denn unsere Einkünftekens, Sie wissen ja selbst, Herr, daß die halt ’ne Maus auf’m Schwanz fortschleppen kann. Das war vor’gen Freitag, da habe ich mich mal vollgeschlagen mit Fleisch, wie Martyn mit Seife, wie man zu sagen pflegt, aber seit damals hab ich den ersten Tag nichts gegessen, den zweiten gefastet und den dritten wieder nichts. Wasser ist ja im Fluß, bei Gott, so viel du willst, aber davon allein kann man im Magen doch nur Karauschen züchten ... Na, und so überhaupt, der gnädige Herr werden doch wohl von den Mildtätigen sein? Und ich hab hier gerade ’ne Gevatterin nich weit, die mich erwartet: nur komm du nich ohne Rubelchen zu ihr!“
„Was hat dir denn Pjotr Stepanowitsch von mir versprochen?“
„Nicht, daß er mir was vorversprochen hat, er hat nur so mit Worten gesagt, daß ich, nu ja, dem gnädigen Herrn mal nötig sein könnte, wenn solch ein Streifen mal vorkommt; aber zu was, das hat er eigentlich nich so geradeheraus gesagt, so mit Genauigkeit, denn Pjotr Stepanowitsch will nur so zum Beispiel sehen, ob ich nich Kosakengeduld habe, und Vertrauen hat er nich für ’ne Kopeke zu mir.“
„Warum denn nicht?“
„Ja, Pjotr Stepanowitsch mag wohl ein Astrolom sein und hat jetzt vielleicht auch alle Gottesplaneten erkannt, aber der Allerklügste ist er doch noch nich. Ich bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vor Gottes Antlitz selber, denn ich hab vieles gehört, was man so spricht von Ihnen. Pjotr Stepanowitsch – das ist eins, aber Sie, gnädiger Herr, das ist es eben, sind das andere. Wenn der von einem Menschen sagt: ’n Gauner, so ahnt ihm schon außer diesem von diesem Menschen gar nichts mehr. Sagt er: ’n Kamel, so kann der Mensch bei ihm schon nie und nimmer einen anderen Namen kriegen. Ich aber, ich bin vielleicht, kann sein, nur am Dienstag und Mittwoch ’n Kamel, aber Donnerstag vielleicht auch klüger als er selber. Jetzt weiß er bloß eben von mir, daß ich gerade große Sehnsucht nach einem Paschport habe, denn wissen Sie, in Rußland geht’s ohne Dokumentchen auf keinerlei Art – und schon glaubt er, er hat meine Seele in der Hand! Hehe, gepfiffen! Ich sag Ihnen, Herr, Pjotr Stepanowitsch hat’s furchtbar leicht zu leben auf der Welt, denn, sehen Sie, er stellt sich einen Menschen so vor, wie er ihn haben will, und so lebt er denn auch mit ihm. Dazu ist er noch geizig, daß es schon gar keine Art mehr mit ihm hat. Er glaubt, daß ich außer als durch ihn schon nie nich wagen werde, Sie zu belästigen, aber ich bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vor’m Angesicht des leibhaftigen Gottes selber, – schon die vierte Nacht erwarte ich den gnädigen Herrn hier auf dieser Brücke, in der Sache, daß ich auch ohne ihn mit leisen Schritten, wie man sagt, meinen eigenen Weg finden kann. Besser, denke ich, du verneigst dich vor ’nem Stiefel als vor ’nem Bastschuh.“
„Wer hat es dir denn gesagt, daß ich nachts über diese Brücke gehen werde?“
„Ja, das ist schon, muß ich sagen, von anderweitig herausgekommen, mehr aus der Dummheit des Hauptmann Lebädkin, denn der kann schon gar nichts für sich behalten ... Also dann drei Rubelchen vom gnädigen Herrn für die drei Nächte, als für die Langeweile, zum Beispiel? Und daß die Kleider quatschnaß sind, davon schweigen wir schon allein von wegen der Beleidigung.“
„Ich gehe jetzt nach links und du nach rechts; die Brücke ist zu Ende. Höre, Fedjka, ich liebe es, daß man meine Worte ein für allemal behält: ich gebe dir keine Kopeke und werde dich niemals – hörst du? – niemals brauchen; ferner werde ich dich weder hier auf der Brücke noch sonst wo treffen, verstanden? Und wenn du dir das nicht merkst – so binde ich dich und übergebe dich der Polizei. Jetzt – marsch!“
„O je! Aber für die Unterhaltung schmeißen Sie mir doch wenigstens was – es war doch lustiger, so zu gehen.“
„Pack dich!“
„Ja, aber wissen Sie denn hier auch den Weg? Hier gehen ja doch so verdrehte Wege ... ich könnte zeigen, denn die hiesige Stadt auf diesem Ufer – das ist doch ganz, als ob der Teufel sie im Korb getragen hätte: alles hat er durcheinandergeschüttelt.“
„Zum ... Ich binde dich!“ wandte sich Stawrogin drohend nach ihm um.
„Denken Sie nach, vielleicht doch, gnädiger Herr? Kann man denn eine Waise lange beleidigen?“
„Du scheinst ja wirklich auf dich zu bauen!“
„Ach, gnädiger Herr, ich baue auf Sie, aber nicht, daß ich sonderlich auf mich baute!“
„Ich brauche dich nicht, hab ich dir schon gesagt!“
„Aber ich brauche doch Sie, gnädiger Herr! Das ist es ja eben. Nu, werde also warten, bis Sie zurückkommen.“
„Mein Wort: wenn ich dich antreffe, binde ich dich!“
„So werd’ ich denn schon einen Gurt bereit halten. Glückliche Reise, gnädiger Herr; haben doch alleweil mit dem Schirmchen ’ne Waise beschützt; schon dafür allein werden wir bis zum Grabe dankbar sein, gnädiger Herr.“
Er blieb zurück. Stawrogin ging besorgt weiter. Dieser plötzlich aus der Nacht aufgetauchte Mensch war von seiner Notwendigkeit für ihn doch schon gar zu überzeugt und beeilte sich doch schon zu schamlos, ihm das zu zeigen. Überhaupt machte man mit ihm jetzt keine Umstände mehr. Aber es konnte doch auch sein, daß der Strolch nicht alles gelogen und seine Dienste wirklich nur von sich aus angeboten hatte, und zwar gerade heimlich, hinter Pjotr Stepanowitschs Rücken. Das aber gab dann doch am meisten zu denken.
Das Haus, zu dem Stawrogin ging, lag an einer öden, entlegenen Gasse buchstäblich am äußersten Rande der Vorstadt, zwischen niedrigen Zäunen, hinter denen sich Gemüsegärten hinzogen. Es war ein alleinstehendes kleines hölzernes Haus, das man gerade erst erbaut hatte und das von außen noch nicht einmal mit Brettern beschlagen war. Die Läden des einen Fensters hatte man wohl absichtlich nicht geschlossen, denn auf dem Fensterbrett stand ein brennendes Licht, augenscheinlich als Wegweiser und Zeichen für den spät erwarteten Gast. Schon von weitem, über dreißig Schritte von der Tür, erkannte Stawrogin auf der kleinen Haustreppe die Gestalt eines Menschen von hohem Wuchs, der offenbar über dem Warten die Geduld verloren hatte und herausgetreten war. Da hörte er auch schon seine Stimme, voll Ungeduld und doch gleichsam zaghaft.
„Sind Sie es? Sie?“
„Ich bin’s,“ antwortete Stawrogin, doch nicht eher, als bis er ganz herangetreten war und den Schirm schloß.
„Endlich!“ Hauptmann Lebädkin trat hin und her und bewegte sich mit geschäftigem Diensteifer. „Das Schirmchen, wenn ich bitten darf; sehr naß heute; ich werde es aufschlagen und hier in der Ecke auf den Fußboden stellen. Bitte – bitte einzutreten, hier geht’s hinein; bitte schön.“
Die Tür aus dem Flur ins Wohnzimmer, in dem zwei Kerzen brannten, stand weit offen.
„Wenn Sie nicht selbst Ihr unbedingtes Kommen angesagt hätten, so hätte ich es schon aufgegeben, Sie zu erwarten.“
„Viertel vor eins,“ sagte Stawrogin, der ins Zimmer trat, nach einem Blick auf seine Uhr.
„Und dabei noch Regen – und eine so interessante Entfernung ... Eine Uhr habe ich nicht, und vor dem Fenster nur Gemüsegärten, da – da bleibt man hinter den Ereignissen zurück. – Aber das soll kein Vorwurf sein, das wage ich ja gar nicht, bewahre, sondern einzig nur so ... aus Ungeduld, wenn man sich die ganze Woche verzehrt ... um endlich erlöst zu werden ...“
„Wie?“
„Um seinen Schicksalsspruch zu hören, Nicolai Wszewolodowitsch.“ Und mit einer Verbeugung auf das Sofa weisend, vor dem ein Tisch stand: „Bitte, nehmen Sie Platz.“
Stawrogin sah sich im Zimmer um: es war klein und niedrig. Die ganze Einrichtung bestand nur aus dem Notwendigsten: aus zwei einfachen neuen Holzstühlen, einem gleichfalls neuen, noch unüberzogenen Sofa mit hölzerner Lehne und ohne Seitenpolster, und zwei Tischen. Auf dem kleineren, in der Ecke, standen irgendwelche Dinge, über die man eine saubere Serviette gebreitet hatte. Überhaupt schien man das ganze Zimmer äußerst sauber gehalten zu haben. Der Hauptmann war nun schon an die acht Tage nüchtern. Sein Gesicht sah gelb und abgefallen aus, der Blick war unruhig, neugierig und eigentlich verständnislos: man sah ihm an, daß er noch nicht wußte, in welch einem Ton er sprechen durfte und welcher schließlich der ratsamste war.
„Wie Sie sehen,“ wies er mit pathetischer Geste herum, „lebe ich wie ein Heiliger: Nüchternheit, Einsamkeit und Armut – das Gelübde der alten Ritter!“
„Sie glauben, die alten Ritter hätten solche Gelübde getan?“
„Tja, vielleicht habe ich mich auch verhauen? O weh, für mich gibt es keine Entwicklung mehr! Alles verdorben! Glauben Sie mir, Nicolai Wszewolodowitsch, hier bin ich zum erstenmal aufgewacht aus diesem Schandleben, – kein Gläschen mehr, kein Tröpfchen! Habe jetzt einen Winkel – und sechs Tage lang genieße ich nun schon die Wohltat der Gewissensbisse. Sogar die Wände riechen noch nach Harz, erinnern somit an die Natur. Aber was war ich, was stellte ich vor?
‚Ohne Obdach in der Nacht,
Tagsüber eine Hetze‘ ...
wie sich ein genialer Dichter ausgedrückt hat! Aber ... Sie sind ja so durchnäßt ... Wollen Sie nicht ein Gläschen Tee?“
„Bemühen Sie sich nicht.“
„Der Samowar kocht seit acht Uhr abends, aber – da ist er nun ausgelöscht! – wie alles in der Welt! Und auch die Sonne, sagt man, wird einmal auslöschen, wenn sie an die Reihe kommt ... Aber wenn Sie wollen, bringe ich ihn wieder zum Kochen ... Agafja schläft noch nicht.“
„Sagen Sie: Marja Timofejewna ...“
„Hier, hier,“ fiel ihm Lebädkin sofort flüsternd ins Wort, „wenn Sie sie sehen wollen ...?“ und er wies auf die geschlossene Tür zum Nebenzimmer.
„Sie schläft nicht?“
„O nein, nein, wie sollte sie denn? Im Gegenteil, erwartet Sie schon vom Abend an! ... wie sie es vorhin erfuhr, putzte sie sich gleich auf,“ – er wollte schon sarkastisch den Mund verziehen, unterließ es aber im Nu.
„Wie ist sie jetzt im allgemeinen?“ fragte Nicolai Wszewolodowitsch mit zusammengezogenen Brauen.
„Im allgemeinen? Ja, das geruhen Sie ja selbst zu wissen,“ und er zuckte mitleidig mit den Schultern. „Jetzt ... jetzt sitzt sie da und legt Karten ...“
„Gut, nachher. Zuerst muß ich mit Ihnen zu einem Ende kommen.“
Stawrogin setzte sich auf einen Stuhl. Der „Hauptmann“ wagte es nicht, sich auf das Sofa zu setzen, und so zog er denn schnell den anderen Stuhl herbei, setzte sich, und war, leicht vorgebeugt, in zitternder Erwartung bereit, alles zu vernehmen.
„Was haben Sie denn dort auf dem Tisch unter der Serviette?“ fragte Stawrogin, der plötzlich seine Aufmerksamkeit jenem Tisch zuwandte.
„Da–a?“ Lebädkin drehte sich sofort gleichfalls um. „Ja, das ist so von Ihren eigenen Gaben, in Gestalt, wie man zu sagen pflegt, in Gestalt von Salz und Brot ... in der neuen Wohnung ... und ich dachte auch an Ihren weiten Weg und die natürliche Müdigkeit,“ er sah ihn fast bittend an und versuchte unschuldig zu lächeln. Darauf erhob er sich, ging auf den Fußspitzen zum Tisch und entfernte ehrerbietig und vorsichtig die Serviette.
Er hatte einen ganzen Imbiß vorbereitet: geräucherten Schinken, Kalbfleisch, Sardinen, Käse, eine kleine grüne Karaffe und eine lange Flasche Bordeaux – alles war ungemein sauber, mit Sachkenntnis und fast elegant geordnet.
„Das haben Sie besorgt?“
„Jawohl ... Schon gestern ... Marja Timofejewna ist ja in der Beziehung, wie Sie wissen, gleichgültig. Aber die Hauptsache: daß es von Ihren Gaben ist, also Ihr eigenes ... da Sie ja doch hier der Hausherr sind, und nicht ich – ich bin ja doch nur so Ihr Angestellter, wenn auch, wenn auch, Nicolai Wszewolodowitsch, wenn auch mein Geist noch unabhängig ist! Diesen meinen letzten Besitz werden Sie mir doch nicht nehmen wollen!“ schloß er geradezu gerührt.
„Hm! ... wie wär’s, wenn Sie sich setzen würden?“
„Ich bin da–ankbar, dankbar und unabhängig!“ (Er setzte sich.) „Ach, Nicolai Wszewolodowitsch, in diesem Herzen hat sich so viel angesammelt, so viel, daß ich schon gar nicht mehr wußte, wie ich noch länger auf Sie warten sollte! Sehen Sie, Sie werden jetzt mein Schicksal entscheiden und auch das ... jener Unglücklichen, und dann ... dann wieder so, wie es früher war? Ich werde dann wieder meine ganze Seele vor Ihnen ausschütten, wie damals vor vier Jahren. Würdigten Sie mich doch damals dessen, mir zuzuhören, lasen Verse ... Mag man mich auch dort Ihren Falstaff genannt haben, nach Shakespeare, aber Sie haben doch so viel in meinem Leben bedeutet! ... Jetzt habe ich wieder meine große Angst und erwarte nur von Ihnen Rat und Heil. Pjotr Stepanowitsch behandelt mich ganz furchtbar!“
Stawrogin hörte ihm neugierig zu und beobachtete ihn aufmerksam. Augenscheinlich befand sich Lebädkin, wenn er nun auch schon eine Woche nicht mehr getrunken hatte, doch noch längst nicht in einem harmonischen Gemütszustande. In solchen langjährigen Trinkern setzt sich schließlich für immer etwas Ungereimtes, Dunstiges, Irrsinniges fest, das sie gleichsam benommen erscheinen läßt – was sie übrigens nicht hindert, wenn es nötig ist, nicht ungeschickter als nüchterne Leute zu betrügen, zu intrigieren und auch zu berechnen.
„Ich sehe, daß Sie sich in diesen viereinhalb Jahren nicht im geringsten verändert haben, Hauptmann,“ sagte Stawrogin wie ein wenig freundlicher. „Man sieht wieder einmal, daß die ganze zweite Hälfte des menschlichen Lebens meist nur aus den in der ersten Hälfte angenommenen Gewohnheiten besteht.“
„Erhabene Worte! Sie lösen das Rätsel der Welt!“ rief der „Hauptmann“ entzückt, halb mit verstellter, halb mit wirklich echter Begeisterung, denn er war ein großer Liebhaber guter Aussprüche. „Von allem, was Sie gesagt haben, Nicolai Wszewolodowitsch, habe ich eines ganz besonders behalten ... noch in Petersburg haben Sie’s gesagt: ‚Man muß in der Tat ein großer Mensch sein, um sogar gegen die gesunde Vernunft stand halten zu können‘. Sehen Sie!“
„Oder ebensogut auch ein Dummkopf.“
„So? Na, dann mein’twegen auch ein Dummkopf, nur haben Sie Ihr Lebelang mit dem Scharfsinn nur so um sich geworfen, die anderen aber? Mögen doch Liputin und Pjotr Stepanowitsch auch einmal etwas Ähnliches sagen! Oh, wie grausam Pjotr Stepanowitsch mit mir umgegangen ist! ...“
„Aber Sie, Hauptmann, wie haben Sie sich denn selbst benommen?“
„Ach, das betrunkene Aussehen und dazu noch die Unmenge meiner Feinde! Aber jetzt ist alles, alles vorüber und ich erneuere mich, fahre aus der alten Haut wie eine Schlange. Wissen Sie auch, Nicolai Wszewolodowitsch, daß ich mein Testament schreibe, daß ich’s schon geschrieben habe?“
„Das ist allerdings interessant. Was vermachen Sie denn und wem das?“
„Dem Vaterlande, der Menschheit und den Studenten. Nicolai Wszewolodowitsch, ich habe einmal in einer Zeitung die Biographie eines Amerikaners gelesen. Er vermachte sein ganzes, riesiges Vermögen den Fabriken und den positiven Wissenschaften, sein Skelett den Studenten der Universität seiner Stadt und seine Haut bestimmte er für eine Trommel, auf der man Tag und Nacht die amerikanische Nationalhymne trommeln sollte! Ach, wir sind ja Pygmäen im Vergleich mit dem Gedankenflug der nordamerikanischen Staaten! Rußland ist ja nur ein Spiel der Natur, aber nicht des Verstandes. Wenn ich’s versuchen wollte, meine Haut, sagen wir, dem Akmolinskschen Infanterieregiment, in dem ich die Ehre hatte, meinen Dienst zu beginnen, mit der Bedingung zu vermachen, daß man aus ihr ein Trommelfell verfertigt, auf dem man täglich vor dem ganzen Regiment die russische Nationalhymne trommeln soll – man hielte es sofort für Liberalismus und konfiszierte meine Haut! ... Darum habe ich mich denn mit den Studenten begnügt. Mein Skelett hab’ ich der Akademie vermacht, aber mit der Bedingung, einstweilen nur unter der Bedingung, daß sie auf die Stirn für alle ewigen Ewigkeiten ein Zettelchen kleben mit den Worten: ‚Ein reuiger Freidenker‘. Jawohl!“
Der Hauptmann sprach mit Begeisterung und glaubte jetzt natürlich schon selbst an die Schönheit des amerikanischen Vermächtnisses, wenn er auch als schlauer Mensch zu gleicher Zeit Stawrogin, dessen „Narr“ er früher gewesen war, aus Berechnung belustigen wollte. Aber der hatte diesmal keine Lust zu lachen, sondern fragte im Gegenteil nur eigentümlich mißtrauisch:
„Sie beabsichtigen wohl, Ihr Testament noch bei Lebzeiten zu veröffentlichen und dafür eine Belohnung zu erhalten?“
„Und wenn dem so wäre, Nicolai Wszewolodowitsch, und wenn dem so wäre?“ Lebädkin sah sich vorsichtig in ihn hinein. „Denn – was ist denn mein Los jetzt eigentlich! Sogar Verse schreibe ich nicht mehr und einst haben doch sogar Sie sich an meinen kleinen Gedichten ergötzt, Nicolai Wszewolodowitsch, wissen Sie noch, bei der Flasche? Aber aus ist’s nun mit der Feder! Hab nur noch ein einziges Lied geschrieben, wie Gogol seine ‚Letzte Geschichte‘. Sie wissen doch, Gogol verkündete ganz Rußland, daß sie sich aus seiner Seele ‚herausgesungen‘ habe. So auch ich: hab’s herausgesungen und damit – basta!“
„Was ist denn das für ein Gedicht?“
„Tja, es heißt: ‚Im Fall sie sich den Fuß zerbräche‘!“
„Wi–ie?“
Darauf hatte der Hauptmann nur gewartet. Seine Gedichte achtete und schätzte er zwar grenzenlos, doch zugleich gefiel es ihm – wohl aus einer gewissen durchtriebenen Zwieheit der Seele – daß sie Stawrogin, der früher zuweilen so über sie gelacht hatte, daß er sich die Seiten hielt, immer belustigten. Auf diese Weise erreichte er gewöhnlich zwei Ziele mit einem Mittel: ein poetisches und ein geschäftliches Ziel. Diesmal aber gab es noch ein drittes, ein ganz besonderes und äußerst kitzliches: der Hauptmann hoffte nämlich, als er das Gedicht heranzog, sich auf diese Manier am leichtesten in einem gewissen Punkte rechtfertigen zu können, hoffte dies um so mehr, als er aus einem bestimmten Grunde gerade in diesem Punkt seine Schuld für größer als in allen anderen Punkten hielt.
„‚Im Fall sie sich den Fuß mal bräche‘, das heißt, beim Reiten. Eine bloße Phantasie, Nicolai Wszewolodowitsch, ein Traumbild, aber das Traumbild eines Dichters! Einmal, beim Spazierengehen, sah dieser Dichter eine Reiterin, und da stellte er sich dann die materialistische Frage: ‚was würde dann sein?‘ – das heißt, in dem Falle, wenn! Die Sache ist doch klar: alle Kurmacher gehen sogleich wie die Krebse rückwärts, fort sind all die Heiratskandidaten, also – ‚wisch den Mund ab morgen früh‘,“ fügte er plötzlich auf Deutsch hinzu, „nur der Dichter bleibt treu, nur er mit dem gebrochenen Herzen in der Brust! Nicolai Wszewolodowitsch, sogar eine winzige Laus darf verliebt sein, denn kein Gesetz verbietet’s ihr. Und doch fühlte sich die Dame gekränkt durch meinen Brief, wie durch das Gedicht. Sogar Sie sollen sich geärgert haben, sagt man – ist’s wahr? Das wäre jammerschade, wollt’s gar nicht glauben! Nun, sagen Sie doch selbst, wen konnte ich denn mit bloßer Einbildung beleidigen? Zudem ist hier noch, mein Ehrenwort, Liputin dabei: ‚Schreiben Sie, schreiben Sie unbedingt, jeder Mensch hat das Recht, Briefe zu schreiben‘, sagte er – und so schickte ich’s denn ab.“
„Sie haben sich, glaube ich, als Bräutigam vorgeschlagen?“
„Feinde, Feinde, nichts als Feinde! ...“
„Sagen Sie das Gedicht!“ fiel ihm Stawrogin streng ins Wort.
„Ein Traum, bloß ein Traum, sag ich Ihnen!“
Aber er setzte sich doch in Positur, streckte die Hand aus und begann:
„Das schönste Weib brach mal ein Glied,
Doch ward es dadurch nur aparter!
Und doppelt liebte sie fortan
Der ohnehin in sie verliebte Dichtersmann ...“
„Genug!“ Stawrogin winkte ab.
„Oh, ich sehne mich nach Pietjer[39]!“ rief Lebädkin, schnell auf ein anderes Gebiet überspringend, als wäre von Gedichten nie die Rede gewesen. „Ich denke an eine Auferstehung, ich träume von einer Wiedergeburt ... Mein Wohltäter! Darf ich darauf rechnen, daß Sie mir nicht die Mittel zur Reise verweigern werden? Ich hab Sie die ganze Woche wie die liebe Sonne erwartet.“
„Nein, darauf dürfen Sie nicht rechnen. Außerdem ist mir von meinem Kapital fast nichts mehr verblieben. Und überhaupt, warum sollte ich Ihnen Geld geben? ...“
Stawrogin schien sich plötzlich geärgert zu haben. Kurz und trocken zählte er alle Vergehen des Hauptmanns auf: das unmäßige Trinken, die Lügengeschichten, Verschwendung des Geldes, das Marja Timofejewna gehörte, dann, daß er sie aus dem Kloster genommen hatte, die frechen Briefe mit den Drohungen, das Geheimnis bekanntzumachen, die Geschichte mit Darja Pawlowna usw., usw. Der Hauptmann wogte geradezu hin und her, gestikulierte, wollte widersprechen, doch Stawrogin wies ihn jedesmal herrisch zur Ruh.
„Und erlauben Sie,“ bemerkte er zum Schluß, „Sie schreiben immer von einer ‚Familienschande‘. Ich sehe darin keine Schande für Sie, daß Ihre Schwester Stawrogins rechtmäßig getraute Frau ist.“
„Aber die Ehe ist ein Geheimnis, Nicolai Wszewolodowitsch, niemand weiß davon, ein verhängnisvolles Geheimnis! Ich bekomme Geld von Ihnen und plötzlich stellt man mir die Frage: wofür bekommst du dieses Geld? Ich aber bin gebunden und kann nicht antworten, zum Schaden meiner Schwester – und zum Schaden meiner Familienehre!“
Der Hauptmann erhob bereits die Stimme: dieses Thema liebte er ganz besonders und er hatte sich in diesem Sinne schon vorbereitet, denn darauf beruhte seine ganze Hoffnung. Wie hätte er auch ahnen sollen, welch eine niederschmetternde Überraschung ihn gerade auf dieser seiner Basis erwartete! Ruhig und bestimmt, als ob es sich um die alltäglichste häusliche Angelegenheit handelte, teilte ihm Stawrogin mit, daß er die Absicht habe, in diesen Tagen, vielleicht morgen oder übermorgen, seine Heirat allgemein bekanntzumachen, sie ‚sowohl der Polizei wie der Gesellschaft‘ anzuzeigen – so daß denn die Frage der „Familienehre“ damit endgültig erledigt sein werde, und die der Subsidien gleichfalls.
Der Hauptmann riß die Augen auf: er begriff nicht einmal, was er da hörte; so mußte denn alles noch durchgesprochen werden.
„Aber sie ist doch ... halbverrückt?“
„Das ist meine Sache.“
„Aber ... was wird denn Ihre Mutter –?“
„Das geht Sie wenig an, Lebädkin.“
„Aber Sie werden doch Ihre Frau in Ihr Haus führen?“
„Sehr leicht möglich. Übrigens ist das schon ganz und gar nicht Ihre Sache, das geht Sie nicht das geringste an.“
„Wie, nicht angehen?“ schrie der Hauptmann auf. „Und ich?“
„Nun, Sie kommen doch selbstverständlich nicht in mein Haus.“
„Aber ich bin doch Ihr Verwandter!“
„Für solche Verwandte dankt man. Und warum soll ich Ihnen nun noch Geld geben, sagen Sie doch selbst?“
„Nicolai Wszewolodowitsch, Nicolai Wszewolodowitsch, das kann ja nicht sein, Sie werden sich das doch noch überlegen, Sie werden doch nicht Hand an sich legen wollen ... was wird man denken, was wird man in der Gesellschaft sagen?“
„Fürchte wahrlich sehr diese Gesellschaft! Habe ich doch Ihre Schwester geheiratet, als ich es wollte, damals, nach dem Gelage, auf die trunkene Wette hin, und jetzt zeige ich es öffentlich an ... wenn mir das jetzt Vergnügen macht.“
Er sagte das ganz eigentümlich gereizt, so daß Lebädkin schon mit Entsetzen zu glauben begann.
„Aber ich, was wird denn mit mir, die Hauptsache dabei bin doch ich! ... Sie scherzen vielleicht nur, Nicolai Wszewolodowitsch?“
„Nein, ich scherze nicht.“
„Wie Sie wollen, Nicolai Wszewolodowitsch, aber ich glaube Ihnen nicht ... dann werde ich eine Bittschrift einreichen.“
„Sie sind furchtbar dumm, Hauptmann.“
„Meinetwegen, aber das ist doch alles, was mir übrigbleibt!“ sagte der Hauptmann ganz wirr in seiner Benommenheit. „Früher gab man mir dort in den Winkeln für ihre Arbeit wenigstens ein Obdach, aber was soll denn jetzt aus mir werden, wenn Sie mich ganz fallen lassen?“
„Aber Sie wollen doch nach Petersburg, um Ihre Karriere zu verändern. Übrigens, ist es wahr, daß Sie, wie ich hörte, beabsichtigten, zu denunzieren – in der Hoffnung, begnadigt zu werden, wenn Sie die anderen anzeigen?“
Der Hauptmann öffnete den Mund und riß die Augen auf, doch eine Antwort gab er nicht.
„Hören Sie, Hauptmann,“ begann plötzlich Stawrogin ungewöhnlich ernst und beugte sich ein wenig vor zum Tisch.
Bis jetzt hatte er noch gewissermaßen zweideutig gesprochen, so daß Lebädkin, der sich nun einmal an die Rolle des Narren gewöhnt hatte, noch immer ein wenig im Zweifel war: ob sich sein Prinz Heinz in der Tat ärgerte oder ob er, als er von der Veröffentlichung seiner Heirat sprach, nur zu scherzen beliebte. Jetzt aber war der ungewöhnliche Ernst Stawrogins dermaßen überzeugend, daß dem Hauptmann plötzlich geradezu ein Frösteln über den Rücken lief.
„Hören Sie, und sagen Sie die ganze Wahrheit, Lebädkin: haben Sie schon denunziert, oder noch nicht? Ist es Ihnen nicht schon gelungen, irgend etwas in der Hinsicht zu tun? Haben Sie nicht aus Dummheit schon irgendeinen Brief abgeschickt?“
„Nein, noch nicht, und ... ich hab’ nicht einmal daran gedacht!“ und der Hauptmann sah ihn an, ohne sich zu rühren.
„Nun, das lügen Sie, daß Sie daran noch nicht gedacht haben. Deswegen wollen Sie ja auch nach Petersburg. Aber wenn Sie noch nichts geschrieben haben, sollten Sie dann nicht hier irgend etwas mit irgend jemandem geschwätzt haben? Sagen Sie die Wahrheit. Ich habe so etwas gehört.“
„In der Betrunkenheit mit Liputin. Liputin ist ein Verräter. Ich habe ihm nur mein Herz ausgeschüttet,“ flüsterte der arme Hauptmann.
„Nun ja, das eine Herz dem anderen Herzen, ich weiß schon, aber man braucht doch nicht gleich blödsinnig zu sein. Wenn Sie den Gedanken hatten, so hätten Sie ihn für sich behalten sollen. Heutzutage schweigen kluge Leute und reden nicht.“
„Nicolai Wszewolodowitsch,“ – der Hauptmann erzitterte. „Sie selbst haben sich doch an nichts beteiligt, ich hab doch nicht Sie ...“
„Wie sollten Sie denn, bewahre, Ihre eigene Milchkuh!“
„Nicolai Wszewolodowitsch, so urteilen Sie doch selbst! So sagen Sie doch! ...“
Und in der Verzweiflung begann er, mit Tränen in den Augen, sein Leben in diesen letzten vier Jahren zu erzählen. Es war die törichte Geschichte eines hereingefallenen Dummkopfs, der seine Nase in Sachen gesteckt, die nicht für ihn geschaffen waren, und deren Wichtigkeit er über Trinken und Schlemmen fast bis zum letzten Augenblick noch nicht begriffen hatte. Er erzählte, er habe sich schon in Petersburg „einfach verleiten lassen, aus reiner Freundschaft, wie ein treuer Student, das heißt, ohne eigentlich Student zu sein“, verschiedene Blätter durch die Türen, in die Schirme zu stecken, oder wie Zeitungen in die Briefkästen, und wo sich nur eine Gelegenheit bot, im Theater wie auf der Straße, in die Hüte oder Taschen zu befördern. Späterhin habe er auch Geld von ihnen genommen, denn „was sind denn meine Einnahmen, Sie wissen doch selbst!“ Kurz, in zwei ganzen Gouvernements hatte er „allerlei Schund“ verstreut.
„Oh, Nicolai Wszewolodowitsch,“ rief er aus, „am meisten hat mich empört, daß diese Papierlappen so ganz gegen alle bürgerlichen und besonders vaterländischen Gesetze waren! Da ist denn plötzlich gedruckt, sie sollen mit den Heugabeln kommen und nicht vergessen, daß, wer morgens arm ausgeht, abends reich zurückkommen kann – stellen Sie sich doch nur so was vor! Ein Schauer faßt mich selber und doch stopfe ich die Schandblätter überall hin ... oder plötzlich fünf, sechs Zeilen an ganz Rußland, so, mir nichts, dir nichts, ganz einfach: ‚Schließt schnell die Kirchen, vernichtet Gott, löst die Ehe, hebt das Recht der Erbfolge auf, nehmt die Messer!‘ – und das ist alles, und der Teufel weiß, was weiter. Und gerade mit diesem Papierchen, dem fünfzeiligen, bin ich dann beinahe hereingefallen, im Regiment haben mich die Offiziere verprügelt, aber dann – Gott gebe ihnen Gesundheit! – haben sie mich wieder laufen lassen. Doch im vorigen Jahre haben sie mich beinahe wirklich gepackt, wie ich Fünfzigrubelscheine, französische Kopien, Korowajeff übergab. Aber, Gott sei Dank, Korowajeff ertrank bald darauf in betrunkenem Zustande im Teich – und man konnte nichts gegen mich unternehmen. Hier bei Wirginski hatte er noch die Freiheit der sozialen Frau verkündet. Im Juni hab ich wieder im ...schen Kreise alles mögliche herumgestreut. Die sagen, ich müsse bald wieder ... Pjotr Stepanowitsch gibt plötzlich zu verstehen, daß ich gehorchen muß und droht mir einfach. Aber wie hat er mich damals am Sonntag behandelt! Nicolai Wszewolodowitsch, ich bin ein Sklave, ein Wurm, aber kein Gott – nur dadurch unterscheide ich mich von Dershawin. Doch was sind denn meine Einnahmen? Sie wissen ja selbst!“
Stawrogin hatte ihm aufmerksam zugehört.
„Vieles war mir davon ganz unbekannt,“ sagte er; „mit Ihnen konnte selbstverständlich alles geschehen ... Hören Sie,“ er dachte ein wenig nach, „wenn Sie wollen, so sagen Sie ihnen – Sie wissen schon, wem –, daß Liputin gelogen hat und daß Sie nur mich mit einer Denunziation hätten schrecken wollen, in der Annahme, auch ich sei kompromittiert ... um auf diese Weise mehr Geld aus mir herauszubekommen ... Verstanden?“
„Nicolai Wszewolodowitsch, Liebling, Täubchen, droht mir denn wirklich solch eine Gefahr? Ich habe ja nur auf Sie gewartet, um Sie das fragen zu können!“
Stawrogin lachte kurz auf.
„Nach Petersburg wird man Sie natürlich nicht lassen, selbst wenn ich Ihnen das Geld zur Reise geben wollte ... Übrigens, es ist Zeit, zu Marja Timofejewna zu gehen.“ Er erhob sich.
„Nicolai Wszewolodowitsch, aber wie wird das nun mit ihr, mit Marja Timofejewna?“
„Ja, so, wie ich sagte.“
„Ist das denn wirklich wahr?“
„Sie glauben noch immer nicht?“
„Wollen Sie mich denn wirklich so liegen lassen, wie einen alten, vertragenen Stiefel?“
„Ich werde sehen,“ meinte Stawrogin halb lachend. „Nun, lassen Sie mich.“
„Wünschen Sie nicht, daß ich so lange auf der Treppe stehe ... damit ich nicht irgendwie versehentlich zuhöre ... die Zimmerchen sind klein.“
„Das ist recht. Warten Sie ein wenig auf der Treppe. Nehmen Sie meinen Regenschirm.“
„Ihren Regenschirm, Ihren ... bin ich denn das wert?“ fragte der Hauptmann unterwürfig.
„Einen Schirm ist jeder wert.“
„Mit einem Schlage treffen Sie wieder das Minimum der menschlichen Rechte ...“ sagte Lebädkin, doch schon mehr mechanisch: er war doch gar zu bedrückt und eigentlich ganz wie vor den Kopf geschlagen. Einstweilen aber, fast gleich darauf, als er den Schirm über sich aufgeschlagen hatte, begann sich in seinem leichtsinnigen Gehirn schon ein äußerst beruhigender Gedanke mehr und mehr auszubreiten: wie, wenn man ihn bloß betrügen wollte und ihn belog? War dem aber so, dann fürchtete man sich also vor ihm und – wozu sollte er sich dann noch fürchten?
„Wenn man lügt und betrügt, so tut man das doch stets aus irgend einem Grunde – was für einer mag das nun hier sein?“ krabbelte es in seinem Kopf herum. Die Veröffentlichung der Heirat schien ihm Blödsinn zu sein: „Aber weiß Gott: bei diesem Wundertäter ist nichts unmöglich, – lebt ja überhaupt nur zu dem Zweck, um die Menschen zu ärgern! Wie aber, wenn er Angst vor mir bekommen hat nach dem Sonntag? Hm ... und noch so, wie nie zuvor? Da ist er nun hergeeilt, um zu versichern, daß er selbst alles bekanntmachen werde, aus Angst, ich könnte es sonst tun. Lebädkin, sieh dich vor, schieß keinen Bock! Hm! ... Und warum kommt er denn heimlich in der Nacht, wenn er’s selbst ausblasen will? Aber wenn er sich fürchtet, so fürchtet er sich jetzt, fürchtet gerade für diese paar Tage. Hm! ... paß auf, Lebädkin! ...“
„Schreckt mich mit Pjotr Stepanowitsch! Da kann einem ganz angst und bange werden – gerade, was das betrifft! Hm ... weiß Gott! wahrhaftig angst und bange. Was plagte mich nur, diesem Liputin, solch einem ... Der Teufel mag wissen, was diese Beelzebuben da im Spiele haben – bin nie draus klug geworden! Haben sich jetzt wieder eingefunden, genau wie vor fünf Jahren ... Ja, wem hätt’ ich’s denn sagen sollen? ‚Haben Sie nicht aus Dummheit irgend jemandem geschrieben?‘ Hm! Also kann man auch unter dem Anschein großer Dummheit schreiben? War das vielleicht gar ein Rat? ‚Deswegen wollen Sie ja nach Petersburg.‘ Der Schuft! Ich hab’s bloß mal geträumt, er aber hat sogar den Traum schon erraten! Ganz als ob er selber zur Reise nach Petersburg raten möchte. Hm! Hier werden wohl zwei Sachen im Spiele sein: entweder er fürchtet sich selber, weil er wieder was Schönes angerichtet hat, oder ... oder er fürchtet selbst überhaupt nichts und schubst nur mich, damit ich sie alle da anzeige! Ach, Lebädkin, da kann einem wahrhaftig angst und bange werden! Wenn man dabei nur keinen Bock schießt! ...“
Und er kam dermaßen ins Nachdenken, daß er selbst das Lauschen vergaß. Übrigens wäre es ihm auch schwer gefallen, etwas zu verstehen; die Tür war nicht dünn und das Gespräch wurde nur leise geführt – nur hin und wieder drang ein unklarer Laut bis zu ihm. Endlich spuckte er aus und trat wieder aus dem Flur auf die Treppe hinaus, wo er in Gedanken leise vor sich hin pfiff.
Das Zimmer, in dem Marja Timofejewna saß, war fast zweimal so groß wie das erste, das der Hauptmann bewohnte. Alle Gegenstände der Einrichtung waren von derselben einfachsten Art, doch der Tisch vor dem Sofa war mit einem geblümten Paradetischtuch bedeckt, und auf ihm stand eine brennende Lampe. Über den ganzen ungestrichenen Fußboden hatte man einen schönen Teppich gebreitet und die Bettstelle mit einem grünen Vorhang völlig abgeteilt. Außerdem befand sich in dem Zimmer noch ein großer weicher Lehnstuhl, in den sich aber Marja Timofejewna niemals setzte. In der einen Ecke hing ganz wie in der alten Wohnung ein Heiligenbild, vor dem das Lämpchen brannte, und ganz wie damals lagen auch jetzt wieder die unvermeidlichen Sachen auf dem Tisch vor Marja Timofejewna: ein Spiel Karten, ein kleiner Spiegel, das Liederbuch und auch wieder eine Semmel. Hinzugekommen waren nur zwei kleine Bücher mit bunten Bildern, von denen das eine für die Jugend bearbeitete Reisebeschreibungen enthielt, das andere kleine moralische Erzählungen, vornehmlich Rittergeschichten – so ein Buch für den Weihnachtstisch oder junge Mädchen im Institut. Marja Timofejewna hatte natürlich den Gast erwartet, doch als Stawrogin eintrat, schlief sie halb liegend auf dem Sofa, auf ein hartes Kissen gebeugt. Der Gast schloß unhörbar die Tür hinter sich und begann, ohne sich von der Stelle zu rühren, die Schlafende zu betrachten.
Der Hauptmann hatte übertrieben, als er sagte, sie habe sich besonders geputzt. Sie war in demselben dunklen Kleide, in dem sie am Sonntag bei Warwara Petrowna gewesen war. Das Haar hatte sie im Nacken ebenso zu einem winzigen Knoten zusammengesteckt, und der lange magere Hals war genau so wie damals entblößt. Der schwarze Shawl, den Warwara Petrowna ihr geschenkt hatte, lag sorgfältig zusammengefaltet neben ihr auf dem Sofa. Sie war wie gewöhnlich ungeschickt gepudert und geschminkt. Stawrogin stand noch nicht eine Minute, als sie plötzlich, als hätte sie seinen Blick gefühlt, erwachte, die Augen aufschlug und sich schnell aus der halb liegenden Stellung aufrichtete. Doch offenbar ging auch in dem Gast etwas Sonderbares vor: er blieb auf demselben Fleck an der Tür stehen und rührte sich nicht; regungslos und mit durchdringendem Blick fuhr er fort, ihr wortlos und beharrlich ins Gesicht zu sehen. Vielleicht war dieser Blick übermäßig hart, vielleicht drückte sich in ihm Ekel aus, oder sogar schadenfroher Genuß an ihrem Schreck – wenn das nicht Marja Timofejewna nach dem Erwachen nur so schien. Doch wie dem auch war, jedenfalls drückte sich im Gesicht der Armen plötzlich, nach fast minutenlangem Warten, vollständiges Entsetzen aus: ein krampfartiges Zucken lief durch ihre Züge, sie erhob ihre bebenden Hände, wie zur Abwehr, und plötzlich begann sie zu weinen, genau so, wie ein erschrecktes Kind; noch ein Augenblick – und sie hätte geschrien. Doch der Gast kam zur Besinnung: in einer Sekunde veränderte sich sein ganzes Gesicht, und mit dem freundlichsten, liebenswürdigsten Lächeln trat er an den Tisch.
„Verzeihen Sie mir, ich habe Sie erschreckt, Marja Timofejewna, Sie schliefen und ich bin so unbemerkt eingetreten,“ sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Der Ton der freundlichen Worte tat seine Wirkung: der Schreck verschwand aus ihrem Gesicht, wenn sie ihn auch immer noch angstvoll anblickte, augenscheinlich bemüht, sich irgend etwas zu erklären. Ängstlich streckte sie ihm die Hand entgegen und schließlich zuckte denn auch ein schüchternes Lächeln um ihre Lippen.
„Guten Tag, Fürst,“ flüsterte sie und sah ihn dabei ganz sonderbar und aufmerksam an.
„Sie haben wohl einen bösen Traum gehabt?“ fragte er und lächelte noch liebenswürdiger, noch freundlicher.
„Wie können Sie wissen, daß mir davon geträumt hat?“
Und plötzlich erbebte sie wieder, taumelte erschrocken zurück, erhob wie zur Abwehr die Hand und wieder verzog sich ihr Gesicht, wie das eines kleinen Kindes, das weinen will.
„Aber so beruhigen Sie sich doch! Warum fürchten Sie sich? Haben Sie mich denn wirklich nicht erkannt?“ redete ihr Nicolai Wszewolodowitsch zu, doch diesmal konnte er sie lange nicht beruhigen.
Schweigend sah sie ihn an und noch immer lag in ihrem fragenden Blick ein quälender Zweifel, irgend ein schwerer Gedanke, den ihr armer Kopf nicht zu fassen vermochte. Dabei war es, als strenge sie sich krampfhaft an, irgend etwas zu Ende zu denken. Bald senkte sie die Augen, bald schlug sie sie plötzlich wieder auf und überflog ihn mit einem schnellen, umfassenden Blick. Endlich schien sie sich – zwar nicht beruhigt, aber doch wie zu etwas entschlossen zu haben.
„Setzen Sie sich, bitte, neben mich, damit ich Sie nachher gut sehen kann,“ sagte sie ziemlich fest, augenscheinlich mit einer ganz bestimmten und neuen Absicht. „Aber jetzt seien Sie ganz ruhig, denn ich werde Sie nicht ansehen, und auch Sie sollen mich nicht ansehen, so lange nicht, bis ich Sie selbst darum bitte. Setzen Sie sich nun!“ fügte sie plötzlich sogar mit Ungeduld hinzu.
Die neue Empfindung bemächtigte sich ihrer sichtlich immer mehr.
Stawrogin setzte sich und wartete; ein Schweigen begann und dauerte ziemlich lange.
„Hm! Sonderbar erscheint mir das alles,“ murmelte sie plötzlich und fast wie angeekelt. „Mich haben natürlich schlechte Träume bestrickt; nur – warum mußten gerade Sie mir in eben dieser Gestalt im Traume erscheinen?“
„Lassen wir jetzt die Träume,“ unterbrach er sie ungeduldig und wandte sich zu ihr, trotz des Verbotes, sie anzusehen, und vielleicht blitzte flüchtig wieder jener Ausdruck von vorhin in seinen Augen auf. Er sah, daß sie mehrmals und sogar sehr gern zu ihm aufblicken wollte, sich jedoch jedesmal bezwang und hartnäckig den Blick zu Boden gesenkt hielt.
„Hören Sie, Fürst,“ sagte sie plötzlich lauter. „Hören Sie, Fürst ...“
„Warum wenden Sie sich von mir ab, warum sehen Sie mich nicht an, was soll diese ganze Komödie?“ rief er geärgert, da ihm die Geduld riß.
Sie aber schien ihn überhaupt nicht zu hören.
„Hören Sie, Fürst,“ wiederholte sie zum drittenmal mit fester Stimme und mit einem unangenehmen, geschäftigen Ausdruck im Gesicht. „Als Sie mir damals in der Equipage sagten, die Heirat werde jetzt öffentlich bekanntgemacht werden, da erschrak ich schon damals, weil dann das Geheimnis doch aufhören würde. Jetzt aber weiß ich gar nicht mehr ... Ich habe die ganze Zeit gedacht, und sehe nun deutlich, daß ich nicht dazu tauge. Zu putzen würde ich mich schon verstehen, zu empfangen schließlich auch: als ob es wunder wie schwer wäre, zu einer Tasse Tee einzuladen, besonders wenn man noch Diener in Livree hat! Aber immerhin, wenn man so von der Seite sehen wird ... Ich habe damals, am Sonntag vormittag, vieles in jenem Hause gesehen. Dieses hübsche Fräulein hat mich die ganze Zeit angesehen, besonders als Sie eintraten. Das waren doch Sie, der eintrat, nicht? Ihre Mutter war nur eine drollige alte Dame. Mein Lebädkin hat sich auch ausgezeichnet. Um nicht über ihn lachen zu müssen, hab ich immer zur Zimmerdecke hinaufgeschaut, schön war sie da bemalt! Seine Mutter aber müßte nur Äbtissin sein. Ich fürchte mich vor ihr, wenn sie mir auch den schwarzen Schal geschenkt hat. Die haben mich damals wohl alle nur als Überraschung empfunden; das kränkt mich ja nicht, nur saß ich dort so und dachte bei mir: was bin ich denn für die hier für eine Verwandte? Ich weiß wohl, von einer Gräfin verlangt man nur seelische Eigenschaften – denn für die wirtschaftlichen hat sie doch viele Diener – und dann noch so ein bißchen gesellschaftliche Koketterie, damit sie ausländische Reisende zu empfangen versteht. Aber trotzdem, damals am Sonntag sahen sie mich doch ganz ohne Vertrauen an. Nur Dascha ist ein Engel. Ich fürchte sehr, daß sie ihn irgendwie mit einer unvorsichtigen Bemerkung über mich kränken könnten.“
Stawrogin verzog den Mund.
„Fürchten Sie sich nicht und machen Sie sich keine Sorgen,“ sagte er.
„Aber das machte mir ja auch nichts aus, selbst wenn er sich meinetwegen ein wenig schämen sollte, denn es wäre doch immer mehr Mitleid als Schande dabei, denke ich – freilich, je nach dem, wie der Mensch selbst ist. Denn er weiß doch, daß eher ich sie bemitleiden kann, nicht aber sie mich.“
„Sie haben sich wohl sehr gekränkt gefühlt, Marja Timofejewna?“
„Wer, ich? Nein.“ Sie lachte gutmütig. „Nicht ein bißchen. Ich sah mir damals nur alle so an und dachte so bei mir: alle ärgert ihr euch, alle seid ihr entzweit; nicht einmal zusammenzukommen und von Herzen zu lachen verstehen sie. So viel Reichtum, und dabei so wenig Fröhlichkeit – traurig war mir das alles. Übrigens, jetzt tut mir niemand leid, außer mir selbst.“
„Ich hörte, Sie hätten mit Ihrem Bruder ein schlechtes Leben gehabt, ohne mich?“
„Wer hat Ihnen das gesagt? Unsinn! Jetzt ist es viel schlechter: jetzt sind die Träume schlecht, und schlecht sind die Träume deshalb geworden, weil Sie angekommen sind. Sie aber, fragt es sich, warum sind Sie denn hergekommen, sagen Sie das doch gefälligst!“
„Wollen Sie nicht wieder ins Kloster gehen?“
„So, das ahnte ich ja, daß man mir wieder das Kloster vorschlagen wird! Als ob euer Kloster da Gott weiß was für ein Wunderding wäre! Und warum soll ich denn wieder ins Kloster gehen, und womit soll ich denn jetzt noch dorthin? Jetzt bin ich doch schon ganz und gar allein! Es ist zu spät für mich, ein drittes Leben anzufangen.“
„Sie scheinen sich über irgend etwas sehr zu ärgern, – fürchten Sie nicht schon, daß ich aufgehört haben könnte, Sie zu lieben?“
„Ach, um Sie mache ich mir ja gar keinen Kummer. Ich fürchte nur für mich, daß ich selbst aufhören könnte, jemanden sehr zu lieben.“
Sie lächelte verächtlich.
„Ich werde wohl vor ihm in etwas sehr Großem schuldig sein,“ sagte sie plötzlich wie zu sich selbst. „Nur weiß ich nicht, worin ich schuldig sein könnte, und das ist nun mein ewiges Leid. Immer und immer, diese ganzen fünf Jahre, habe ich Tag und Nacht gebangt, daß ich vor ihm schuldig sein könnte. Und da bete ich denn lange und bete und denke immer an meine große Schuld vor ihm. Und nun hat es sich auch richtig herausgestellt, daß ich wahr gefühlt habe.“
„Was hat sich herausgestellt?“
„Nur fürchte ich, ob da nicht etwas von ihm aus geschieht,“ fuhr sie fort, ohne auf die Frage zu antworten, die sie vielleicht überhaupt nicht gehört hatte. „Und doch, wie könnte er sich denn mit solchen Leutchen zusammentun! Die Gräfin würde mich wohl gern verschlingen, obschon sie mich in ihre Karosse gesetzt hat. Alle sind sie an der Verschwörung beteiligt – sollte auch er es sein!? Sollte auch er ein Verräter sein?“ (Ihr Kinn und ihre Lippen begannen zu zittern.) „Hören Sie, haben Sie von Grischka Otrepjeff gelesen, dem falschen Demetrius, der in sieben Kathedralen verflucht ward?“
Stawrogin schwieg.
„Aber ja, jetzt werde ich mich zu Ihnen wenden und werde Sie ansehen,“ entschloß sie sich plötzlich. „Wenden Sie sich auch zu mir und sehen Sie mich an, aber recht aufmerksam: ich will mich zum letztenmal überzeugen.“
„Ich sehe Sie schon lange an.“
„Hm!“ sagte Marja Timofejewna und betrachtete ihn angestrengt.
„Viel dicker sind Sie geworden ...“
Sie wollte noch etwas sagen, doch plötzlich ergriff der frühere Schreck sie wieder und zum drittenmal fuhr sie mit geradezu entsetztem Gesicht zurück und erhob dabei wieder wie zur Abwehr die Hand.
„Was haben Sie nur, was fehlt Ihnen?“ rief Stawrogin wütend.
Doch der Schreck dauerte nur einen Augenblick; ihr Gesicht verzog sich zu einem sonderbaren, mißtrauischen, unangenehmen Lächeln.
„Ich bitte Sie, Fürst, stehen Sie auf und treten Sie ein,“ sagte sie plötzlich sehr bestimmt und mit fester Stimme.
„Wie, eintreten? Wohin eintreten?“
„Diese ganzen fünf Jahre habe ich mir immer nur vorgestellt, wie das sein wird, wenn Er eintritt. Stehen Sie auf und gehen Sie ins andere Zimmer, hinter die Tür. Ich werde dann hier sitzen, als erwartete ich nichts, und werde ein Buch in die Hand nehmen. Und plötzlich treten Sie dann ein, nach fünf Jahren, und sind von der Reise zurückgekehrt. Ich möchte sehen, wie das sein wird.“
Stawrogin knirschte mit den Zähnen und murmelte etwas Unverständliches.
„Genug,“ sagte er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich bitte Sie, Marja Timofejewna, mich jetzt anzuhören. Haben Sie die Güte, Ihre ganze Aufmerksamkeit zusammen zu nehmen, wenn Sie es können. Sie sind doch nicht total verrückt!“ entfuhr es ihm in der Gereiztheit. „Morgen werde ich unsere Ehe bekanntmachen. Sie werden nie in Schlössern wohnen – fassen Sie sich, bitte! Wollen Sie nun mit mir zusammenwohnen, das ganze Leben, aber nur sehr weit von hier? Das wäre in der Schweiz, in den Bergen, dort gibt es einen Ort ... Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde Sie niemals verlassen, oder in eine Irrenanstalt stecken. Geld werde ich noch genug haben, um nicht für uns betteln zu müssen. Sie werden ein Dienstmädchen haben; Sie werden keine einzige Arbeit zu verrichten brauchen. Alles, was Sie innerhalb der Grenzen des Möglichen wünschen, wird Ihnen verschafft werden. Sie werden beten und tun können, was Sie wollen, und gehen können wohin Sie wollen. Ich werde Sie nicht anrühren. Und auch ich werde diesen Ort nie mehr verlassen. Wenn Sie wollen, werde ich das ganze Leben lang kein Wort mit Ihnen sprechen, oder, wenn Sie wollen, so erzählen Sie mir abends, wie damals in Petersburg in den Winkeln, Ihre kleinen Geschichten. Oder ich kann Ihnen auch vorlesen, wenn Sie zum Zuhören Lust haben. Aber dafür das ganze Leben so an einem einzigen Ort – und es ist ein düsterer Ort. Wollen Sie? Können Sie sich entschließen? Und werden Sie es auch nie bereuen, werden Sie mich nie peinigen mit Tränen und Verwünschungen?“
Sie hatte ihm mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit zugehört, darauf schwieg sie lange und dachte nach.
„Unwahrscheinlich kommt mir das alles vor,“ sagte sie endlich spöttisch und launisch. „So könnte ich ja womöglich noch vierzig Jahre in jenen Bergen leben.“
Sie begann zu lachen.
„Nun, dann leben wir eben noch vierzig Jahre,“ sagte er mit stark gerunzelter Stirn.
„Hm! ... Um keinen Preis fahre ich dorthin.“
„Sogar mit mir nicht?“
„Wer sind Sie denn, daß ich mit Ihnen fahren sollte? Vierzig Jahre nacheinander mit ihm auf einem Berge sitzen – hört doch, womit er mir kommt! Was doch die Menschen heutzutage geduldig geworden sind! Aber nein, es kann doch nicht sein, daß ein Falke zum Uhu ward. Nicht so ist mein Fürst!“ und sie hob stolz und triumphierend den Kopf.
Da war es ihm, als ginge ihm plötzlich etwas auf.
„Warum nennen Sie mich Fürst und ... für wen halten Sie mich überhaupt?“ fragte er schnell.
„Wie? Sind Sie denn kein Fürst?“
„Ich bin niemals Fürst gewesen.“
„Und das gestehen Sie mir noch, so einfach, so ganz offen, mir ins Gesicht, daß Sie kein Fürst sind!“
„Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nie einer gewesen bin.“
„Mein Gott!“ Sie schlug die Hände zusammen. „Alles habe ich von seinen Feinden erwartet, aber solche Dreistigkeit doch wirklich nicht! Lebt er überhaupt noch?“ rief sie außer sich und rückte auf ihn zu. „Hast du ihn getötet oder nicht, gestehe!“
„Für wen hältst du mich?“ rief er aufspringend und sah sie an mit verzerrtem Gesicht.
Aber es war schwer, sie jetzt noch zu erschrecken. Sie triumphierte bereits.
„Wer kann es denn wissen, was du bist und woher du kommst! Nur mein Herz, mein Herz hat in all diesen fünf Jahren die ganze Intrige geahnt! Und da sitze ich nun und wundere mich: was ist das doch für eine blinde Eule, die heute zu mir gekommen ist? Nein, mein Lieber, du bist ein schlechter Schauspieler, sogar schlechter als mein Lebädkin. Grüße die Gräfin von mir recht höflich und richte ihr aus, sie solle doch einen schicken, der etwas gewandter ist als du. Hat sie dich gemietet, sag? Sonst dienst du wohl in ihrer Küche, wo sie dich vielleicht aus Gnade und Barmherzigkeit hält! Ich durchschaue ja euren ganzen Betrug, euch alle, bis auf den letzten durchschaue ich!“
Er faßte sie mit fester Kraft am Arm, über dem Ellenbogen; sie aber lachte ihm ins Gesicht.
„Ähnlich bist du ihm, ja, sehr ähnlich, vielleicht bist du auch verwandt mit ihm, – schlaues Volk! Nur ist meiner ein lichter Falke und ein Fürst, du aber bist eine Eule und ein Krämer! Wenn meiner will, so beugt er sich vor Gott, will er aber nicht, so beugt er sich auch vor Gott nicht! Dich aber hat Schatuschka (der Gute, der Liebe, mein Täubchen Schatuschka!) ins Gesicht geschlagen, wie Lebädkin erzählte. Und warum wurdest du damals so feig, als du hereinkamst? Was schreckte dich denn? Wie ich es sah, dein gemeines Gesicht, als ich fiel und du mich auffingst – da kroch es mir wie ein Wurm ins Herz: das ist nicht er, denke ich, nicht er! Würde sich doch mein Falke meiner nie vor einem vornehmen Fräulein geschämt haben! O Gott! Machte mich doch schon der Gedanke glücklich, in diesen ganzen fünf Jahren, daß mein Falke dort irgendwo hinter den Bergen lebt und fliegt und die Sonne schaut ... Sag, Usurpator, hast du viel genommen? Hast wohl für großes Geld eingewilligt? Ich hätte dir keinen Groschen gegeben! Ha–ha–ha! Ha–ha–ha! ...“
„Idiotin!“ knirschte Stawrogin, der sie immer noch am Arm gepackt hielt.
„Fort, Usurpator!“ rief sie plötzlich befehlend. „Ich bin meines Fürsten Frau und fürchte mich nicht vor deinem Messer!“
„Messer!“
„Ja, Messer! Du hast ein Messer in der Tasche. Du glaubtest wohl, ich schlief, aber ich habe alles gesehen: als du vorhin eintratest, zogst du ein Messer hervor!“
„Was hast du gesagt, Unglückliche, was träumst du für Träume!“ schrie er sie an und stieß sie aus aller Kraft von sich fort, so daß sie sogar schmerzhaft mit dem Kopf und den Schultern an die Sofalehne schlug.
Er stürzte hinaus; sie aber sprang sofort auf und lief ihm hinkend und humpelnd nach, doch erst auf der kleinen Treppe, wo sie von dem erschreckten Lebädkin mit aller Gewalt zurückgehalten wurde, gelang es ihr noch, ihm kreischend und mit Gelächter durch die Finsternis nachzurufen:
„Der falsche Demet–rius ward ver–flucht!“
„Ein Messer, ein Messer!“ wiederholte Stawrogin immer wieder in unstillbarem Haß, während er mit großen Schritten in den Straßenschlamm und die Regenpfützen trat, ohne auf den Weg zu achten. Und plötzlich, auf Augenblicke, erfaßte ihn eine unbändige Lust zu lachen, laut und toll; aber aus irgendeinem Grunde bezwang er sich und unterdrückte das Lachen. Er kam erst wieder zu sich, als er schon auf der Brücke war, gerade an der Stelle, wo ihn vorhin Fedjka angeredet hatte. Und dieser selbe Fedjka wartete hier auch jetzt, zog, als er Stawrogin erblickte, die Mütze, grinste heiter, und schloß sich ihm, keck und lustig losplaudernd, wieder ohne Bedenken an. Stawrogin ging zunächst unverändert weiter, ja, er achtete gar nicht darauf, vernahm nicht einmal, was der Strolch, der sich ihm wieder zugesellt hatte, da schwatzte. Auf einmal fiel ihm aber ein – und er wunderte sich darüber – daß ihm dieser Zuchthäusler gerade in der Zeit gar nicht in den Sinn gekommen war, als er selbst innerlich in einemfort „Ein Messer, ein Messer!“ gemurmelt hatte.
Und plötzlich packte er ihn blitzschnell am Kragen und riß ihn aus aller Kraft mit der ganzen in ihm angesammelten Wut zu Boden, daß er nur so auf die Brücke krachte. Einen Augenblick gedachte dieser wohl sich zu wehren, sagte sich aber sofort, daß er gegen einen solchen Gegner, der ihm zudem noch so überraschend zuvorgekommen war, ungefähr wie ein Strohhälmchen unmöglich aufkommen konnte. Und so verharrte er denn, halb kniend zu Boden gedrückt, die Ellenbogen auf den Rücken gerissen, wie ihn Stawrogin hielt, lautlos und reglos, sogar ohne den geringsten Widerstand auch nur zu versuchen, und wartete ruhig in schlauer Klugheit ab, was nun kommen werde. Ja, wie es schien, glaubte er überhaupt nicht an eine ernste Gefahr für sich.
Und er täuschte sich nicht. Stawrogin hatte sich zwar schon mit der linken Hand das Halstuch abgerissen, um seinen Gefangenen zu binden, doch plötzlich, Gott weiß weshalb, gab er es auf und stieß ihn nur von sich. Im Augenblick stand Fedjka auf den Füßen, wandte sich um, und ein kurzes, breites Messer blitzte in seiner Hand.
„Fort das Messer! Steck es sofort ein! Sofort!“ befahl Stawrogin mit ungeduldiger Geste – und das Messer verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war.
Nicolai Wszewolodowitsch ging darauf wieder stumm und ohne sich umzusehen weiter: aber der hartnäckige Verbrecher folgte ihm doch – diesmal freilich ohne zu schwatzen, vielmehr in respektvoller Entfernung, einen ganzen Schritt hinter ihm. So gingen sie über die ganze Brücke und kamen ans Ufer, wo Stawrogin diesmal nach links bog, in eine lange, öde Gasse, denn das war ein näherer Weg zur inneren Stadt, als der über die Bogojawlenskstraße.
„Ist es wahr, man sagt, du hättest hier in der Umgegend in diesen Tagen eine Kirche geplündert?“ fragte Stawrogin plötzlich.
„Gnädiger Herr, eigentlich ging ich zuerst nur hin, um zu beten,“ antwortete Fedjka gesetzt und höflich, und als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre. Ja, nicht nur gesetzt, sondern geradezu würdevoll sagte er es, und von der früheren „freundschaftlichen“ Familiarität war auch nicht eine Spur mehr zu bemerken. Er war in diesem Augenblick ganz wie ein ernster, sachlicher Mensch, den man grundlos gekränkt hat, der aber auch Kränkungen zu vergessen versteht.
„Doch wie mich da unser Herrgott hingeführt hatte,“ fuhr er fort, „ach, du himmlisches Gnadenkraut, denke ich! Nur von wegen meiner Verwaistheit ist ja das alles geschehen, denn in unserem Leben geht’s nu mal gar nich ohne Unterstützung. Und sehen Sie, glauben Sie mir, gnädiger Herr, zu seinem eigenen Nachteil hat der Herr mich hingeführt: hab’ für die Sachen im ganzen nur zwölf Rubelchen bekommen. Des heiligen Nicolai silbernes Kinnband aber ist fast auf den Kauf gegangen: semiliert, sagte man.“
„Du hast vorher den Wächter erstochen?“
„Nee, das heißt, wir haben’s ja beide gemacht, der Wächter und ich, und dann erst, am Morgen, am Flüßchen, kam’s zum Streit, wer den Sack tragen sollte. Da sündigte ich, erleichterte ihn ein klein wenig.“
„Erstich noch, stiehl noch!“
„Ganz dasselbe rät mir auch Pjotr Stepanowitsch, mit genau denselben Worten, da er mir selber nie nich was geben will, denn er ist halt geizig und hartherzig in Fragen wie Unterstützung. Außerdem, daß er an den himmlischen Schöpfer, der uns doch allesamt aus einem Erdkloß gemacht hat, nich für eine Kopeke glaubt. Er sagt, alles hat die Natur gemacht, sogar jedes letzte Tier, und überdies begreift er schon ganz und gar nich, daß uns in unserem Leben ohne milde Unterstützung überhaupt nichts möglich ist. Fängst du ihm was zu erklären an, glotzt er wie ein Schaf ins Wasser: nur so wundern kannst du dich über ihn. Aber werden Sie es wohl glauben, gnädiger Herr, beim Hauptmann Lebädkin beispielsweise, wo Sie soeben besuchten, da kam’s vor, als er noch vor Ihnen bei Filippoff wohnte, daß die Tür die ganze Nacht unverschlossen steht, schläft selbst vollgesoffen wie ein Fisch, und das Geld, das kullert nur man so aus allen Taschen auf die Diele. ’s kam vor, daß man’s mit eigenen leibhaftigen Augen sah, denn nach unserer Meinung, daß man ohne milde Unterstützung was könnte, daran ist schon gar nich zu denken ...“
„Wie das, mit eigenen Augen? Bist du etwa in der Nacht hingegangen?“
„Vielleicht bin ich auch hingegangen, nur weiß das niemand nich.“
„Warum hast du ihn denn nicht erstochen?“
„Hab erst nachgezählt und mich dann bedacht. So wußte ich denn, daß ich immer hundertfünfzig Rubel rausnehmen kann, aber warum soll ich denn das, wenn ich ganze tausendfünfhundert kriegen kann, wenn ich nur eben jetzt ein wenig warte? Denn Hauptmann Lebädkin hat immer sehr auf Sie gebaut, hab’s mit meinen eigenen Ohren gehört, wenn er voll war, und es gibt hier überhaupt keine Schenke mehr, wo er nich dasselbe genau so wiederholt hat. Das hab ich auch noch von anderen gehört, und so begann ich nun gleichfalls, meine ganze Hoffnung auf den gnädigen Herrn zu setzen. Ich bin wirklich zu Ihnen, gnädiger Herr, wie zu meinem Vater oder leiblichen Bruder, denn Pjotr Stepanowitsch wird darüber niemals was von mir zu hören bekommen und auch sonst keine einzige Seele. Also deshalb meine ich, der gnädige Herr könnte mir doch wirklich jetzt mit drei Rubelchen wohlwollen? Wenn der gnädige Herr mir nur somit klar zu verstehen geben wollte, damit ich dann die Wahrheit weiß, denn für unsereins ist’s nun einmal ohne milde Unterstützung ganz und gar unmöglich.“
Da lachte Stawrogin laut auf, zog aus der Tasche sein Portemonnaie, in dem an fünfzig Rubel in kleineren Scheinen waren, und warf einen Schein aus dem Paket ihm zu, dann noch einen, dann einen dritten, vierten, fünften. Fedjka fing sie in der Luft auf, sprang hin und her, die Banknoten flatterten, fielen in den Schmutz, immer gieriger griff er nach ihnen, und immer erregter stieß er dabei ein kurzes „Äch, Äch“ hervor. Schließlich schleuderte ihm Stawrogin aus voller Faust das ganze Geldpaket zu und bog, immer noch lachend, in eine Quergasse ein – diesmal allein. Der Strolch blieb zurück, rutschte fast auf den Knien im Schmutz herum und suchte nach den vom Wind verstreuten Geldscheinen, die in den Pfützen versanken, und noch eine ganze Stunde lang konnte man hören, wie er in der Dunkelheit suchend sein kurzes „Äch, Äch!“ hervorstieß.
Am anderen Tage um zwei Uhr nachmittags fand das Duell statt. Daß dasselbe wirklich so schnell zustande kam, dazu hatte vor allem der leidenschaftliche Wunsch Artemij Pawlowitsch Gaganoffs beigetragen, sich um jeden Preis und so schnell wie nur möglich zu schlagen. Er begriff die Haltung seines Gegners nicht und war außer sich vor Empörung. Schon einen ganzen Monat beleidigte er Stawrogin, und noch immer war es ihm nicht gelungen, diesen zu einer Forderung zu bewegen. Dabei schämte er sich im Grunde der eigenen innersten Gründe des krankhaften Hasses, mit dem er Stawrogin seit der „Nasführung“ seines Vaters verfolgte. Auch konnte er Stawrogin nicht gut zuerst fordern, da dieser nicht den geringsten Anlaß dazu bot – ganz abgesehen davon, daß er ihm wegen jenes Vorfalls mit dem Vater ja bereits die allerhöflichsten Entschuldigungen angeboten hatte. Unbegreiflich war es ihm auch, wie Stawrogin die Ohrfeige Schatoffs so ohne weiteres hatte hinnehmen können. Und da er ihn denn alles in allem schließlich für einen ausgemachten Feigling halten mußte, so hatte er sich endlich entschlossen, den letzten, in seiner Frechheit so unerhörten Brief zu schreiben, der denn auch richtig den Verhaßten zu einer Forderung bewog. In fieberhafter Ungeduld hatte Gaganoff die Antwort auf diesen Brief erwartet, hatte die Chancen berechnet, die diesmal für eine Forderung bestanden, und war am Ende geradezu verzweifelt bei dem Gedanken, daß auch jetzt vielleicht aus irgendeinem Grunde nichts daraus werden könnte. Für alle Fälle aber hatte er bereits Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff, seinen alten Jugendfreund, zu sich gebeten: der sollte sein Sekundant sein. So hatte denn Kirilloff, als er am Morgen um neun Uhr erschien, die beiden zusammen angetroffen. Seine Erklärungen und alle die unerhörten Zugeständnisse Stawrogins waren von Gaganoff mit einer unglaublichen Heftigkeit zurückgewiesen worden. Mawrikij Nicolajewitsch hatte, nicht wenig erstaunt, zuerst darauf eingehen wollen und schon geglaubt, es ließe sich eine Versöhnung zustande bringen. Doch als er bemerkte, daß Artemij Pawlowitsch vor Zorn geradezu erzitterte, da hatte er schnell wieder geschwiegen. Er wäre wohl überhaupt aufgestanden und fortgegangen, wenn er dem Freunde nicht bereits sein Wort gegeben hätte; so aber blieb er denn, in der Hoffnung, später vielleicht noch irgendwie vermitteln zu können. Im übrigen wurden alle Bedingungen Stawrogins von Gaganoff sofort angenommen und sogar auf einen dreimaligen Kugelwechsel erweitert – ganz gegen Kirilloffs Wunsch und Absicht, der sich durchaus dagegen wehrte, aber nichts erreichte. So blieb es denn bei diesen scharfen Abmachungen.
Das Duell selbst fand um zwei Uhr in Brykowo statt, in einem kleinen Walde zwischen Skworeschniki und der Fabrik der Gebrüder Spigulin. Der gestrige Regen hatte völlig aufgehört, aber es war feucht und windig. Niedrige, trübe, zerrissene Wolken zogen schnell am kalten Himmel vorüber; die Bäume rauschten volltönend und mit den Wipfeln wogend und knarrten in den Stämmen; es war ein sehr trauriger Tag.
Gaganoff und Mawrikij Nicolajewitsch kamen in einem eleganten char à bancs[112] mit zwei prachtvollen Pferden, die Artemij Pawlowitsch selbst lenkte, auf dem Kampfplatze an; auch hatten sie einen Diener mitgenommen. Fast in demselben Augenblick trafen auch Stawrogin und Kirilloff ein, jedoch nicht im Wagen, sondern reitend, und gleichfalls in Begleitung eines Dieners. Kirilloff, der in seinem Leben noch nie auf einem Pferde gesessen hatte, hielt sich steif, doch mutig im Sattel, unter dem rechten Arm den schweren Pistolenkasten, den er für keinen Preis dem Diener hatte anvertrauen wollen, während er mit der linken Hand aus Unwissenheit beständig die Zügel anzog, weswegen denn das gereizte Pferd immer heftiger mit dem Kopf schüttelte und bereits deutlich die Absicht bekundete, sich auf die Hinterbeine zu stellen – was übrigens den Reiter nicht im geringsten zu schrecken schien. Der mißtrauische Gaganoff, der sich schon beim geringsten Anlaß leicht tief gekränkt fühlte, faßte diese Ankunft hoch zu Roß als neue Beleidigung auf: waren doch die Gegner offenbar von vornherein von einem für sie günstigen Ausgang des Duells überzeugt, so daß sie es gar nicht erst für nötig gehalten hatten, auf alle Fälle einen Wagen zum Transport eines Verwundeten zur Stelle zu haben. Ganz gelb vor Ärger stieg Gaganoff aus seinem char à bancs, wobei er bemerkte, daß seine Hände zitterten. Auf Stawrogins Gruß dankte er nicht, sondern wandte sich einfach ab.
Die Sekundanten warfen das Los: es traf Kirilloffs Pistolen. Der Wagen und die Pferde wurden mit den Dienern an den Waldrand zurückgeschickt. Dann maßen die Sekundanten die Barriere ab, wiesen den Gegnern ihren Platz an und händigten ihnen die geladenen Pistolen ein.
Mawrikij Nicolajewitsch war besorgt und traurig, Kirilloff dagegen vollkommen ruhig und unbekümmert, sehr genau in der Ausübung seines Amtes, doch ohne allzu geschäftig zu sein, kurz, er machte den Eindruck, als interessierte ihn die unheimliche Entscheidung eigentlich nicht im geringsten. Stawrogin war etwas bleicher als gewöhnlich, ziemlich leicht gekleidet, in einem Mantel, und trug einen weißen Kastorhut. Er schien sehr müde zu sein, dann und wann flog ein düsterer Schatten über sein Gesicht, und offenbar war es ihm nicht der Mühe wert, seine schlechte Laune zu verbergen. Am eigentümlichsten verhielt sich jedoch Artemij Pawlowitsch Gaganoff, und ich sehe mich schon aus diesem Grunde gezwungen, über ihn ein paar Worte hinzuzufügen.
Artemij Pawlowitsch Gaganoff war ein großer Mensch, weiß und wohlgenährt, wie der Volksmund sagt, ja, beinahe feist, etwa dreiunddreißig Jahre alt, mit blondem, anliegendem Haar und, wenn man will, sogar hübschen Gesichtszügen. Er war mit dem Oberstenrang aus dem Dienst geschieden, doch wenn er es bis zum General gebracht hätte, so wäre er als solcher in voller Uniform eine noch imponierendere Erscheinung gewesen, und es wäre sehr leicht möglich, daß er im Felde einen guten Heerführer abgegeben hätte.
Zur Kennzeichnung seines Charakters darf nicht verschwiegen werden, daß der Grund, weshalb er seinen Abschied nahm, der ihn so lange und qualvoll verfolgende Gedanke an seine „Familienschande“ war: die Beleidigung seines Vaters – vor mehr als vier Jahren in unserem Klub – durch Nicolai Stawrogin. Er hielt es auf Ehre und Gewissen für unehrenhaft, nach wie vor im Heer zu bleiben, und war innerlich überzeugt, daß er das Regiment und die Kameraden schände, obschon keiner von ihnen etwas von jenem Vorfall wußte. Allerdings hatte er schon früher einmal die Absicht gehabt, den Abschied zu nehmen, schon lange vor jener Beleidigung, aus einem ganz anderen Grunde, aber er hatte doch noch geschwankt und sich nicht entschließen können. Den Anstoß zu dieser ersten Absicht, den aktiven Dienst aufzugeben, oder richtiger den Anlaß zu diesem Gedanken hatte seinerzeit[40] – wie sonderbar das auch klingen mag – das Manifest vom 19. Februar gegeben, das die Leibeigenschaft der Bauern aufhob. Dabei verlor er, Gaganoff, als einer der reichsten Gutsbesitzer unseres Gouvernements, durch dieses Manifest noch nicht einmal so viel, und außerdem sah er die Berechtigung der humanitären Gesichtspunkte selbst ein, ja er begriff fast auch die ökonomischen Vorteile der Reform, – doch ungeachtet dessen fühlte er sich nach Erscheinen des Manifestes gleichsam persönlich beleidigt. Es war das zwar nur ein Gefühl bei ihm, beinahe unbewußt, doch vielleicht empfand er es gerade deshalb um so stärker. Bis zum Tode seines Vaters hatte er sich nicht entschließen können, etwas Entscheidendes zu tun; doch durch seinen „aristokratischen“ Standpunkt wurde er in Petersburg selbst mit vielen hervorragenden Persönlichkeiten bekannt, worauf er den Verkehr mit ihnen eifrig zu pflegen begann. Im übrigen war er ein zurückhaltender, verschlossener Mensch, der zu jenen sonderbaren, doch in Rußland noch nicht ausgestorbenen Edelleuten gehörte, die auf das Alter und die Reinheit ihres Adelsgeschlechts ungeheuer viel geben und sich damit schon gar zu ernsthaft beschäftigen. Dabei war ihm aber die Geschichte Rußlands geradezu ein Greuel, wie er denn die ganze russische Art teilweise für eine Schweinerei hielt. Schon in seiner Kindheit, als er noch in einer besonderen militärischen Schule für ausschließlich vornehme und reiche Zöglinge war, hatten sich in ihm gewisse poetische Auffassungen entwickelt: ihm gefielen Schlösser und Burgen, das mittelalterliche Leben von seiner opernhaften Seite, das Rittertum. Schon damals weinte er fast vor Scham, wenn er daran dachte, daß der Zar des alten moskowitischen Reiches die russischen Bojaren körperlich hatte strafen dürfen, und er errötete, wenn er diese Bräuche mit denen des ausländischen ritterlichen Mittelalters verglich. Dieser steife, äußerst strenge Mensch, der seinen Dienst so ausgezeichnet kannte und jede Pflicht gewissenhaft erfüllte, war im Grunde seiner Seele verträumt. Man behauptete von ihm, er könne Reden, sogar gute Reden halten – einstweilen jedoch hatte er seine ganzen dreiunddreißig Jahre lang fast nur geschwiegen, und sogar in jenem vornehmen und vielbedeutenden Petersburger Kreise, in dem er seit einiger Zeit verkehrte, hatte er sich ungewöhnlich hochmütig verhalten. Da traf ihn die Begegnung mit Stawrogin, der aus dem Auslande nach Petersburg zurückgekehrt war, und brachte ihn fast um den Verstand. So war er denn von einer geradezu krankhaften Unruhe, als er jetzt vor der Barriere stand: noch immer fürchtete er, daß das Duell auf irgendeine Weise nicht zustandekommen könnte, und selbst die kleinste Verzögerung machte ihn erzittern. Ein geradezu schmerzhafter Ausdruck trat in sein Gesicht, als Kirilloff, anstatt das Zeichen zum ersten Schuß zu geben, plötzlich zu sprechen begann, allerdings nur pflichtschuldig, was er auch sofort vorausschickte.
„Nur pro forma noch ein paar Worte: jetzt, da schon die Pistolen in den Händen der Duellanten sind, frage ich zum letztenmal, ob Sie nicht wünschen, sich zu versöhnen? – Die Pflicht des Sekundanten,“ fügte er fast gleichgültig hinzu.
Und wie um seinen Freund zu ärgern – so schien es wenigstens Gaganoff –, begann nun auch Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff zu sprechen, der bisher noch kein Wort gesagt, sich aber schon seit dem vorigen Abend über seine Zusage quälende Vorwürfe gemacht hatte. So griff er denn Kirilloffs Vorschlag schnell auf.
„Ich schließe mich vollkommen Herrn Kirilloffs Worten an ... Daß man sich an der Barriere nicht mehr versöhnen könne – ist ein Vorurteil, das zu den Franzosen passen mag ... Und eigentlich liegt doch überhaupt keine richtige Beleidigung vor, wenigstens vermag ich sie nicht zu entdecken – Verzeihung, das wollte ich schon gestern sagen ... es werden doch alle erdenklichen Entschuldigungen angeboten, nicht wahr?“
Er war dabei ganz rot geworden. Selten hatte er so viel und in solcher Aufregung gesprochen.
„Ich wiederhole meine Bereitwilligkeit, alle mir möglichen Entschuldigungen zu machen,“ sagte Stawrogin ungewöhnlich entgegenkommend.
„Wie ist das nur möglich?!“ schrie Gaganoff, zu Drosdoff gewandt, außer sich, und stampfte mit dem Fuß. „Erklären Sie doch diesem Menschen,“ – er stieß dabei mit der Pistole in die Richtung, in der Stawrogin stand – „wenn Sie mein Sekundant und nicht mein Feind sind, Mawrikij Nicolajewitsch, daß solche Zugeständnisse die Beleidigung nur verstärken! Er hält es nicht für möglich, von mir beleidigt zu werden! ... Er hält es für keine Schande, vor mir von der Barriere zurückzutreten! Für wen hält er mich denn nach alledem! Was glauben Sie ... und Sie sind noch mein Sekundant! Sie regen mich nur auf, damit ich nicht treffe!“
Wieder stampfte er mit dem Fuß und Speichel spritzte von seinen Lippen.
„Die Unterhandlung ist beendet. Bitte, auf das Kommando zu hören!“ rief Kirilloff laut. „Eins, zwei, drei!“
Bei „drei“ gingen die Gegner aufeinander zu. Gaganoff erhob sofort die Pistole und beim fünften oder sechsten Schritt – schoß er. Eine Sekunde lang blieb er stehen und, nachdem er sich überzeugt, daß er nicht getroffen hatte, ging er schnell zur Barriere. Auch Stawrogin trat an die Barriere, erhob die Pistole, aber ziemlich hoch und schoß fast ohne zu zielen. Darauf zog er sein Taschentuch hervor und umwickelte den kleinen Finger seiner rechten Hand. Da bemerkten erst die anderen, daß Artemij Pawlowitsch doch nicht ganz gefehlt hatte: freilich hatte die Kugel den Finger nur gestreift, ohne den Knochen zu berühren. Kirilloff erklärte sofort, daß das Duell, wenn die Gegner sich jetzt nicht versöhnen wollten, seinen Fortgang nehmen könne.
„Ich behaupte, daß dieser Mensch,“ schrie Gaganoff heiser (seine Kehle war trocken geworden), sich wieder nur an Drosdoff wendend, und er wies von neuem mit der Pistole auf Stawrogin, „daß dieser Mensch absichtlich in die Luft geschossen hat ... absichtlich! ... Das ist eine neue Beleidigung! Er will das Duell unmöglich machen!“
„Ich habe das Recht, so zu schießen, wie ich will, wenn es nur nach den Regeln geschieht,“ bemerkte Stawrogin fest.
„Nein, das hat er nicht! Erklären Sie ihm das, erklären Sie es ihm doch!“ schrie Gaganoff.
„Ich bin ganz der Meinung Nicolai Wszewolodowitschs,“ sagte Kirilloff.
„Warum schont er mich!?“ raste Gaganoff, ohne auf die anderen zu hören. „Ich verachte seine Schonung ... Ich spucke ... Ich ...“
„Ich gebe mein Wort, daß ich Sie durchaus nicht beleidigen wollte,“ sagte Stawrogin ungeduldig. „Ich habe in die Luft geschossen, weil ich niemanden mehr töten will, ob Sie oder einen anderen, geht Sie persönlich nichts an. Es ist wahr, ich halte mich nicht für beleidigt, und es tut mir leid, daß Sie das aufbringt. Ich erlaube aber keinem, sich in mein Recht einzumischen.“
„Wenn er sich so vor Blut fürchtet, so fragen Sie ihn doch, warum er mich überhaupt gefordert hat?“ brüllte Gaganoff, immer noch ausschließlich zu Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff gewandt.
„Wie sollte man Sie denn nicht fordern?“ mischte sich Kirilloff ein. „Sie wollten doch nichts hören, wie sollte man Sie denn los werden?“
„Ich möchte nur bemerken,“ sagte Mawrikij Nicolajewitsch, der angestrengt und qualvoll über die Sache nachdachte, „wenn der Gegner im voraus erklärt, er werde in die Luft schießen, so kann das Duell, meiner Meinung nach, nicht mehr fortgesetzt werden ... aus delikaten und, ich glaube ... auch klaren Gründen.“
„Ich habe durchaus nicht erklärt, daß ich jedesmal in die Luft schießen werde!“ rief Stawrogin, der nun wirklich die Geduld verlor. „Wie können Sie wissen, was ich im Sinne habe und wie ich zum zweitenmal schießen werde ... Ich mache das Duell keineswegs unmöglich.“
„Wenn dem so ist, kann das Duell seinen Fortgang nehmen,“ wandte sich Mawrikij Nicolajewitsch an Gaganoff.
„Meine Herren, nehmen Sie Ihre Plätze ein!“ kommandierte Kirilloff.
Sie stellten sich auf, gingen wieder aufeinander zu, wieder fehlte Gaganoff und wieder schoß Stawrogin in die Luft. Übrigens waren diese Schüsse in die Luft doch zweifelhaft – es ließ sich über sie streiten: Stawrogin hätte sehr wohl behaupten können, daß er, ganz wie es sich gehört, auf den Gegner gezielt habe, wenn er nicht vorher selbst das Gegenteil angekündigt hätte, denn er richtete die Pistole nicht etwa gerade auf den Himmel oder auf einen Baumwipfel, sondern immerhin so, als ziele er auf den Gegner, – wenn er auch tatsächlich einen halben Meter über dessen Hut zielte. Dieses zweite Mal hatte er sogar ein noch niedrigeres, noch täuschenderes Ziel genommen; doch Gaganoff wäre jetzt wohl überhaupt nicht mehr zu überzeugen gewesen.
„Wieder!“ knirschte er ingrimmig. „Einerlei! Ich bin gefordert und werde von meinem Recht Gebrauch machen! Ich will zum drittenmal schießen ... unbedingt! ...“
„Dazu haben Sie das volle Recht,“ schnitt ihm Kirilloff das Wort ab.
Mawrikij Nicolajewitsch sagte nichts. Zum drittenmal wurden sie aufgestellt, zum drittenmal wurde kommandiert. Diesmal schritt Gaganoff bis zur Barriere, und von dort, auf zwölf Schritt Distanz, begann er zu zielen. Doch seine Hände zitterten zu sehr, um richtig zielen zu können. Stawrogin stand mit gesenkter Pistole und erwartete regungslos den Schuß des Gegners.
„Zu lange, zu lange gezielt!“ rief Kirilloff schließlich ungestüm. „Schießen Sie! Schießen Sie!“
Der Schuß ertönte, und diesmal riß die Kugel Stawrogins weißen Hut vom Kopfe. Gaganoff hatte gut gezielt, der Hutboden war ganz unten durchschossen; nur zwei Zentimeter niedriger und alles wäre zu Ende gewesen. Kirilloff hob den Hut auf und reichte ihn Stawrogin.
„Schießen Sie, halten Sie den Gegner nicht auf!“ rief Mawrikij Nicolajewitsch in ungewöhnlicher Erregung, als er sah, daß Stawrogin, der mit Kirilloff den Hut betrachtete, seinen dritten Schuß gleichsam vergessen hatte.
Stawrogin zuckte zusammen, blickte auf Gaganoff, wandte sich dann zur Seite und schoß diesmal schon ohne jedes Zartgefühl einfach in den Wald hinein. Das Duell war beendet. Gaganoff stand da wie erstarrt. Mawrikij Nicolajewitsch trat zu ihm und sprach etwas, doch er schien ihn gar nicht zu verstehen. Kirilloff zog den Hut, als er fortging, und nickte Mawrikij Nicolajewitsch zu; doch Stawrogin vergaß jetzt die Höflichkeit, die er vorhin bezeugt hatte; nach seinem letzten Schuß in den Wald, drückte er Kirilloff die Pistole in die Hand und ging, ohne sich auch nur einmal zur Barriere zu wenden, schnell zu den Pferden. Sein Gesicht drückte Wut aus; er schwieg. Auch Kirilloff schwieg. Sie bestiegen die Pferde und ritten im Galopp davon.
„Warum schweigen Sie?“ rief Stawrogin ungeduldig Kirilloff zu, kurz bevor sie das Haus erreichten.
„Was wollen Sie?“ fragte dieser, fast vom Pferde rutschend, da es sich bäumte.
Stawrogin bezwang sich.
„Ich wollte ihn nicht beleidigen, diesen ... Dummkopf, und doch habe ich es wieder getan,“ sagte er langsam.
„Ja, Sie haben ihn wieder beleidigt,“ sagte Kirilloff trocken, – „und dabei ist er gar kein Dummkopf.“
„Immerhin habe ich alles getan, was ich konnte.“
„Nein.“
„Was hätte ich denn tun sollen?“
„Nicht fordern.“
„Noch einen Schlag ins Gesicht ertragen?“
„Ja, noch einen Schlag ertragen.“
„Ich fange an nichts mehr zu begreifen!“ sagte Stawrogin geärgert. „Warum erwartet man von mir, was man sonst von niemandem erwartet? Warum soll ich ertragen, was sonst niemand erträgt, und mir Bürden aufladen, die keiner tragen kann?“
„Ich glaube, Sie suchen eine Bürde.“
„Ich suche eine Bürde?“
„Ja.“
„Sie ... haben das bemerkt?“
„Ja.“
„Ist das so bemerkbar?“
„Ja.“
Sie schwiegen. Stawrogin sah besorgt aus, fast erschreckt.
„Ich habe nur deshalb nicht auf ihn geschossen, weil ich nicht töten wollte, und das war alles, ich versichere Sie,“ sagte er schnell und erregt, als wollte er sich rechtfertigen.
„Es war nicht nötig, zu beleidigen.“
„Was hätte man denn tun sollen?“
„Man hätte töten sollen.“
„Es tut Ihnen leid, daß ich ihn nicht erschossen habe?“
„Mir tut gar nichts leid. Ich glaubte, Sie wollten ihn wirklich erschießen. Sie wissen selbst nicht, was Sie suchen.“
„Ich suche eine Bürde,“ lachte Stawrogin auf.
„Wenn Sie nicht Blut vergießen wollten, warum gaben Sie sich denn selbst dazu her?“
„Wenn ich ihn nicht gefordert hätte, so wäre ich von ihm so erschlagen worden, ohne Duell.“
„Das ist nicht Ihre Sache. Vielleicht hätte er auch nicht erschlagen.“
„Sondern nur geschlagen?“
„Nicht Ihre Sache. Tragen Sie die Bürde. Sonst gibt es kein Verdienst.“
„Aus dem mache ich mir gerade was! Habe es noch bei niemandem gesucht!“
„Ich glaubte, Sie suchten,“ schloß Kirilloff unglaublich kaltblütig.
Sie ritten auf den Hof.
„Kommen Sie zu mir?“ lud ihn Stawrogin ein.
„Nein, ich gehe nach Haus. Leben Sie wohl.“
Er stieg aus dem Sattel und nahm seinen Kasten unter den Arm.
„Aber wenigstens Sie ärgern sich doch nicht über mich?“ fragte Stawrogin und hielt ihm die Hand hin.
„Nicht im geringsten!“ Kirilloff kehrte sofort zurück, um ihm die Hand zu drücken. „Wenn meine Bürde mir leicht ist, so ist es, weil das von Natur so ist, und wenn Ihre Bürde Ihnen vielleicht schwerer ist, so kommt das auch, weil die Natur so ist. Sehr zu schämen braucht man sich deshalb nicht, nur ein wenig.“
„Ich weiß, daß ich ein nichtiger Charakter bin, aber ich dränge mich ja auch nicht unter die Starken.“
„Tun Sie’s auch nicht. Sie sind kein starker Mensch. Kommen Sie wieder Tee trinken.“
Stawrogin trat verwirrt und erregt bei sich ein.
Alexei Jegorowitsch meldete ihm sofort, daß Warwara Petrowna, die sich über den Spazierritt Nicolai Wszewolodowitschs – den ersten nach acht Tagen Krankheit – sehr gefreut hatte, nun gleichfalls ausgefahren sei, „so wie früher alle Tage, um wieder einmal frische Luft zu atmen, dieweil sie es seit acht Tagen nicht mehr getan haben.“
„Ist sie allein gefahren oder mit Darja Pawlowna?“ unterbrach Stawrogin den alten Diener hastig und sein Gesicht verdüsterte sich sehr, als er hörte, daß Darja Pawlowna „krankheitshalber vorgezogen haben, nicht mitzufahren und sich augenblicklich in ihren Zimmern befinden“.
„Höre, Alter,“ sagte er, wie nach einem plötzlichen Entschluß, „paß auf sie heute den ganzen Tag auf, und wenn du bemerkst, daß sie zu mir kommen will, so halte sie zurück und sag ihr, daß ich sie nicht empfangen kann, wenigstens in diesen Tagen nicht ... daß ich sie selbst darum bitten lasse ... und wenn es Zeit sein wird, werde ich sie selbst rufen – hörst du?“
„Zu Befehl,“ sagte Alexei Jegorowitsch mit Kummer in der Stimme und senkte die Augen.
„Aber nicht früher, als bis du sicher bist und genau siehst, daß sie zu mir kommen will.“
„Der gnädige Herr können unbesorgt sein, es wird alles so gemacht werden. Durch mich sind bis jetzt auch alle Besuche ermöglicht worden, sie haben sich immer an mich gewandt.“
„Ich weiß. Also nicht früher, als bis sie selbst kommt. Und jetzt bring mir Tee, wenn es geht, möglichst schnell.“
Kaum hatte der Alte das Zimmer verlassen, als dieselbe Tür sich wieder öffnete und Darja Pawlowna auf der Schwelle erschien. Ihr Blick war ruhig, doch das Gesicht bleich.
„Woher kommen Sie?“ rief Stawrogin.
„Ich stand hier an der Tür und wartete, bis er hinausging, um dann bei Ihnen einzutreten. Ich habe gehört, was Sie ihm angaben. Als er fortging, versteckte ich mich hinter den Mauervorsprung rechts, und so hat er mich nicht bemerkt.“
„Ich wollte schon lange mit Ihnen brechen, Dascha ... so lange ... es noch Zeit ist. Ich konnte Sie heute Nacht nicht empfangen, trotz Ihrer brieflichen Bitte. Ich wollte Ihnen gleichfalls schreiben, aber ich verstehe nicht zu schreiben,“ fügte er mit Ärger und sogar wie angeekelt hinzu.
„Auch ich habe bereits daran gedacht, daß wir brechen müssen. Warwara Petrowna argwöhnt schon zu sehr unsere Beziehungen.“
„Nun, mag sie doch.“
„Sie soll sich nicht beunruhigen. Und so bleibt es denn jetzt bis zum Ende?“
„Sie erwarten immer noch unbedingt ein Ende?“
„Ja, ich bin überzeugt, daß es kommen wird.“
„Auf der Welt hat nichts ein Ende.“
„Hier aber wird es ein Ende geben. Rufen Sie mich dann, ich werde kommen. Und jetzt leben Sie wohl.“
„Und was für ein Ende wird denn das sein?“ fragte Stawrogin halb lachend.
„Sie sind nicht verwundet und ... haben auch kein Blut vergossen?“ fragte sie, ohne auf die Frage nach dem Ende zu antworten.
„Es war dumm; ich habe niemanden getötet, beunruhigen Sie sich nicht. Übrigens werden Sie heute noch alles von allen hören. Ich fühle mich nicht ganz wohl.“
„Ich gehe schon. Die Anzeige der Heirat wird heute nicht erfolgen?“ fragte sie noch wie unschlüssig.
„Heute nicht; morgen nicht ... übermorgen – sind wir vielleicht alle tot, ... um so besser. Lassen Sie mich, lassen Sie mich doch endlich!“
„Sie werden die andere nicht zugrunde richten ... die Wahnsinnige?“
„Ich werde keine Wahnsinnige zugrunde richten, weder die eine noch die andere, aber ich glaube, die Vernünftige richte ich zugrunde: ich bin so gemein, so niedrig, Dascha, daß ich Sie vielleicht wirklich rufen werde – ‚ganz zum Schluß‘, wie Sie sagen, und Sie werden dann, trotz Ihrer Vernunft, zu mir kommen. Warum richten Sie sich selbst zugrunde?“
„Ich weiß, daß zum Schluß nur ich bei Ihnen bleiben werde und ... ich warte darauf.“
„Wenn ich Sie aber zum Schluß nicht rufe und von Ihnen fortlaufe?“
„Das ist unmöglich, Sie werden mich rufen.“
„Darin liegt viel Verachtung für mich.“
„Sie wissen, daß nicht nur Verachtung ...“
„Also ist Verachtung immerhin dabei?“
„Ich wollte es nicht so sagen. Gott ist mein Zeuge, daß ich von Herzen wünschte, Sie hätten mich niemals nötig.“
„Die eine Phrase ist die andere wert. Auch ich wünschte, Sie nicht zugrunde zu richten.“
„Niemals und durch nichts werden Sie mich zugrunde richten können – und das wissen Sie ja selbst am besten,“ sagte Darja Pawlowna schnell und überzeugt. „Wenn ich nicht zu Ihnen komme, so werde ich barmherzige Schwester, Krankenwärterin. Oder werde als Büchertrödlerin Bibeln verkaufen. Das habe ich beschlossen. Ich kann nicht in solchen Häusern leben, wie dieses hier. Nicht das ist es, was ich will ... Sie wissen alles ... –“
„Nein, ich habe es nie erfahren können, was Sie wollen; ich glaube, Sie interessieren sich für mich, wie zuweilen alte Krankenwärterinnen aus irgendeinem Grunde einen Pflegling den anderen vorziehen, oder, noch besser, wie auf unseren Kirchhöfen die betenden Greisinnen von den vielen Leichen sich eine etwas ansehnlichere aussuchen, die sie dann besonders in ihr Herz schließen.[41] Warum sehen Sie mich so sonderbar an?“
„Sind Sie sehr krank?“ fragte sie teilnehmend und sah ihn dabei ganz eigentümlich nachdenklich und forschend an. „Gott! Und dieser Mensch will ohne mich auskommen!“
„Hören Sie, Dascha, ich sehe jetzt immer Gespenster. Heute nacht bot sich mir ein kleiner Teufel auf der Brücke an, – erbot sich, Lebädkin und Marja Timofejewna zu ermorden, um meiner gesetzlichen Ehe ein Ende zu machen, und so, daß nichts ruchbar wird. Als Handgeld verlangte er nur drei Rubel, doch gab er deutlich zu verstehen, daß die ganze Operation nicht weniger als tausendfünfhundert kosten werde. Das war mir mal ein gut berechnender Teufel! Ein Buchhalter! Ha–ha!“
„Und Sie sind fest überzeugt, daß es ein Gespenst war?“
„O nein, durchaus kein Gespenst! Das war ganz einfach der entsprungene Zuchthäusler Fedjka, ein sibirischer Sträfling und Raubmörder. Doch das ist Nebensache. Aber was glauben Sie, daß ich getan habe? Ich habe ihm das ganze Geld aus meinem Portemonnaie hingeworfen, und er ist jetzt vollkommen überzeugt, daß ich ihm damit das Handgeld gezahlt habe!“
„Sie haben ihn in der Nacht getroffen und er hat Ihnen diesen Vorschlag gemacht? Ja, sehen Sie denn wirklich nicht, daß Sie von dem Netz jener Leute schon vollständig umstrickt sind?“
„Nun, mögen sie. Aber soll ich Ihnen sagen, was für eine Frage sich jetzt in Ihnen dreht und windet? – ich sehe sie in Ihren Augen,“ fügte er gereizt mit bösem Lächeln hinzu.
Dascha erschrak:
„Gar keine Frage und es gibt da überhaupt keinen Zweifel, schweigen Sie!“ rief sie in Unruhe, die Frage gleichsam von sich fortscheuchend.
„Sie sind also überzeugt, daß ich nicht zu Fedjka in die Kneipe gehen werde?“
„O Gott!“ Sie erhob die Hände. „Warum quälen Sie mich so?“
„Nun, verzeihen Sie mir meinen dummen Scherz, offenbar habe ich mir von jenen deren schlechte Manieren angeeignet. Wissen Sie, seit dieser Nacht habe ich so wahnsinnige Lust zu lachen, immerzu, ununterbrochen, lange, aus vollem Halse zu lachen. Ich bin wie geladen mit Gelächter ... Hu! Mama ist angekommen; ich kenne den Ruck, mit dem ihre Equipage vor dem Portal anhält.“
Dascha ergriff seine Hand.
„Wird doch Gott Sie vor Ihrem Dämon bewahren und ... rufen Sie mich, rufen Sie mich dann schnell!“
„Oh, mein Dämon! Der ist ja nur ein kleines, widerliches, skrofulöses Teufelchen, das sich erkältet und den Schnupfen hat, eines von den mißlungenen. Aber Sie, Dascha, Sie wagen ja wieder nicht, etwas auszusprechen?“
Sie sah ihn mit Schmerz und Vorwurf an und wandte sich zur Tür.
„Hören Sie,“ rief er ihr mit boshaftem, verzerrtem Lächeln nach. „Wenn ... nun, da, mit einem Wort, wenn ... Sie verstehen schon, wenn ich selbst zu Fedjka in die Kneipe ginge ... und Sie nachher riefe, – würden Sie dann auch noch kommen, selbst nach meinem Gang in die Kneipe?“
Sie ging hinaus, ohne zurückzusehen, ohne zu antworten, das Gesicht mit den Händen bedeckt.
„Sie wird kommen, auch nach meinem Gang in die Kneipe!“ murmelte er nach kurzem Nachdenken vor sich hin, und in seinem Gesicht drückte sich angewiderte Verachtung aus: – „Krankenwärterin! Hm ... Doch übrigens, vielleicht brauche ich gerade das.“
Die Geschichte dieses Duells wurde in unserer Gesellschaft ungemein schnell bekannt. An dem Eindruck, den sie machte, war das Bemerkenswerteste die Einstimmigkeit, mit der alle sich schon am nächsten Tage rückhaltlos für Nicolai Stawrogin erklärten. Selbst viele von seinen ehemaligen Feinden zählten sich plötzlich entschieden zu seinen Freunden.
Den Anstoß zu diesem überraschenden Umschwung der öffentlichen Meinung hatte zunächst nur eine einzige treffende Bemerkung gegeben; diese aber war von einer Persönlichkeit gemacht worden, die sich bis dahin noch nie öffentlich geäußert oder gar ihre Stellungnahme verraten hatte. So ward denn jene Bemerkung sogleich von ungeheurer Bedeutung für den größten Teil unserer Gesellschaft. Zugetragen aber hatte sich das alles folgendermaßen:
Gerade an dem Tage nach dem Duell feierte die Gemahlin des Adelsmarschalls unseres Gouvernements ihren Geburtstag. Die ganze höhere Gesellschaft war bei ihr versammelt. Unter den Gästen befand sich auch, oder richtiger, präsidierte, als Gattin unseres neuen Gouverneurs, Julija Michailowna, die in Begleitung von Lisaweta Nicolajewna erschienen war. Lisa war von geradezu strahlender Schönheit und sah ganz besonders froh und glücklich aus – was freilich viele Damen sogleich äußerst verdächtig fanden. Hier muß ich erwähnen, daß an ihrer tatsächlichen Verlobung mit Mawrikij Nicolajewitsch eigentlich nicht mehr zu zweifeln war: auf die scherzhafte Frage eines alten Generals, von dem gleich noch die Rede sein wird, antwortete Lisa selbst, daß sie Braut sei. Und doch – wie sonderbar das auch erscheinen mag –: keine einzige von unseren Damen wollte daran glauben und alle fuhren sie eigensinnig fort, von einem verhängnisvollen Familiengeheimnis, von einem Roman zu munkeln, der sich in der Schweiz abgespielt haben sollte, und zwar – ich weiß nicht, weshalb – unbedingt unter Mitwirkung von Julija Michailowna. Es ist wirklich schwer zu sagen, wie alle diese Gerüchte sich so lange und hartnäckig behaupten konnten, und warum immer wieder und unbedingt gerade Julija Michailowna in diese Geschichten hineingeflochten wurde und warum man glaubte, daß sie auch in die Geheimnisse der Ohrfeigengeschichte eingeweiht sei.
So kam es denn, daß man ihr auch auf der Abendgesellschaft beim Adelsmarschall, als sie mit Lisa eintrat, sogleich und ganz allgemein mit Spannung entgegensah, mit Blicken, die die Erwartung deutlich verrieten. Von dem Duell wagte man noch nicht laut zu sprechen, nur unter Bekannten tuschelte man sich dies und jenes zu. Es geschah das wohl vor allem deshalb, weil man noch nicht wußte, wie sich die Behörden zu dem Vorfall stellen würden. Soweit bekannt war, hatte man die beiden Duellanten bis jetzt noch völlig unbehelligt gelassen, und Gaganoff war, wie man wußte, schon am Morgen dieses Tages auf sein Gut Duchowo zurückgekehrt, ohne vorher irgendwelchen Belästigungen ausgesetzt gewesen zu sein. Selbstredend warteten nun alle darauf, daß endlich jemand laut davon zu sprechen anfange und damit der allgemeinen Ungeduld und Neugier, die sich so nicht äußern konnten, gewissermaßen die Tür öffne. Dabei rechnete man ganz besonders auf den bereits erwähnten alten General, und richtig: man verrechnete sich dabei nicht.
Dieser General war eines der angesehensten Mitglieder unseres Adelsklubs: Gutsbesitzer, doch nicht sonderlich reich, mit Anschauungen, die in ihrer Art geradezu einzig waren, und in Damengesellschaft ein unverbesserlicher Kurmacher. Unter anderem liebte er es besonders, auf großen Versammlungen, sei es nun im Klub oder in der Gesellschaft, mit der ganzen Würde seines Ranges und Alters plötzlich laut gerade davon zu sprechen, wovon alle nur ängstlich und heimlich zu flüstern wagten. Es war das gewissermaßen eine Spezialität von ihm. Und so tat er es denn auch diesmal wieder nach seiner alten Gewohnheit. – Mit Gaganoff war er irgendwie entfernt verwandt, jetzt aber entzweit; ich glaube, er prozessierte sogar mit ihm. Außerdem hatte er in seiner Jugend selbst zwei Duelle gehabt und war wegen des letzten zeitweilig als Gemeiner nach dem Kaukasus verbannt gewesen.
Nun ließ jemand ein paar Worte über Warwara Petrowna fallen, die „nach der Krankheit“ jetzt wieder ausgefahren sei – oder eigentlich nicht gerade über sie, sondern mehr über den herrlichen grauen Viererzug eigener, Stawroginscher, Zucht, mit dem sich dies Ereignis begeben hatte. Da bemerkte plötzlich der alte General, daß er heute den „jungen Stawrogin“ zu Pferde angetroffen habe ... Alles verstummte sofort. Der General aber schob eine Weile lang die Lippen hin und her, spielte mit seiner goldenen, ihm hohen Orts geschenkten Tabaksdose und sagte schließlich, die Worte wie ein Feinschmecker auseinanderziehend:
„Tut mir faktisch un–gemein leid, daß ich vor einigen Jahren nicht hier war ... Hielt mich gerade in Karlsbad auf. Hm ... Dieser junge Mensch in–te–ressiert mich, in der Tat, se–ehr. Es kursi–ierten ja seinerzeit die tollsten Gerüchte über ihn. Hm ... Aber wie, – sollte es fak–tisch wahr sein, daß er nicht ganz, hm, zu–rechnungs–fähig ist? Hab so etwas gehört ... Jetzt aber hörte ich, ein Student habe ihn in Gegenwart seiner Kusinen beleidigt, und er soll vor ihm unter den Tisch gekrochen sein. Und nun sagt mir plötzlich Stepan Wyssotzki, daß dieser Stawro–gin sich mit diesem ... Gaga–noff geschlagen hat. Und das ein–zig in der chevaleres–ken Ab–sicht, sei–ne Stirn der Kugel eines ... Toll–gewordenen zu bieten, bloß um ihn ... äh ... loszuwerden. Hm ... Das ist so ungefähr im Stil der Garde der zwanziger Jahre. Verkehrt er übrigens hier mit jemandem?“
Der General verstummte, als erwarte er eine Antwort, und alle Blicke wandten sich, fast wie auf ein Kommando, Julija Michailowna zu.
„Das ist doch ganz erklärlich!“ sagte diese gereizt, da alle gleichsam überzeugt schienen, gerade sie müsse jetzt etwas sagen. „Wie kann man sich darüber wundern, daß Stawrogin sich mit Gaganoff schlägt und mit dem Studenten nicht? Er konnte doch nicht seinen früheren Leibeigenen fordern!“
Bemerkenswerte Worte! Eine einfache und auf der Hand liegende Erklärung, auf die aber noch niemand verfallen war. So war sie denn auch von entscheidender Wirkung. Alles Skandalöse, Anekdotenhafte und Kleinliche war mit einem Schlage zurückgedrängt und etwas anderes tauchte vor einem auf. Man sah plötzlich einen neuen Menschen vor sich, in dem sich bis jetzt alle getäuscht hatten, einen Menschen mit Ehrbegriffen von fast idealer Strenge. Von einem Studenten, also einem gebildeten und nicht mehr leibeigenen Menschen, tödlich beleidigt, übersieht er die Beleidigung, weil der Student – sein ehemaliger Leibeigener ist. Die Gesellschaft zerreißt sich den Mund darüber und blickt mit Verachtung auf den Menschen, der einen Schlag ins Gesicht hingenommen hat: dieser aber mißachtet, übersieht einfach auch die Meinung der Gesellschaft, die ja doch zur richtigen Beurteilung der Dinge viel zu unreif ist, obschon sie sich selber stets dazu berufen fühlt.
„Und währenddessen sitzen wir hier, Iwan Alexandrowitsch, und philosophieren darüber, welches die richtigen Ehrbegriffe sind!“ bemerkt in einem edlen Anfall von Selbsterkenntnis ein alter Klubherr zum anderen.
„Ja, ja, Sie haben recht, Pjotr Michailowitsch,“ pflichtet ihm dieser reuig bei. „Und da schilt man noch auf die Jugend von heute!“
„Ach was, hier kann doch von der Jugend im allgemeinen überhaupt nicht die Rede sein,“ sagt ein Dritter. „Die Jugend von heute hat damit nichts gemein. Hier handelt es sich einfach um einen Stern, eine einzigartige Ausnahme, um einen neuen Menschen, nicht aber um irgendeine durchschnittliche Jugend von heute! Sehen Sie, so ist das aufzufassen.“
„Ja, ja ... und gerade das ist es ja, was wir brauchen; wir sind arm geworden an Persönlichkeiten.“
Doch das Wichtigste war hierbei, daß diese „Persönlichkeit“ oder dieser „neue Mensch“ sich nicht nur als „unzweifelhafter Edelmann“ erwiesen hatte, sondern außerdem noch der allerreichste Grundbesitzer unseres Gouvernements war, und folglich sogleich als Beistand und Faktor zu betrachten war. Ich habe übrigens schon früher andeutungsweise die Stimmung unserer Grundbesitzer erwähnt.[42]
Ja, man geriet sogar ordentlich in Hitze:
„Und nicht nur, daß er den Studenten nicht gefordert hat,“ hob ein anderer hervor, „er hat sogar die Hände ostentativ zurückgezogen! – Bitte das wohl zu bemerken, Exzellenz!“
„Und hat ihn nicht einmal vor unser neues Zivilgericht geschleppt ...“ meinte wieder ein anderer.
„Ungeachtet dessen, daß dieses unser hochlöbliches neues Gericht ihn dafür, daß er beleidigt worden ist, zu einer Strafe von fünfzehn Silberrubeln verurteilt hätte, ha–ha–ha!“
„Nein, hören Sie, ich werde Ihnen gleich das ganze Geheimnis unserer neuen Gerichte sagen!“ regte sich ein Dritter auf. „Hat jemand einen anderen bestohlen oder begaunert, und hat man ihn womöglich auf frischer Tat ertappt und überführt – so laufe er nur schnell nach Hause, so lange er noch Beine hat, und schlage seine Mutter tot! Dann spricht man ihn im Nu von allem frei, und die Damen werden ihm noch mit ihren Batisttüchlein von der Estrade zuwinken und Ovationen bereiten! Ehrenwort, so ist es!“
„Ein wahres Wort, bei Gott, so ist es!“
Natürlich begnügte sich die Gesellschaft auch diesmal nicht mit den bekannten Tatsachen. Man sprach wieder über die Freundschaft Stawrogins mit dem berühmten Grafen K., dessen strenger, isolierter Standpunkt den neuesten Reformen gegenüber allgemein bekannt war, ebenso wie seine aufsehenerregende Tätigkeit noch bis in die jüngste Zeit. Und plötzlich stand für alle vollständig fest, daß Nicolai Wszewolodowitsch sich mit einer von den Töchtern des Grafen K. verloben werde, obgleich zu einer solchen Annahme in Wirklichkeit auch nicht der geringste Grund vorhanden war. Was aber da irgendwelche romantische schweizer Abenteuer mit Lisaweta Nicolajewna anbetraf, oh, so erwähnten unsere Damen diese „Märchen“ überhaupt nicht mehr. Ich muß hier bemerken, daß Drosdoffs inzwischen schon überall ihre Visite gemacht hatten, und nun fand man, daß Lisa ein ganz gewöhnliches junges Mädchen sei, das mit seinen „kranken Nerven“ nur „kokettierte“. Ihren Ohnmachtsanfall am Tage der Ankunft Nicolai Wszewolodowitschs erklärte man einfach mit dem Schreck über die schändliche Tat des Studenten. Ja, man bemühte sich sogar, das, was man noch vor kurzem so phantastisch aufgefaßt hatte, jetzt so prosaisch wie möglich zu erklären; – und die Hinkende vergaß man völlig, schämte sich fast, sie überhaupt erwähnt zu haben. Die Männer aber pflegten zu sagen: „Und wenn auch hundert lahme Frauenzimmer – wer ist denn nicht jung gewesen!“ Jetzt hob man auch allgemein die Ehrerbietung Nicolai Wszewolodowitschs zu seiner Mutter hervor, sprach wohlwollend von seinem großen Wissen, das er sich in diesen vier Jahren an deutschen Universitäten erworben hatte. Die Handlungsweise Gaganoffs aber erklärte man endgültig für taktlos – „die Eigenen erkennen die Eigenen nicht!“ –, und Julija Michailowna sprach man gar „höhere Einsicht“ zu.
So wurde denn Stawrogin, als er endlich selbst in der Gesellschaft erschien, mit dem naivsten Ernst und der ungeduldigsten Erwartung angesehen. Er aber schwieg. Natürlich befriedigte das wieder weit mehr, als es endlose Erklärungen getan hätten. Kurz, er machte einen großen Eindruck auf alle, er wurde Mode. In der Gesellschaft kam er mit feinstem Takt allen seinen Pflichten nach. Ein Zurückziehen, sich Absondern war freilich unmöglich, nachdem er einmal in der Gesellschaft erschienen war. Das ist schon so in der Provinz. Man fand ihn zwar nicht „gemütlich“ oder „unterhaltsam“, aber „der Mensch hat gelitten, ist nicht so wie andere; hat auch was, worüber er nachdenken kann,“ hieß es zu seiner Entschuldigung. Sogar sein Stolz und die Unnahbarkeit, die ihm vor vier Jahren so viel Haß eingetragen hatten, gefielen jetzt und wurden sehr geachtet.
Am meisten triumphierte Warwara Petrowna. Ich weiß nicht, ob sie sich über ihre verunglückten Pläne mit Lisa sehr grämte: darüber half ihr vielleicht der Familienstolz hinweg. Sonderbar war nur eines: Warwara Petrowna glaubte plötzlich gleichfalls, daß ihr Nicolas eine Tochter des Grafen K. erwählt habe, und zwar – was das Sonderbarste dabei war – sie glaubte es gleichfalls nur auf die Gerüchte hin, die auch zu ihr bloß der „Zufall“ verschlagen hatte; selbst aber ihren Sohn zu fragen, fürchtete sie sich. Zwei- oder dreimal konnte sie sich freilich nicht bezwingen, und machte ihm vorsichtig, wenn auch heiter, den Vorwurf, nicht ganz aufrichtig zu ihr zu sein: Nicolai Wszewolodowitsch lächelte aber nur und fuhr fort, zu schweigen. So hielt sie sein Schweigen für eine Bestätigung. Und doch konnte sie bei all dem die Hinkende nicht vergessen. Der Gedanke an diese lag ihr wie ein Stein auf dem Herzen, raubte ihr den Schlaf oder schreckte sie mit unheimlichen Träumen – und das zu derselben Zeit, als sie an die Töchter des Grafen K. dachte. Aber davon später. Es versteht sich im übrigen von selbst, daß die Gesellschaft sich wieder ganz wie früher mit außerordentlicher Ehrfurcht zu Warwara Petrowna verhielt, wenn auch diese sich jetzt nur noch selten sehen ließ.
Indessen machte sie doch der Gouverneurin einen feierlichen Besuch. Natürlich war niemand über die schon erwähnte Bemerkung Julija Michailownas so entzückt, wie Warwara Petrowna: diese Worte hatten viel Leid von ihrem Herzen genommen. „Ich habe diese Frau mißverstanden!“ sagte sie sich, und mit der ihr eigenen Aufrichtigkeit erklärte sie Julija Michailowna sofort, daß sie gekommen sei, um sich bei ihr zu bedanken. Julija Michailowna war natürlich sehr geschmeichelt, verlor jedoch nicht ihre Würde. Zu gleicher Zeit stieg sie in ihren eigenen Augen ganz beträchtlich, und vielleicht sogar etwas zu hoch. So beging sie beispielsweise im Laufe des Gesprächs die Unhöflichkeit, Warwara Petrowna zu sagen, daß sie noch nie etwas von einer literarischen Tätigkeit Stepan Trophimowitschs gehört habe.
„Ich empfange und verwöhne natürlich den jungen Werchowenski, er ist zuweilen etwas unbesonnen, aber er ist ja noch jung. Jedenfalls hat er solide Kenntnisse, und ist doch immerhin schon etwas mehr, als irgend ein verabschiedeter ehemaliger Kritiker.“
Warwara Petrowna beeilte sich sofort, zu bemerken, daß Stepan Trophimowitsch niemals Kritiker gewesen sei, sondern sein ganzes Leben in ihrem Hause verbracht habe. Berühmt aber sei er durch gewisse Umstände zu Anfang seiner Karriere, die „aller Welt nur zu gut bekannt sind“, und in der letzten Zeit durch seine Studien über die spanische Geschichte; augenblicklich beabsichtige er, über die deutschen Universitäten zu schreiben und, wenn sie recht unterrichtet sei, auch etwas über die Dresdener Madonna ... Warwara Petrowna wollte ihren Stepan Trophimowitsch um keinen Preis von Julija Michailowna herabsetzen lassen.
„Über die Dresdener Madonna? Die Sixtinische? Chère Warwara Petrowna, ich habe zwei Stunden vor diesem Bilde gesessen und bin schließlich vollkommen enttäuscht fortgegangen. Ich habe nichts verstanden und mich nur über die Menschen gewundert. Auch Karmasinoff sagt, daß es schwer sei, dieses Bild zu verstehen. Jetzt finden alle nichts Besonderes an diesem Bilde, sowohl Russen wie Engländer. Den ganzen Ruhm haben ihm nur die alten Professoren verschafft.“
„Also eine neue Mode?“
„Ach, ich aber glaube, daß man unsere Jugend nicht so geringschätzen darf. Überall klagt man jetzt, unsere jungen Leute seien Kommunisten, und verachtet sie womöglich, doch meiner Meinung nach sollte man sie lieber schonen und hochschätzen. Ich lese jetzt alles: alle Zeitungen, Revuen, treibe Naturwissenschaft – ich bekomme alles, denn man muß doch, nicht wahr, endlich wissen, wo man lebt und mit wem man es zu tun hat?! Man kann doch nicht das ganze Leben lang auf den Wolken seiner Phantasie leben! Ich habe mir zum Grundsatz gemacht, die Jugend zu protegieren, und hoffe, sie auf diese Weise an dem Rande des Abgrundes zurückzuhalten, in den sie, das gebe ich zu, sonst hinabgleiten könnte. Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, nur mit gutem Einfluß und vor allem mit Liebe können wir sie von dem Abgrund zurückhalten, in den sie die Unduldsamkeit aller dieser zurückgebliebenen alten Leute treibt. Aber wirklich: es freut mich, was ich von Ihnen über Stepan Trophimowitsch gehört habe. Sie haben mich auf einen guten Gedanken gebracht: er könnte auf unserer literarischen Matinee gleichfalls etwas vortragen. Wissen Sie es schon? Ich arrangiere einen ganzen Festtag, mit Hilfe einer Kollekte – für die armen Gouvernanten unseres Gouvernements. Sie sind in ganz Rußland verstreut; aus unserem Kreise sind allein schon sechs; außerdem noch zwei Telegraphistinnen und zwei, die die Akademie besuchen; viele würden das gleichfalls gern, haben aber nicht die Mittel dazu. Ach, das Los der russischen Frau ist entsetzlich, Warwara Petrowna! Jetzt wird daraus eine Universitätsfrage gemacht, und der Reichsrat hat sich sogar schon deswegen einmal versammelt. In unserem sonderbaren Rußland kann man wirklich alles machen, was einem einfällt. Und darum, noch einmal sei es gesagt, könnten wir nur mit Liebe und unmittelbarer warmer Teilnahme der ganzen Gesellschaft diese große, allgemeine Sache auf den richtigen Weg führen. O Gott, als ob wir viele große Menschen hätten! Es gibt ja natürlich welche, aber die sind so verstreut! Tun wir uns doch zusammen, um stärker zu werden! Wie gesagt, ich werde erst eine literarische Matinee arrangieren, darauf ein leichtes Frühstück, und dann, am Abend, einen Ball. Zuerst wollten wir den Abend mit lebenden Bildern eröffnen, aber das käme wohl etwas zu teuer, und deshalb sollen zur Unterhaltung des Publikums nur zwei Quadrillen von Masken getanzt werden – in charakteristischen Kostümen, die bestimmte literarische Richtungen darstellen. Diesen spaßigen Vorschlag hat Karmasinoff gemacht – er ist mir überhaupt sehr behilflich. Und wissen Sie, er wird zur Matinee sein letztes Werk, das noch niemand kennt, vorlesen. Er will seine Feder jetzt niederlegen und nie mehr schreiben. Dieses letzte Werk ist sein Abschied vom Publikum. Ein herrliches Ding, unter dem Titel: ‚Merci‘. Allerdings ein französisches Wort, aber er findet es scherzhafter und sogar feiner. Ich auch – ja eigentlich habe ich es ihm vorgeschlagen. Nun denke ich, vielleicht könnte auch Stepan Trophimowitsch etwas vorlesen, etwas Kürzeres und, wenn möglich ... nicht gar zu Gelehrtes. Ich glaube, auch Pjotr Stepanowitsch und noch jemand werden irgend etwas vortragen. Ich werde Pjotr Stepanowitsch zu Ihnen schicken, mit dem Programm, oder besser, erlauben Sie mir, es Ihnen selbst zu übergeben, wenn ich einmal vorüberfahre.“
„Gern! – Und Sie erlauben mir gewiß, meinen Namen gleichfalls auf die Liste zu setzen ... Ich werde es Stepan Trophimowitsch mitteilen und ihn selbst darum bitten.“
Ganz bezaubert kehrte Warwara Petrowna heim; jetzt stand sie wie ein Fels für Julija Michailowna! Über Stepan Trophimowitsch aber ärgerte sie sich plötzlich grenzenlos. Er aber, der Arme, ahnte natürlich von alledem nichts.
„Ich habe mich geradezu in sie verliebt. Ich begreife nicht, wie ich mich in dieser Frau so habe täuschen können,“ sagte sie zu Nicolai Wszewolodowitsch und zu Pjotr Stepanowitsch, der am Abend dieses Tages wieder auf einen Augenblick bei ihr vorsprach.
„Aber Sie müssen sich mit dem Alten wieder aussöhnen,“ meinte Pjotr Stepanowitsch, „er ist ganz verzweifelt. Sie haben ihn ja schon geradezu in die Küche geschickt. Gestern hat er Sie in der Equipage gesehen und gegrüßt, Sie aber sollen sich abgewendet haben. Wissen Sie, wir wollen ihn ein wenig herausheben, ich habe sogar gewisse Absichten mit ihm und er kann uns noch nützlich sein.“
„Oh, er wird ja jetzt auf der Matinee vortragen.“
„Ich spreche nicht davon allein. Übrigens, ich wollte selbst noch heute zu ihm gehen. Soll ich es ihm sagen?“
„Wenn Sie wollen. Oder nein, ich weiß nicht, wie Sie das anfangen werden,“ sagte sie ein wenig unentschlossen. „Ich hatte schon selbst die Absicht, mich mit ihm auszusprechen und wollte ihm Ort und Stunde angeben.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich.
„Na, das lohnt sich gerade! Ich werde es ihm einfach sagen.“
„Nun, meinetwegen. Sagen Sie es ihm. Aber fügen Sie hinzu, daß ich ihm unbedingt einen Tag angeben werde. Fügen Sie das unbedingt hinzu.“
Pjotr Stepanowitsch eilte sogleich schmunzelnd zu seinem Vater. Im allgemeinen war er in dieser Zeit, so weit ich mich dessen noch erinnern kann, ganz besonders schlechter Laune und erlaubte sich unglaubliche Sachen fast allen gegenüber, was man ihm aber sonderbarerweise stets verzieh. Überhaupt hatte sich die Meinung verbreitet, daß man auf ihn irgendwie besonders sehen müsse. Hier muß ich aber erwähnen, daß ihn Stawrogins Duell in eine schon beinahe unnatürliche Wut versetzt hatte; die Nachricht traf ihn unvorbereitet. Er wurde geradezu grün im Gesicht, als man ihm das erzählte. Vielleicht litt hierbei seine Eigenliebe: er erfuhr es erst am anderen Tage, als schon alle davon wußten.
„Aber Sie hatten ja gar nicht das Recht, sich zu schlagen!“ flüsterte er Stawrogin zu, als er ihn erst am fünften Tag darauf zufällig im Klub traf.
Es ist bemerkenswert, daß sie sich in diesen fünf Tagen nirgends begegnet waren, obgleich Pjotr Stepanowitsch fast täglich bei Warwara Petrowna vorsprach.
Stawrogin blickte ihn stumm und wie zerstreut an, als verstünde er nicht, wovon jener sprach, und ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Er ging durch den großen Saal zum Büfettraum.
„Sie sind auch zu Schatoff gegangen ... Sie wollen Ihre Heirat mit Marja Timofejewna bekannt machen,“ flüsterte Pjotr Stepanowitsch, der ihm nachlief, und faßte ihn an der Schulter.
Da schüttelte Stawrogin plötzlich seine Hand ab und drehte sich schnell mit drohend finsterem Gesicht zu ihm um. Pjotr Stepanowitsch sah ihn an und lächelte ein sonderbares langes Lächeln. Das Ganze dauerte nur einen Augenblick. Stawrogin ging allein weiter.
Von Warwara Petrowna begab sich Pjotr Stepanowitsch an jenem Abend schleunigst zu seinem Vater. Daß er sich so beeilte, geschah vor allem aus Bosheit: um sich für eine Beleidigung, von der ich noch keine Ahnung hatte, sobald wie möglich zu rächen. Stepan Trophimowitsch hatte ihn nämlich bei seinem letzten Besuch nach einem Streit, der übrigens von ihm selbst begonnen worden war, mit dem Stock hinausgejagt. Damals war ich, wie gesagt, nicht zugegen gewesen, diesmal aber, als Pjotr Stepanowitsch mit seinem gewöhnlichen spöttischen Lächeln eintrat, während sein unangenehm neugieriger Blick das Zimmer gleichsam absuchte, gab mir Stepan Trophimowitsch sogleich durch einen Wink zu verstehen, ich solle den Raum nicht verlassen. So erfuhr ich denn, wie sie zu einander standen.
Stepan Trophimowitsch saß halb liegend auf dem Diwan. Seit jenem letzten Besuch seines Sohnes, am Donnerstag, war er magerer und bleicher geworden. Pjotr Stepanowitsch setzte sich in der ungeniertesten Weise neben ihn, und nahm weit mehr Platz auf dem Diwan ein, als es die Achtung vor dem Vater erlaubt hätte. Stepan Trophimowitsch rückte wortlos, seine Würde wahrend, zur Seite.
Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch: der Roman „Was tun?“[43] Leider muß ich hier eine gewisse Schwäche meines Freundes eingestehen: der Gedanke, daß er noch einmal aus seiner Einsamkeit hervortreten müsse, um „die letzte Schlacht zu schlagen“, hatte sich mehr und mehr in seiner verblendeten Einbildung festgesetzt. Ich erriet, daß er sich diesen Roman nur vorgenommen hatte und nun studierte, um für den Fall eines Zusammenstoßes mit den Feinden ihren ganzen „Katechismus“ zu kennen. So vorbereitet, wollte er sie dann alle widerlegen und feierlich vor „ihr“ über jene Jungen triumphieren! Oh, wie quälte ihn dieses Buch! Ganz verzweifelt warf er es oft fort, sprang auf und ging erregt, ja fast außer sich hin und her.
„Ich gebe zu, daß der Grundgedanke des Autors richtig ist,“ sagte er wie im Fieber zu mir, – „aber das ist doch noch schrecklicher! Es ist ja derselbe Gedanke, den wir gehegt haben, gerade unser eigener! Wir haben ihn selbst gepflanzt, erzogen, alles vorbereitet, – ja und was könnten die denn überhaupt noch Neues sagen, nach uns! Aber, Gott, wie ist das alles mißverstanden, wie entstellt, wie verdorben!“ rief er, nervös mit den Fingern auf das Buch klopfend. „Haben wir je solche Folgerungen gezogen, das etwa erstrebt? Wer kann hier überhaupt den Grundgedanken herauslesen?!“
„Bildest dich?“ fragte Pjotr Stepanowitsch spöttisch, nachdem er das Buch vom Tisch genommen und den Titel gelesen hatte. „War schon längst an der Zeit. Kann dir noch bessere Bücher bringen, wenn du willst.“
Stepan Trophimowitsch schwieg wieder. Ich saß auf dem anderen Diwan in der Ecke.
Pjotr Stepanowitsch erklärte schnell, warum er gekommen sei. Stepan Trophimowitsch war ganz unverhältnismäßig betroffen und hörte mit einem Schrecken zu, der sich mit äußerstem Unwillen mischte.
„Und diese Julija Michailowna ist ohne weiteres überzeugt, daß ich bei ihr vorlesen werde!“
„Das heißt, sieh mal, sie brauchen dich ja eigentlich überhaupt nicht. Im Gegenteil, es geschieht nur, um dir eine Ehre zu erweisen und somit Warwara Petrowna zu schmeicheln. Na, versteht sich doch von selbst, daß du nicht wagen darfst, etwa abzusagen. Und selber willst du doch auch riesig gern vorlesen,“ schmunzelte er. „Ihr Alten habt ja alle ’ne höllische Ambition. Aber, hör mal, damit es nicht zu langweilig ist – du hast da etwas aus der spanischen Geschichte, nicht? Du, also gib mir das Ding drei, zwei Tage vorher, damit ich es mal durchsehe, sonst schläferst du uns am Ende noch alle ein.“
Die Grobheit seiner Bemerkungen war augenscheinlich beabsichtigt. Er tat, als könne man mit Stepan Trophimowitsch eben unmöglich feiner sprechen. Mein Freund fuhr unerschütterlich fort, die Beleidigungen nicht zu bemerken. Indessen regte ihn der Inhalt des Gehörten doch immer mehr auf.
„Und sie selbst, sie selbst hat ... dir gesagt, daß du es mir mitteilen sollst?“ fragte er.
„Das heißt, sieh mal, sie wollte dir Ort und Zeit angeben, um sich mit dir auszusprechen – die letzten Überreste eurer Sentimentalitäten. Du hast zwanzig Jahre mit ihr kokettiert und ihr die lächerlichsten Albernheiten angewöhnt. Na, beruhige dich, jetzt hat das aufgehört; jetzt wiederholt sie ja selbst stündlich, daß sie dich nun erst ‚durchschaut‘. Ich habe ihr logisch auseinandergesetzt, daß eure ganze Freundschaft weiter nichts als ein gegenseitiger Erguß von Spülicht gewesen ist. Sie hat mir viel erzählt, weißt du. Pfui, was für ein Lakaienamt du bei ihr bekleidet hast. Sogar ich habe für dich erröten müssen.“
„Ich – ein Lakaienamt bekleidet?“ rief Stepan Trophimowitsch, der nun doch nicht mehr an sich halten konnte.
„Sogar noch schlimmer als das, denn du warst ja ein Schmarotzer, also ein freiwilliger Lakai. Zur Arbeit zu faul – aber auf Geld haben wir Appetit. Kennt man! Auch sie begreift das jetzt. Haarsträubend, was sie von dir alles erzählt hat! Ach, Freund, hab ich aber über deine Briefe an sie gelacht! Wie gewissenlos und wie ekelhaft! Aber ihr seid ja so verderbt, so unglaublich verderbt! Im Almosenempfangen liegt doch etwas, das den Menschen für immer verdirbt – du bist ein glänzendes Beispiel dafür!“
„Sie hat dir meine Briefe gezeigt!“
„Alle. Das heißt, wo denkst du hin, wer soll denn die alle durchlesen! Pfui, ich glaube, es sind über zweitausend Briefe. Verboten viel Papier verschmiert ... Aber weißt du auch, Alter, ich vermute, es muß da einmal einen Augenblick gegeben haben, wo sie vielleicht sogar bereit gewesen wäre, dich zu heiraten? Dümmsterweise hast du’s verpaßt! Ich meine natürlich – von deinem Standpunkt aus. Immerhin besser als jetzt, da man dich beinah mit ‚fremden Sünden‘ verkuppelt hätte, wie einen Narren zum Scherz, – und das für Geld.“
„Für Geld! Sie, sie sagt – ich hätte für Geld! ...“ rief Stepan Trophimowitsch in krankhafter Erregung.
„Ja, wie denn sonst? Was fällt dir denn ein? Unter diesem Gesichtswinkel habe ich dich noch verteidigt! Das ist doch deine einzige Entschuldigung. Sie hat jetzt selbst eingesehen, daß du Geld brauchtest, wie nun einmal alle Menschen – und von dem Standpunkte aus sogar ganz recht hattest. Ich habe ihr denn auch klar wie zweimalzwei bewiesen, daß ihr zu Eurem gegenseitigen Vorteil gelebt habt: sie als Kapitalistin, und du bei ihr als ihr sentimentaler Narr. Übrigens: über das viele verschwendete Geld ärgert sie sich nicht, obgleich du sie doch wirklich wie eine Ziege gemolken hast. Was sie jetzt erbost, ist nur, daß sie dir zwanzig Jahre lang geglaubt hat, daß sie sich von deinem Anstand hat betölpeln lassen und daß du sie gezwungen hast, so lange zu lügen. Daß sie selbst auch gelogen hat, wird sie sich nie eingestehen, aber du wirst dafür doppelt büßen müssen. Ich verstehe nur nicht, wie du nicht hast begreifen können, daß es irgend einmal doch zu einer Abrechnung kommen mußte. Denn immerhin hattest du doch so etwas wie einen Verstand. Ich habe ihr gestern geraten, dich in ein Armenhaus zu stecken. Beruhige dich, in ein anständiges: es wird schon nicht erniedrigend sein. Ich glaube, sie wird es auch so machen. Erinnerst du dich noch deines letzten Briefes an mich, ins H–sche Gouvernement, vor drei Wochen?“
„Den hast du ihr gezeigt?“ Stepan Trophimowitsch sprang vor Entsetzen auf.
„Na, selbstredend! Als ersten! Denselben, in dem du schreibst, daß sie dich ausnutzt, dich um deines Talentes willen beneidet, na, und noch allerlei über die ‚fremden Sünden‘ ... – Ach, Freund, hast du aber eine Eigenliebe! Ich habe mir vor Lachen die Seiten gehalten. Sonst sind deine Briefe mordslangweilig – hast einen entsetzlichen Stil. Habe sie überhaupt nur selten gelesen und ein Brief liegt da bei mir noch jetzt uneröffnet herum; werde ihn dir morgen schicken. Aber dieser, dieser letzte Brief – der ist ja einfach die Krone von allen! Wie ich gelacht habe, nein, wie ich gelacht habe!“
„Du Unmensch, du Ungeheuer!“ brüllte plötzlich Stepan Trophimowitsch außer sich vor Empörung.
„Pfui Teufel, mit dir kann man ja überhaupt nicht reden. Hör mal, du fühlst dich wohl wieder gekränkt, wie vorigen Donnerstag?“
Stepan Trophimowitsch richtete sich drohend auf.
„Wie wagst du es, so mit mir zu reden?“
„Ja, wie denn? Ich rede doch einfach und klar.“
„Aber so sag mir doch, bist du mein Sohn oder bist du’s nicht!“
„Das müßtest du besser wissen als ich. Natürlich, jeder Vater ist ja in solchen Fällen zu Zweifeln geneigt ...“
„Schweig, schweig!“ Stepan Trophimowitsch erzitterte am ganzen Körper.
„Sieh mal, nun schreist und schimpfst du schon wieder, ganz wie vorigen Donnerstag; wolltest ja damals schon deinen Stock erheben, inzwischen aber habe ich das Dokument gefunden. Hab den ganzen Abend in meinem Reisekoffer aus Neugier gesucht. Kannst dich beruhigen, es ist kein Beweis vorhanden. Nur ein kurzer Brief meiner Mutter an jenen Polen. Aber nach ihrem Charakter zu urteilen ...“
„Noch ein Wort und ich schlage dich –!“
„Na, das sind mir mal Menschen!“ wandte sich Pjotr Stepanowitsch plötzlich an mich. „Sehen Sie, das geht nun schon so seit dem vorigen Donnerstag. Es freut mich, daß diesmal wenigstens Sie dabei sind und urteilen können. Zuerst eine Tatsache: er macht mir Vorwürfe, weil ich so von meiner Mutter rede, aber war er es nicht selbst, der mich darauf gebracht hat? In Petersburg, als ich noch Gymnasiast war, weckte er mich womöglich zweimal in der Nacht, umarmte mich und weinte wie ein altes Weib. Und was glauben Sie wohl, was er mir dann erzählte, so in der Nacht? Na, eben diese selben keuschen Anekdoten über meine Mutter! Er war ja der erste, von dem ich es hörte.“
„Oh, ich tat es damals im höheren Sinne! Oh, du hast mich nicht verstanden. Nichts, nichts hast du verstanden!“
„Aber immerhin war es von dir doch gemeiner, als von mir, viel gemeiner, gestehe es nur! Sieh, wenn du willst: mir ist es ja einerlei. Von deinem Standpunkt betrachtet. Von meinem – na, beruhige dich: ich mache meiner Mutter durchaus keinen Vorwurf. Bist du’s, na, dann bist du es, – ist’s der Pole, – na, meinetwegen, mir ist’s egal. Ich bin doch nicht daran schuld, daß es bei euch in Berlin so dumm herausgekommen ist. Ja und hätte denn überhaupt jemals etwas Gescheites bei euch herauskommen können? Und seid ihr nun nach alledem nicht komische Leute? Kann es dir denn nicht ganz egal sein, ob ich dein Sohn bin, oder nicht? Hören Sie mal,“ wandte er sich wieder zu mir, „er hat für mich in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Rubel ausgegeben; bis zum sechzehnten Jahre hat er mich überhaupt nicht gekannt, darauf hat er mich hier bestohlen, und jetzt schreit er, daß ihn sein Herz sein Lebelang um mich geschmerzt habe, und geberdet sich vor mir wie ein Schauspieler. Aber ich bin doch nicht Warwara Petrowna, ich bitte dich!“
Er stand auf und nahm seinen Hut.
„Ich – verfluche dich!“ rief Stepan Trophimowitsch, bleich wie der Tod, und streckte seine Hand aus.
„Seht doch, was ein Mensch alles fertig bringt!“ Pjotr Stepanowitsch wunderte sich wirklich. „Na, leb wohl, Alter, werde nie mehr zu dir kommen. Den Aufsatz schick etwas früher, vergiß es nicht, und bemühe dich, wenn du kannst, ohne Albernheiten zu schreiben. Nur Tatsachen, Tatsachen und nochmals Tatsachen, und die Hauptsache: so kurz wie möglich. Adieu!“
Pjotr Stepanowitsch hatte übrigens noch andere Gründe dafür, mit seinem Vater in dieser Weise umzugehen. Meiner Meinung nach beabsichtigte er ganz einfach, ihn zur Verzweiflung zu bringen, um ihn auf diese Weise zu einem Skandal zu treiben, der die Öffentlichkeit in einer ganz bestimmten Richtung in Anspruch nehmen mußte. Etwas Derartiges hatte er für seine ferneren Ziele, von denen jedoch erst später die Rede sein soll, unbedingt nötig. Noch eine ganze Reihe ähnlicher und miteinander in Zusammenhang stehender Pläne – freilich alle von einer gewissen Phantastik – gingen damals durch seinen Kopf. Außer Stepan Trophimowitsch hatte er noch einen anderen Märtyrer im Auge. Überhaupt hatte er deren nicht wenige, wie sich später herausstellte; doch auf diesen anderen Märtyrer rechnete er ganz besonders, und der war – Herr von Lembke in eigener Person.
Andrei Antonowitsch von Lembke gehörte zu jenem bevorzugten (von der Natur bevorzugten) Volke, von dem in Rußland mehrere hunderttausend Vertreter leben, die vielleicht selbst nicht wissen, daß sie in ihrer ganzen Masse und Gesamtheit einen streng organisierten Bund bei uns bilden. Selbstredend ist dieser Bund nicht etwa ausgedacht, sondern besteht wortlos, ohne Vereinbarungen, einfach wie eine moralische Selbstverständlichkeit – eben durch das unbedingte Zusammenhalten und die Unterstützung, die sie sich überall und unter allen Umständen wechselseitig zuteil werden lassen.
Andrei Antonowitsch hatte die Ehre gehabt, in einer jener höheren russischen Schulen erzogen zu werden, in die in der Regel nur die Söhne solcher Familien eintreten können, die mit Reichtum oder Verbindungen beglückt sind. Die Zöglinge dieser Schule wurden fast sofort nach dem Abiturientenexamen so untergebracht, daß sie selbst bei geringer Begabung noch eine gute Karriere machen konnten. Andrei Antonowitschs Großväter waren: ein Oberstleutnant und ein Bäcker. Trotzdem hatte man ihn in jener hohen Schule aufgenommen, und siehe da – er fand noch andere junge Leute ähnlicher Herkunft vor. Er war ein lustiger Kamerad; mit dem Lernen ging es zwar ziemlich schwer, aber das störte weiter nicht – man hatte ihn trotzdem gern. Als später, in den höheren Klassen, die Jünglinge, die meistens Russen waren, schon über alle möglichen Tagesfragen zu disputieren begannen, und zwar in einem Tone, der keinen Zweifel darüber bestehen ließ, daß sie, sobald sie nur erst die Schule hinter sich gebracht hätten, sofort sämtliche Probleme mit einem Schlage lösen würden – da fuhr Andrei Antonowitsch immer noch fort, sich mit den allerunschuldigsten Jungenstreichen zu beschäftigen. Es schien in seinen Augen geradezu sein Lebenszweck zu sein, seine Mitschüler auch jetzt noch durch alle möglichen Einfälle zu unterhalten – Einfälle, die sich zwar nicht durch allzu großen Geistesreichtum auszeichneten, dafür aber die junge Gesellschaft zu erheitern vermochten. Entweder schneuzte er sich, wenn der Lehrer ihn etwas fragte, auf irgendeine ganz besonders laute und mißtönende Weise die Nase, wodurch er dann sowohl die Kameraden wie den Lehrer selber belustigte; oder er machte im gemeinsamen Schlafsaal irgendwelche equilibristischen Kunststücke, die ihm einen allgemeinen und begeisterten Beifall einzutragen pflegten; oder er spielte gar einzig auf seiner Nase (und wirklich kunstvoll) die Ouvertüre zu „Fra Diavolo“. Im letzten Schuljahr zeichnete er sich wohl auch durch eine absichtliche Unordentlichkeit in der Kleidung aus, was er für genial hielt, dieweil er nämlich zu dichten begonnen hatte: und zwar in russischer Sprache, denn seine Muttersprache beherrschte er nur äußerst ungrammatisch, wie so viele seiner in Rußland lebenden Volksgenossen.
Diese Neigung zur Poesie hatte ihn dann mit einem Kameraden, dem Sohn eines armen Offiziers, den die ganze Schule für einen zukünftigen großen Poeten, so eine Art zweiten Puschkin hielt, zusammengeführt. Wie erstaunt aber war dieser Kamerad, der sich Lembkes auf der Schule nur von oben herab, gnädig, beinahe gönnerhaft angenommen hatte, als er drei Jahre später seinen Protegé, den „Lembka“, wie man ihn allgemein genannt hatte, an einem kalten Tage an der Anitschkoffbrücke traf! Der „zukünftige große Poet“ hatte sich inzwischen ganz der russischen Literatur gewidmet und es bereits glücklich bis zu zerrissenen Stiefeln und einem dünnen Sommerpaletot im Spätherbst gebracht. Um so eigentümlicher mußten seine Empfindungen sein, als er jetzt seinen „Lembka“ wiedersah: zuerst traute er seinen Augen nicht – vor ihm stand ein tadellos gekleideter junger Mann mit bewunderungswürdig bearbeitetem rötlich-blondem Backenbart, mit einem Klemmer auf der Nase, elegant behandschuht, dazu in Lackstiefeln und kostbarem Pelz mit einer Ledermappe unter dem Arm. Lembke begrüßte ihn sehr freundlich, gab ihm seine Adresse, und forderte ihn sogar auf, ihn einmal abends zu besuchen. Es stellte sich bei der Gelegenheit heraus, daß er jetzt nicht mehr einfach der „Lembka“, sondern Herr von Lembke war. Doch als nun der Schulfreund der Aufforderung nachkam und ihn tatsächlich einmal besuchte, da fand er keineswegs die Reichtümer vor, die er erwartet hatte, fand seinen „Lembka“ vielmehr in einem schmalen Zimmerchen, das ziemlich alt aussah, mit einem dunkelgrünen Vorhang in zwei ungleiche Hälften geteilt und mit ebenfalls dunkelgrünen, zwar gepolsterten, aber bereits ziemlich verschossenen Möbeln eingerichtet war. Von Lembke wohnte bei einem General, mit dem er in sehr weitläufiger Verwandtschaft stand und der den jungen Mann nach Möglichkeit in seiner Laufbahn förderte. Von Lembke empfing den Schulfreund freundlich, war aber sonst ernst und von gesellschaftlicher Höflichkeit. Über Literatur sprachen sie nur beiläufig. Ein Diener in weißer Weste brachte einen etwas bläßlichen Tee und hartes kleines, rundes Gebäck. Als der Freund aus Bosheit um eine Flasche Selterwasser bat, wurde sie ihm zwar gebracht, doch erst nach auffallend langer Zeit, während der Lembke etwas betreten zu sein schien. Übrigens muß ich hinzufügen, daß er dem Schulfreunde auch einen Imbiß anbot, doch offenbar nicht unzufrieden war, als der Gast dankte und sich bald darauf verabschiedete. Mit einem Wort: Lembke begann damals, trotz ärmlicher Verhältnisse, seine „Karriere“ und lebte bei einem Stammgenossen, der ein angesehener General war.
In dieser Zeit hatte er sich in die fünfte Tochter des Generals verliebt, und sein Antrag war, wenn ich nicht irre, auch so gut wie angenommen worden. Nur verheiratete man Amalie, als sich die Gelegenheit bot, nichtsdestoweniger mit einem deutschen Fabrikbesitzer, einem alten Freunde des alten Generals. Andrei Antonowitsch trauerte seiner Liebe nicht sehr lange nach, sondern – klebte aus Pappe ein Theater. Das ward ein richtiges Kunstwerk: der Vorhang hob sich, die Schauspieler traten auf und gestikulierten mit den Händen, in den Logen saßen Damen, im Orchester fuhren die Musiker mit den Bögen über die Instrumente, der Kapellmeister fuchtelte mit einem Stöckchen und das Publikum klatschte in die Hände. Alles das war aus Pappe hergestellt, und ausgedacht und ausgeführt von Andrei Antonowitsch von Lembke. Ein halbes Jahr lang hatte er über diesem Theater gesessen. Als er fertig war, gab der General eine intimere Abendgesellschaft; viele deutsche Damen und junge Mädchen, sowie die fünf Töchter des Generals, darunter die neuvermählte Amalie und deren Gatte, waren sehr entzückt, als das Theater vorgeführt wurde, und ergingen sich in hohen Lobsprüchen über den Verfertiger – worauf dann getanzt wurde. Lembke war sehr zufrieden und vergaß seinen Liebesgram alsbald.
Ein paar Jahre vergingen und seine „Karriere“ machte sich mehr und mehr. Er bekleidete stets Vertrauensposten unter Vorgesetzten, die gleicher Abstammung waren, und erreichte in verhältnismäßig jungen Jahren einen recht ansehnlichen Rang. Schon lange hatte er, jetzt aber ernstlich, den Wunsch gehabt, zu heiraten, und schon lange hatte er sich verstohlen nach einer passenden Partie umgesehen. Übrigens dichtete er auch jetzt noch hin und wieder, doch ohne jemandem etwas davon zu verraten, und einmal sandte er sogar eine Novelle an die Redaktion eines Blattes: sie wurde jedoch zu seinem Kummer nicht abgedruckt, sondern ihm höflich wieder zur Verfügung gestellt. Da begann er denn wieder zu kleben: diesmal einen ganzen Eisenbahnzug. Auch der gelang ihm vorzüglich: die Leute kamen aus dem Bahnhof und drängten sich, mit Koffern und Taschen in der Hand, mit Kindern und Hunden, zu den Waggons, die Schaffner und die Bahnbeamten gingen hin und her, ein Glöckchen klingelte und der Zug setzte sich in Bewegung. Über diesem Kunststück hatte er ein ganzes Jahr gesessen, seine Heiratspläne aber diesmal nicht darüber vergessen. Sein Bekanntenkreis war ziemlich groß, meistens deutsche Gesellschaft, doch verkehrte er auch in einigen russischen Familien – selbstverständlich nur in denen seiner Vorgesetzten. Da fiel ihm endlich, als er schon achtunddreißig Jahre zählte, eine kleine Erbschaft zu: sein Großvater, der Bäcker, starb und hinterließ ihm testamentarisch dreizehntausend Rubel. Nun war Herr von Lembke im Grunde trotz der schon recht ansehnlichen Stellung, die er in jungen Jahren erklommen hatte, durchaus kein Streber, vielmehr ein Mensch, der auch ganz gewiß mit einem kleineren, wenn nur recht bequemen und unabhängigen Posten vollkommen zufrieden gewesen wäre. Doch eben jetzt kreuzte, anstatt einer sanften Minna oder Ernestine, plötzlich Julija Michailowna seinen Weg, und seine Stellung stieg sofort um ein paar Stufen höher. Der bescheidene und gewissenhafte von Lembke fühlte, daß auch er ehrgeizig zu sein vermochte.
Julija Michailowna besaß, nach der alten Einschätzung, zweihundert Leibeigene und erfreute sich außerdem guter Protektionen. Andererseits war von Lembke ein hübscher Mann und sie schon über 40 Jahre alt. Obendrein verliebte er sich nach und nach wirklich in sie, und zwar genau proportional der Verstärkung des Gefühls, daß er nun Bräutigam war. Am Hochzeitstage schickte er ihr sogar ein Gedicht, das ihr sehr gefiel – vierzig Jahre sind nun einmal kein Spaß. Bald darauf bekam er auch einen gutklingenden Titel und dazu einen bestimmten Orden, und schließlich wurde er zum Gouverneur unseres Gouvernements ernannt. Seit dieser Auszeichnung begann Julija Michailowna sich um ihren Gatten doppelt zu bemühen. Ihrer Meinung nach war er nicht gerade unbegabt: er verstand, in einen Salon einzutreten, es war ihm gegeben, eine elegante Verbeugung zu machen, er vermochte sogar ernst und tiefsinnig zuzuhören, wenn andere sprachen, hielt sich dabei immer gut und konnte sogar eine Rede halten; ja, er hatte hin und wieder sogar eigene Gedanken, wenn sie auch etwas kurz waren und unvermittelt wirkten, und hinzukam, daß er sich schon die Politur des neuesten, so notwendigen Liberalismus angeeignet hatte. Doch trotz alledem beunruhigte sich Julija Michailowna nicht wenig: vor allen Dingen mißfiel es ihr entschieden, daß ihr Lembke, nachdem er so lange hinter seiner Karriere hergelaufen war, jetzt doch wieder ein immer ausgesprocheneres Ruhebedürfnis zu empfinden schien. Sie hätte zu gern ihren ganzen Ehrgeiz zu dem seinen gemacht, er aber begann wieder – zu kleben. Diesmal war es eine Kirche: der Pastor trat auf die Kanzel, die Gemeinde hörte mit andächtig gefalteten Händen zu, ein alter Mann schneuzte sich, eine Dame wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab und zum Schluß begann noch eine Orgel zu spielen, die er um teures Geld eigens dazu aus der Schweiz verschrieben hatte. Als Julija Michailowna von dieser neuen Arbeit erfuhr, erschrak sie geradezu, nahm ihm das Spielzeug kurzerhand fort und versteckte es in einen Koffer, zur Entschädigung aber erlaubte sie ihm, einen Roman zu schreiben, freilich nur unter der Bedingung, daß niemand etwas davon erführe. Seit der Zeit verließ sie sich nur noch auf sich selbst. Eine Idee nach der anderen entstand in ihrem ehrgeizigen und ein wenig überspannten Geiste. Sie hatte in der Tat die Absicht, das Gouvernement zu regieren, und träumte bereits von den bestimmt nicht mehr fernen Tagen, wo sie der Mittelpunkt der Gesellschaft, aller Meinungen und Veranstaltungen unseres Gouvernements sein würde. Von Lembke selbst soll übrigens zuerst nicht wenig erschrocken gewesen sein, als er den hohen Posten erhielt, doch hatte er mit seinem Beamteninstinkt sehr bald herausgefunden, daß er eigentlich gar keinen Grund hatte, sich zu fürchten. Die ersten zwei, drei Monate seiner Tätigkeit verliefen denn auch äußerst zufriedenstellend. Da aber erschien plötzlich Pjotr Stepanowitsch – und alsbald nahm alles eine unheilvolle Wendung.
Die Sache fing damit an, daß der junge Werchowenski gleich bei der ersten Begegnung Andrei Antonowitsch von Lembke eine entschiedene Nichtachtung entgegenbrachte und sich ganz sonderbare Rechte ihm gegenüber herausnahm, Julija Michailowna aber, die sonst immer so eifersüchtig die Bedeutung ihres Mannes geachtet wissen wollte, tat plötzlich, als merkte sie davon nichts. Der junge Werchowenski wurde sozusagen ihr Schützling, aß, trank und schlief fast bei ihnen. Von Lembke suchte sich zwar des Ankömmlings zu erwehren, nannte ihn in der Gesellschaft „junger Mann“, klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter, doch konnte er mit all dem nicht das gewünschte Resultat erzielen. Pjotr Stepanowitsch tat immer, selbst während scheinbar ernster Gespräche, als nehme er ihn überhaupt nicht ernst, und im übrigen nahm er sich sogar in Gegenwart fremder Menschen heraus, ihm die unerwartetsten, unglaublichsten Dinge ins Gesicht zu sagen. Einmal, als von Lembke nach Hause kam und in sein Arbeitszimmer trat, fand er den „jungen Mann“ auf seinem Lederdiwan vor. Er gab zur Erklärung, und zwar nicht etwa, um sich zu entschuldigen, sondern nur so oben hin, daß er, da er niemanden angetroffen, sich „bei der Gelegenheit ausgeschlafen“ habe. Von Lembke war natürlich tief gekränkt und beklagte sich bei seiner Frau; diese aber erklärte, nachdem sie zuerst über „seine Empfindlichkeit“ gelacht hatte, daß er wohl selbst die Schuld daran trüge, wenn der junge Mann sich nicht „comme il faut“[113] zu ihm verhalte. Wenigstens erlaubte sich „dieser Junge“ ihr gegenüber nie irgend welche Familiaritäten, und im übrigen sei er „naiv und unverdorben, wenn auch gewiß nicht gesellschaftlich erzogen“. Von Lembke schmollte zwar, doch diesmal gelang es Julija Michailowna noch, die beiden zu versöhnen: nicht gerade, daß Pjotr Stepanowitsch jetzt eine Entschuldigung gemacht hätte, aber er riß irgend einen Witz, den man zwar in einem anderen Fall für eine neue Beleidigung hätte halten können, den man aber diesmal gnädig als Besserungsversprechen auffaßte. Am meisten ärgerte es Herrn von Lembke, daß er dem jungen Mann geradezu machtlos gegenüberstand, denn ... er hatte ihm gleich zu Anfang ihrer Bekanntschaft – seinen Roman anvertraut. Im Glauben, einen jungen Menschen mit literarischen Interessen getroffen zu haben, hatte er ihm, da er sich schon lange einen Zuhörer wünschte, eines Abends die beiden ersten Kapitel vorgelesen. Pjotr Stepanowitsch hatte zunächst zugehört, ohne zu verbergen, daß er sich langweilte, dann unhöflich gegähnt, nicht ein einziges Mal etwas gelobt, doch beim Fortgehen sich das Manuskript ausgebeten, um es zu Hause aufmerksam durchlesen und sein Urteil darüber fällen zu können, – und der arme Herr von Lembke hatte es ihm auch gegeben ... Seit der Zeit konnte er es nun nicht mehr zurückbekommen: auf seine täglichen Fragen gab ihm Pjotr Stepanowitsch meist nur eine ausweichende und nicht selten geradezu höhnische Antwort, bis er zum Schluß einfach erklärte, das Manuskript auf der Straße verloren zu haben. Als Julija Michailowna von dieser Unvorsichtigkeit ihres Gatten Kenntnis erhielt, ärgerte sie sich entsetzlich.
„Hast du ihm vielleicht auch etwas von der Kirche gesagt?“ fragte sie fast mit Schrecken.
Von Lembke begann ernstlich nachzudenken; nachdenken aber war für ihn schädlich und ihm von den Ärzten strengstens verboten worden. Und abgesehen davon, daß es plötzlich viele Scherereien im Gouvernement für ihn gab, wovon später die Rede sein wird, gab es hier auch noch einen besonderen Umstand – demzufolge diesmal sogar das Herz des Gatten litt, nicht nur die Eigenliebe eines Machthabers allein. Als von Lembke in die Ehe trat, hätte er sich niemals träumen lassen, daß sie ihm auch irgend welche Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Er hatte sich die Ehe in seinen Gedanken an Minna oder Ernestine stets durchaus friedlich vorgestellt. Und jetzt fühlte er, daß häusliche Gewitter über seine Kräfte gingen.
Endlich sprach sich Julija Michailowna offen mit ihm aus.
„Beleidigen kann dich das überhaupt nicht,“ sagte sie, „schon deswegen nicht, weil du doch immerhin dreimal vernünftiger bist, als er, und gesellschaftlich turmhoch über ihm stehst. In diesem Jungen steckt noch viel von dem früheren freigeistigen Unsinn; ich aber finde ihn nur einfach unartig. Nur kann man nicht verlangen, daß diese jungen Leute sich so schnell verändern sollen: man muß sie langsam erziehen. Wir müssen die Jugend schonen; ich wenigstens halte sie mit Liebe und Freundschaft am Rande des Abgrundes zurück.“
„Aber, zum Teufel, ich kann mich doch nicht tolerant zu ihm verhalten, wenn er –“ rief von Lembke erregt, „wenn er in Gegenwart fremder Menschen behauptet, die Regierung vergifte das Volk absichtlich mit Branntwein, um es zu verdummen und auf diese Weise von etwaigen Aufstandsgedanken abzubringen. Denk doch nur, bitte, an meine Rolle, wenn ich in Gegenwart der ganzen Gesellschaft so etwas mit anhören muß!“
Als Lembke das sagte, mußte er wieder an ein Gespräch denken, das er vor nicht langer Zeit mit Pjotr Stepanowitsch gehabt hatte ... In der unschuldigen Absicht, den jungen Mann durch Liberalismus zu entwaffnen, zeigte er ihm eines Tages seine Sammlung von allen möglichen revolutionären Proklamationen und Flugblättern, sowohl russischen wie ausländischen, die er seit 1859 sorgfältig aufbewahrte, doch nicht etwa wie ein Liebhaber solcher Dinge, sondern einfach aus Neugier und weil sie ihm einmal vielleicht zustatten kommen konnten. Pjotr Stepanowitsch, der sofort seine Absicht durchschaute, sagte ganz ungeniert, daß in einer einzigen Zeile solch einer Brandschrift mehr Sinn stecke, als in irgend einer Kanzlei, „die Ihrige übrigens nicht ausgenommen.“
Von Lembke sah ihn groß an.
„Aber es ist doch noch zu früh, viel zu früh,“ sagte er fast bittend, indem er auf die Blätter wies.
„Nein, keineswegs zu früh: Sie fürchten sich doch, also ist es durchaus nicht zu früh.“
„Aber ich bitte Sie, hier ist zum Beispiel eine Aufforderung, die Kirchen zu zerstören!“
„Na, warum soll man das denn nicht? Sie sind doch ein kluger Mensch, glauben ja selbst an nichts und wissen doch nur zu gut, daß die Regierung die Religion bloß braucht, um das Volk dumm zu erhalten ... Wahrheit aber ist ehrlicher als Lüge.“
„Einverstanden, einverstanden, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber hier bei uns in Rußland ist es doch noch zu früh!“ Von Lembke runzelte unwillig die Stirn.
„Was sind Sie denn eigentlich für ein Regierungsbeamter, wenn Sie selbst damit einverstanden sind, daß man die Kirchen zerstören und mit Keulen bewaffnet auf Petersburg losmarschieren soll, und nur an der ins Auge gefaßten Zeit etwas auszusetzen haben?“
So unhöflich festgelegt, fühlte von Lembke sich äußerst pikiert.
„Ich meinte das nicht so, durchaus nicht so!“ Er ließ sich von seiner gereizten Eigenliebe immer weiter fortreißen. „Sie, als junger Mensch, der Sie mit unseren Zielen gar nicht bekannt sein können, Sie täuschen sich vollkommen! Sehen Sie, mein lieber Pjotr Stepanowitsch, Sie nennen uns Beamte der Regierung? Schön. Selbständige Beamte? Schön. Aber, erlauben Sie mal, wie handeln wir denn? Auf uns ruht die Verantwortung, und Summa Summarum dienen wir genau so der allgemeinen Sache, wie auch Sie. Nur halten wir das zusammen, was Sie auseinanderschütteln wollen und was ohne uns nach verschiedenen Seiten auseinandergleiten würde. Wir sind dabei nicht etwa eure Feinde; durchaus nicht, wir sagen euch sogar: geht voran, bereitet vor, ja schüttelt meinetwegen ... – das heißt, ich meine jetzt nur jenes Alte, das sowieso umgeändert werden muß. Wir aber werden euch dann, wenn’s nötig wird, schon in den nötigen Grenzen zurückzuhalten verstehen und euch somit vor euch selber behüten, denn ohne uns würdet ihr doch nur ganz Rußland ins Wanken und Schwanken bringen und ihm das anständige Aussehen nehmen, das es so doch wenigstens hat. Denn das ist ja gerade unsere Aufgabe, dieses anständige Äußere, wie gesagt, zu erhalten. Begreifen Sie doch, daß wir uns gegenseitig unentbehrlich sind, ganz wie in England die Tory und Whig. Nun, sehen Sie, wir sind die Tory und Sie die Whig – so verstehe ich es wenigstens.“
Von Lembke verfiel sogar in Pathos. Er liebte es, klug und liberal zu reden, noch von Petersburg her, und hier hörte zudem kein Vorgesetzter zu. Pjotr Stepanowitsch schwieg und war plötzlich von einem seltsamen, ganz ungewohnten Ernst. Das reizte den Redner noch mehr.
„Wissen Sie auch, daß ich der ‚Herr des Gouvernements‘ bin?“ fuhr er daher fort, während er im Kabinett auf- und abging. „Wissen Sie auch, daß ich vor lauter Pflichten keine einzige zu erfüllen vermag, und andererseits kann ich sagen, und es ist ebenso wahr, daß ich hier überhaupt nichts zu tun habe. Das ganze Geheimnis besteht darin, daß hier alles von der Auffassung der Regierung abhängt. Mag die Regierung doch, wenn sie will, die Republik verkünden, nun da ... ich meine nur so, meinetwegen aus Politik oder zur Beruhigung der Leidenschaften – ... aber dann soll sie andererseits, parallel dem, die Macht der Gouverneure verstärken: und Sie werden sehen, wir Gouverneure verschlingen die Republik! Was sage ich, Republik! – Alles, was Sie wollen, werden wir verschlingen! Ich wenigstens fühle, daß ich imstande bin ... Mit einem Wort: mag die Regierung mir telegraphisch activité dévorante[114] befehlen, und ich werde sofort mit der activité dévorante beginnen. Ich habe es ihnen hier gleich ins Gesicht gesagt: ‚Meine Herren, zum Gedeihen aller Institutionen sowie des ganzen Gouvernements ist vor allem eines nötig: die Verstärkung der Gouverneursmacht.‘ Sehen Sie, es ist unbedingt nötig, daß alle diese Institutionen – mögen es nun die der Landschaft oder der Justiz sein – gewissermaßen ein Doppelleben leben, das heißt, es ist nötig, daß sie da sind (ich gebe zu, daß sie unentbehrlich sind), aber andererseits ist es nötig, daß sie auch nicht da sind. Immer nach der Auffassung der Regierung geurteilt! So stellt es sich denn heraus, daß die Institutionen, wenn sie sich plötzlich als notwendig erweisen, dann da sein müssen. Vergeht aber diese Notwendigkeit, dann müssen sie wie überhaupt nicht vorhanden sein. Sehen Sie, so verstehe ich die activité dévorante. Aber die wird es nicht ohne Verstärkung der Gouverneursmacht geben. Wir sprechen ja hier unter vier Augen. Wissen Sie auch, daß ich schon nach Petersburg geschrieben habe, daß es unbedingt nötig ist, eine Schildwache vor das Gouvernementsgebäude zu stellen? Jetzt warte ich auf die Antwort.“
„Sie brauchen zwei Schildwachen,“ sagte Pjotr Stepanowitsch.
„Warum zwei?“ von Lembke blieb vor ihm stehen.
„Na so, damit man Sie respektiere, ist eine zu wenig. Sie brauchen unbedingt zwei.“
Andrei Antonowitsch verzog das Gesicht.
„Sie ... Sie erlauben sich, weiß Gott, schon etwas zu viel, Pjotr Stepanowitsch. Sie mißbrauchen meine Güte, um mir Anzüglichkeiten zu sagen, und spielen dabei immer noch so irgend einen bourru bienfaisant[115] ...“
„Na, das schon, wie Sie wollen,“ meinte Pjotr Stepanowitsch, „aber Sie bahnen uns trotzdem den Weg und bereiten unseren Erfolg vor.“
„Wen meinen Sie mit diesen ‚uns‘ und was ist das für ein ‚Erfolg‘?“ von Lembke blieb erstaunt wieder vor ihm stehen, doch eine Antwort erhielt er diesmal nicht.
Als Julija Michailowna den Bericht über dieses Gespräch vernommen hatte, war sie abermals äußerst ungehalten.
„Aber ich kann doch nicht deinen Favorit wie einen Untergebenen traitieren!“ verteidigte sich von Lembke. „Und noch dazu, wenn wir unter vier Augen sind ... Ich konnte mich versprechen ... aus gutem Herzen ...“
„Aus leider etwas schon zu gutem! – Ich wußte außerdem nicht, daß du eine Sammlung von Flugschriften hast. Habe doch die Güte, sie mir zu zeigen.“
„Aber ... er ... er hat sie mitgenommen, auf einen Tag ... er bat mich.“
„Und wieder hast du ihm so etwas ausgeliefert!“ ärgerte sich Julija Michailowna. „Welch eine neue Unvorsichtigkeit!“
„Ich werde sofort zu ihm schicken, sie zurückerbitten –“
„Du glaubst wohl, daß er sie dir geben wird?“
„Ich verlange es!“ rief von Lembke empört und sprang sogar auf. „Wer ist er, daß man ihn so fürchten muß, und wer bin ich, daß ich nichts mehr tun darf?“
„Setze dich bitte, und rege dich lieber nicht so auf,“ hielt ihn Julija Michailowna zurück. „Zunächst will ich auf den ersten Teil deiner Frage antworten: wer dieser Pjotr Stepanowitsch ist? Nun, er ist mir vorzüglich empfohlen, ist sehr begabt und sagt zuweilen äußerst kluge Sachen. Karmasinoff versicherte mir, daß er fast überall Verbindungen hat und die großstädtische Jugend vollständig unter seinem Einfluß steht. Wenn es mir nun gelingt, diese Jugend durch ihn heranzuziehen und um mich zu gruppieren, so bewahre ich sie vor dem Untergang, indem ich ihrem Ehrgeiz einen neuen Weg weise. Zudem ist Pjotr Stepanowitsch mir von ganzem Herzen ergeben und gehorcht mir in allen Dingen.“
„Aber, hör mal, während man sie da noch heranlockt, können sie ja ... der Teufel weiß was machen! Ich verstehe ja, das ist eine Idee ...“ verteidigte sich von Lembke etwas unsicher. „Übrigens, um von etwas anderem zu sprechen: im H–schen Kreise sind wieder neue Flugschriften verbreitet worden.“
„Das wird wohl wieder nur so ein Gerücht sein – wie im vorigen Sommer: Proklamationen, falsche Assignaten, und was noch alles, dabei ist bis jetzt noch nicht ein einziges Exemplar gesehen worden. Wer hat dir denn das gesagt?“
„Blümer teilte mir mit ...“
„Ach, um’s Himmels willen, verschone mich doch bitte endlich mit deinem ewigen Blümer! Daß du auch wirklich nie aufhören kannst, mich an den zu erinnern! ...“
Julija Michailowna war so aufgebracht, daß sie fast keine Worte fand. Blümer war ein Beamter der Gouvernementskanzlei, den sie ganz besonders haßte. Aber auch davon später.
„Beunruhige dich, wie gesagt, bitte weiter nicht über Werchowenski,“ schloß sie endlich das Gespräch. „Wenn er an irgend welchen Dummheiten teilnähme, so – dessen kannst du sicher sein! – würde er mit dir und mir und uns allen ganz anders sprechen. Nein, ein Phraseur ist nie gefährlich, und im übrigen sage ich dir, wenn irgend etwas passieren sollte, so werde ich womöglich noch die erste sein, die es durch ihn erfährt. Er ist mir fanatisch, geradezu fanatisch ergeben.“
Ich möchte hier den Ereignissen vorgreifen und bemerken, daß, wenn Julija Michailowna nicht diesen Ehrgeiz und Eigendünkel gehabt hätte, vielleicht all das nicht geschehen wäre, was diese üblen Leutchen bei uns anzustiften vermochten. Für vieles ist sie verantwortlich!
Der Tag des Festes, das Julija Michailowna zum Besten der armen Lehrerinnen unseres Gouvernements veranstalten wollte, wurde mehrmals angesagt und dann doch immer wieder hinausgeschoben. Pjotr Stepanowitsch und jener kleine jüdische Beamte Lämschin, der eine Zeitlang auch Stepan Trophimowitschs Abende besucht hatte, nun aber beim Gouverneur wegen seines Klavierspiels in Gnaden zugelassen wurde, saßen fast täglich Stunden lang bei Julija Michailowna; desgleichen Liputin, den sie zum Redakteur der zukünftigen unabhängigen Gouvernementszeitung erwählt hatte. Außerdem waren noch ein paar ältere und jüngere Damen, die sich lebhaft für das Fest interessierten, und nicht selten sogar Karmasinoff anwesend. Freilich tat der letztere in diesen Sitzungen wenig mehr, als mit zufriedenem Lächeln im voraus versichern, daß er das Publikum mit seiner Quadrille de la littérature[116] geradezu in Entzücken versetzen werde. Die ganze „Gesellschaft“ unserer Stadt hatte beträchtliche Summen geopfert, doch war es nicht sie allein, die an dem Fest teilnehmen sollte: das konnte vielmehr ein jeder, wenn er nur zahlte. Julija Michailowna meinte, daß man in gewissen Fällen die Vermengung der Klassen sehr wohl zulassen dürfe, denn das trüge „zur Aufklärung“ bei. Und so beschloß man denn, daß das Fest ein demokratisches werden sollte. Die verhältnismäßig große Einnahme aus der Subskription verlockte natürlich sofort zu größeren Ausgaben: man wollte jetzt etwas geradezu Wunderbares bieten, und das war denn auch der Grund, warum das Fest immer wieder hinausgeschoben werden mußte. Vor allem konnte man sich nicht entscheiden, wo der Ball stattfinden sollte: in dem großen Hause des Adelsmarschalls, das die Adelsmarschallin für diesen Tag zur Verfügung gestellt hatte, oder bei Warwara Petrowna in Skworeschniki. Bis nach Skworeschniki wäre es für Fußgänger vielleicht etwas weit gewesen, aber viele Mitglieder des Komitees meinten, daß es dort jedenfalls weit „freier“ sein würde. Warwara Petrowna selbst hätte viel darum gegeben, wenn man sich für ihren Saal entschieden hätte, doch ist es gewiß schwer zu sagen, warum eigentlich? Warum diese stolze Frau sich bei Julija Michailowna geradezu einschmeicheln wollte? Vielleicht gefiel es ihr, daß umgekehrt diese ihren Sohn so unendlich hochschätzte und von einer Liebenswürdigkeit zu ihm war, wie sonst zu keinem? Ich will hier nochmals erwähnen, daß Pjotr Stepanowitsch in dieser ganzen Zeit unentwegt fortfuhr, das Gerücht, das er schon früher in der Stadt verbreitet hatte, jetzt auch im Hause des Gouverneurs von Ohr zu Ohr zu tragen: daß nämlich Stawrogin in geheimnisvollsten Beziehungen zu den geheimnisvollsten Mächten stehe, und daß er, wie man auf das bestimmteste wisse, mit einem großen und schwerwiegenden Auftrage hergekommen sei.
Es hatte damals eine merkwürdige Stimmung die Geister ergriffen. Und besonders unter unseren Damen machte sich ein gewisser Leichtsinn bemerkbar, von dem man dabei nicht einmal behaupten konnte, daß er sich nur allmählich entwickelt hätte. Wie vom Winde hergeweht hatten sich plötzlich freie Auffassungen verbreitet. Es begann ganz allgemein ein leichteres Leben, voll von Exzentrizitäten und Freiheiten. Später, als alles wieder vorüber war, beschuldigte man ganz öffentlich nur Julija Michailowna und den Einfluß, den sie auf die Jugend der Stadt ausgeübt hatte. Doch ist es nicht richtig, daß sie allein an allem die Schuld trug. Im Gegenteil, diejenigen hatten auch nicht so ganz unrecht, welche anfänglich die neue Gouverneurin geradezu lobten, und zwar vor allem deshalb, weil sie es verstünde, die Gesellschaft zusammenzuhalten und das Leben in ihr im guten Sinne angenehmer zu machen. Mit den paar kleinen Skandalen, die inzwischen passierten, hatte Julija Michailowna auch nicht das geringste zu tun. Im übrigen aber nahm man auch diese Skandale nicht allzu ernst, sondern lachte über sie, fand sie sehr amüsant, und leider war niemand da, der sich in den Weg gestellt und gesagt hätte, daß man den Dingen nicht immer so weiter ihren Lauf lassen durfte. Nur eine kleine, oder vielleicht auch nicht einmal so kleine Gruppe, die die Verhältnisse denn doch etwas anders ansah, hielt sich abseits, aber selbst in ihr war man im stillen mehr geneigt, zu lächeln als zu murren.
Es bildete sich, wie ich mich erinnere, ganz von selbst ein ziemlich großer Kreis, dessen Mittelpunkt tatsächlich in Julija Michailownas Salon lag. Diese jugendliche Gesellschaft hatte es sich besonders zur Aufgabe gestellt, Streiche zu machen. Außer den jungen Leuten gehörten auch mehrere junge Mädchen und selbst junge Frauen zu ihr. Man veranstaltete Picknicks, Tanzgesellschaften, zog in ganzen Kavalkaden, zu Wagen und zu Pferde, durch die Stadt, wobei Pjotr Stepanowitsch und Liputin auf gemieteten Kosakenpferden immer lustig mittrabten. Man suchte Abenteuer oder führte sie womöglich absichtlich herbei, einzig um der Lachlust und Vergnügungssucht zu genügen. Die übrigen Einwohner der Stadt behandelte man als ausgemachte Dummköpfe. Die Streiche waren meist ziemlich unschuldiger Natur. Doch einmal, als man durch Lämschin frühmorgens darüber unterrichtet worden war, daß ein junger Gatte seine junge Frau in der Hochzeitsnacht irgendwie rücksichtslos behandelt hatte, setzten sich ihrer zehn Mann sofort in den Sattel, um das junge Paar bei den am nächsten Tage üblichen Visiten abzufangen. Kaum hatten sie die Neuvermählten erblickt, als denn auch schon die ganze Kavalkade den Wagen mit Hallo umringte und dann das arme Paar den ganzen Vormittag von Haus zu Haus begleitete. Sie beleidigten zwar weiter niemanden, sondern gaben nur lachend ein „Ehrengeleit“, doch war es immerhin schon ein richtiger Skandal, den sie dadurch in der Stadt erregten. Diesmal ärgerte sich von Lembke denn auch ernstlich und hatte mit Julija Michailowna wieder einmal eine lebhafte Auseinandersetzung. Auch Julija Michailowna war sehr ungehalten über die „Jungen“ und gedachte schon, sie irgendwie zu bestrafen, und doch verzieh sie ihnen am anderen Tage wieder einmal, da ihr Pjotr Stepanowitsch dazu riet und Karmasinoff den Scherz sogar geistreich fand.
„Das ist doch weiter nicht schlimm,“ sagte er. „Wenigstens ist es ein ritterlicher und ... mutiger Streich. Sie sehen doch, daß im Grunde alle darüber lachen, nur Sie sind ungehalten.“
Doch alsbald sollten auch wirklich unverzeihliche Streiche folgen, die einen schon ganz anderen Ton hatten.
In unserer Stadt erschien eine Buchtrödlerin, die billige Bibeln verkaufte. Es war eine achtbare und nicht einmal ungebildete Frau, wenn auch nur eine einfache Kleinbürgerin. Wieder war es derselbe Lämschin, der ihr, unter dem Vorwande, eines ihrer Bücher kaufen zu wollen, ein Paket unanständiger ausländischer Photographien in den Sack steckte. Als nun die arme Frau auf dem Markt ihre Bücher aus dem Sack hervorholte, fielen plötzlich die Photographien heraus. Es erhob sich zuerst ein Gelächter, die Gruppe vor ihrem Stand vergrößerte sich, man wurde unwillig und schließlich begann man zu schimpfen. Unfehlbar wäre es zu einer Schlägerei gekommen, wenn nicht die Polizei die bedrohliche Versammlung auseinander gebracht und die arme Frau auf der Wache eingesperrt hätte. Mittlerweile aber hatte Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff die näheren Einzelheiten dieser häßlichen Geschichte erfahren und in seiner Empörung sofort die nötigen Schritte getan, um die Unschuldige zu befreien, was ihm endlich gegen Abend auch gelang. Da wollte denn Julija Michailowna den kleinen Lämschin entschieden nicht mehr empfangen, doch schon am selben Abend geschah es, daß die ganze Schar im Triumph mit Lämschin in der Mitte bei ihr erschien und berichtete, daß er ein ganz entzückendes Stückchen komponiert habe, das sie wenigstens noch anhören müsse. Die Komposition erwies sich in der Tat als ungewöhnlich. Sie hieß: „Der deutsch-französische Krieg“, und begann mit den stolzen Tönen der Marseillaise:
Qu’un sang impur abreuve nos sillons![117]
Man hörte ordentlich die ganze Aufgeblasenheit des Rufes, hörte schon den Rausch der zukünftigen Siege! Doch plötzlich, gleichzeitig mit der meisterhaft variierten Hymne, begann irgendwo unten, seitlich, gleichsam in einer Ecke, aber eigentlich doch recht nah, ein dünnes, schwaches, hohes Stimmchen „Mein lieber Augustin“ zu singen. Die Marseillaise bemerkt es zunächst gar nicht, sie ist berauscht von ihrer Größe, aber der Augustin wird stärker, der Augustin wird immer frecher und schon singt der Augustin ganz unverhofft zusammen mit der Marseillaise. Jetzt bemerkt die Marseillaise endlich den kleinen Augustin, ärgert sich aber zunächst nur über ihn, will ihn abschütteln, verjagen – aber mein lieber Augustin hält fest. Mein lieber Augustin ist heiter und selbstbewußt, ist froh und wird tätlich, die Marseillaise dagegen wird allmählich immer dümmer: jetzt verbirgt sie es nicht mehr, daß sie sich ärgert, daß sie sich beleidigt fühlt. Das ist schon das Geschrei des heftigsten Unwillens, das sind Tränen und Schwüre mit zur Vorsehung erhobenen Händen:
Pas un pouce de notre terrain, pas une pierre de nos forteresses![118]
Doch schon ist sie gezwungen, im gleichen Takt mit Augustin zu singen ... Ihre Melodie geht irgendwie auf die dümmste und lächerlichste Weise in die des lieben Augustin über, sie beugt sich, sie zergeht ... Nur zuweilen noch tönt es wieder: qu’un sang impur ... doch sofort wird es von Augustin verschlungen und geht über in einen banalen Walzer: das ist Jules Favre, der an Bismarcks Brust schluchzt und alles, alles hingibt ... Aber schon wird Augustin wild: man hört heisere Schreie, fühlt maßlos getrunkenes Bier, Tollwut der Selbstüberhebung, Forderung von Milliarden, feinen Zigarren, Champagner und Garantien ... Augustin wird zum rasenden Gebrüll ... So endet der deutsch-französische Krieg. Alles applaudiert, Julija Michailowna aber sagt lächelnd: „Wie soll man ihm denn nicht verzeihen?“ – und der Friede ist geschlossen. Lämschin hatte entschieden ein gewisses musikalisches Talent. Stepan Trophimowitsch versicherte mir einmal, daß die größten Genies sehr wohl die größten Schurken sein könnten, und daß das eine das andere durchaus nicht aufhebe. Später hieß es allerdings, daß Lämschin dieses Stück von einem bescheidenen jungen Menschen, der ihn auf der Durchfahrt besucht hatte, gewissermaßen gestohlen habe. Übrigens karikierte Lämschin, derselbe Lämschin, der sich mehrere Jahre lang bei Stepan Trophimowitsch einzuschmeicheln versucht hatte, jetzt zuweilen bei Julija Michailowna auch Stepan Trophimowitsch – und zwar als „Freidenker der vierziger Jahre“. Alle krümmten sich vor Lachen. So wurde Lämschin immer unentbehrlicher. Zudem hing er sich sklavisch an Pjotr Stepanowitsch, der seinerseits um diese Zeit schon einen bis zur Unglaublichkeit großen Einfluß auf Julija Michailowna ausübte.
Die Erwähnung Lämschins bringt mich auf eine andere und schon wahrhaft empörende Geschichte, an der er, wie man versicherte, wieder seinen Anteil hatte.
Eines Morgens verbreitete sich in der Stadt die Nachricht von einer ganz gemeinen, abscheulichen Tat. Neben dem Portal der alten Muttergotteskirche, der ältesten in unserer alten Stadt, hing in einer Nische, hinter Glas und einem Schutzgitter, schon seit undenklicher Zeit ein großes Heiligenbild der Maria. Nun hatte man, wie es hieß, das Glas zerschlagen und ein paar Edelsteine aus der Krone der Gottesmutter gestohlen. Die Hauptsache aber war, daß man hinter das oben zertrümmerte Glas eine lebendige Maus gesteckt hatte. Die Empörung über diese skandalöse Religionsverspottung war groß: das fromme Volk drängte sich den ganzen Tag seit dem frühen Morgen zum Heiligenbilde und betete davor. Heute nun, nach vier Monaten, weiß man, daß Fedjka diesen Diebstahl begangen hat, doch schon damals hieß es, daß Lämschin dabei gewesen sei. Und heute sagt man, daß nur er die Maus hineingesetzt haben könne.
Auf Herrn von Lembke machte dieser unselige Vorfall einen furchtbaren Eindruck. Julija Michailowna soll geäußert haben, wie man mir erzählte, daß schon nach dieser Aufregung jene sonderbare Schwermut ihres Mannes begonnen habe, die dann durch spätere Ereignisse verhängnisvoll wurde, und die ihn auch jetzt noch in der Schweiz, wohin man ihn vor zwei Monaten brachte, nicht verlassen hat.
An jenem Tage nun ging ich ungefähr um ein Uhr an jener Kirche vorüber. Das Volk stand stumm vor dem Portal und betete. Da kam gerade ein reicher Kaufmann in einer Equipage angefahren, um das Bild zu küssen und seine Spende auf den Teller zu legen, den ein Mönch, der bei dem Heiligenbilde Wache hielt, für die Spenden neben sich auf einen Stuhl gestellt hatte. Gleich darauf fuhr ein leichter Wagen mit zwei jungen Damen in Begleitung zweier Herren vor. Die beiden jungen Herren stiegen aus und drängten sich durch das Volk bis vor das Heiligenbild. Beide nahmen die Hüte nicht ab und der eine drückte sich sogar noch einen Klemmer auf die Nase. Das Volk begann schon zu murren. Der Held mit dem Klemmer zog sein elegantes saffianledernes Portemonnaie hervor, das mit Scheinen geradezu vollgepfropft war, und entnahm ihm nach langem Suchen eine einzige Kopeke, die er dann nachlässig auf den Teller warf. Darauf wandten sich beide lachend und laut sprechend wieder zum Wagen zurück. Wenige Augenblicke vorher waren aber gerade Lisaweta Nicolajewna und Mawrikij Nicolajewitsch herangeritten. Lisa sprang gewandt vom Pferde, warf die Zügel ihrem Vetter zu und trat gerade in dem Augenblick zum Heiligenbild, als der eine die Kopeke auf den Teller warf. Sie errötete vor Unwillen, nahm sofort ihren runden Hut ab, streifte die Handschuhe von den Händen, kniete vor dem Bilde auf dem schmutzigen Trottoir nieder, und verneigte sich dreimal bis zur Erde. Darauf nestelte sie ihr Geldbeutelchen hervor, doch als sie in ihm nur Silbergeld fand, nahm sie sofort ihre Brillantohrringe ab und legte diese auf den kupfernen Teller.
„Das ist doch erlaubt? Edelsteine? Zum Schmuck für das Bild?“ fragte sie erregt den Mönch.
„Jede Spende ist eine gute Tat,“ antwortete dieser.
Das Volk schwieg, ohne Mißfallen oder Beifall zu äußern. Lisaweta Nicolajewna bestieg in ihrem vom Knien beschmutzten Kleide wieder ihr Pferd und ritt davon.
Zwei Tage nach diesem aufregenden Ereignis begegnete ich Lisa wieder auf der Straße. Eine ganze Gesellschaft hatte sich zu Wagen und zu Pferde aufgemacht, um irgend wohin zu fahren. Lisa, die darunter war, gab sofort den Befehl, zu halten, und verlangte eigensinnig, daß ich mitkäme. In ihrem Wagen fand sich denn auch noch ein Platz, auf den ich fast mit Gewalt gesetzt wurde. Sie stellte mich lachend den jungen, meist sehr eleganten Damen vor und erklärte mir sofort, daß es ein ganz besonderer Ausflug werden sollte. Lisa war ausgelassen lustig, und überhaupt schien sie, wenn man nach dem Äußeren schloß, in dieser Zeit geradezu übermäßig glücklich zu sein. Das Ziel des Ausflugs war in der Tat ein „besonderes“: man wollte nämlich über den Fluß zum Kaufmann Sewostjanoff fahren, der in einem Flügel seines Hauses schon seit zehn Jahren unseren gesegneten, allgemein, sogar in Petersburg, bekannten Propheten Semjon Jakowlewitsch beherbergte. Diesen Semjon Jakowlewitsch besuchte alle Welt: man riß sich fast um ein gnädiges Wort von ihm, verneigte sich und legte reiche Geldspenden nieder, die er dann, wenn er sie nicht gleich unter die armen Besucher verteilte, gottesfürchtig an Klöster und Kirchen gab. So stand denn auch stets ein Mönch bei ihm, der die Gaben entgegennahm. Von der jungen Gesellschaft hatte noch niemand Semjon Jakowlewitsch gesehen und man versprach sich ungemein viel von diesem Besuch. Nur Lämschin war früher einmal bei ihm gewesen und versicherte, daß der Prophet ihn mit einem Besen hinausgejagt und ihm noch gekochte Kartoffeln nachgeworfen habe. Unter den Reitern befanden sich auch Pjotr Stepanowitsch, der sich wie gewöhnlich sehr schlecht auf seinem gemieteten Kosakenpferde hielt, und – Nicolai Stawrogin. Der letztere nahm nur ganz ausnahmsweise einmal an einer dieser allgemeinen Vergnügungen teil: an dem Tage sah er ziemlich heiter aus, doch sprach er, wie immer, nur wenig. Als wir kurz vor der Brücke an einem kleinen Gasthause vorüberfuhren, machte plötzlich jemand die Bemerkung, daß ein Gast sich daselbst erschossen habe und die Polizei erwartet werde. Sofort wurde beschlossen, auszusteigen und sich den Toten anzusehen. Vor allem waren unsere Damen gleich dabei, denn einen Selbstmörder – den sah man doch nicht alle Tage. Ich erinnere mich noch, daß eine von ihnen bemerkte: „Ach, es ist einem ja alles schon langweilig geworden! Warum sich da noch weiter zieren! Das wäre doch einmal etwas anderes.“ Nur wenige blieben im Wagen und warteten: die anderen dagegen drängten sich in einem dichten Haufen durch den Eingang in den schmalen, unsauberen Korridor – und unter diesen bemerkte ich zu meinem Erstaunen auch Lisaweta Nicolajewna. Das Zimmer, in dem die Leiche lag, war nicht verschlossen. Natürlich wagte man es nicht, uns etwa nicht hineinzulassen. Der Selbstmörder war fast noch ein Knabe, jedenfalls bestimmt nicht älter als neunzehn Jahre: ein hübscher Mensch, mit dichtem, welligem, blondem Haar und einem schmalen, feinen Gesicht. Er war schon erstarrt und seine weiße Haut sah wie Marmor aus. Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier, auf das er geschrieben hatte, daß niemand an seinem Tode schuld sei und er sich erschossen habe, weil er vierhundert Rubel „durchgebracht“ (dieses Wort stand buchstäblich auf dem Blatt). In den vier Zeilen waren drei orthographische Fehler. An seiner Leiche saß ein alter, dicker Gutsbesitzer, der den Toten zu kennen schien und wahrscheinlich gleichfalls in diesem Gasthause abgestiegen war. Aus seinen wortreichen Klagen ging hervor, daß der Jüngling von seiner verwitweten Mutter, von Tanten und Schwestern in die Stadt zu einer Verwandten geschickt worden war, um verschiedene Einkäufe für die Aussteuer seiner ältesten Schwester, die bald heiraten sollte, zu machen. Man hatte ihm dazu vierhundert Rubel, die jahrzehntelang zusammengespart worden waren, eingehändigt, und ihn dann mit Gebeten und Segenssprüchen und unter endlosen Predigten abgeschickt. Der Junge war bis dahin sehr bescheiden und ein guter, hoffnungsvoller Sohn gewesen. In der Stadt aber hatte er sich nicht zu der Verwandten, sondern in das Gasthaus begeben und von hier direkt in eine Kneipe, wo er spielen wollte. Als er kurz vor Mitternacht ins Gasthaus zurückgekehrt war, hatte er Champagner, Havannazigarren und ein Abendessen von sechs oder sieben Gängen verlangt. Aber der Champagner war ihm gar bald zu Kopf gestiegen und von den Zigarren war ihm übel geworden, so daß er das Essen nicht einmal angerührt, sondern sich fast krank und dabei halb betrunken ins Bett gelegt hatte. Am anderen Tage, nachdem er sich ausgeschlafen, war er sofort in das Zigeunerlager hinter der Vorstadt gegangen und ganze zwei Tage dort geblieben. Am dritten Tage war er um fünf Uhr betrunken zurückgekehrt, hatte sich sofort hingelegt und bis zehn Uhr abends geschlafen. Dann hatte er ein Beefsteak, eine Flasche Champagner, Weintrauben, Papier, Tinte und die Rechnung verlangt. Niemand hatte etwas Besonderes an ihm bemerkt: er war ruhig, still und freundlich gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich um Mitternacht erschossen, doch niemand hatte den Schuß gehört. Erst heute um eins, als es in seinem Zimmer selbst nach langem Klopfen totenstill geblieben war, hatte man die Tür aufgebrochen. Die Flasche war nur halb leer und von den Weintrauben hatte er nicht viel gegessen. Mit einem kleinen Revolver, der ihm später aus der Hand gefallen war, hatte er sich ins Herz geschossen: der Tod mußte sofort eingetreten sein – es war nur sehr wenig Blut aus der Wunde geflossen. Er saß halb liegend auf dem Sofa, als ob er nur eingeschlafen wäre, und der Ausdruck seines Gesichts war ruhig, ja fast glücklich. Alle sahen ihn mit gieriger Neugier an. Wohl in jedem Unglück eines Menschen liegt etwas, das die anderen aufmuntert. Die Damen betrachteten den Toten schweigend. Die Herren dagegen zeichneten sich durch Geistesgegenwart und Scharfsinn in ihren Bemerkungen aus. Lämschin aber, der es wohl für seine Ehrenpflicht hielt, auch jetzt den Narren zu spielen, zupfte plötzlich von der Weintraube eine Beere ab, dann noch eine und noch eine, und streckte schon die Hand nach der Flasche aus, um mit ihr irgendeinen „Witz“ zu machen, als der Polizeimeister eintrat und uns bat, das Zimmer zu verlassen. Da sich alle schon sattgesehen hatten, gingen wir denn auch sofort wieder hinaus. Den Rest des Weges legten wir unter womöglich noch ausgelassenerer Heiterkeit und noch lustigeren Scherzen zurück.
Um ein Uhr langten wir bei Semjon Jakowlewitsch an. Das Hoftor des großen Kaufmannshauses war weit offen, desgleichen die Tür des Flügels, in dem Semjon Jakowlewitsch wohnte. Man sagte uns, daß er gerade zu Mittag speiste, doch trotzdem empfinge. Unsere ganze Schar trat ins Haus. Das Zimmer, in dem er sich befand, war groß, mit drei mächtigen Fenstern, und durch ein etwa meterhohes Holzgitter in zwei Teile geteilt. Gewöhnlich blieben die Leute, die ihn besuchten, in der ersten Hälfte, und nur einzelne Glückskinder, die er selbst bezeichnete, wurden durch die kleine Tür des Holzgitters zu ihm geführt, wo er ihnen dann, wenn’s ihm gefiel, seine alten Lederstühle oder das Sofa zuwies; er selbst blieb stets unverändert in seinem alten Großvaterstuhl sitzen. Semjon Jakowlewitsch war ein ziemlich großer, etwas aufgedunsener Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, blond und kahlköpfig, mit einem gelben, glattrasierten Gesicht, dünnem, weichem Haar und geschwollener rechter Backe, die seinen Mund ein wenig schief zog; neben dem linken Nasenflügel war eine große Warze; die Augen lagen wie in schmalen Spalten und der Gesichtsausdruck war ruhig, solide, fast verschlafen. Er trug einen schwarzen Gehrock, wie ein deutscher Schullehrer, doch weder Kragen noch Halstuch, sondern nur ein dickes, doch sauberes russisches Hemd unter dem Rock. Seine offenbar kranken Füße staken in mächtigen Hausschuhen. Es hieß, er sei früher Beamter gewesen und habe sogar einen ansehnlichen Titel gehabt. Als wir eintraten, hatte er gerade eine Fischsuppe gegessen und machte sich nun an sein zweites Gericht: Kartoffeln in der Schale mit Salz. Anderes pflegte er schon seit langer Zeit nicht mehr zu essen; er trank nur viel Tee, den er sehr liebte. Ihn bedienten drei Dienstboten, die der Kaufmann für ihn hielt: der eine von ihnen sah wie ein Kontordiener aus, der andere wie ein Kirchendiener und der dritte war im Frack. Außer diesen Dienstboten war noch ein munterer Knabe zugegen, sowie ein alter, grauer, dicker Mönch, mit einer Sammelbüchse in der Hand. Auf einem der Tische kochte ein riesengroßer Samowar, neben dem auf einem Teebrett ungefähr zwei Dutzend Gläser standen. Auf dem anderen Tische lagen die Gaben: mehrere Zuckerhüte und auch kleinere Zuckerpakete, zwei Pfund Tee, ein Paar Hausschuhe, ein seidenes Halstuch, ein Stück Tuch und mehrere Leinwandrollen. Die Geldspenden kamen fast alle in die Sammelbüchse des Mönches. Ungefähr zehn fremde Menschen standen in der vorderen Hälfte des Zimmers und zwei, ein frommer Greis und ein kleiner, furchtbar magerer Mönch, der würdevoll und mit niedergeschlagenen Augen vor sich hinsah, saßen hinter dem Holzgitter: es waren lauter einfache Leute, außer einem dicken Kaufmann in russischer Tracht, der aus der Kreisstadt hergekommen war, und den alle als Millionär kannten, – sowie einer alten Dame und einem Gutsbesitzer. Alle erwarteten sie ihr Heil und wagten nicht ein Wort zu sprechen, vier lagen auf den Knien und von ihnen zog wieder ganz besonders der dicke Gutsbesitzer die Aufmerksamkeit auf sich, der an der sichtbarsten Stelle, ganz nah am Holzgitter kniete und ehrfürchtig schon eine Stunde lang auf einen Blick oder ein gütiges Wort Semjon Jakowlewitschs wartete, – dieser jedoch schenkte ihm auch nicht die geringste Beachtung.
Unsere Damen drängten sich fast bis zum Gitter vor und tuschelten vergnügt untereinander. Die Knienden und die anderen Wartenden wurden von ihnen zurückgedrängt, nur der dicke Gutsbesitzer blieb standhaft auf seinem Platz. Neugierige, heitere Blicke richteten sich auf Semjon Jakowlewitsch, gleichwie Lorgnons, Klemmer, Eingläser – und Lämschin zog sogar ein Fernrohr aus der Tasche. Semjon Jakowlewitsch überblickte ruhig und träge die ganze lustige Schar.
„Ach, ihr Liebäugelnden, ihr Liebäugelnden!“ geruhte er mit etwas heiserem Baß leicht auszurufen.
Die ganze Schar lachte auf. „Was heißt das: ‚Ach, ihr Liebäugelnden‘?“
Doch Semjon Jakowlewitsch schwieg und aß seine Kartoffeln. Endlich wischte er sich mit der Serviette den Mund und ließ sich Tee reichen.
Den Tee pflegte er gewöhnlich nicht allein zu trinken, vielmehr befahl er, auch seinen Besuchern und Gästen Tee zu reichen, doch nicht etwa jedem, sondern nur denen, die er dann selbst dem Diener zeigte – als diejenigen, welche er besonders beglücken wollte. Seine Wahl erstaunte meistens alle Anwesenden, denn er überging gewöhnlich die Reichen und Würdevollen und befahl irgend einem armen und unscheinbaren Greise den Tee zu bringen; ein anderes Mal aber überging er wieder die Armen und beglückte irgendeinen dicken, schwer reichen Kaufmann. Auch eingießen ließ er den Tee ganz verschieden, einige bekamen ihn mit, einige ohne Zucker. Diesmal befahl er, dem mageren Mönch eine Tasse mit Zucker zu reichen und dem Greise eine ohne Zucker, der dicke Mönch aber mit der Sammelbüchse erhielt diesmal keinen Tee, wie sonst fast täglich.
„Semjon Jakowlewitsch, sagen Sie mir doch bitte auch etwas. Ich habe schon so lange Ihre Bekanntschaft zu machen gewünscht,“ sagte kokett lächelnd jene selbe junge Dame aus unserem Wagen, die vorher geäußert hatte, daß einem schon alles langweilig geworden sei.
Semjon Jakowlewitsch sah sie nicht einmal an. Der kniende Gutsbesitzer seufzte tief auf.
„Mit Zucker!“ wies plötzlich Semjon Jakowlewitsch auf den Millionär.
Der trat vor und stellte sich neben den knienden Gutsbesitzer.
„Gib ihm noch mehr Zucker!“ befahl Semjon Jakowlewitsch, als der Tee eingegossen war. Der Diener tat noch eine Portion Zucker in das Glas. „Mehr, gib ihm mehr!“ – eine dritte und schließlich eine vierte Portion wurden dazu getan.
Widerspruchslos begann der Kaufmann seinen Syrup zu trinken.
„Allmächtiger Gott!“ flüsterte das Volk und bekreuzte sich.
Der Gutsbesitzer seufzte wieder laut und tief.
„Väterchen! Semjon Jakowlewitsch!“ ertönte plötzlich die Stimme der alten Dame, die unsere Schar an die Wand zurückgedrängt hatte, doch die Stimme klang so laut und scharf, wie man es gar nicht erwartet hätte. „Eine ganze Stunde, Väterchen, warte ich schon auf deinen Segen. Sprich doch dein Urteil, erlöse mich Waise, Väterchen!“
„Frage!“ sagte Semjon Jakowlewitsch zu dem Kirchendiener.
Der trat an das Gitter:
„Haben Sie das erfüllt, was Semjon Jakowlewitsch Ihnen das vorige Mal anbefohlen hat?“ fragte er die Witwe mit leiser, gemessener Stimme.
„Was, Väterchen, was erfüllt! Was kann man denn da erfüllen!“ rief die Witwe. „Diese Menschenfresser! Haben mich verklagt, drohen mit dem Senat ... und das der leiblichen Mutter! ...“
„Gib ihr! ...“ befahl Semjon Jakowlewitsch und wies auf einen Zuckerhut. Der Knabe lief schnell zum Tisch, nahm den Zuckerhut und brachte ihn der Witwe.
„Ach, Väterchen, groß ist deine Gnade! Aber wohin soll ich damit?“ klagte die Witwe wieder.
„Noch, noch!“ beschenkte Semjon Jakowlewitsch sie weiter.
Ein zweiter Zuckerhut wurde zu ihr geschleppt und auf seinen Befehl noch ein dritter und vierter. Die Witwe war schon ganz mit Zuckerhüten umstellt. Der dicke Mönch seufzte niedergeschlagen; das alles hätte in das Kloster kommen können, wie es früher schon oft geschehen war.
„Aber wohin soll ich mit so viel?“ jammerte jetzt schon die Witwe. „All das für mich allein – mir wird ja von so viel Zucker übel werden! ... Oder soll das irgend was bedeuten, Väterchen?“
„Siehst du denn das nicht?“ sagte jemand von den Bauern.
„Noch, gib ihr noch ein Pfund!“ Semjon Jakowlewitsch hörte nicht auf, sie zu beschenken.
Auf dem Tisch stand noch ein ganzer Zuckerhut; da er aber befohlen hatte, ihr nur noch ein Pfund zu geben, so brachte man ihr auch nur noch ein Pfund Zucker.
„Herrgott, Allmächtiger!“ seufzte das Volk und bekreuzte sich. „Sichtbares Zeichen! Großer Gott!“
„Versüßen Sie zuerst Ihr Herz mit Güte und Barmherzigkeit und dann kommen Sie wieder, um über Ihre eigenen Kinder zu klagen, über Ihr eigenes Fleisch und Bein – das soll, glaube ich, wohl all dieser Zucker bedeuten,“ sagte leise, doch selbstzufrieden der dicke Mönch, der diesmal keinen Tee bekommen hatte, und der es nun aus gereizter Eigenliebe auf sich nahm, die Handlungsweise zu deuten.
„Was fällt dir ein?“ ärgerte sich die Witwe. „Haben sie mich doch mit Gewalt ins Feuer ziehen wollen, als es bei Worchischins brannte? Sie haben mir auch eine tote Katze in meinen Kasten gelegt, sind überhaupt zu jeder Gemeinheit bereit ...“
„Jage sie hinaus, hinaus!“ rief plötzlich Semjon Jakowlewitsch, mit den Armen fuchtelnd.
Der Kirchendiener und der Knabe kamen sofort in den vorderen Teil des Zimmers, der erstere nahm die Frau bei der Hand und führte sie hinaus, während sie sich in einem fort nach ihren Zuckerhüten, die der Knabe nachschleppte, umsah.
„Nimm einen wieder zurück!“ befahl Semjon Jakowlewitsch dem bei ihm gebliebenen Kontordiener, der ihnen denn auch sofort nacheilte. Nach kurzer Zeit kamen alle drei mit dem einen Zuckerhut wieder zurück; so hatte die Witwe schließlich nur drei bekommen.
„Semjon Jakowlewitsch,“ ertönte plötzlich eine Stimme an der Tür, „ich habe im Traum einen Vogel gesehen, einen Häher, er stieg aus dem Wasser auf und flog ins Feuer. Was bedeutet das, Väterchen?“
„Frost!“ sagte Semjon Jakowlewitsch.
„Semjon Jakowlewitsch, warum antworten Sie mir denn gar nicht? Ich interessiere mich doch schon so lange für Sie!“ begann wieder unsere junge Dame.
„Frage!“ Semjon Jakowlewitsch wies auf den knienden Gutsbesitzer, ohne sie zu beachten.
Der dicke Mönch, dem der Befehl gegeben wurde, trat würdevoll zum Knienden und fragte:
„Worin haben Sie gesündigt? War Ihnen nicht befohlen worden, etwas zu erfüllen?“
„Nicht zu schlagen, den Händen keine Freiheit zu geben!“ sagte der Gutsbesitzer mit heiserer Stimme.
„Haben Sie das erfüllt?“
„Kann nicht! Die eigene Kraft überwältigt mich!“
„Jag’ ihn! Mit dem Besen, mit dem Besen!“ rief Semjon Jakowlewitsch und fuchtelte wieder mit den Armen.
Der Gutsbesitzer sprang auf und lief, ohne auf den Besen zu warten, aus dem Zimmer.
„Hat ein Goldstück hier gelassen,“ meldete der Mönch.
„Gib’s dem!“ Semjon Jakowlewitsch wies auf den Millionär.
Der reiche Kaufmann wagte nicht zu widersprechen und nahm das Geld.
„Das Gold zum Golde,“ konnte der Mönch nicht unterlassen, zu bemerken.
„Und diesem mit Zucker!“ Semjon Jakowlewitsch wies plötzlich auf Mawrikij Nicolajewitsch.
Der Diener goß den Tee ein und trat mit dem Glase aus Versehen zu dem Fant mit dem Klemmer.
„Dem Langen, dem Langen!“ rief Semjon Jakowlewitsch.
Mawrikij Nicolajewitsch nahm das Glas und machte eine kurze militärische Verbeugung. Ich weiß nicht warum – aber die ganze Schar wieherte plötzlich vor Lachen über diese Verbeugung.
„Mawrikij Nicolajewitsch!“ wandte sich Lisa hastig an ihn, „knien Sie bitte auf demselben Platz nieder, auf dem dieser Herr stand! – der da fortlief!“
Mawrikij Nicolajewitsch sah sie verständnislos an.
„Ich bitte Sie, Sie werden mir ein großes Vergnügen bereiten! Hören Sie, Mawrikij Nicolajewitsch,“ sagte sie eigensinnig und erregt, „knien Sie unbedingt nieder, ich will unbedingt sehen, wie Sie knien! Wenn Sie das nicht tun – kommen Sie nie mehr unter meine Augen! Ich will das, ich will das, – unbedingt! ...“
Warum sie das wollte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls verlangte sie es in unerbittlichem Tone, in einem Anfall von Laune und Eigensinn. Mawrikij Nicolajewitsch selber erklärte diese kapriziösen Ausbrüche, die sie in der letzten Zeit ganz besonders oft hatte, wie wir später sehen werden, mit dem Auflodern eines blinden, untergründigen Hasses auf ihn ... dabei nicht etwa aus Bosheit, – im Gegenteil, sie achtete, schätzte und liebte ihn, und das wußte er, – sondern aus irgendeinem besonderen, unbewußten Haß, den sie manchmal einfach nicht in sich niederzuzwingen vermochte.
Mawrikij Nicolajewitsch gab schweigend sein Teeglas einem alten, hinter ihm stehenden Bauern, ging dann auf das Türchen des meterhohen Holzgitters zu, öffnete es, trat ohne Semjon Jakowlewitschs Erlaubnis in dessen Zimmerhälfte und kniete, allen sichtbar, mitten im freien Raum nieder. Ich glaube, er war von dem Spott Lisas, noch dazu in Gegenwart so vieler Menschen, im Innersten seiner einfachen ehrlichen Seele verletzt. Vielleicht glaubte er auch, daß sie sich schämen werde, wenn sie seine Erniedrigung sah, die sie selbst so gewünscht hatte. Außer ihm hätte sich wohl sonst keiner entschlossen, ein Weib auf so naive und gewagte Weise zu strafen. Mit unerschütterlich ernstem Gesicht kniete er also, groß und steif und – lächerlich. Doch niemand lachte; die Überraschung machte einen schrecklichen Eindruck. Alle sahen Lisa an.
„Weihe, Weihe ...“ murmelte Semjon Jakowlewitsch.
Lisa erbleichte plötzlich, schrie auf und stürzte zu ihm. Es war eine kurze leidenschaftliche Szene: mit aller Kraft wollte sie Mawrikij Nicolajewitsch wieder emporreißen, und zog ihn mit beiden Händen wie wahnsinnig am Arm.
„Stehen Sie auf, stehen Sie auf!“ rief sie, wie völlig von Sinnen. „Stehen Sie sofort auf, sofort! Wie wagten Sie es, niederzuknien!!“
Mawrikij Nicolajewitsch erhob sich. Sie umklammerte seine Arme über den Ellenbogen und sah ihm mit brennendem Blick ins Gesicht. Angst lag in ihren Augen.
„Liebäugelnde, Liebäugelnde!“ sagte Semjon Jakowlewitsch wieder.
Endlich hatte Lisa Mawrikij Nicolajewitsch in die vordere Zimmerhälfte herübergezogen. Unsere ganze Schar war unruhig geworden. Da wandte sich die junge Dame aus unserem Wagen zum drittenmal, wahrscheinlich um von dem Vorfall abzulenken, mit gezwungenem Lächeln an Semjon Jakowlewitsch:
„Aber, Semjon Jakowlewitsch, werden Sie mir denn heute gar nichts sagen? Und ich habe doch so auf Sie gerechnet!“
„Auf ... dir, auf ... dir!“ fuhr er sie plötzlich wild an, mit einem ganz unmöglichen Wort, das er noch dazu erschreckend deutlich aussprach. Die Damen schrien vor Schreck alle auf und liefen entsetzt aus dem Zimmer. Die Herren aber brachen in ein homerisches Gelächter aus. Damit war denn unser Besuch bei Semjon Jakowlewitsch beendet.
Nur etwas Rätselhaftes geschah noch – etwas, weshalb ich diese ganze Fahrt überhaupt so ausführlich erzählt habe.
Es war in dem Augenblick, als alle in hellem Haufen zur Tür drängten. Da traf Lisa, die von Mawrikij Nicolajewitsch gestützt wurde, in dem Gedränge an der Tür plötzlich mit Nicolai Wszewolodowitsch zusammen. Ich muß hinzufügen, daß die beiden, wenn sie sich auch seit jenem Sonntag mehr als einmal in der Gesellschaft begegnet waren, doch noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich sah nun, wie beide, als sie an der Tür zusammentrafen, einen Augenblick stehen blieben und sich sonderbar ansahen – doch konnte ich in dem Gedränge nichts weiter wahrnehmen. Andere dagegen versicherten mir, daß Lisa plötzlich die Hand gegen ihn erhoben und Stawrogin unfehlbar geschlagen haben würde, wenn es ihm nicht gelungen wäre, noch rechtzeitig auszuweichen. Vielleicht hatte ihr der Ausdruck seines Gesichts nicht gefallen? oder ein Lächeln nach dieser Szene mit Mawrikij Nicolajewitsch? Ich muß gestehen, daß ich davon nichts weiß, doch alle versicherten, es sei in der Tat etwas derartiges der Fall gewesen ... wenn auch „alle“ es unmöglich hatten sehen können – höchstens einige. Jedenfalls weiß ich nichts Näheres noch Bestimmtes. Ich erinnere mich nur, daß Stawrogin auf dem Heimwege auffallend bleich aussah, was er vorher nicht in dem Maße gewesen war.
Fast zu derselben Zeit, als wir bei Semjon Jakowlewitsch waren, fand endlich auch das Wiedersehen Warwara Petrownas mit Stepan Trophimowitsch in Skworeschniki statt.
Warwara Petrowna war in großer Aufregung auf ihrem Gute eingetroffen: am Abend vorher hatte man endgültig beschlossen, daß das Fest im Hause des Adelsmarschalls stattfinden sollte. Da entschloß sie sich sofort, nach diesem Fest ein zweites bei sich in Skworeschniki zu arrangieren und gleichfalls die ganze Stadt zu versammeln – was ihr doch schließlich niemand verwehren konnte. Dann sollten alle selbst urteilen, welches Haus schöner wäre und wo man mit besserem Geschmack einen Ball zu geben verstünde. Warwara Petrowna war in dieser Zeit nicht wiederzuerkennen. Sie schien sich vollkommen verändert zu haben: aus der früheren unnahbaren „höheren Dame“ (ein Ausdruck Stepan Trophimowitschs) war eine weltliche, leichtsinnige Frau geworden. Oder wenigstens schien es so.
Kaum war sie an diesem Tage in Skworeschniki eingetroffen, als sie alle Räume prüfend zu durchschreiten begann, und zwar in Begleitung des treuen alten Alexei Jegorowitsch und des gewandten Fómuschka, der in Dekorationsfragen geradezu eine Autorität war. Und nun begannen die Beratungen: welche Möbel man aus dem Stadthause herüberholen sollte; welche Bilder, Kunstwerke; wo sie aufhängen, wie sie stellen; wie man am besten die Orangerie und die Blumen benutzen, wo man das Büffet herrichten sollte, und ob nicht vielleicht zwei besser wären? Und mitten in diesen schweren Beratungen fiel es ihr dann plötzlich ein, die Equipage nach Stepan Trophimowitsch zu schicken.
Dieser war schon längst auf das Wiedersehen vorbereitet und hatte täglich gerade so eine plötzliche Aufforderung erwartet. Als er sich in die Equipage setzte, bekreuzte er sich: jetzt mußte sein Schicksal sich entscheiden! Er fand seinen „Freund“ im großen Saal, in der Nische, auf einem kleinen Sofa, mit Bleistift und Papier in der Hand, während Fómuschka damit beschäftigt war, mit dem Zentimetermaß die Höhe und Breite der Fenster auszumessen, worauf sie die Zahlen notierte. Ohne sich in dieser Arbeit stören zu lassen, nickte sie Stepan Trophimowitsch zu, und als der ihr einen Gruß sagte, reichte sie ihm nur flüchtig die Hand und wies schweigend auf den Platz neben dem Sofa.
„Ich saß und wartete ungefähr fünf Minuten und – ‚drückte mein Herze nieder‘,“ erzählte er mir später. „Das war nicht mehr die Frau, die ich zwanzig Jahre lang gekannt hatte. Doch die Überzeugung, daß jetzt alles zu Ende sei, gab mir eine Kraft, die selbst sie in Erstaunen setzte. Ich schwöre Ihnen, sie wunderte sich im stillen über meine Haltung in dieser letzten Stunde.“
Warwara Petrowna legte plötzlich den Bleistift auf das Marmortischchen, das neben ihrem Sofa stand, und wandte sich ihm zu.
„Stepan Trophimowitsch, wir müssen jetzt sachlich sprechen. Ich bin überzeugt, daß Sie wieder Ihre üblichen hochtrabenden Worte und Wörtchen vorbereitet haben, aber es ist wohl besser, wenn wir gleich zur Sache kommen. Nicht wahr?“
In ihm krampfte sich etwas zusammen. Sie beeilte sich schon zu sehr, den neuen Ton anzugeben. Was mochte noch weiter kommen?
„Warten Sie, schweigen Sie,“ fuhr sie schnell fort. „Lassen Sie mich zuerst sprechen. Nachher können Sie reden. Obgleich ich eigentlich nicht weiß, was Sie mir noch zu sagen hätten. Ihnen Ihre Pension auszuzahlen, halte ich für meine heilige Pflicht. Tausendzweihundert Rubel jährlich bis zu Ihrem Lebensende. Aber wozu nenne ich das ‚heilige Pflicht‘! Sagen wir einfach: unsere Abmachung, das ist viel realer, nicht wahr? Wenn Sie wollen, können wir es auch schriftlich aufsetzen. Falls ich sterben sollte, – für den Fall ist schon alles vorgesehen. Außerdem haben Sie von mir noch die Wohnung, Bedienung und alles übrige. Übersetzen wir das in Geld – so macht das etwa tausendfünfhundert Rubel aus, nicht wahr? Ich füge jetzt noch dreihundert Rubel für Nebenausgaben hinzu – so sind das volle dreitausend Rubel. Werden Sie damit auskommen? Ich denke, wenig ist es nicht? In Ausnahmefällen werde ich übrigens – nun, Sie wissen ja. Nehmen Sie das Geld, schicken Sie mir meine Dienstboten zurück, und leben Sie, wo Sie wollen, in Petersburg, in Moskau, im Auslande, oder meinetwegen auch hier – aber nur nicht mehr bei mir. Hören Sie?“
„Vor nicht langer Zeit wurde ebenso kategorisch und ebenso eilig von denselben Lippen eine andere Forderung an mich gestellt,“ sagte Stepan Trophimowitsch langsam, deutlich, in traurigem Ton. „Ich fügte mich ... ich tanzte so, wie Sie wollten. Oui, la comparaison peut être permise. C’était comme un petit cozak du Don, qui sautait sur sa propre tombe.[119] Jetzt ...“
„Einen Augenblick, Stepan Trophimowitsch. Sie sind furchtbar wortreich. Sie haben nicht getanzt. Aber Sie erschienen mit einer neuen Halsbinde, in hellen Handschuhen, pomadisiert und parfümiert. Ich kann Sie versichern, Sie wollten selbst schrecklich gern heiraten. Das stand auf Ihrem Gesicht geschrieben. Glauben Sie mir, dieser Ausdruck war recht geschmacklos. Wenn ich es Ihnen damals nicht gleich gesagt habe, so geschah es, um Sie nicht zu verletzen. Doch Sie wollten, Sie wollten heiraten. Trotz der Gemeinheiten, die Sie über mich und Ihre Braut geschrieben hatten. Jetzt aber ist es etwas ganz anderes. Und wozu dieser Cozak du Don über Ihrem Grabe? Verstehe nicht, was das für ein Vergleich sein soll. Im Gegenteil: sterben Sie nicht, sondern leben Sie! Leben Sie, soviel wie möglich; ich werde mich sehr freuen, wenn Sie gut leben.“
„Im Armenhaus?“
„Im Armenhaus? Mit dreitausend jährlich geht man nicht ins Armenhaus. Ach so ... ich erinnere mich!“ – sie lachte kurz auf – „Pjotr Stepanowitsch sagte einmal im Scherz irgend etwas von einem ‚Armenhaus‘. Nun ja, jenes Armenhaus, von dem da die Rede war, das ist wirklich ein besonderes ‚Armenhaus‘, über das nachzudenken sich wirklich lohnte. Wie Sie selbst wissen, leben dort die ehrenwertesten alten Herren. Meistens Offiziere a. D., jetzt will sogar ein alter General sein Leben dort beschließen. Wenn Sie mit Ihrem Gelde dort eintreten wollen, so können Sie Ruhe, Zufriedenheit und Zuhörer finden. Sie werden sich mit der Wissenschaft beschäftigen, und jederzeit eine Partie Préférence spielen können ...“
„Passons.“[100]
„Passons?“ Warwara Petrowna richtete sich steifer auf. „In dem Falle ist alles gesagt. Sie sind benachrichtigt. Von nun ab leben wir jeder für sich und sehen uns nicht mehr.“
„Und das ist alles? Alles, was von den zwanzig Jahren geblieben ist? Ihr letzter Abschied?“
„Sie lieben wirklich die Phrasen in einem Maße, daß es schon nicht mehr schön ist, Stepan Trophimowitsch. Heutzutage ist derlei nicht mehr modern. Man spricht jetzt derb, aber verständlich. Und ewig kommen Sie mir mit diesen zwanzig Jahren! Zwanzig Jahre beiderseitiger Eigenliebe und weiter nichts. Jeder Ihrer Briefe ist nicht an mich geschrieben, sondern für die Nachwelt berechnet. Ja, Sie sind Stilist, aber kein Freund. Freundschaft ist doch nur ein berühmtes Wort, in Wirklichkeit aber ist sie bloß ein – gegenseitiger Erguß von Spülicht.“
„Gott, wie viel fremde Worte! Lauter gut behaltene Lektionen! Auch Ihnen haben sie schon ihre Uniform übergeworfen! Auch Sie sind jetzt fröhlich, auch Sie an der Sonne! Chère, chère, für welch ein Linsengericht haben Sie ihnen Ihre Selbständigkeit verkauft!“
„Ich bin kein Papagei, der fremde Worte wiederholt,“ versetzte Warwara Petrowna böse. „Seien Sie versichert, daß in mir sich eigene Worte zur Genüge angesammelt haben. Was aber haben Sie für mich in diesen zwanzig Jahren getan? Nicht einmal die Bücher haben Sie mir gegeben, die ich für Sie bestellte, und die heute noch unaufgeschnitten wären, wenn Ihre Freunde sie nicht gelesen hätten. Was gaben Sie mir zu lesen, als ich Sie in den ersten Jahren immer wieder bat, mich doch zu belehren, zu leiten? Nur Romane und immer wieder Romane. Sie waren sogar auf meine Entwicklung eifersüchtig. Und währenddessen lachte doch schon alle Welt über Sie. Ich gestehe, ich habe Sie immer nur für einen Kritiker gehalten und für weiter nichts. Als ich Ihnen während der Fahrt nach Petersburg meine Absicht mitteilte, eine Zeitschrift zu gründen und ihr mein ganzes Leben zu widmen, da sahen Sie plötzlich ironisch auf mich herab und wurden furchtbar hochmütig.“
„Das war doch nicht so ... nicht das ... wir fürchteten damals, verfolgt zu ...“
„Doch, das war genau das. Und Verfolgung konnten Sie in Petersburg überhaupt nicht fürchten. Sie erinnern sich wohl noch, wie Sie damals im Februar erschrocken zu mir gelaufen kamen? Wie Sie verlangten, ich solle es Ihnen sofort schriftlich geben, in Gestalt eines Briefes, aus dem hervorginge, daß Sie mit dem beabsichtigten Blatte nichts zu tun hätten? Daß Sie lediglich der Hauslehrer seien, der bloß in meinem Hause wohnt, weil ihm sein Gehalt noch nicht ausgezahlt worden ist? War es nicht so? Sollten Sie es wirklich vergessen haben? Ich sehe, Sie haben es nicht vergessen. Ja, Sie haben sich Ihr Lebelang tatsächlich ungewöhnlich ausgezeichnet!“
„Das war nur ein Augenblick des Kleinmuts damals, unter vier Augen ...“ rief er schmerzlich aus. „Aber soll denn wirklich, wirklich, wegen dieser kleinlichen Eindrücke, nun alles zerrissen sein? Ist es möglich, daß von diesen langen Jahren nichts mehr zwischen uns verblieben ist?“
„Sie verstehen sich aufs Rechnen, das weiß ich. Sie wollen immer alles so drehen, daß schließlich ich Ihnen noch schulde. Als Sie aus dem Auslande zurückkehrten, sahen Sie auf mich von oben herab und ließen mich nicht einmal zu Wort kommen. Und als ich Ihnen nach meiner Reise von dem Eindruck, den die Sixtinische Madonna auf mich gemacht hatte, erzählen wollte, da hörten Sie nicht einmal so lange zu, bis ich geendet hatte, und lächelten nur hochmütig, ganz als könnte ich nicht ebensolche Gefühle haben wie Sie.“
„Das wird sicher anders gewesen sein ... ich entsinne mich nicht mehr ... J’ai oublié.“[120]
„Nein, das war ganz genau so, und dabei war da gar kein Grund, vor mir so wichtig zu tun, denn das war ja alles Unsinn und nur Ihre Phantasie. Heutzutage begeistert sich niemand mehr für die Sixtinische Madonna. Höchstens ein paar alte Professoren. Das ist bewiesen.“
„Auch schon bewiesen?“
„Diese Madonna dient überhaupt zu nichts. Diese Schale hier ist nützlicher, denn man kann in sie Wasser gießen. Dieser Bleistift ist nützlich, denn mit ihm kann man schreiben. Hier aber ist es bloß ein gemaltes Frauengesicht, das schlechter ist als alle lebenden Gesichter. Versuchen Sie einen Apfel zu malen und legen Sie dann neben das Bild einen wirklichen. Welchen werden Sie dann nehmen? Bin sicher, daß Sie nicht schwanken werden. Sehen Sie, darauf laufen jetzt alle unsere Theorien hinaus, nachdem sie erst einmal von der modernen freien Forschung nachgeprüft sind.“
„... stimmt!“
„Ah, Sie lächeln ironisch! Aber was haben Sie mir, zum Beispiel, über das Almosengeben gesagt? Und dabei ist das Gefühl, das man hat, wenn man Gutes tut, ein hochmütiges und unsittliches, genau wie die Genugtuung des Reichen, wie sein Genuß, wenn er seine Macht und Bedeutung mit der des Bettlers vergleicht. Almosengeben verdirbt sowohl den Gebenden wie den Nehmenden und erfüllt außerdem noch nicht einmal seinen Zweck, denn es vermehrt nur die Bettler. Jeder Faulpelz, der nicht arbeiten will, drängt sich zum Reichen, wie der Spieler an den Kartentisch, um etwas zu gewinnen. Die Groschen aber, die man ihnen zuwirft, reichen ja nicht einmal für den hundertsten Teil. Haben Sie viele Almosen in Ihrem Leben gegeben? Vielleicht achtzig Kopeken, aber bestimmt nicht mehr. Denken Sie nur nach. Strengen Sie sich ein bißchen an und versuchen Sie, sich zu erinnern, wann Sie zum letztenmal ein Almosen gegeben haben. Das wird wohl schon zwei, wenn nicht vier Jahre her sein. Sie reden bloß große Worte, die Tat aber behindern Sie nur. Ja, Almosengeben müßte auch schon im jetzigen Staate ganz einfach gesetzlich verboten werden. Im Zukunftsstaat wird es überhaupt keine Armen mehr geben.“
„Oh, welch eine Sammlung fremder Schlagworte! Also ist es schon bis zum Zukunftsstaat mit Ihnen gekommen? Sie Unglückliche, möge Gott Ihnen helfen!“
„Ja, es ist bis zum Zukunftsstaat gekommen, Stepan Trophimowitsch. Sie haben so sorgfältig die neuen Ideen vor mir verborgen, aber es hat nichts genützt. Sie haben das einzig und allein aus Eifersucht getan, um Macht über mich zu besitzen. Jetzt ist mir sogar diese Julija Michailowna schon an hundert Werst voraus. Doch ich erkenne jetzt wenigstens. Trotzdem habe ich Sie verteidigt, Stepan Trophimowitsch, so viel ich nur konnte. Sie werden buchstäblich von allen angeklagt.“
„Assez!“[121] er erhob sich von seinem Platz. „Und was sollte ich Ihnen nun wünschen? Doch nicht Reue?“
„Setzen Sie sich noch auf einen Augenblick, Stepan Trophimowitsch. Sie wissen doch schon, daß man Sie auffordert, auf der literarischen Matinee irgend etwas vorzutragen? Sagen Sie, worüber werden Sie lesen?“
„Gerade über dieses Ideal, die Sixtinische Madonna, die Ihrer Meinung nach weder einen Bleistift noch ein Glas Wasser wert ist.“
„Und nicht aus der Geschichte?“ fragte Warwara Petrowna enttäuscht. „Aber dann wird man Sie ja gar nicht hören wollen. Und ewig diese Madonna! Was haben Sie denn davon, wenn Sie alle damit einschläfern? Ich versichere Sie, Stepan Trophimowitsch, ich sage das nur in Ihrem Interesse. Es wäre doch eine ganz andere Sache, wenn Sie eine kurze, aber unterhaltende Geschichte aus dem mittelalterlichen Hofleben nehmen würden; sagen wir, aus der spanischen Geschichte. Oder eine Anekdote, die Sie dann noch mit eigenen Zutaten ausschmücken könnten. Im Mittelalter gab es doch so prunkvolle Höfe, mit Damen, wissen Sie, und Mordgeschichten. Karmasinoff sagt, daß es sonderbar zugehen müßte, wenn man in der spanischen Geschichte nicht etwas Interessantes finden könnte.“
„Karmasinoff! Dieser ausgeschriebene Dummkopf sucht für mich ein Thema!!“
„Karmasinoff, dieser erhabene Verstand! Sie drücken sich heute schon wirklich etwas zu unvorsichtig aus, Stepan Trophimowitsch.“
„Ihr Karmasinoff ist ein altes, ausgeschriebenes, gereiztes Weib! Chère, chère, haben Sie sich schon lange so von ihnen unterjochen lassen? O Gott!“
„Ich kann ihn auch jetzt nicht leiden. Wegen seiner Wichtigtuerei. Doch seinem Verstande muß ich Gerechtigkeit zollen. Ich wiederhole nochmals, daß ich Sie, so viel ich nur konnte, verteidigt habe. Aber warum wollen Sie sich denn unbedingt als lächerlich und langweilig hinstellen? Im Gegenteil, treten Sie mit einem würdigen Lächeln auf das Podium, als der Repräsentant des vergangenen Jahrhunderts, und erzählen Sie mit Ihrem ganzen Witz drei kleine Geschichten, so wie nur Sie zuweilen zu erzählen verstehen. Mögen Sie meinetwegen ein alter Mann sein, meinetwegen ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert, mögen Sie sogar zurückgeblieben sein: vielleicht sprechen Sie lächelnd selbst davon – sagen wir in einer Vorbemerkung. Doch alle werden dann sehen, daß Sie ein lieber, guter, geistreicher Mensch sind. Kurz, ein Mensch vom alten Schrot und Korn. Und doch so weit vorgeschritten, daß er selber über den ganzen Unsinn gewisser Begriffe, die er bis dahin gehabt hat, objektiv und richtig zu urteilen versteht. Nun, machen Sie es doch so, ich bitte Sie!“
„Chère, assez![122] Bitten Sie mich nicht, ich kann nicht. Ich werde über die Madonna reden, und ich will einen Sturm erheben, der entweder sie alle vernichten oder mich allein zu Boden schlagen soll!“
„Bestimmt nur Sie allein, Stepan Trophimowitsch.“
„Gut! Das ist dann mein Los! Ich werde von jenem gemeinen Sklaven reden, von jenem stinkenden, verderbten Sklaven, der als erster mit dem Messer auf die Leiter steigt und das göttliche Antlitz des großen Ideals zerschneiden will – im Namen der Gleichheit, des Neides und ... der Verdauung. Mag mein Fluch also durch die Welt donnern und dann, dann ...“
„In die Irrenanstalt?“
„Vielleicht. Aber in jedem Fall, ob ich nun siege oder besiegt werde: am selben Abend noch werde ich meinen Koffer nehmen, meinen armseligen Koffer, und werde all mein Hab und Gut verlassen, alle Ihre Geschenke, alle Pensionen und Versprechungen für die Zukunft, und werde zu Fuß aus der Stadt gehen, um bei irgend einem Kaufmann als Hauslehrer mein Leben zu beenden oder hinter einem Zaun Hungers zu sterben. Alea jacta est!“
Er stand auf.
„Ich habe es ja gewußt!“ Mit blitzenden Augen erhob sich nun auch Warwara Petrowna. „Ich habe es ja gewußt, daß Sie doch nur dazu leben, um zum Schluß noch mich und mein Haus zu beschimpfen. Was wollen Sie mit der Stelle beim Kaufmann oder dem Tod hinterm Zaun sagen? Bosheit und Verleumdung, weiter ist’s nichts!“
„Sie haben mich immer verachtet, aber ich werde wie ein Ritter, der seiner Dame bis ins Grab treu bleibt, mein Leben beenden – denn Ihre Meinung von mir war mir immer teurer, als alles andere auf der Welt. Ich nehme von Ihnen nichts mehr an, und die Rede halte ich ohne Entschädigung.“
„Wie dumm das ist!“
„Sie haben mich niemals geachtet. Ich weiß, ich habe unendlich viele Schwächen. Ja, es ist wahr: ich habe als Ihr Schmarotzer gelebt; – in der Sprache des Nihilismus ausgedrückt. Doch das war niemals das höhere Prinzip meiner Handlungen. Das geschah alles – so – so ... ganz von selbst ... ich weiß nicht, wie ... Ich habe nur immer geglaubt, daß zwischen uns etwas Höheres als Kost und Geld besteht, und nie, hören Sie, nie bin ich ein – Schurke gewesen! So – und nun gehe ich, um es wieder gut zu machen! Ich gehe meinen späten Weg, es ist schon Herbst, der Nebel liegt auf den Feldern, kalter, grauer Reif bedeckt meine Straße und der Wind singt das Lied vom nahen Grabe ... Aber ich gehe, ich gehe schon meinen neuen Weg! Und ich gehe –
‚Ganz erfüllt von reiner Liebe,
Treu dem süßen Traum ...‘
Oh, lebt wohl, meine Träume! Zwanzig Jahre! Alea jacta est.“
Tränen rollten plötzlich aus seinen Augen. Er nahm schnell seinen Hut.
„Ich verstehe kein Latein,“ sagte Warwara Petrowna, die sich krampfhaft zusammennahm.
Wer weiß, vielleicht wollte sie gleichfalls weinen, doch Unwille und Eigensinn siegten wiederum.
„Ich weiß nur eines,“ sagte sie, „daß das nur Phrasen sind. Niemals werden Sie imstande sein, Ihre Worte wahr zu machen. Nirgendwohin werden Sie gehen, sondern seelenruhig bei uns weiterleben und jeden Dienstag wieder Ihre unmöglichen Freunde versammeln. Leben Sie wohl, Stepan Trophimowitsch.“
„Alea jacta est!“ Er verneigte sich tief vor ihr und fuhr nach Hause – halbtot vor Aufregung.
Der Tag, an dem die literarische Matinee und der Ball stattfinden sollten, war endgültig festgesetzt, doch von Lembkes Stimmung wurde immer trüber und nachdenklicher. Er hatte so sonderbare, unheilvolle Vorgefühle, und das beunruhigte Julija Michailowna sehr. Es war doch nicht so angenehm, Gouverneur zu sein, zumal unser gutmütiger Iwan Ossipowitsch seinem Nachfolger nicht alles im Gouvernement in bester Ordnung übergeben hatte. Dazu drohte jetzt noch die Cholera, und in einzelnen Kreisen waren Rinderseuchen ausgebrochen; ferner hatten den ganzen Sommer über in Dörfern und Städten Feuersbrünste gewütet, im Volke aber begann sich schon der Glaube festzusetzen, daß man absichtlich Brandstifter umherschicke; und die Diebe hatten sich im Verhältnis zu früheren Jahren um das Doppelte vermehrt. Das alles wäre aber, wenn auch außergewöhnlich, so doch längst nicht in dem Maße beunruhigend gewesen, wenn Andrei Antonowitsch von Lembke nicht noch schwerwiegendere Sorgen gehabt hätte, die ihm nun die Ruhe seiner bis dahin so glücklichen und zufriedenen Seele raubten.
Am meisten erschreckte Julija Michailowna der Umstand, daß ihr Lembke mit jedem Tage schweigsamer wurde und manchmal beinahe verschlossen war. Doch wenn man darüber nachdachte – was konnte er denn überhaupt zu verbergen haben? Dabei widersprach er ihr selten, vielmehr fügte er sich ihr fast in allen Dingen. So wurden z. B. auf ihr hartnäckiges Verlangen hin ein paar recht gewagte Maßnahmen getroffen, die fast gegen das Gesetz verstießen, doch dafür die Macht des Gouverneurs vergrößern sollten. Aus demselben Grunde wurde z. B. ein paarmal unheilvolle Nachsicht geübt: Leute, die eigentlich den Prozeß und Sibirien verdient hatten, wurden einzig auf Julija Michailownas unbedingtes Verlangen hin zur Auszeichnung vorgeschlagen. Wie sich später herausstellte, wurde auf eine gewisse Art von Klagen ganz systematisch überhaupt nicht mehr reagiert. Außerdem unterschrieb von Lembke fast alles, was Julija Michailowna von ihm verlangte, und gewöhnlich widerspruchslos. Nur zuweilen setzte er seine Gattin durch eine plötzliche und hartnäckige Widerspenstigkeit in nicht geringes Erstaunen, und zwar immer durch eine Widerspenstigkeit in den kleinsten Nebensachen. Der Wunsch, nachdem er ihr tagelang stumm und wortlos gehorcht hatte, wieder eine eigene Rolle zu spielen, war am Ende begreiflich. Julija Michailowna jedoch wußte in solchen Fällen trotz ihres ganzen Verstandes diese edle Regung eines edlen Charakters durchaus nicht zu würdigen: von Lembke persönlich war ihr gerade in dieser Zeit vollkommen gleichgültig – und leider sollte eben hieraus viel Unheil entstehen.
Die gute Dame (sie tut mir aufrichtig leid) hätte das, was sie so sehr lockte – Ruhm, Bedeutung usw. – viel einfacher erreichen können, ja, fast noch schneller, wenn sie ihren Wünschen mit etwas weniger Exzentrizität nachgegangen wäre. Aber wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt: denen, die ihr abrieten, hörte sie weiter nicht zu; den anderen aber, die sie in ihren eigenen Ideen bestärkten, denen folgte sie blindlings. So war denn die Arme bald nur noch ein Spielzeug der verschiedensten Einflüsse, während sie sich selbst für durchaus individuell hielt. Ihre Gutmütigkeit wurde in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft als Gattin des Gouverneurs von vielen ausgenutzt, und gar manche schnitten dabei nicht übel ab. Aber was war das im Grunde für ein Mischmasch unter dem Anschein von Selbständigkeit! Ihr gefielen die Großgrundbesitzer und das aristokratische Element, die Erweiterung der Gouvernementsmacht wie das demokratische Prinzip mit den neuen Anschauungen, der Freidenkerei und den sozialen Lehren; und ihr gefiel der strenge Ton eines vornehmen Salons, wie die Ausgelassenheit, die oft schon an einen Gasthauston gemahnte, der sie umgebenden goldenen Jugend. Sie träumte davon, „glücklich zu machen“ und Unvereinbares zu vereinen, oder richtiger: alle und alles in schwärmerischer Verehrung um ihre Person zu versammeln. Aber sie hatte auch einige ganz besondere und bevorzugte Lieblinge. Zu diesen gehörte vor allen Pjotr Stepanowitsch, der sie mit den plattesten Schmeicheleien beherrschte. Freilich gab es da noch einen besonderen Grund, weshalb er zu ihrem Liebling ward, und dieser Grund dürfte sie vielleicht am besten charakterisieren: sie hoffte nämlich, daß er ihr – eine ganze Verschwörung aufdecken werde. Ich übertreibe keineswegs. Allerdings ist es schwer zu sagen, warum sich in ihr, fast von Anfang an, der Glaube festgesetzt hatte, gerade in unserem Gouvernement werde eine Verschwörung gegen die Regierung vorbereitet. Nun, und Pjotr Stepanowitsch verstand es vorzüglich, mit seinem zweideutigen und geheimnisvollen Schweigen in gewissen, und seinen kurzen Bemerkungen in anderen Fällen, diesen Glauben noch zu verstärken. Sie glaubte schon nach ihrem ersten Gespräch mit ihm, daß er unbedingt über das ganze revolutionäre Rußland unterrichtet sei, und außerdem und gleichzeitig hielt sie ihn für ihr persönlich bis zur Vergötterung ergeben. In ihrer Phantasie malte sie sich schon mit allen Einzelheiten aus, wie von Lembke die Verschwörung melden würde, dann der Dank aus Petersburg und die große Karriere; und schließlich, wie sie selber mit „Liebe und Nachsicht“ die Jugend „am Rande des Abgrunds“ zurückhielt! War sie doch fest überzeugt, daß sie Pjotr Stepanowitsch bereits bekehrt hatte! Warum sollte es ihr dann nicht auch bei den anderen gelingen? Kein einziger von den Verschwörern sollte umkommen: sie wollte sie alle, alle retten, und in eben diesem Sinne, nur mit dem Ziel der höheren Gerechtigkeit vor Augen, wollte sie handeln. Vielleicht – was kann man wissen – würde noch einst der ganze russische Liberalismus – und warum nicht auch die Geschichte? – ihren Namen segnen. Die Verschwörung aber würde doch aufgedeckt werden ... Also alle Vorteile zugleich.
Zunächst aber war es nötig, daß Andrei Antonowitsch zum Feste etwas heiterer wurde, und so galt es denn jetzt, ihn zu zerstreuen und zu beruhigen. Zu diesem Zweck kommandierte sie Pjotr Stepanowitsch zu ihrem Mann, in der Hoffnung, daß der auf irgendeine Weise die gewünschte Wirkung erzielte. Vielleicht konnte er ihm etwas Beruhigendes mitteilen, sozusagen aus erster Hand. Jedenfalls verließ sie sich vollkommen auf seine Geschicklichkeit.
Pjotr Stepanowitsch war schon seit Längerem nicht mehr in Herrn von Lembkes Arbeitszimmer gewesen. Er schwirrte jetzt gerade in einem Augenblick zu ihm hinein, als der Patient sich in einer ganz besonders gespannten und reizbaren Verfassung befand.
Es gab da eine Kombination, die Herr von Lembke nun schon gar nicht mehr fassen konnte.
In einer kleinen Kreisstadt (in derselben, in der Pjotr Stepanowitsch vor nicht langer Zeit mit den Offizieren ein paar Abende lustig zusammengewesen war) hatte der Kommandeur einem Leutnant einen Verweis erteilt. Es geschah vor der ganzen Front. Der Leutnant war ein noch ganz junger Mensch, erst vor kurzem aus Petersburg eingetroffen, immer schweigsam und finster und anscheinend sich sehr erhaben dünkend, dabei aber klein von Wuchs, dick und rotwangig. Er ertrug den Verweis nicht, und plötzlich warf er sich mit einem eigentümlichen Geschrei oder Gekreisch, über das sich die ganze Front wunderte, und mit absonderlich gesenktem Kopf auf seinen Kommandeur und biß diesen mit solcher Gewalt in die Schulter, daß man ihn nur mit Mühe loszureißen vermochte. Zweifellos war der Mensch verrückt geworden. Wenigstens stellte sich nun heraus, daß er in der letzten Zeit schon mehrfach die unglaublichsten Sachen gemacht hatte. So hieß es u. a., er habe in seiner Wohnung zwei Heiligenbilder der Wirtin zum Fenster hinausgeworfen und ein drittes mit dem Beil zerhackt; an ihre Stelle aber habe er in seinem Zimmer auf Postamenten drei Bücher, die Werke von Vogt, Moleschot und Büchner, aufgestellt und vor jedem ein Kirchenwachslicht angezündet. Aus der Menge von Büchern, die man bei ihm fand, konnte man schließen, daß er ziemlich belesen war. Bei der Durchsuchung fand man in seinen Taschen und Koffern einen ganzen Stoß der wildesten Proklamationen.
Nun, an sich waren diese Blätter ja nichts Neues; man hatte ihrer im Laufe der Jahre so viele gesehen! Wozu da noch weiter nachdenken? Zudem waren es nicht einmal neue Proklamationen, sondern genau dieselben, die man auch im H–schen Gouvernement gefunden hatte und von denen Liputin behauptete, daß er sie vor anderthalb Monaten auf seiner Reise in einer andern Kreisstadt gleichfalls gesehen habe. Aber Andrei Antonowitsch erschrak doch: vor allem über den einen Umstand, daß der Direktor der Spigulinschen Fabrik zur selben Zeit der Polizei drei große Pakete Proklamationen übersandt hatte, die in der Nacht auf den Fabrikhof geworfen worden waren, und diese Proklamationen stimmten Wort für Wort mit jenen überein, die man bei dem Leutnant gefunden hatte. Die drei Pakete waren noch nicht einmal aufgebunden, also hatte von den Arbeitern noch keiner etwas lesen können. Eigentlich war ja die ganze Sache harmlos genug; doch Herr von Lembke begann zu grübeln, denn ihm erschien sie unendlich bedeutsam und verwickelt.
In der erwähnten Spigulinschen Fabrik hatte gerade die sogenannte „Spigulinsche Geschichte“ begonnen, von der später so viel geredet worden ist, und über die sogar die Petersburger und Moskauer Zeitungen so lange und in so verschiedenen Lesarten berichtet haben. Vor ungefähr drei Wochen war dort ein Arbeiter an sibirischer Cholera erkrankt, und nach ihm noch ein paar andere. In der Stadt verbreitete sich nicht geringe Angst, obgleich alle möglichen ärztlichen Vorkehrungen getroffen wurden. Doch die Spigulinsche Fabrik – die Besitzer hatten Geld und Verbindungen – wurde aus irgendeinem guten Grunde nicht geschlossen. Da aber hieß es plötzlich, gerade in ihr stecke der Herd der Krankheit. Andrei Antonowitsch bestand sofort energisch darauf, daß sie einmal gründlich gereinigt werde, was man denn auch tat. Kurz darauf aber schlossen die Spigulins die Fabrik – warum, wußte eigentlich niemand. Der eine Bruder lebte beständig in Petersburg, und der andere war nach der ihm befohlenen Fabrikreinigung nach Moskau gereist. Der Direktor, der den Arbeitern den Lohn auszahlen sollte, betrog dabei, wie es sich später herausstellte, die Leute geradezu unerhört. Die Arbeiter begannen zu murren und verlangten eine gerechtere Abrechnung und gingen aus Dummheit schließlich sogar auf die Polizei. Doch führten sie sich dort lange nicht so erregt auf, wie es die Zeitungen nachträglich schilderten. Und gerade in dieser Zeit geschah es denn, daß der Direktor dem Gouverneur die gefundenen Proklamationen zustellte.
Pjotr Stepanowitsch trat schnell und ohne anzuklopfen, wie ein alter Bekannter oder guter Freund, in von Lembkes Arbeitszimmer. Als Andrei Antonowitsch ihn erblickte, blieb er unfreundlich und augenscheinlich geärgert am Schreibtisch stehen, während er bis dahin auf und ab gegangen war, was er gewöhnlich tat, wenn er sich mit seinem Kanzleibeamten Blümer unter vier Augen beriet. Diesen Blümer, der übrigens ein mürrischer, ungelenker Deutscher war, hatte er trotz Julija Michailownas heftigster Opposition aus Petersburg mitgebracht. Der Kanzleibeamte trat nach Pjotr Stepanowitschs Erscheinen zur Tür, ging jedoch noch nicht hinaus. Es schien Pjotr Stepanowitsch sogar, daß er mit von Lembke einen vielsagenden Blick austauschte.
„Oho, da habe ich Sie ertappt, Sie geheimer Stadtdespot!“ rief Pjotr Stepanowitsch lachend aus und legte schnell seine Hand auf eine Proklamation, die auf dem Tisch lag. „Die soll wohl wieder Ihre Sammlung vergrößern, wie?“
Von Lembke wurde rot, und sein ganzes Gesicht verzerrte sich plötzlich.
„Lassen Sie, lassen Sie das sofort!“ schrie er zitternd vor Wut. „Und wagen Sie es nicht, mein Herr ...“
„Was haben Sie nur? Sie scheinen sich ja zu ärgern?“
„Gestatten Sie, mein Herr, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich Ihr sans façon[123] hinfort nicht mehr dulden werde und Sie ersuche, nicht zu vergessen ...“
„Pfui Teufel, er ärgert sich ja in der Tat!“
„Schweigen Sie!“ von Lembke stampfte mit dem Fuß. „Und wagen Sie es nicht ...“
Gott mag wissen, wozu es noch gekommen wäre, denn zu seinem Zorn gab es hier noch einen gewissen anderen Grund, den sich weder Pjotr Stepanowitsch noch Julija Michailowna auch nur hätten träumen lassen können. Mit dem unglücklichen Andrei Antonowitsch war es nämlich schon so weit gekommen, daß er wegen seiner Frau auf Pjotr Stepanowitsch eifersüchtig war und deshalb in einsamen Stunden, besonders nachts, höchst unangenehme Minuten auszustehen hatte.
„Und ich dachte, daß ein Mensch, der einem zweimal bis nach Mitternacht seinen Roman vorliest und einen um ein offenes Urteil bittet, daß dieser Mensch dann schon selber das Formelle abgetan hat ... Und Julija Michailowna empfängt mich wie einen guten Bekannten – nun soll einer aus Ihnen klug werden!“ sagte Pjotr Stepanowitsch, und sagte es sogar nicht ohne eine gewisse Würde. „Hier haben Sie übrigens Ihren Roman,“ und damit legte er ein großes, schweres, fest zusammengerolltes Heft, das in blaues Papier eingewickelt war, auf den Tisch.
Von Lembke errötete und wußte nichts zu sagen.
„Wo haben Sie es denn gefunden?“ fragte er unsicher, mit einem Zustrom von Freude, den er doch nicht abhalten konnte, obschon er ihn mit Gewalt zurückzudrängen suchte.
„Ja, denken Sie sich, so zum Rohr zusammengerollt, wie es da ist, war es hinter meine Kommode gefallen. Ich werde es wohl damals, als ich nach Hause kam, irgendwie nachlässig auf die Kommode geworfen haben. Vorgestern fand man es beim Dielenscheuern. War das aber eine Arbeit, die Sie mir da beschert hatten!“
Lembke senkte streng die Augen.
„Zwei Nächte wegen Euer Gnaden nicht geschlafen. Vorgestern fand man es, so behielt ich es denn noch und las die ganze Geschichte durch. Habe am Tage keine Zeit, mußte es also in der Nacht tun. Na, und – kann nichts dafür: bin unzufrieden. Nicht mein Geschmack. Doch übrigens zum Teufel damit, Kritiker bin ich nie gewesen. Aber losreißen konnte ich mich doch nicht, wenn ich auch unzufrieden war. Das vierte und fünfte Kapitel, die ... die sind ... weiß der Teufel, was die eigentlich sind! Und mit wieviel Komik das vollgestopft ist! Hab’ ich gelacht! Nein, wirklich, Sie verstehen es, etwas lächerlich zu machen, sans que cela paraisse![124] Na, das da im neunten Kapitel, wo nur von Liebe die Rede ist, na, nicht meine Sache; aber immerhin sehr effektvoll. Nach dem Brief von Igrenjeff wollte ich beinah zu heulen anfangen, obgleich Sie ihn ja so fein karikiert haben ... Wissen Sie, der Brief ist gewiß gefühlvoll, aber zu gleicher Zeit wollten Sie den Mann doch irgendwie karikieren, wenn ich Sie richtig verstanden habe? nicht? Hab’s mir gleich so gedacht. Na, aber für den Schluß könnte ich Sie einfach verprügeln. Was ist denn das für eine Idee, die Sie da durchführen? Das ist ja doch dieselbe alte Vergötterung des Familienglücks nebst Vermehrung der Kinder wie des Kapitals, und ‚wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heut‘! – ich bitte Sie! Zuerst bezaubern Sie den Leser geradezu, so daß selbst ich mich nicht losreißen konnte, – aber desto gemeiner ist doch dann solch ein Schluß! Der Leser bleibt genau so dumm, wie er war; man hätte doch kluge Menschen reden lassen sollen, Sie aber ... Na, genug davon, und jetzt adieu! Ärgern Sie sich nächstens nicht wieder. Ich kam eigentlich, um Ihnen ein paar Worte zu sagen, aber Sie sind ja heute so eigentümlich ...“
Von Lembke hatte inzwischen seinen Roman in einen eichenen Bücherschrank verschlossen und Blümer zugewinkt, das Zimmer zu verlassen, was der denn auch mit langem Gesichte tat.
„Ich bin heute keineswegs eigentümlich, es sind da nur ... so viele Unannehmlichkeiten,“ murmelte Herr von Lembke und runzelte die Stirn, doch schon ohne Zorn, und er setzte sich an den Schreibtisch. „Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen,“ sagte er freundlicher, „nur fliegen Sie nächstens nicht so hastig ins Zimmer, mit Ihren Manieren, die ... zuweilen, bei der Arbeit, ist man ...“
„Was meine Manieren betrifft ...“
„Ich weiß, ich weiß, Sie haben es ja nicht mit Absicht getan, aber gerade bei so unangenehmer Arbeit, Sie verstehen schon ... Setzen Sie sich, bitte.“
Pjotr Stepanowitsch warf sich sogleich ungeniert auf den Diwan und zog die Beine unter den Stuhl.
„Was ist denn das für eine unangenehme Arbeit? Doch nicht etwa diese Dummheiten?“ Dabei wies er mit dem Kopf auf die Proklamation. „Solche Blätter kann ich Ihnen so viele verschaffen, wie Sie nur wollen. Habe deren Bekanntschaft schon im H–schen Gouvernement gemacht.“
„Das heißt, damals, als Sie dort waren?“
„Versteht sich, nicht in meiner Abwesenheit. Und dann war da noch eine mit einer Vignette: ein Beil oben. Erlauben Sie“ – er nahm das Blatt vom Tisch – „na ja, hier ist ja auch ein Beil; natürlich, das ist ja dieselbe!“
„Ja, ein Beil. Sehen Sie – ein Beil.“
„Was, haben Sie etwa Angst bekommen vor dem Beil?“
„Oh, nicht vor dem Beil ... Und ich habe durchaus keine Angst. Aber diese Sache ... Es gibt hier noch ... gewisse Umstände.“
„Was für welche? Daß man sie aus der Fabrik gebracht hat? Ha–ha! Aber wissen Sie auch, daß die Arbeiter dieser Fabrik bald selbst Proklamationen schreiben werden?“
„Wie das?“ Von Lembke sah auf – streng, verwundert.
„Ganz einfach. Sie sind ein zu weicher Mensch, Andrei Antonowitsch. Schreiben Romane. Hier aber müßte man noch auf die alte Weise verfahren.“
„Wie das – alte Weise? Sollen das Ratschläge sein? Die Fabrik ist doch gereinigt worden. Ich befahl es, und sie wurde gereinigt!“
„Und unter den Arbeitern ist derweil eine Empörung ausgebrochen. Übers Knie legen müßte man die Kerls, und die Sache wäre erledigt.“
„Eine Empörung? Das ist unmöglich! Ich habe doch den Befehl gegeben, und man hat die Fabrik gereinigt!“
„Ach, Andrei Antonowitsch, Sie sind wirklich ein weicher Mensch!“
„Ich? Nun – erstens bin ich durchaus nicht so furchtbar weich und zweitens ... –“ von Lembke ärgerte sich. Eigentlich sprach er mit dem jungen Mann gegen seinen Willen, doch die Neugier, ob dieser nicht etwas Besonderes sagen würde, war zu groß, um der Unterredung einen Schluß zu machen.
„A–ah! wieder eine alte Bekannte!“ unterbrach ihn Pjotr Stepanowitsch und zog unter einem Buch ein anderes Blatt hervor, eine augenscheinlich im Auslande gedruckte Proklamation, die aber in Versen abgefaßt war. „Na, die kenne ich ja auswendig: natürlich, das ist sie ja – die ‚helle Persönlichkeit‘! Habe diese Persönlichkeit schon im Auslande kennen gelernt. Wo haben Sie denn diese hervorgekratzt?“
„Sie sagen, Sie haben sie schon im Auslande gesehen?“ horchte Herr von Lembke auf.
„Na, das fehlte noch, daß ich sie nicht gesehen hätte! – vor vier oder fünf Monaten!“
„Was Sie im Auslande nicht alles gesehen haben!“ von Lembke besah ihn sich mißtrauisch.
Doch Pjotr Stepanowitsch beachtete die Bemerkung nicht, nahm das Blatt und las laut das folgende Gedicht:
Von Geburt kein Edelmann,
Unterm Volk wuchs er heran.
Bald verfolgt vom Zorn des Zaren
Und dem Hasse der Bojaren,
Predigte er allerorten
Stets mit siegbewußten Worten
Unerschrocken, wie man sah:
‚Freiheit, Gleichheit, sie sind nah!‘
Häscher fingen ihn alsbald.
Doch er floh in fremdes Land
– aus des Zaren Kasematte,
Wo man Peitschen, Zangen hatte –,
Fuhr von dort fort, hier zu schüren,
Und die Wirkung war zu spüren,
Denn das Volk begann zu warten
Und zu murren ob des harten
Schicksals, doch sieh da:
„Freiheit, Gleichheit, sie sind nah!“
Also sagt’s Euch der Student,
Hört es jetzt bis nach Taschkent!
Komme schleunigst jeder Mann,
Um den Adel und alsdann
Selbst das Zartum zu vernichten!
Hört und kommt und laßt uns richten!
Hört auf des Studenten Wort:
Aller alter Kram muß fort –
Kirchen, Ehen und Familien
Nebst den Kindern, den Reptilien!
Doch das Hab und Gut der Welt,
Land, Besitz und alles Geld –
Das soll Allgemeingut werden
In dem neuen Reich auf Erden!“
„Das haben Sie wohl bei jenem Leutnant gefunden, nicht?“ fragte Pjotr Stepanowitsch.
„Wie, Sie kennen auch diesen Leutnant?“
„Wie denn nicht! Habe zwei Tage lang mit ihm gekneipt. Der mußte unbedingt mal überschnappen.“
„Er ... Vielleicht ist er überhaupt nicht irrsinnig geworden.“
„Etwa darum nicht, weil er zu beißen anfing?“
„Aber, erlauben Sie: wenn Sie dieses Gedicht im Auslande gesehen haben – und später findet es sich hier bei diesem Offizier ...“
„Hm! Ganz scharfsinnig! Sie, Andrei Antonowitsch, Sie scheinen mich ja, wie ich sehe, examinieren zu wollen? Sehen Sie,“ begann er plötzlich mit ungewöhnlicher Wichtigkeit, „darüber, was ich im Auslande gesehen, habe ich sofort nach meiner Rückkehr einer bestimmten Stelle Mitteilung gemacht, und meine Erklärungen wurden als befriedigend befunden. Andernfalls hätte ich ja auch diese liebe Stadt hier gar nicht mit meinem Besuch beglücken können. Ich glaube also, daß meine Pflichten auf diesem Gebiet erledigt sind und ich weiter niemandem Rechenschaft schuldig bin. Und nicht etwa deswegen erledigt, weil ich vielleicht ein Denunziant bin, sondern weil ich einfach gar nicht anders handeln konnte. Diejenigen, die an Julija Michailowna über mich geschrieben haben, kannten die ganze Sachlage ... und haben mich als ehrlichen Menschen empfohlen. Na, aber zum Teufel damit! Eigentlich bin ich zu Ihnen gekommen, um über etwas sehr Ernstes mit Ihnen zu sprechen. Es ist gut, daß Sie diesen Ihren Schornsteinfeger fortgeschickt haben. Es ist eine wichtige Sache, Andrei Antonowitsch. Ich habe nämlich eine sehr große Bitte an Sie.“
„Eine Bitte? Hm ... haben Sie die Güte, ich ... bin gespannt ... hm! ... wird mich sehr interessieren. Überhaupt muß ich sagen, Sie setzen mich heute ein wenig in Erstaunen.“
Von Lembke war merklich erregt. Pjotr Stepanowitsch schlug ein Bein übers andere.
„In Petersburg,“ begann er, „war ich in vieler Hinsicht aufrichtig, doch über gewisse Einzelheiten ... zum Beispiel diese da“ – er wies mit dem Finger auf die „helle Persönlichkeit“ – „habe ich geschwiegen, erstens weil es sich nicht lohnte, darüber zu sprechen, und zweitens, weil ich nur das sagte, wonach man mich fragte. Ich liebe es nicht, in diesem Sinne vorzugreifen; darin sehe ich auch den Unterschied zwischen einem Schurken und einem ehrlichen Menschen, den ganz einfach nur die Umstände überrumpelt haben und zwingen ... Na, das mag nebenbei gesagt sein. Nun und jetzt ... jetzt, nachdem diese Dummköpfe ... na, ich meine, da es jetzt herausgekommen ist, sich bereits in Ihren Händen befindet und sich vor Ihnen schon nicht mehr wird verstecken können – denn Sie sind doch ein Mensch mit Augen, es ist gar nicht so leicht, hinter Sie zu kommen – diese Dummköpfe aber in ihrem Vorhaben fortfahren ... na, nun ja ... also: ich bin ... ganz einfach ... zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten, einen Menschen zu retten, einen ebensolchen Dummkopf oder meinetwegen Verrückten ... in Anbetracht seiner Jugend, seines Unglücks, und ... und Ihrer Humanität ... zum Kuckuck, Sie wollen doch nicht nur in Romanen human und gut und edel sein!“ unterbrach er plötzlich, anscheinend aus lauter Verlegenheit grob, seine ungeschickte Rede.
Kurz: man sah einen ehrlichen, offenherzigen Menschen vor sich, der bloß ungeschickt und unpolitisch war, und das wohl aus Gutmütigkeit oder übergroßer Gewissenhaftigkeit. Und jedenfalls mußte er „nicht von weitem her“ sein, urteilte von Lembke sofort mit außerordentlichem Feingefühl: genau so, wie er ihn eigentlich schon immer eingeschätzt hatte – besonders wenn er ihn in den schlaflosen Nächten der letzten Woche wegen seines Erfolges bei Julija Michailowna in seiner Seele beschimpft und heruntergerissen hatte.
„Für wen bitten Sie denn und was soll das alles bedeuten?“ erkundigte er sich würdevoll, bemüht, seine Neugier zu verbergen.
„Für ... ja das ... zum Teufel, ich bin doch nicht schuld daran, daß ich an Sie glaube! Was kann ich denn dafür, daß ich Sie für den edelmütigsten Menschen halte und, vor allem, für einen verständigen ... der fähig ist, zu begreifen, das heißt, zu verstehen ... nun, zum Henker ...“
Der Arme! Augenscheinlich verstand er sich nicht recht auszudrücken und verwickelte sich nur!
„Sie verstehen doch,“ fuhr er fort, „begreifen doch, daß ich, wenn ich Ihnen seinen Namen nenne, ihn damit sozusagen in Ihre Hände liefere, nicht wahr, ich liefere ihn dann Ihnen doch aus? Nicht wahr?“
„Aber wie soll ich es denn erraten, für wen Sie bitten, wenn Sie sich nicht entschließen können, mir seinen Namen zu nennen?“
„Ach, ja, in der Tat, das ist es ja gerade! Sie stellen einem, weiß der Teufel, mit Ihrer Logik immer ein Bein ... Na, zum Henker ... Also diese ‚helle Persönlichkeit‘, dieser ‚Student‘ ist – Schatoff ... So, da haben Sie’s jetzt!“
„Schatoff? Das heißt, wie denn Schatoff?“
„Schatoff – das ist der ‚Student‘, von dem da im Gedicht die Rede ist! Er lebt hier! Früherer Leibeigener! Derselbe, der neulich die Ohrfeige gegeben hat! Sie wissen schon!“
„Ich weiß, ich weiß!“ von Lembke kniff die Augen zusammen. „Aber erlauben Sie, worin besteht denn eigentlich seine Schuld und, die Hauptsache, – um was bitten Sie denn eigentlich?“
„Aber ihn zu retten, verstehen Sie doch endlich! Ich kenne ihn ja schon seit acht Jahren! Ich – ich war ja sein Freund!“ Pjotr Stepanowitsch regte sich anscheinend furchtbar auf. „Nun ja, ich bin doch nicht verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über Früheres zu geben,“ meinte er und winkte mit der Hand ab, „das ist alles so belanglos. Sind ja nur dreieinhalb Menschen, und mit denen im Auslande noch nicht mal zehn ... Aber, die Hauptsache, – ich hoffte auf Ihre Humanität und zugleich auf Ihren Verstand. Sie verstehen mich doch, Sie werden die Sache dann schon selber so darstellen, wie sie wirklich ist, und nicht als weiß der Teufel was! – vielmehr als den dummen Gedanken eines verdrehten Menschen ... infolge seines Unglücks, vergessen Sie das nicht, infolge seines Unglücks, und nicht als weiß der Teufel was da – für eine Verschwörung gegen den Staat ...“
Pjotr Stepanowitsch geriet vor Eifer fast außer Atem.
„Hm ... Ich sehe schon, daß er der Schuldige ist – an den Proklamationen mit dem Beil!“ schloß von Lembke mit nahezu erhabener Miene. „Aber, erlauben Sie, wenn er allein es ist, wie konnte er sie dann hier und zugleich in der Provinz verstreuen und sogar im H–schen Gouvernement und ... schließlich, die erste Frage: wo hat er sie überhaupt herbekommen?“
„Aber ich sage Ihnen doch, daß es im ganzen vielleicht fünf Menschen sind, na, sagen wir, zehn – wie soll ich es wissen!“
„Sie wissen es nicht?“
„Ja, zum Henker, warum soll ich es denn wissen?“
„Aber Sie wußten doch, daß Schatoff einer von ihnen ist?“
„Ach!“ Pjotr Stepanowitsch winkte wieder mit der Hand ab, als wolle er den erdrückenden Scharfsinn des anderen zurückscheuchen. „Na, hören Sie, ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen: von den Proklamationen weiß ich nichts, das heißt, so gut wie nichts, – zum Teufel, Sie verstehen doch, was ‚nichts‘ bedeutet? ... Nun, versteht sich, hier ist es der eine Leutnant, nun, und Schatoff, nun, und vielleicht noch irgend jemand, na – aber das ist auch alles! Nicht der Rede wert! ... Einfach kläglich! ... Ich aber bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie für Schatoff zu bitten: man muß ihn retten, denn dieses Gedicht da – ist von ihm, sein eigenes Werk und im Auslande durch ihn gedruckt. So, das ist alles, was ich genau weiß, aber von den Proklamationen weiß ich so gut wie gar nichts!“
„Wenn das Gedicht von ihm verfaßt ist, so werden wohl auch die Proklamationen von ihm verfaßt sein. Aber welche Beweise haben Sie denn, um Herrn Schatoff zu verdächtigen?“
Pjotr Stepanowitsch riß seine Brieftasche hervor, wie ein Mensch, der schon nahe daran ist, aus der Haut zu fahren, und warf einen Zettel auf den Tisch.
„Da haben Sie die Beweise!“ rief er.
Von Lembke faltete den Zettel auseinander: er war vor einem halben Jahr aus unserer Stadt geschrieben worden und enthielt nur die kurze Mitteilung:
„Die helle Persönlichkeit“ kann ich hier nicht drucken, und überhaupt kann ich nichts machen. Drucken Sie im Auslande.
Iwan Schatoff.
Von Lembke blickte Pjotr Stepanowitsch unverwandt an ... Warwara Petrowna hatte recht, wenn sie behauptete, daß Herr von Lembke einen manchmal etwa wie ein Schaf anblicken konnte.
„Sehen Sie,“ begann Pjotr Stepanowitsch ungeduldig, „das bedeutet, daß er dieses Gedicht vor einem halben Jahr hier geschrieben hat. Er konnte es aber nicht hier drucken lassen, na, in irgendeiner, sagen wir, geheimen Druckerei, – und darum bittet er, es im Auslande zu drucken ... Das ist doch klar, sollte ich meinen?“
„Ja, das ist natürlich klar, aber wen bittet er denn darum? Das ist, wie Sie sehen, durchaus noch nicht klar,“ bemerkte von Lembke mit schlauester Ironie.
„Aber Kirilloff doch! Der Brief ist doch an Kirilloff ins Ausland geschrieben ... Wußten Sie das etwa nicht? Ärgerlich an der ganzen Sache ist ja nur, daß Sie sich vor mir vielleicht nur verstellen und selbst schon lange von diesem Gedicht wissen, na, und auch alles andere! Wie ist es denn auf Ihren Tisch gekommen? Wenn Sie es überhaupt zu erwischen verstanden haben! – wozu foltern Sie mich dann noch mit Ihren Fragen, wenn’s so ist?“
Er wischte sich fast bebend den Schweiß von der Stirn.
„Vielleicht ist auch mir einiges bekannt ...“ bemerkte Herr von Lembke, geschickt ausweichend, „aber wer ist denn dieser Kirilloff?“
„Nun, ein Ingenieur, vor kurzem hier angekommen. War Stawrogins Sekundant. Einfach ein Maniak, total verrückt. Ihr Leutnant hatte vielleicht wirklich nur Schnupfenfieber als er biß, na, aber dieser, ich sage Ihnen, der ist schon längst fürs Tollhaus reif – dafür garantiere ich. Ach, Andrei Antonowitsch, wenn die Regierung nur wüßte, was das da für Leutchen sind, sie würde ja keinen Finger rühren. Hab mich in der Schweiz und auf den Kongressen an ihnen satt gesehen, übersatt!“
„Dort, von wo aus man die Bewegungen bei uns leitet?“
„Ja, wer leitet denn? Dreieinhalb Menschen! Wenn man sie ansieht, sage ich Ihnen, kann man bloß Lust zum Gähnen bekommen. Und was sind denn das für ‚Bewegungen bei uns‘? Etwa die Verbreitung von Proklamationen? Aber wer verbreitet sie denn? Verschnupfte Leutnants und zwei bis drei Studenten! Sie sind doch ein kluger Mensch, da stelle ich Ihnen nun eine Frage: warum schließen sich nicht etwas bedeutendere Menschen der Sache an, warum immer nur Studenten und Jünglinge von zweiundzwanzig Jahren? Und wie viele sind ihrer denn selbst von solchen? Man läßt sie wohl von einer Million geübter Hunde suchen, doch wie viele hat man bisher gefunden? Sieben Mann! Ich sage Ihnen ja, nur Lust zum Gähnen bekommt man.“
Von Lembke hörte ihm aufmerksam zu, aber mit einem Ausdruck, der gleichsam sagte: „Eine Nachtigall machst du mit Fabeln nicht satt.“
„Erlauben Sie, einstweilen, – Sie behaupten, daß der Brief ins Ausland geschrieben ist; hier ist aber keine Adresse; woher wissen Sie es denn, daß der Brief an Kirilloff gerichtet ist? und schließlich überhaupt ins Ausland und ... und ... daß er wirklich von Herrn Schatoff geschrieben ist?“
„So verschaffen Sie sich doch sofort Schatoffs Handschrift und vergleichen Sie! In Ihrer Kanzlei wird sich bestimmt irgendeine Unterschrift von ihm finden. Und was Kirilloff betrifft, so hat er mir doch selbst den Brief gezeigt. Gleich damals, als er ihn bekam.“
„Also haben Sie wohl selbst ...“
„Na ja, versteht sich doch, daß ich selbst! ... Als ob man mir dort wenig gezeigt hätte! Nun, und dieses Gedicht, heißt es, soll der verstorbene Herzen persönlich für Schatoff geschrieben haben, als der sich noch im Auslande herumtrieb, angeblich zum Andenken an ihre Begegnung, als Lob, als Empfehlung gewissermaßen, na, hol’s der Teufel ... und Schatoff verbreitet es nun unter der Jugend: ‚Seht, das ist Herzens eigene Meinung über mich‘!“
„Tje – tje – tje,“ schnalzte von Lembke, endlich begreifend, „das meine ich ja auch: Proklamationen – das versteht man noch, aber Gedichte!?“
„Ja, wie sollten Sie es denn nicht verstehen! Und weiß der Teufel, wozu ich Ihnen eigentlich das alles noch überflüssigerweise ausgeplaudert habe! Hören Sie, geben Sie mir Schatoff, und dann meinetwegen zum Henker mit den anderen allen, selbst mit Kirilloff, der sich jetzt gleichfalls im Filippoffschen Hause, in dem auch Schatoff wohnt, versteckt hat. Die lieben mich nicht, weil ich zurückgekommen bin ... Aber versprechen Sie mir Schatoff, und ich präsentiere Ihnen alle die anderen auf einem Tablett. Kann Ihnen nützlich sein, Andrei Antonowitsch. Ich schätze diese ganze traurige Bande auf neun Mann, na, sagen wir – zehn. Ich beobachte sie von mir aus. Drei kennen wir schon: Schatoff, Kirilloff und dieser Leutnant. Die anderen prüfe ich erst noch ... übrigens: bin nicht gerade kurzsichtig. Das ist ganz wie im H–schen Gouvernement: zwei Studenten wurden dort mit Proklamationen ergriffen, ein Gymnasiast, zwei zwanzigjährige Edelleute, ein Lehrer und ein sechzigjähriger Major, der vom Trunk schon unzurechnungsfähig geworden war ... und das war alles, glauben Sie mir, das war alles! Man wunderte sich nicht wenig, daß das alles war. Aber ich brauche sechs Tage. Ich rieche schon den Braten und habe meine Berechnung gemacht: sechs Tage und nicht früher! Wenn Sie irgendein Ergebnis haben wollen – lassen Sie sie in diesen sechs Tagen ganz und gar ungeschoren, und ich binde sie Ihnen in ein Bündel zusammen! Rühren Sie sich jedoch früher, so fliegt das ganze Nest auseinander! Aber versprechen Sie mir dafür Schatoff, ich bitte ja nur für Schatoff ... Wissen Sie, am besten wäre es, wenn Sie ihn freundschaftlich zu sich kommen ließen, sagen wir meinetwegen, hierher in Ihr Arbeitszimmer, und dann, wissen Sie: vor ihm den Vorhang aufgezogen und ein wenig gefragt! Ach, er wird sich sofort Ihnen zu Füßen werfen und losweinen! Er ist ein nervöser, unglücklicher Mensch. Seine Frau amüsiert sich mit Stawrogin. Seien Sie gut zu ihm, und er wird Ihnen alles selbst erzählen. Doch ich brauche noch sechs Tage, wie gesagt ... Die Hauptsache aber, die Hauptsache: sagen Sie Julija Michailowna keinen Ton, kein halbes Wort davon! Geheimnis! Können Sie?“
„Wie?“ von Lembke riß die Augen auf. „Haben Sie ihr denn nicht schon selbst alles ... enthüllt?“
„Ihr? Behüte und bewahre! Ach, Andrei Antonowitsch! Sehen Sie mal, ich schätze ja ihre Freundschaft unendlich und sie überhaupt ... na, aber das da ... ich werde mich doch nicht so verhauen. Ich widerspreche ihr nie, denn ihr widersprechen – Sie wissen ja selbst – ist gefährlich. Vielleicht habe ich ihr auch mal dieses oder jenes Wörtchen gesagt, aber daß ich ihr, wie jetzt Ihnen, Namen genannt hätte, oder so etwas – wo denken Sie hin! ... Warum wende ich mich denn an Sie? Weil Sie immerhin ein Mann sind, ein ernster Mensch, mit alten, festen Erfahrungen im Staatsdienst. Sie haben doch manches im Leben gesehen! Sie wissen außerdem, glaub ich, jeden Schritt in solchen Dingen auswendig wie das Einmaleins – schon von Petersburg her. Sollte ich aber ihr zum Beispiel auch nur zwei Namen nennen, wie würde sie da gleich lostrommeln ... Sie will doch von hier aus ganz Petersburg in Erstaunen setzen! Ein wenig zu hitzig ist sie, das ist der Fehler!“
„Ja, sie hat etwas von diesem Temperament ...“ murmelte von Lembke nicht ganz ohne Genugtuung, während es ihn zu gleicher Zeit doch ärgerte, daß dieser Flegel es augenscheinlich wagte, sich so frei über Julija Michailowna zu äußern.
Pjotr Stepanowitsch dagegen schien das noch zu wenig zu sein, um andererseits seinen „Lembka“ mit genügenden Schmeicheleien überschütten, ihn ganz besiegen und endgültig einfangen zu können.
„Das ist es: zuviel Temperament,“ griff er das Wort auf. „Mag sie da meinetwegen, sagen wir, eine geniale Frau sein, eine literarische Frau, aber – die Spatzen jagt sie uns auseinander! Sechs Stunden hält sie es nicht aus, von sechs Tagen schon ganz zu schweigen. Ach, Andrei Antonowitsch, laden Sie nicht eine Frist von sechs Tagen auf ein Weib! Sie müssen mir doch einige Erfahrung zugestehen, ich meine – in diesen Dingen. Ich weiß da manches, und Sie wissen ja selbst, daß ich manches wissen kann. Nicht aus Dummheit bitte ich Sie um sechs Tage, sondern einzig um der Sache willen.“
„Ich habe gehört ...“ von Lembke konnte sich nicht recht entschließen, seinen Gedanken auszusprechen, „ich habe gehört, daß Sie nach Ihrer Rückkehr zuständigen Orts gewisse ... Erklärungen abgegeben hätten ... in etwa als ... Reuebekenntnis?“
„Na ja, was hat man nicht alles!“
„Gewiß, gewiß, und ich will auch weiter gar nichts Näheres ... Hm ... Aber es hat mir bloß immer geschienen, daß Sie hier gewöhnlich in einem ganz anderen Stile gesprochen haben, zum Beispiel über das Christentum, über die öffentlichen Einrichtungen und schließlich auch über die Regierung ...“
„Na, als ob ich wenig gesprochen habe. Auch jetzt spreche ich noch so, nur muß man diese Gedanken nicht so durchführen, wie jene Dummköpfe es wollen. Das ist es. Aber sonst – was ist denn dabei, daß er in die Schulter gebissen hat? Sie waren ja selbst in diesen Dingen mit mir einverstanden, nur sagten Sie, es sei noch zu früh.“
„Ich war eigentlich nicht in dem Sinne mit Ihnen einverstanden, und auch mit dem ‚zu früh‘ meinte ich etwas anderes ...“
„Dann ist also jedes Ihrer Worte mit einem Haken versehen, he–he! Sind wirklich ein vorsichtiger Mensch!“ bemerkte Pjotr Stepanowitsch plötzlich sehr heiter. „Hören Sie, mein Teuerster, ich mußte Sie doch erst ein wenig kennen lernen, na, und da habe ich denn zu diesem Zweck eben in meinem Stile gesprochen. Das habe ich nicht nur mit Ihnen allein so gemacht, sondern mit vielen. Vielleicht wollte ich erst nur Ihren Charakter kennen lernen.“
„Wozu denn meinen Charakter?“
„Na, wie soll ich es denn wissen, wozu!“ (er lachte wieder). „Sehen Sie mal, mein lieber und hochverehrter Andrei Antonowitsch, Sie sind schlau, aber dazu ist es noch nicht gekommen, wird es auch bestimmt nicht kommen, Sie verstehen doch? Vielleicht verstehen Sie mich wirklich? Wenn ich auch dort zuständigen Orts Erklärungen gegeben habe, als ich aus dem Auslande zurückkehrte, und ich weiß wirklich nicht, warum ein Mensch mit gewissen Überzeugungen nicht zum Vorteil dieser seiner aufrichtigen Überzeugungen handeln sollte ... so hat mir dort doch niemand etwas über Ihren Charakter gesagt, und ich habe mir noch gar keine Pflichten von dort aufladen lassen. Sie begreifen doch: ich hätte ebensogut nicht Ihnen als erstem zwei Namen zu nennen gebraucht, sondern einfach dahin, na, Sie verstehen schon, – einen Wink geben können, ich meine, dahin, wo ich die ersten Erklärungen abgab. Na, und wenn ich mich etwa für Geld bemühte, oder für sonst irgendeinen Vorteil, so wäre das meinerseits keine Berechnung gewesen, denn dankbar wird man jetzt bloß Ihnen sein, nicht mir. Aber ich tue es, wie gesagt, nur wegen Schatoff,“ sagte Pjotr Stepanowitsch mit viel Edelmut, „– nur für Schatoff, aus alter Freundschaft ... Na, aber dann, meinetwegen, wenn Sie dorthin schreiben, na, dann könnten Sie mich vielleicht auch ein bißchen loben, wenn Sie wollen ... werde nicht widersprechen. He–he ... Aber jetzt adieu, hab schon verboten lange hier gesessen, und eigentlich sollte man überhaupt nicht so viel sprechen!“ fügte er nicht unzufrieden hinzu und erhob sich vom Diwan.
„Im Gegenteil, es freut mich sehr, daß diese Angelegenheit sozusagen bestimmtere Formen annimmt.“ Von Lembke erhob sich gleichfalls und sehr liebenswürdig, – augenscheinlich noch unter dem Eindruck der letzten Worte. „Mit Dank nehme ich Ihre Hilfe an, und seien Sie überzeugt, daß ich die Bemerkung über Ihren Eifer ...“
„Sechs Tage, nur sechs Tage Frist, das ist die Hauptsache und alles, was ich brauche ... aber daß Sie sich in diesen sechs Tagen nicht rühren!“
„Gut!“
„Versteht sich, ich binde Ihnen ja nicht die Hände, wie sollte ich das auch! Sie können doch gar nicht etwa nicht beobachten lassen. Nur – schrecken Sie das Nest nicht vor der Zeit auf, – das ist es, worin ich mich jetzt auf Ihre Klugheit und Ihre Erfahrung verlasse! Na, Sie haben wohl schon unzählige Jagdhunde bereit? He–he!“ platzte lustig und leichtsinnig (eben wie ein junger Mensch) Pjotr Stepanowitsch heraus.
„So schlimm ist es gerade nicht,“ sagte von Lembke ausweichend, doch angenehm berührt. „Das ist ein Vorurteil der Jugend, die immer alles vorbereitet glaubt ... Aber erlauben Sie, noch ein Wort: wenn dieser Kirilloff Stawrogins Sekundant war, so muß doch auch Herr Stawrogin in diesem Falle ...“
„Wieso Stawrogin?“
„Ich meine, wenn sie solche Freunde sind?“
„Oh, nein, nein, nein! Diesmal haben Sie fehlgeschossen, wenn Sie auch sonst schlau sind! Aber Sie setzen mich geradezu in Erstaunen! Denn ich glaubte doch, daß Sie in betreff dieser Dinge unterrichtet sind ... Hm ... Stawrogin – das ist das vollkommenste Gegenteil, das heißt, das vollkommenste! ... Avis au lecteur.“[125]
„In der Tat? Ist’s möglich?“ fragte von Lembke ungläubig. „Mir hat Julija Michailowna gesagt, daß Stawrogin, nach ihren Erkundigungen in Petersburg, ein Mensch mit einigen, sozusagen, Instruktionen ...“
„Ich weiß nichts, nichts, nichts, keine Ahnung. Adieu. Avis au lecteur!“ wich Pjotr Stepanowitsch plötzlich und nur zu offensichtlich allen weiteren Fragen aus und schwirrte schon zur Tür.
„Erlauben Sie, Pjotr Stepanowitsch, erlauben Sie, noch einen Augenblick!“ rief ihn von Lembke zurück. „Noch ein Wort, und dann halte ich Sie nicht mehr auf.“ Er nahm aus einem Schubfach einen Brief heraus.
„Sehen Sie, – gleichfalls ein Exemplar, das in diese Kategorie gehört. Und hiermit beweise ich Ihnen, daß ich das größte Vertrauen zu Ihnen habe. Was sagen Sie zu diesem Brief?“
Es war ein sonderbarer Brief: ohne Unterschrift, an Herrn von Lembke adressiert, und gestern erst hatte er ihn erhalten. Pjotr Stepanowitsch las zu seinem größten Ärger folgendes:
„Eure Exzellenz!
Sintemal Sie das nach Ihrem Range sind. Hiermit melde ich Mordanschläge auf alle hohen Würdenträger und das Vaterland; sintemal es gerade dazu führt. Habe selbst vieles ununterbrochen jahrelang verstreut. Auch Gottlosigkeit ist dabei. Ein Aufstand bereitet sich vor und Proklamationen gibt es Tausende, und nach jeder laufen dann hundert Mann mit herausgestreckter Zunge, wenn sie die Regierung nicht vorzeitig fortnimmt, sintemal man viel verspricht und das einfache Volk dumm ist, und hinzu kommt dann noch der Schnaps. Das Volk sucht den Schuldigen und wird diese wie jene verderben. Ich fürchte aber diese wie jene, und bereue, woran ich gar nicht teilgenommen, denn meine Verhältnisse sind einmal so. Wenn Sie wollen, daß ich Anzeige erstatte zur Rettung des Vaterlandes und ebenso der Kirchen und Heiligenbilder, so kann das nur ich allein. Aber mit der Bedingung, daß man mir Begnadigung aus der dritten Abteilung telegraphisch zusagt, sofort und mir allein von allen; die anderen können es dann ausbaden. Auf das Fenster beim Portier stellen Sie zum Zeichen jeden Tag abends um sieben Uhr ein Licht. Sehe ich dieses, so werde ich glauben und komme dann, um die barmherzige Hand aus Petersburg zu küssen, aber mit der Bedingung, daß ich eine Pension erhalte, sintemal wovon soll ich denn sonst leben? Sie werden es nicht zu bereuen brauchen, denn für Sie kommt dabei ein Orden heraus. Aber vorsichtig muß man sein, sonst drehen sie einem den Hals um!
Euer Exzellenz verzweifelter Mensch
fällt vor Euer Exzellenz auf die Knie
als reuiger Freidenker
Inkognito.“
Von Lembke erklärte, daß man den Brief gestern beim Portier gefunden hatte.
„Was halten Sie davon?“ fragte Pjotr Stepanowitsch beinahe grob.
„Ich würde annehmen, daß das ein Schmähbrief ist ... ein anonymer, zum Spott ...“
„Höchstwahrscheinlich wird es auch so sein. Sie kann man wirklich nicht so leicht hinters Licht führen.“
„Und vor allen Dingen deshalb, weil es so dumm ist.“
„Haben Sie hier noch irgendwelche Schmähbriefe bekommen?“
„Ja, zweimal, und beide anonym.“
„Na, versteht sich doch von selbst, daß die sich nicht unterzeichnen werden! – Derselbe Stil? Dieselbe Handschrift?“
„Nein, verschiedener Stil und verschiedene Handschrift.“
„Und ebenso närrisch wie dieser?“
„Ja, auch närrisch, und wissen Sie ... sehr gemeine Briefe.“
„Na, wenn Sie schon welche bekommen haben, so wird es jetzt wohl derselbe Absender sein.“
„Und vor allen Dingen, weil die Briefe so dumm sind. Diese Leute sind doch gebildet und würden schon so dumm nicht schreiben.“
„Natürlich, versteht sich.“
„Aber wie, wenn nun wirklich jemand etwas anzeigen will?“
„Das ist sehr unwahrscheinlich,“ schnitt Pjotr Stepanowitsch trocken ab. „Was soll denn das Telegramm aus der dritten Abteilung bedeuten? und die Pension? Es ist ja sonnenklar, daß es eine Anulkung ist!“
„Ja ... Natürlich,“ von Lembke war ein wenig beschämt.
„Wissen Sie was! Überlassen Sie mir den Brief. Ich werde Ihnen sofort den Verfasser herausfinden. Früher noch als die anderen.“
„Nehmen Sie ihn,“ sagte von Lembke, doch erst nach einigem Zögern.
„Haben Sie ihn schon jemandem gezeigt?“
„Nein, bewahre! Niemandem!“
„Auch nicht Julija Michailowna?“
„Da sei Gott vor! und ums Himmels willen, zeigen Sie ihn ihr auch nicht!“ rief von Lembke erschrocken. „Er würde sie so aufregen ... und sie würde sich furchtbar über mich ärgern.“
„Natürlich, verstehe schon! Sie würde sagen, daß Sie selbst daran schuld sind, wenn man Ihnen so was zu schreiben wagt! Man kennt doch Weiberlogik. Na, aber jetzt leben Sie wohl. Vielleicht kann ich Ihnen schon in drei Tagen den Verfasser nennen. Aber vergessen Sie nur unsere Abmachung nicht!“
Pjotr Stepanowitsch war gewiß kein dummer Mensch, doch Fedjka, der Zuchthäusler, hatte ihn richtig charakterisiert mit dem Ausspruch: „Der stellt sich einen Menschen so vor, wie er ihn haben will, und so lebt er dann mit ihm.“
Pjotr Stepanowitsch verließ Herrn von Lembke in der festen Überzeugung, daß er ihn auf wenigstens sechs Tage beruhigt habe, diese Frist aber brauchte er unbedingt. Doch seine Berechnung war falsch, und zwar weil er sich Herrn von Lembke von allem Anfange an und gleich für immer als vollkommen beschränkten Menschen vorgestellt hatte.
Herr von Lembke war, wie jeder qualvoll mißtrauische Mensch, im ersten Augenblick des Aus-sich-selbst-hinausgehens stets von größter und freudiger Vertrauensseligkeit. Die neue Wendung der Dinge erschien ihm nun zunächst in recht angenehmer Form, trotz der etlichen neueingetretenen Verwicklungen, die Achtsamkeit erheischten. Doch wenigstens zerfielen seine alten Zweifel jetzt in Staub und Asche. Aber die letzten Tage hatten ihn so müde gemacht, und er fühlte sich so gequält und so hilflos, daß seine Seele sich unwillkürlich nach Ruhe sehnte. Leider kam gerade jetzt diese Unruhe wieder über ihn. Das lange Leben in Petersburg hatte in seiner Seele unverwischbare Spuren hinterlassen. Die offizielle und sogar die geheime Geschichte der „neuen Generation“ war ihm ziemlich bekannt – war er doch ein wißbegieriger Mensch, der selbst Proklamationen sammelte –, nur hatte er noch nie auch nur ein Wort von dieser ganzen Geschichte begriffen. Jetzt aber stand er da wie in einem Walde: mit allen Instinkten ahnte er, daß in Pjotr Stepanowitschs Worten etwas schier Unmögliches enthalten war, irgend etwas außerhalb aller Formen und Vereinbarungen – „wenn auch übrigens der Teufel wissen mag, was da in dieser ‚neuen Generation‘ alles möglich ist und überhaupt ... wie sie das da alles machen!“ dachte er bei sich und verlor sich in Erwägungen.
Da steckte zum Unglück wieder Blümer seinen Kopf durch die Tür. Die ganze Zeit während der Anwesenheit Pjotr Stepanowitschs hatte er in der Nähe gewartet. Dieser Blümer war mit Herrn von Lembke sogar verwandt, wenn auch allerdings nur weitläufig, doch diese Verwandtschaft wurde sorgfältig und ängstlich geheimgehalten. Ich bitte den Leser um Entschuldigung, daß ich hier über diesen unbedeutenden Menschen ein paar Bemerkungen einfüge. Blümer gehörte als Mensch zu der sonderbaren Abart der „unglücklichen“ Deutschen – jedoch nicht infolge seiner tatsächlich großen Talentlosigkeit, sondern einfach Gott weiß weshalb. Diese „unglücklichen“ Deutschen sind keine Mythe, sondern sind wirklich vorhanden, sogar in Rußland, und haben ihren besonderen Typ. Herr von Lembke hatte für diesen Blümer von jeher ein geradezu rührendes Mitgefühl und verschaffte ihm, wo er nur konnte, und natürlich im Verhältnis zu seinen eigenen Fortschritten, immer bessere Stellen in seinem Ressort; doch Blümer hatte nirgends Glück. Bald wurde der Posten aufgehoben, bald bekam er einen neuen Vorgesetzten, und einmal hätte man ihn beinahe mit anderen zusammen vors Gericht gebracht. Er war gewissenhaft, doch leider irgendwie so, daß es schon zuviel war – zwecklos gewissenhaft, und außerdem ewig mürrisch, was ihm überall schadete, – dabei rothaarig, groß, ein wenig krumm, wehmütig, sogar gefühlvoll, und bei all seiner Unterwürfigkeit doch eigensinnig und halsstarrig wie ein Stier, freilich immer am unrechten Ort und zur unrechten Zeit. An Lembke hing er nebst seiner Frau und seinen zahllosen Kindern mit einer langjährigen und ehrfürchtigen, treuen und ergebenen Anhänglichkeit. Außer Lembke gab es keinen Menschen, der ihn je auch nur gemocht hatte. Julija Michailowna hatte ihn sofort und mit aller Entschiedenheit abgelehnt, doch verabschieden konnte sie ihn nicht, weil der Widerstand ihres Mannes in diesem Punkte nicht zu brechen war. Ja, dieser Blümer war die Ursache ihres ersten ehelichen Streites gewesen, und zwar gleich in den ersten süßen Tagen nach der Hochzeit, als sie plötzlich das kränkende Geheimnis dieser neuen Verwandtschaft erfahren hatte. Es half auch nichts, daß ihr Gatte flehend, mit gefalteten Händen, auf sie einredete und ihr gefühlvoll Blümers ganze Lebensgeschichte erzählte, sowie die Geschichte ihrer Freundschaft von Kindheit an: Julija Michailowna hielt sich für unwiderruflich blamiert und versuchte sogar mit Ohnmachtsanfällen ihren Willen durchzusetzen. Doch von Lembke wich trotzdem nicht einen Schritt von seinem Standpunkt und erklärte nur, daß er seinen Blümer um keinen Preis von sich entfernen werde, so daß sie sich schließlich ehrlich über ihn wunderte und gezwungen war, ihm diesen Blümer zu „gestatten“. Es wurde nur beschlossen, die Verwandtschaft mit ihm noch sorgfältiger als bisher geheimzuhalten, wenn das überhaupt möglich war, und sogar seinen Ruf- und Vatersnamen durch andere zu ersetzen, denn auch Blümer hieß sonderbarerweise genau wie von Lembke Andrei Antonowitsch. Hier bei uns verkehrte Blümer mit keinem Menschen, außer mit einem deutschen Apotheker, hatte auch bei niemandem Besuch gemacht und, seiner Gewohnheit getreu, zurückgezogen und sparsam gelebt. Ihm waren auch die literarischen Sünden von Lembkes bekannt, denn er war es, der den Zuhörer abgeben mußte, wenn von Lembke seinen Roman vorlesen wollte, was er natürlich nur mit aller Vorsicht und bei verschlossenen Türen tat: dann saß Blümer an die sechs Stunden wie ein Pfosten da, schwitzte und strengte sich krampfhaft an, nicht einzuschlafen, sondern wach zu bleiben und zu lächeln. Kam er dann nach Hause, so seufzte er zusammen mit seiner hageren, großfüßigen Frau über die unselige Vorliebe ihres Wohltäters für die russische Literatur.
Andrei Antonowitsch litt geradezu, als er den eintretenden Blümer erblickte.
„Ich bitte dich, Blümer, mich jetzt in Ruh zu lassen,“ begann er erregt und schnell, sichtlich bemüht, eine Fortsetzung des Gespräches, das Pjotr Stepanowitsch unterbrochen hatte, zu vermeiden.
„Man kann das ja auf die schonendste Weise machen. Sie haben doch die Vollmacht,“ bestand Blümer ehrerbietig aber hartnäckig auf dem Seinen, und näherte sich mit kleinen Schritten und krummem Rücken immer mehr dem Schreibtisch.
„Blümer, du bist mir wirklich in einem Grade zugetan und in deinem Amt diensteifrig, daß mir schon angst und bange vor dir wird, wenn ich dich nur erblicke!“
„Sie machen immer scharfsinnige Bemerkungen, aber dann lassen Sie sich von dem Vergnügen an dem Gesagten ruhig einschläfern. Damit schaden Sie sich selbst.“
„Blümer, ich habe mich soeben überzeugt, daß etwas ganz anderes dahintersteckt, etwas ganz anderes!“
„Doch nicht aus den Worten dieses falschen, lasterhaften Menschen, den Sie selbst verdächtigen? Hat er Sie glücklich mit falschem Lob Ihres literarischen Talentes so weit geblendet?“
„Blümer, du ahnst ja nichts! Dein Projekt ist eine Absurdität, sage ich dir. Wir werden nichts finden, es wird sich nur unnützes Geschrei erheben und dann Gelächter und dann Julija Michailowna ...“
„Wir werden bestimmt alles finden, was wir suchen,“ Blümer schritt fest auf ihn zu, die rechte Hand ans Herz gepreßt. „Wir können die Durchsuchung seiner Wohnung ganz früh am Morgen vornehmen, und ganz plötzlich, ohne alle Vorbereitungen, mit aller Schonung seiner Person, und dabei streng nach der Vorschrift des Gesetzes. Die jungen Leute, Lämschin und Telätnikoff, versichern felsenfest, daß wir bei ihm alles Gewünschte finden werden. Sie haben ihn früher oft besucht. Für Herrn Werchowenski ist hier niemand sehr zu haben, und die Generalin Stawrogin hat ihm formell ihre Wohltaten für weiterhin gekündigt, und jeder ehrliche Mensch, wenn es solch einen in dieser rohen Stadt überhaupt gibt, ist überzeugt, daß dort immer die Quelle des Unglaubens und der sozialen Lehren gewesen ist. Er besitzt alle verbotenen Bücher, sämtliche Werke Herzens, Rylejeffs ‚Dumy‘[44] ... Ich habe mir schon auf alle Fälle ein Verzeichnis seiner Bücher ...“
„Gott, diese Bücher hat heute doch schon ein jeder! Wie naiv du bist, mein armer Blümer!“
„Und eine Menge Proklamationen,“ fuhr Blümer fort und tat, als habe er die Bemerkung nicht gehört. „Wir werden auf diese Weise bestimmt auf die Spur der neuen Proklamationen kommen. Dieser junge Werchowenski kommt mir ungemein, ungemein verdächtig vor.“
„Aber du verwechselst ja den Vater mit dem Sohn! Sie vertragen sich durchaus nicht. Der Sohn verspottet ihn ja ganz ungeniert.“
„Das ist doch nur Verstellung, Maske!“
„Blümer, du hast wohl geschworen, mich zu Tode zu quälen! Denk doch ein bißchen nach! Er ist doch hier in der Stadt immerhin eine geachtete Persönlichkeit. Er war Professor, er ist überall bekannt, und wenn er zu schreien anfängt, wird es gleich alle Welt wissen, und dann beginnt das Witzeln über uns, und dann gelingt uns nichts mehr ... und bedenke doch nur, was wird Julija Michailowna sagen ...“
Blümer kam immer näher und hörte auf keinen Einwand.
„Er war nur Dozent und weiter nichts, nur Dozent, und ist dem Titel nach nur Kollegienassessor außer Dienst.“ Blümer preßte heftig seine rechte Hand auf die Brust. „Keinen einzigen Orden hat er und zum Staatsdienst ist er überhaupt nicht herangekommen, weil man seine Absichten gegen die Regierung kannte. Er stand im geheimen unter polizeilicher Aufsicht und steht wohl zweifellos auch jetzt noch darunter. In Anbetracht der beginnenden Unordnungen sind Sie geradezu verpflichtet, zu tun, was ich Ihnen riet. Sie aber lassen eine solche Möglichkeit, sich auszuzeichnen, wieder vorübergehen! Sehen dem Hauptschuldigen einfach durch die Finger! ...“
„Julija Michailowna! Sch–scher dich zum ...“ rief plötzlich von Lembke, der die Stimme seiner Frau im Nebenzimmer gehört hatte.
Blümer zuckte zusammen, doch ergab er sich noch nicht.
„So erlauben Sie doch, erlauben Sie doch,“ er trat immer näher und preßte jetzt schon beide Hände an die Brust.
„Sch–scher dich, pack dich!“ knirschte Andrei Antonowitsch. „Mach, was du willst ... später ... O Gott!“
Die Portiere wurde zur Seite geschlagen, und Julija Michailowna erschien. Als sie Blümer erblickte, blieb sie stehen und musterte ihn hochmütig und beleidigend vom Kopf bis zu den Füßen, als wäre schon seine bloße Anwesenheit kränkend für sie. Blümer machte stumm eine tiefe, ehrerbietige Verbeugung vor ihr und ging dann, noch krumm vor Ehrerbietung, auf den Fußspitzen zur Tür.
War es nun, daß er die letzten Worte von Lembkes für die Erlaubnis nahm, so zu handeln, wie er wollte, oder ob er es von sich aus unrechterweise, jedoch in der festen Überzeugung tat, seinem Wohltäter zu einem Orden zu verhelfen, – das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls erwuchs, wie wir weiterhin sehen werden, aus diesem Gespräch des Vorgesetzten mit seinem Untergebenen etwas ganz Unvorhergesehenes, das viele zum Lachen reizte, als es bekannt ward, aber Julija Michailownas hellen Zorn erregte. Von Lembke dagegen wurde dadurch in der entscheidendsten Zeit in die bedauernswerteste Unentschlossenheit versetzt.
Für Pjotr Stepanowitsch war es ein geschäftiger Tag. Nachdem er von Lembke verlassen hatte, begab er sich schnell zur Bogojawlenskstraße, doch als er unterwegs in der Bykoffstraße an dem Hause vorüberkam, in dem Karmasinoff wohnte, blieb er plötzlich stehen, lächelte und trat ins Haus. Man öffnete ihm mit einem: „Der Herr erwarten bereits –,“ was Pjotr Stepanowitsch sehr bemerkenswert erschien, denn er hatte durchaus nicht gesagt, daß er kommen werde.
Der „große Schriftsteller“ erwartete ihn in der Tat, und zwar schon seit drei Tagen, denn vor vier Tagen hatte er das Manuskript seines „Merci“ (seinen Abschiedsgruß ans Publikum, den er auf der literarischen Matinee zum Besten armer Gouvernanten vorzulesen gedachte) Werchowenski eingehändigt. Er hatte es aus Liebenswürdigkeit getan, in der Überzeugung, dem jungen Manne außerordentlich zu schmeicheln, wenn er ihm das große Werk schon vorher zeigte. Pjotr Stepanowitsch hatte schon längst begriffen, daß dieser ruhmsüchtige, eitle und für Nichterwählte so beleidigend unnahbare Herr, dieser „erhabene Verstand“, sich einfach an ihn herandrängen wollte. Er erriet, daß Karmasinoff ihn, wenn auch vielleicht nicht für den erklärten Führer alles dessen hielt, was in ganz Rußland heimlich revolutionär war, so doch wenigstens für einen, der in alle Geheimnisse der russischen Revolution eingeweiht war und zweifellos großen Einfluß auf die Jugend hatte. Die Gedanken dieses „klügsten Menschen in ganz Rußland“ interessierten Pjotr Stepanowitsch, doch bisher hatte er aus gewissen Gründen eine Aussprache vermieden.
Der „große Schriftsteller“ wohnte im Hause seiner Schwester, der Frau eines Kammerherrn und Gutsbesitzers, die nebst ihrem Mann den „berühmten Verwandten“ geradezu vergötterte. Augenblicklich mußten sie leider beide, zu ihrem größten Schmerz, in Moskau leben, so daß denn eine alte Dame, eine arme Verwandte des Kammerherrn, die schon lange im Hause die Wirtschaft führte, die Ehre hatte, Karmasinoff zu empfangen und aufzunehmen. Seit seiner Ankunft ging das ganze Haus auf den Fußspitzen, und niemand wagte mehr, laut zu sprechen. Die alte Dame berichtete fast täglich nach Moskau, wie Karmasinoff geschlafen und was er gegessen hatte, und einmal, als er nach einem Diner beim Stadthaupt einen Löffel voll einer gewissen Medizin hatte einnehmen müssen, schickte sie sogar ein Telegramm ab, in ihrer Furcht, er könne vielleicht krank werden. Karmasinoff selbst sprach, wenn auch höflich, so doch nur ganz trocken mit ihr, und nur wenn es unbedingt nötig war. Als Pjotr Stepanowitsch bei ihm eintrat, aß er gerade ein Kotelett. Vor ihm stand ein Glas Portwein. Pjotr Stepanowitsch war auch früher schon bei ihm gewesen, und jedesmal hatte er ihn bei diesem Morgenfrühstück angetroffen, das er dann ruhig weiter zu essen pflegte, ohne seinem Gast auch nur einmal etwas anzubieten. Nach dem Kotelett trank er dann ein Täßchen Kaffee. Der Diener war in blauem Frack, weichen, unhörbaren Stiefeln und weißen Handschuhen.
„A–ah!“ rief Karmasinoff aus und erhob sich vom Sofa, während er sich den Mund mit der Serviette abwischte; darauf trat er auf Pjotr Stepanowitsch zu, um ihn auf die Wange zu küssen – die charakteristische Angewohnheit aller Russen, wenn sie schon gar zu berühmt sind.
Pjotr Stepanowitsch wußte aber schon von früher, daß Karmasinoff bei diesem bei ihm üblichen Kuß nur die Wange hinzuhalten pflegte – da machte er es diesmal ebenso: und so legten sich denn beide Wangen flach aneinander. Karmasinoff tat, als hätte er nichts bemerkt, setzte sich wieder auf sein Sofa und lud seinen Gast ein, ihm gegenüber auf einem Lehnstuhl Platz zu nehmen, was dieser auch sofort mit seiner ganzen Nonchalance tat.
„Sie wollen doch nicht ... Wollen Sie nicht frühstücken?“ fragte Karmasinoff ganz gegen seine Gewohnheit, doch selbstverständlich in der Annahme, eine höflich ablehnende Antwort zu erhalten.
Aber ungeachtet dessen oder vielleicht gerade deshalb wünschte Pjotr Stepanowitsch sofort zu frühstücken. Ein Schatten beleidigten Erstaunens glitt über das Gesicht des Hausherrn, doch nur auf einen Augenblick: nervös klingelte er darauf nach dem Diener und erhob, trotz seiner guten Erziehung, launisch die Stimme, als er ein zweites Frühstück bestellte.
„Wollen Sie denn ein Kotelett oder Kaffee?“ erkundigte er sich bei seinem Gast.
„Beides, und bestellen Sie noch Portwein dazu, ich bin hungrig,“ sagte Pjotr Stepanowitsch seelenruhig und betrachtete Karmasinoffs Kostüm. Es bestand aus einer Art von Hausjackett, oder Jäckchen, jedenfalls war es wattiert, mit Perlmutterknöpfen versehen und sehr kurz, was sich zu seinem runden Bäuchlein und dem runden, festen Körperteil der Rückseite wenig gut ausnahm. Über seine Knie hatte er ein kariertes wollenes Plaid gebreitet, obgleich es im Zimmer warm war.
„Krank etwa?“ fragte Pjotr Stepanowitsch.
„Nein, nicht krank, aber ich fürchte, krank zu werden – in diesem schrecklichen Klima,“ antwortete Karmasinoff mit seinem kreischenden Stimmchen, wenn auch freundlich. „Ich erwartete Sie schon gestern.“
„Warum das? Ich hatte Ihnen doch nicht versprochen, zu Ihnen zu kommen.“
„Ja, aber Sie haben doch mein Manuskript! Sie ... haben Sie es gelesen?“
„Manuskript? Was für eines?“
Karmasinoff wunderte sich maßlos.
„Aber Sie haben es doch wenigstens mitgebracht?“ rief er plötzlich so aufgeregt, daß er sogar im Essen innehielt und mit aufgerissenen Augen sein Gegenüber anstarrte.
„Ach so, Sie sprechen von Ihrem ‚Bonjour‘, oder wie es da hieß ...“
„‚Merci‘.“
„Na, bleibt sich gleich. Habe es ganz vergessen und noch kein Wort gelesen. Keine Zeit. Wirklich, ich weiß nicht, in den Taschen ist das Ding nicht mehr. Na, wird sich schon finden ...“
„Nein, verzeihen Sie, ich sende lieber sofort zu Ihnen! Es könnte verloren gehen, man könnte es stehlen!“
„Ach wo! wer braucht denn so was! Warum regen Sie sich denn überhaupt so auf? Sie haben doch, wie mir Julija Michailowna sagte, immer mehrere Abschriften, eine im Auslande beim Notar, eine in Petersburg, eine in Moskau ... und eine schicken Sie dann womöglich noch in die Bank –?“
„Aber Moskau kann doch abbrennen, mitsamt meinem Manuskript! Nein, ich sende doch lieber sofort zu Ihnen ...“
„Warten Sie, hier ist es ja!“ Pjotr Stepanowitsch zog aus der hinteren Rocktasche das Manuskript hervor. „Ein wenig verknittert. Denken Sie sich nur, so wie ich es damals nahm, so hat es ruhig mit meinem Schnupftuch in der Tasche gelegen. Hatte es völlig vergessen.“
Karmasinoff warf sich gierig auf sein Manuskript, besah es von allen Seiten, zählte die Blätter nach und legte es dann fast andächtig neben sich auf ein kleines Tischchen, doch so, daß er es jeden Augenblick wieder ergreifen konnte.
„Sie lesen wohl nicht viel?“ konnte er sich schließlich nicht enthalten zu fragen.
„Nein, nicht sehr viel.“
„Und von russischer Belletristik – wohl überhaupt nichts?“
„Von russischer Belletristik? Warten Sie mal, ich glaube, ich habe einmal so etwas gelesen ... ‚Unterwegs‘ ... oder ‚Auf dem Weg‘ ... oder ‚Am Kreuzweg‘, oder wie es da hieß, hab’s vergessen. Es ist lange her. Las es vor etwa fünf Jahren. Hab keine Zeit.“
Ein kurzes Schweigen trat ein.
„Als ich herkam, versicherte ich allen, daß Sie ein ungewöhnlich kluger Mensch sind – und jetzt scheinen ja auch alle von Ihnen entzückt zu sein.“
„Danke,“ sagte Pjotr Stepanowitsch ruhig.
Der Diener brachte das Frühstück, und Pjotr Stepanowitsch machte sich mit gutem Appetit an das Kotelett, aß es im Nu auf, stürzte den Wein hinunter und trank den Kaffee.
„Dieser Grobian,“ dachte Karmasinoff, indem er noch das letzte kleine Stückchen von seinem eigenen Teller aß und das letzte Schlückchen trank, „dieser Grobian hat gewiß sofort die Stichelei in meinen Worten begriffen ... und das Manuskript wird er bestimmt mit Spannung gelesen haben, also lügt er jetzt, um sich den Anschein zu geben, als ob ... Oder sollte er doch nicht lügen, sondern einfach aufrichtig dumm sein? Einen genialen Menschen liebe ich eigentlich so, wenn er ein wenig dumm ist. Ist er nicht gar für die da wirklich so was wie ein Genie? Doch übrigens hol’ ihn der Teufel.“
Er erhob sich vom Sofa und begann, aus einer Ecke des Zimmers in die andere zu gehen, um sich Bewegung zu machen, was er nach dem Frühstück stets zu tun pflegte.
„Reisen Sie bald zurück?“ fragte Pjotr Stepanowitsch aus dem Lehnstuhl und rauchte eine Zigarette an.
„Ich bin eigentlich hergekommen, um mein Gut zu verkaufen, und hänge nun von meinem Verwalter ab.“
„Na, aber eigentlich sind Sie doch hierher gekommen, weil Sie dort Epidemien nach dem Kriege erwarteten?“
„N–nein, nicht eigentlich deshalb,“ sagte Karmasinoff, großmütig die Worte skandierend, und fuhr fort, durch das Zimmer zu spazieren, wobei er bei jedem Kehrt in der Ecke munter mit dem rechten Beinchen ausschritt. „Ich beabsichtige in der Tat, so lange wie nur möglich zu leben,“ lächelte er nicht ganz ohne Ironie. „Im russischen Herrenstand ist etwas, das den Menschen schnell verbraucht, in jeder Beziehung. Ich aber möchte mich so spät wie möglich verbrauchen und werde deshalb auch in Bälde endgültig ins Ausland übersiedeln. Dort ist auch das Klima besser, und das ganze Gebäude ist aus Stein, und alles steht fester. Für meine Lebenszeit wird Europa noch vorhalten, denke ich. Was meinen Sie?“
„Wie soll ich’s wissen!“
„Hm ... Wenn dort wirklich einmal Babylon kracht, und sein Fall wird groß sein – darin stimme ich vollkommen mit Ihnen überein, obgleich ich denke, daß es für meine Lebenszeit noch vorhalten wird – so ist doch bei uns in Rußland überhaupt nichts vorhanden, das da zusammenstürzen könnte ... im Verhältnis betrachtet. Bei uns werden keine Steine fallen, sondern alles wird sich in Schmutz auflösen. Das heilige Rußland kann am wenigsten von allem in der Welt irgendeinen Widerstand leisten. Das einfache Volk hält sich noch irgendwie mit dem russischen Gott; aber selbst der russische Gott hat sich ja nach den letzten Erfahrungen als äußerst unzuverlässig erwiesen. Sogar gegen die Bauernreform hat er kaum standzuhalten vermocht – jedenfalls hat er arg gewankt. Und dazu kommen jetzt noch die Eisenbahnen, und dann ... Nein, an den russischen Gott glaube ich schon gar nicht.“
„Aber an den europäischen?“
„Ich glaube an keinen einzigen. Man hat mich bei der russischen Jugend verleumdet. Ich habe stets jede ihrer Handlungen nachfühlen können. Man hat mir hier auch diese Proklamationen gezeigt. Man steht diesen Flugblättern allgemein verständnislos gegenüber, denn die Form schreckt ab; doch von ihrer Macht sind alle überzeugt, wenn sie sich auch selbst noch nicht dessen bewußt sind. Alles fällt hier schon längst, und alle wissen auch schon längst, daß nichts da ist, wonach man greifen oder woran man sich festhalten könnte. Ich bin schon deswegen von dem Erfolg dieser geheimnisvollen Propaganda überzeugt, weil Rußland jetzt auf der ganzen Welt im wahrsten Sinne des Wortes derjenige Ort ist, wo alles geschehen kann, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Ich verstehe nur zu gut, warum alle wohlhabenden Russen jetzt ins Ausland strömen und von Jahr zu Jahr immer mehr Leute auswandern. Hier ist es einfach ein Instinkt. Wenn das Schiff untergeht, wandern die Ratten aus. Das heilige Rußland ist ein hölzernes Land, ein bettelarmes und ... gefährliches Land, ein Land eitler Bettler in seinen höheren Schichten, während die riesige Mehrzahl in Hütten auf Hühnerbeinen hockt. Es wird über jeden Ausweg froh sein, wenn man ihm einen solchen zeigt und erklärt. Nur die Regierung will sich noch wehren, doch fuchtelt sie mit ihrem Knüttel im Dunkeln umher und trifft womöglich die eigenen Leute. Hier ist schon alles vorausbestimmt und verurteilt. Rußland hat, so, wie es jetzt ist, keine Zukunft. Ich bin Deutscher geworden und rechne mir das als Ehre an.“
„Sie begannen da, sich über die Proklamationen zu äußern: sagen Sie, was halten Sie von denen?“
„Alle fürchten die Proklamationen, folglich sind sie mächtig. Sie decken öffentlich den Betrug auf und beweisen, daß hier nichts mehr ist, an dem man sich festhalten, auf das man sich stützen könnte. Sie sprechen laut, während alle schweigen. Und womit sie am meisten besiegen, das ist – abgesehen von der Form – dieser bis jetzt unerhörte Mut, der Wahrheit offen ins Angesicht zu schauen. Diese Fähigkeit, der Wahrheit gerade ins Angesicht schauen zu können, hat einzig und allein die russische Generation. Nein, in Europa ist man noch nicht so mutig: dort ist’s eine steinerne Herrschaft, – dort gibt es noch etwas, auf das man sich tatsächlich stützen kann. So viel ich sehe und so viel ich zu beurteilen vermag, ist der Kern der russischen revolutionären Idee die Verneinung der Ehre. Es gefällt mir, daß das so mutig und furchtlos ausgedrückt wird. Nein, in Europa begreift man das noch nicht, bei uns aber wird man sich gerade darauf stürzen. Dem russischen Menschen ist die Ehre nur eine überflüssige Last. Ja, und sie ist ihm immer eine Last gewesen, in seiner ganzen Geschichte. Mit dem öffentlichen ‚Recht auf Unehre‘ kann man ihn am ehesten verlocken. Ich gehöre ja noch zur alten Generation und, ich muß gestehen, bin noch für die Ehre, aber doch nur aus Gewohnheit. Mir gefallen bloß die alten Formen, wenn auch vielleicht aus Kleinmut – aber man muß doch irgendwie sein Jahrhundert zu Ende leben.“
Er brach plötzlich ab.
„Da rede ich und rede,“ dachte er bei sich, „er aber schweigt und beobachtet mich. Er ist ja nur gekommen, damit ich ganz offen die Frage an ihn stelle. Gut, kann er haben.“
„Julija Michailowna hat mich gebeten, einmal irgendwie auf schlaue Weise von Ihnen herauszubekommen, was das für eine Überraschung ist, die Sie zu übermorgen, zum Ball, vorbereiten?“ fragte plötzlich Pjotr Stepanowitsch.
„Ja, das wird wirklich eine Überraschung sein; ich werde in der Tat in Erstaunen setzen,“ sagte Karmasinoff wichtig, „aber ich verrate Ihnen das Geheimnis nicht.“
Pjotr Stepanowitsch bestand weiter nicht darauf.
„Hier soll ein gewisser Schatoff leben,“ erkundigte sich plötzlich der „große Schriftsteller“, „und denken Sie nur, ich habe ihn noch nie gesehen.“
„Ein sehr guter Mensch. Warum fragen Sie?“
„Nur so, er soll über gewisse Dinge besonderer Ansicht sein. Das ist doch derselbe, der Stawrogin ins Gesicht geschlagen hat?“
„Ja.“
„Und Stawrogin – wie denken Sie über den?“
„Ich weiß nicht; irgendein Wüstling.“
Karmasinoff haßte Stawrogin, weil dieser die Gewohnheit hatte, ihn überhaupt nicht zu beachten.
„Diesen Wüstling wird man wohl – wenn sich jemals das verwirklicht, was die Proklamationen da verkünden, – wahrscheinlich als ersten an einen Ast knüpfen,“ meinte Karmasinoff kichernd.
„Vielleicht auch schon früher,“ bemerkte plötzlich Pjotr Stepanowitsch.
„So wär’s auch recht,“ stimmte Karmasinoff bei.
„Das haben Sie schon einmal gesagt, und wissen Sie, ich habe es ihm wiedererzählt.“
„Wie, haben Sie das wirklich?“ lachte Karmasinoff wieder auf.
„Ja. Er sagte darauf, daß, wenn man ihn an einen Ast knüpfen solle, es für Sie genügen würde, wenn man Ihnen einmal ordentlich Ruten gäbe, aber nicht etwa um der Ehre willen, sondern schmerzhaft, wie man so einem Burschen Ruten zu geben pflegt.“
Pjotr Stepanowitsch nahm seinen Hut und erhob sich. Karmasinoff streckte ihm zum Abschied beide Hände entgegen.
„Aber wie,“ fragte er plötzlich mit kreischendem, doch honigsüßem Stimmchen in einem ganz besonderen Tonfall, während er ihn immer noch an beiden Händen hielt, „– wie, wenn es nun einmal alledem bestimmt ist, sich zu verwirklichen ... alledem, was man da beabsichtigt, so ... wann könnte denn das wohl geschehen?“
„Wie soll ich denn das wissen?“ fragte Pjotr Stepanowitsch grob.
Sie sahen sich beide aufmerksam in die Augen.
„Nun, zum Beispiel? Ungefähr?“ flötete Karmasinoff noch süßer.
„Ihr Gut zu verkaufen werden Sie noch Zeit haben, und sich selbst zu retten werden Sie auch noch Zeit haben,“ murmelte Pjotr Stepanowitsch mit noch größerer Grobheit.
Sie sahen sich unverwandt, sahen sich noch aufmerksamer an.
Eine Minute lang herrschte Schweigen.
Plötzlich sagte Pjotr Stepanowitsch:
„Im nächsten Mai wird es beginnen, und zum Oktober wird es beendet sein.“
„Ich danke Ihnen aufrichtig!“ sagte mit von Dank durchdrungener Stimme Karmasinoff und drückte ihm beide Hände.
„Wirst noch Zeit haben, Ratte, vom Schiff auszuwandern!“ dachte Pjotr Stepanowitsch, als er auf die Straße trat. „Aber wenn sogar dieser ‚geradezu staatsmännische Kopf‘ sich so überzeugt schon nach Tag und Stunde erkundigt und so ehrerbietig für die erhaltene Mitteilung dankt, dann dürfen wir doch wahrlich nicht mehr an uns zweifeln.“ (Er lächelte seltsam). „Hm ... Aber er ist doch unter ihnen wirklich nicht dumm und ... aber alles in allem doch nur eine auswandernde Ratte; eine solche zeigt nicht an.“
Er eilte in die Bogojawlenskstraße zum Filippoffschen Hause.
Pjotr Stepanowitsch ging zuerst zu Kirilloff. Der war wie gewöhnlich allein zu Hause und turnte gerade, d. h. er drehte, breitbeinig mitten im Zimmer stehend, die Arme nach einer besonderen Methode durch die Luft. Auf dem Fußboden lag ein großer Ball; vom Tisch war der Morgentee noch nicht weggeräumt. Pjotr Stepanowitsch blieb eine ganze Weile auf der Türschwelle stehen.
„Sie sorgen aber einstweilen nicht wenig für Ihre Gesundheit,“ sagte er dann laut und trat lustig ins Zimmer. „Was für ein famoser Ball! Ei der Teufel, wie der springt! Auch zur Gymnastik?“
Kirilloff, der in Hemdsärmeln war, zog sich den Rock an.
„Ja, auch zur Gesundheit,“ sagte er trocken. „Setzen Sie sich.“
„Ich bin nur auf einen Augenblick gekommen. Aber, na, setzen kann ich mich schon. Doch Gesundheit hin, Gesundheit her, – ich wollte nur an die Abmachung erinnern. Unsere Frist nähert sich ‚in gewissem Sinne‘ ihrem Ende,“ schloß er mit einer ungeschickten Ausrede.
„Wieso, was für eine Abmachung?“ rief Pjotr Stepanowitsch aufhorchend, fast erschrocken.
„Das ist keine Abmachung und keine Pflicht, ich habe mich mit nichts gebunden, Sie irren sich.“
„Hören Sie, aber das geht doch nicht so!“ Pjotr Stepanowitsch sprang sogar vom Stuhl auf.
„Mein eigener Wille.“
„Wie, was?“
„Derselbe Wille.“
„Das heißt, wie ist denn das zu verstehen?! Bedeutet das, daß Sie noch denselben Willen haben?“
„Ja, das bedeutet das. Nur eine Abmachung war nicht dabei und ist nie gewesen, und ich habe mich mit nichts gebunden. Es war nur mein Wille und ist auch jetzt nur mein Wille.“
Kirilloff sprach schroff und widerwillig.
„Na, schön, dann meinetwegen bloß Ihr Wille, wenn dieser Wille sich nur nicht verändert!“ Pjotr Stepanowitsch setzte sich wieder, augenscheinlich befriedigt. „Sie ärgern sich über Worte. In der letzten Zeit sind Sie ganz besonders reizbar geworden. Darum habe ich es auch vermieden, Sie zu besuchen. War übrigens immer überzeugt, daß Sie nicht treulos sein würden.“
„Ich mag Sie gar nicht, aber Sie können ganz überzeugt sein! Wenn ich auch Treue oder Untreue nicht anerkenne.“
„Aber, wissen Sie, einstweilen ...“ Pjotr Stepanowitsch regte sich doch wieder auf, „man muß doch vernünftig darüber reden, damit keine Mißverständnisse entstehen. Die ganze Sache verlangt eben Bestimmtheit. Sie aber haben mich wirklich stutzig gemacht. Darf ich sprechen?“
„Sprechen Sie,“ sagte Kirilloff, blickte ihn aber nicht an, sondern sah in die Ecke.
„Sie hatten schon längst beschlossen, sich das Leben zu nehmen ... das heißt, Sie hatten solch eine Idee. Habe ich mich so richtig ausgedrückt? Habe ich keinen Fehler gemacht?“
„Ich habe auch jetzt dieselbe Idee.“
„Vorzüglich. Vergessen Sie aber nicht, daß niemand Sie dazu gezwungen hat.“
„Das fehlte noch! Wie dumm Sie sprechen!“
„Gut, gut. Ich gebe zu, daß ich mich vielleicht sehr töricht ausgedrückt habe. Es wäre ja auch zweifellos sehr dumm gewesen, einen Menschen dazu zwingen zu wollen. Ich fahre also fort: Sie waren ein Glied des Verbandes – noch zur Zeit der alten Organisation – und vertrauten sich damals einem anderen Gliede dieser Gesellschaft an.“
„Ich habe mich gar nicht anvertraut, ich habe einfach gesagt.“
„Gut. Schön. Wäre ja auch lächerlich, sich ‚anzuvertrauen‘, als ob es eine Beichte wäre! Sie haben also einfach gesagt ... na, wunderschön.“
„Nein, gar nicht wunderschön, Sie verstehen nicht zu sprechen. Ich bin Ihnen gar keine Rechenschaft schuldig, ja, und meine Gedanken können Sie gar nicht verstehen. Ich will mir das Leben nehmen, darum, weil ich solch einen Gedanken habe, weil ich nicht haben will, daß es Angst vor dem Tode gibt, weil ... weil Sie davon gar nichts zu wissen brauchen ... Was wollen Sie? Tee trinken? Er ist kalt. Warten Sie, ich werde Ihnen ein anderes Glas geben.“
Pjotr Stepanowitsch hatte nach der Teekanne gegriffen und suchte ein leeres Gefäß. Kirilloff stand auf, ging zum Schrank und brachte ihm ein reines Glas.
„Ich habe soeben bei Karmasinoff gefrühstückt,“ bemerkte der Gast, „darauf hörte ich zu, wie er redete und da wurde mir heiß ... lief hierher – habe jetzt schrecklichen Durst.“
„Trinken Sie. Kalter Tee ist gut.“
Kirilloff setzte sich wieder auf seinen Stuhl und blickte von neuem in die Ecke.
„In der Gesellschaft entstand der Gedanke,“ fuhr er mit derselben Stimme fort, „daß ich damit nützlich sein kann, wenn ich mich töte und daß, wenn Sie hier vieles gemacht haben und man die Schuldigen sucht, so erschieße ich mich plötzlich und hinterlasse einen Brief, daß ich alles getan habe, so daß man Sie ein Jahr lang nicht verdächtigen wird.“
„Wenn auch nur ein paar Tage lang nicht. Auch ein Tag ist schon kostbar!“
„Gut. So sagte man mir, daß ich, wenn ich will, warten soll. Ich sagte, ich werde warten, bis man mir die Frist von der Gesellschaft aus sagt, weil mir doch alles einerlei ist.“
„Ja, aber vergessen Sie nicht, Sie verpflichteten sich noch, diesen letzten Brief vor dem Tode nicht anders als mit mir zusammen zu schreiben – und, daß Sie, wenn Sie in Rußland angekommen sein würden, in meiner, ... na, mit einem Worte, zu meiner Verfügung stehen, das heißt, versteht sich, nur in dieser einen Beziehung ... In allen anderen sind Sie natürlich vollkommen frei,“ fügte Pjotr Stepanowitsch fast liebenswürdig hinzu.
„Ich habe mich nicht verpflichtet, war nur einverstanden, weil es mir einerlei ist.“
„Vorzüglich, vorzüglich, ich habe nicht die geringste Absicht, Ihre Eigenliebe zu verletzen, aber ...“
„Hier ist gar keine Eigenliebe.“
„Aber vergessen Sie nicht, daß man Ihnen hundertundzwanzig Taler zur Reise gegeben hat, also haben Sie Geld genommen.“
„Gar nicht,“ fuhr Kirilloff auf, „das Geld war gar nicht dafür! Das tut man nicht für Geld.“
„Zuweilen tut man es doch.“
„Sie lügen! Ich habe brieflich aus Petersburg alles erklärt, und in Petersburg habe ich Ihnen hundertundzwanzig Taler zurückgezahlt, Ihnen in die Hand ... und die sind dorthin zurückgeschickt, wenn Sie sie nicht bei sich behalten haben.“
„Gut, gut, ich will nicht widersprechen, sie sind zurückgeschickt. Die Hauptsache ist ja nur, daß Sie noch dieselben Gedanken haben, wie früher.“
„Dieselben. Wenn Sie kommen und sagen: ‚jetzt‘, dann werde ich alles erfüllen. Wie – wird es sehr bald sein?“
„Nicht mehr viele Tage ... Aber vergessen Sie nicht: den Brief schreiben wir zusammen, in derselben Nacht.“
„Meinetwegen auch am Tage. Sie sagten, ich muß die Proklamationen auf mich nehmen?“
„Und noch einiges.“
„Ich nehme nicht alles auf mich.“
„Was werden Sie denn nicht auf sich nehmen?“ Pjotr Stepanowitsch erschrak wieder.
„Das, was ich nicht will. Genug jetzt. Ich mag nicht mehr davon sprechen.“
Pjotr Stepanowitsch bezwang sich und änderte das Gespräch.
„Ich rede jetzt von etwas anderem,“ schickte er voraus, „werden Sie heute Abend zu den Unsrigen kommen? Wirginski feiert seinen Namenstag, und unter diesem Vorwande versammelt man sich.“
„Nein, ich will nicht.“
„Nun, seien Sie schon so liebenswürdig und kommen Sie. Es ist unbedingt nötig. Man muß Eindruck machen mit der Zahl wie mit dem Gesicht ... Sie aber haben so ein Gesicht ... nun, mit einem Wort, Sie haben ein fatales Gesicht.“
„Sie finden?“ Kirilloff lachte. „Gut, ich komme; aber nicht wegen des Gesichtes. Wann?“
„O, vielleicht schon etwas früher, um halb sieben. Und wissen Sie, Sie können hereinkommen, sich setzen und mit keinem einzigen ein Wort sprechen, wie viele da auch sein mögen. Doch noch eines! Hören Sie: vergessen Sie nicht, ein Blatt Papier und einen Bleistift mitzunehmen.“
„Wozu das?“
„Aber Ihnen ist doch alles einerlei, und das ist nun einmal meine besondere Bitte. Sie werden also nur sitzen, mit niemandem sprechen, zuhören und hin und wieder so was wie Notizen machen, na – zeichnen Sie meinetwegen.“
„Welch ein Unsinn. Wozu?“
„Aber wenn Ihnen doch alles ganz egal ist? Sie sagen doch selbst immer, daß Ihnen alles egal ist.“
„Na, weil ein bestimmtes Mitglied des Bundes, der Revisor, sich in Moskau niedergelassen hat, und ich habe da einigen gesagt, daß er vielleicht erscheinen wird. Sie werden dann denken, daß Sie dieser Revisor sind. Und da Sie schon drei Wochen hier sind, so wird man sich noch mehr wundern.“
„Albernheiten. Sie haben ja überhaupt keinen Revisor in Moskau ...“
„Na, meinetwegen nicht, hol ihn der Teufel, aber was macht denn Ihnen das aus? Sie sind doch immerhin auch ein Glied des Bundes.“
„Sagen Sie ihnen meinetwegen, daß ich der Revisor bin, ich werde sitzen und schweigen, aber Papier und Bleistift will ich nicht.“
„Ja, warum denn nicht?“
„Ich will nicht.“
Pjotr Stepanowitsch ärgerte sich dermaßen, daß er ganz fahl im Gesicht wurde, bezwang sich aber wieder; er stand auf und nahm seinen Hut.
„Und jener – ist bei Ihnen?“ fragte er plötzlich halblaut.
„Ja, bei mir.“
„Das ist gut. Ich werde ihn bald wieder fortschaffen, beunruhigen Sie sich nicht.“
„Ich beunruhige mich gar nicht. Er schläft nur hier. Die Alte ist im Krankenhaus. Die Schwiegertochter ist gestorben; ich bin zwei Tage allein. Ich habe ihm eine Stelle im Zaun gezeigt, wo er ein Brett herausnehmen kann; er kriecht durch, niemand sieht ihn.“
„Ich werde ihn schon bald nehmen.“
„Er sagte, daß er viele Stellen hat, wo er übernachten kann.“
„Das lügt er, man sucht ihn, hier aber ist es noch unverdächtig. Lassen Sie sich denn mit ihm in Gespräche ein?“
„Ja, die ganze Nacht. Er schimpft sehr auf Sie. Ich lese ihm in der Nacht die Apokalypse vor. Und Tee. Er hört aufmerksam zu, sogar sehr, die ganze Nacht.“
„Zum Teufel, Sie bekehren ihn mir noch zum Christentum!“
„Er ist auch so schon Christ. Seien Sie unbesorgt, er wird schon erstechen. Wen wollen Sie ermorden lassen?“
„Nein, ich habe ihn nicht zu dem Zweck ... ich brauche ihn zu etwas anderem ... Aber Schatoff, weiß der etwas von Fedjka?“
„Ich spreche nicht mit Schatoff, ja, und sehe ihn auch gar nicht.“
„Ärgert sich wohl über Sie, was?“
„Nein, wir ärgern uns nicht, wir wenden uns nur ab. Haben zu lange in Amerika zusammen auf dem Stroh gelegen.“
„Ich werde jetzt gleich zu ihm gehen.“
„Wie Sie wollen.“
„Vielleicht komme ich mit Stawrogin auf einen Augenblick auch zu Ihnen, auf dem Rückwege von dort, so um zehn Uhr.“
„Kommen Sie.“
„Ich muß über Wichtiges mit ihm sprechen. Wissen Sie was, schenken Sie mir Ihren Ball – wozu brauchen Sie ihn jetzt noch? Ich will ihn gleichfalls zur Gymnastik. Übrigens kann ich Ihnen ja auch Geld für ihn zahlen, wenn Sie wollen.“
„Nehmen Sie ihn so.“
Pjotr Stepanowitsch steckte den Ball in die hintere Rocktasche.
„Aber ich gebe Ihnen nichts gegen Stawrogin,“ sagte Kirilloff plötzlich leise, während er den Gast hinausließ.
Der sah ihn erstaunt an, doch sagte er nichts.
Die letzten Worte Kirilloffs verwirrten Pjotr Stepanowitsch nicht wenig, aber er begriff sie noch nicht ganz. Doch jedenfalls strengte er sich an, auf dem Wege zu Schatoff sein unzufriedenes Gesicht in ein freundliches zu verwandeln. Schatoff war zu Hause und lag, da er sich nicht wohlfühlte, auf dem Bett, war aber vollkommen angekleidet.
„Das ist aber ein Pech!“ rief Pjotr Stepanowitsch von der Tür aus. „Sind Sie ernstlich krank?“
Der liebenswürdige Ausdruck seines Gesichts verschwand plötzlich: etwas Böses blitzte in seinen Augen.
„Durchaus nicht,“ rief Schatoff, nervös aufspringend. „Ich bin keineswegs krank, habe nur ein wenig Kopfschmerzen.“
Er war sogar sichtlich befangen, denn das plötzliche Erscheinen gerade dieses Menschen erschreckte ihn.
„Ich bin in einer Angelegenheit zu Ihnen gekommen, zu der Kranksein nicht paßt,“ begann Pjotr Stepanowitsch schnell und gewissermaßen gebieterisch. „Erlauben Sie, daß ich mich setze,“ – er setzte sich auf einen Stuhl – „und Sie, legen Sie sich mal wieder auf Ihre Pritsche. Heute werden sich die Unsrigen bei Wirginski versammeln, er feiert seinen Namenstag, und das dient als Vorwand. Aber es ist schon alles vorgesehen, damit es keine andere Nuance annimmt. Ich werde mit Nicolai Stawrogin hinkommen. Selbstverständlich würde ich Sie jetzt nicht dorthin ziehen, da ich ja Ihre jetzigen Anschauungen kenne ... das heißt, ich meine – um Sie nicht zu reizen, und nicht etwa, weil wir von Ihnen angezeigt zu werden fürchten. Aber leider hat es sich so gemacht, daß Sie hinkommen müssen. Sie werden dort diejenigen treffen, mit denen wir dann endgültig beraten können, wie es für Sie möglich ist, aus dem Verbande auszuscheiden, und wem Sie das abgeben sollen, was Sie von uns besitzen. Wir machen es ganz unauffällig: ich werde Sie in eine Ecke führen, denn es sind dort viele Menschen, die nichts davon zu wissen brauchen. Ich muß gestehen, ich habe Ihretwegen meine Zunge gehörig anstrengen müssen, glaube aber, daß sie jetzt vollkommen einverstanden sind, Sie frei zu geben, versteht sich, unter der Bedingung, daß Sie die Druckmaschine und alle Papiere abliefern. Dann sind Sie frei und können gehen, wohin Sie wollen, nach allen vier Himmelsrichtungen.“
Schatoff hörte ihm finster und böse zu. Seine erste nervöse Aufregung war vollständig vergangen.
„Ich erkenne diese Pflicht, weiß der Teufel wem da Rechenschaft geben zu müssen, nicht an,“ sagte er schroff. „Niemand kann mich ‚frei geben‘.“
„Das ist doch wohl nicht ganz so. Man hat Ihnen vieles anvertraut. Sie hatten nicht das Recht, so abzubrechen. Und schließlich haben Sie sich niemals klar darüber ausgedrückt.“
„Als ich hierher kam, habe ich es Ihnen klar und deutlich geschrieben.“
„Nein, nicht klar und deutlich,“ bestritt Pjotr Stepanowitsch ruhig. „Ich schickte Ihnen zum Beispiel ‚Die helle Persönlichkeit‘, damit Sie das Gedicht drucken und die Exemplare hier irgendwo bei sich aufbewahren, bis sie abverlangt werden würden. Dazu noch zwei Proklamationen. Sie schickten alles mit einem zweideutigen Brief zurück, der eigentlich nichts sagte.“
„Ich habe mich offen und ehrlich geweigert, es zu drucken.“
„Nein, nicht offen. Sie schrieben: ‚ich kann nicht‘, aber Sie sagten nicht, warum Sie nicht können. ‚Ich kann nicht‘ heißt nicht ‚ich will nicht‘. Man konnte also denken, daß Sie einfach aus materiellen Gründen nicht können. So hat man es denn auch aufgefaßt, – daß Sie immerhin einverstanden sind, in dem Verbande zu bleiben und man Ihnen wieder etwas anvertrauen, also sich gegebenenfalls bloßstellen kann. Einige sagen, daß Sie uns offenbar haben betrügen wollen, um zu denunzieren, sobald Sie irgendeine wichtigere Mitteilung erhielten. Ich habe Sie natürlich verteidigt, wie ich nur konnte, und zeigte Ihre briefliche Antwort vor, jene zwei Zeilen, als ein Dokument zu Ihrer Rechtfertigung. Aber ich mußte selbst zugeben, als ich den Brief dann nochmals las, daß er wirklich nicht eindeutig ist und leicht irreführen kann.“
„Sie haben diesen Brief so sorgfältig verwahrt?“
„Das hat weiter nichts zu sagen, daß er sich noch erhalten hat. Ich habe ihn auch jetzt bei mir.“
„Eh, machen Sie doch damit, was Sie wollen, zum Teufel! ...“ schrie Schatoff zornig auf. „Mögen doch Ihre Dummköpfe meinetwegen glauben, daß ich denunziert habe, was geht das mich an! Ich möchte bloß sehen, was Sie mir anhaben können!“
„Man würde Sie sich notieren und beim ersten Erfolg der Revolution aufknüpfen.“
„Das heißt, dann, wenn Ihr die Macht ergriffen und Rußland besiegt habt?“
„Lachen Sie nicht. Ich wiederhole, daß ich Sie verteidigt habe. Aber wie dem auch sei, ich würde Ihnen doch raten, heute hinzukommen. Wozu so viele unnütze Worte aus irgendeinem falschen Stolz? Ist es nicht besser, friedlich auseinander zu gehen? Jedenfalls werden Sie doch das Gestell, die alten Buchstaben und das Papier abgeben müssen, und gerade darüber wollen wir ja sprechen.“
„Ich werde kommen,“ brummte Schatoff endlich, nachdenklich den Kopf gesenkt.
Pjotr Stepanowitsch beobachtete ihn heimlich von seinem Platze aus.
„Wird Stawrogin dort sein?“ fragte Schatoff plötzlich und erhob den Kopf.
„Unbedingt.“
„Ha–ha!“
Wieder schwiegen sie. Schatoff lächelte verächtlich und gereizt.
„Und diese Ihre erbärmliche ‚helle Persönlichkeit‘, die ich hier nicht drucken wollte – ist die jetzt gedruckt?“
„Ja, sie ist gedruckt.“
„Gymnasistoff versichert, daß Herzen sie Ihnen persönlich ins Album geschrieben haben soll?“
Wieder schwiegen sie eine lange Zeit. Endlich stand Schatoff von seinem Bette auf.
„Gehen Sie fort von mir, ich will nicht mit Ihnen zusammensitzen.“
„Ich gehe schon,“ sagte Pjotr Stepanowitsch gleichsam lustig und erhob sich schnell. „Nur noch ein Wort: Kirilloff scheint jetzt ganz allein im Flügel zu wohnen, ohne Aufwartefrau?“
„Ja, ganz allein. Gehen Sie, ich kann nicht mit Ihnen in einem Zimmer sein.“
„Na, du bist ja jetzt vorzüglich!“ dachte Pjotr Stepanowitsch heiter, als er auf der Straße war. „Wirst ja heute abend gut sein, und so brauch ich dich gerade, besser könnte ich’s gar nicht wünschen, gar nicht wünschen! Der russische Gott scheint ja selber noch zu helfen!“
Es ist anzunehmen, daß ihm an diesem vielgeschäftigen Tage alles gut gelang, denn als er am Abend um sechs Uhr bei Nicolai Stawrogin erschien, drückte sich auf seinem Gesicht volle Selbstzufriedenheit aus. Man ließ ihn jedoch nicht sofort vor: Stawrogin hatte gerade Besuch: Mawrikij Nicolajewitsch war bei ihm, in seinem Arbeitszimmer. Das gefiel nun Pjotr Stepanowitsch äußerst wenig und bereitete ihm sogleich Sorge. Er setzte sich dicht neben die Tür hin, um den Gast, wenn dieser das Zimmer verließ, sehen zu können. Die Stimmen der beiden konnte er hören, doch die Worte ließen sich nicht unterscheiden. Der Besuch Drosdoffs dauerte nicht lange: alsbald vernahm er das Geräusch von fortgeschobenen Stühlen, eine laute, erregte Stimme, und dann öffnete sich auch schon die Türe. Mawrikij Nicolajewitsch trat mit bleichem Gesicht heraus und ging schnell an Pjotr Stepanowitsch vorüber, ohne ihn zu bemerken. Dieser lief sofort ins Arbeitszimmer.
Doch zunächst muß ich jetzt berichten, was während dieses äußerst kurzen Zusammenseins der beiden „Nebenbuhler“ vorging – während dieses Besuches, den man aus gewissen Gründen, im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse, für unmöglich halten mußte, und der doch stattfand.
Nicolai Wszewolodowitsch hatte sich nach dem Essen in seinem Arbeitszimmer auf dem Diwan ausgestreckt und war halb eingeschlummert, als plötzlich der alte Diener Alexei Jegorowitsch eintrat und den unerwarteten Besuch Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoffs meldete. Als Stawrogin diesen Namen hörte, sprang er sogar auf und wollte es zuerst gar nicht glauben. Doch alsbald legte sich ein Lächeln um seine Lippen – ein Lächeln hochmütigen Triumphes und zu gleicher Zeit wie einer gewissen stumpfen, mißtrauischen Verwunderung. Den eintretenden Mawrikij Nicolajewitsch machte dieses Lächeln, wie es schien, stutzig, wenigstens blieb er plötzlich mitten im Zimmer stehen, als sei er unentschlossen – sollte er weitergehen, oder umkehren? Doch Stawrogins Miene hatte sich bereits wieder verändert und er trat dem Gast sogar entgegen. Mawrikij Nicolajewitsch übersah freilich die entgegengestreckte Hand, zog einen Stuhl heran und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, noch bevor ihn Stawrogin dazu aufgefordert hatte. Dieser setzte sich darauf ihm gegenüber auf den Diwan, und während er seinen Gast aufmerksam betrachtete, schwieg er und wartete.
„Wenn es Ihnen möglich ist, so heiraten Sie Lisaweta Nicolajewna,“ sagte plötzlich Mawrikij Nicolajewitsch, und zwar so, daß man, was das Merkwürdigste war, aus der Stimme, der Intonation überhaupt nicht heraushören konnte, was das nun war: eine Bitte, eine Empfehlung, eine Abtretung, oder ein Befehl.
Stawrogin fuhr fort zu schweigen. Doch Drosdoff schien bereits alles gesagt zu haben, was er sagen wollte, und sah jetzt, in Erwartung einer Antwort, starr vor sich hin.
„Wenn ich mich nicht irre, was mir jetzt ausgeschlossen erscheint, so ist Lisaweta Nicolajewna schon mit Ihnen verlobt,“ sagte Stawrogin endlich.
„Ja, sie hat sich mit mir verlobt,“ bestätigte fest und deutlich Mawrikij Nicolajewitsch.
„Sie ... haben sich entzweit ... Verzeihen Sie, Mawrikij Nicolajewitsch –“
„Nein, sie ‚liebt und achtet‘ mich, nach ihren eigenen Worten. Und ihre Worte gehen mir über alles.“
„Daran ist selbstredend nicht zu zweifeln.“
„Aber wenn sie mit mir schon in der Kirche vor dem Altar stünde und Sie sie riefen, so würde sie doch mich und alle verlassen und zu Ihnen gehen.“
„Vom Altar?“
„Ja, vom Altar.“
„Täuschen Sie sich nicht?“
„Nein. Unter ihrem Haß, dem aufrichtigsten und stärksten Haß, den sie für Sie empfindet, lodert doch jeden Augenblick ihre Liebe hervor, und ... ihr Wahnsinn ... die größte, die grenzenloseste Liebe und – wie gesagt: ihr Wahnsinn! Andererseits aber, aus der Liebe, die sie für mich empfindet, gleichfalls aufrichtig empfindet, bricht immer und immer wieder der Haß – der allergrößte Haß hervor. Ich hätte früher alle diese ... Metamorphosen nie für möglich gehalten.“
„Mich wundert nur, wie Sie so einfach über Lisaweta Nicolajewnas Hand verfügen können? Haben Sie ein Recht dazu? Oder sind Sie von ihr bevollmächtigt?“
Mawrikij Nicolajewitschs Gesicht verfinsterte sich und er senkte auf einen Augenblick den Kopf.
„Wozu diese Phrasen?“ fragte er plötzlich. „Das sind doch nur rachsüchtige Worte von Ihnen. Ich bin überzeugt, daß Sie das Nichtausgesprochene sehr wohl verstehen. Und ist denn hier Platz für kleinliche Eitelkeit? Ist das noch zu wenig Genugtuung für Sie? Soll man denn noch den Punkt aufs i setzen? Nun gut, dann werde ich auch noch den Punkt aufs i setzen, wenn Sie meine Erniedrigung so wünschen. Also: Ein Recht dazu habe ich nicht; eine Bevollmächtigung ist doch ausgeschlossen. Lisaweta Nicolajewna weiß nichts davon, ihr Verlobter aber hat den letzten Verstand verloren und ist fürs Irrenhaus reif und obendrein – obendrein kommt er noch selbst und teilt Ihnen das mit. In der ganzen Welt sind es nur Sie allein, der Lisa wirklich glücklich machen kann! Und nur ich allein, der sie unglücklich machen kann! Sie wollen sie niemandem abtreten, Sie verfolgen sie, aber Sie heiraten sie nicht. Ich weiß nicht, warum Sie das nicht tun. Liegt hier ein Mißverständnis vor, das vielleicht schon im Auslande entstanden ist, oder ein Liebesstreit, und muß man, um ihn beilegen zu können, etwa – mich ausstreichen ... so tun Sie es. Sie ist zu unglücklich, und das kann ich nicht mehr ertragen. Was ich sage, soll Ihnen nichts vorschreiben, und darum kann auch Ihre Eigenliebe gar nicht verletzt sein. Wenn Sie meinen Platz am Altar einnehmen wollten, so könnten Sie das ohne jegliche ‚Erlaubnis‘ meinerseits tun, und ich hätte es mir sparen können, so zu Ihnen zu kommen. Um so mehr, als unsere Hochzeit nach meiner jetzigen Handlungsweise sowieso unmöglich geworden ist. Ich kann sie doch nicht mehr zum Altar führen, nachdem ich hier so gehandelt, so gemein gehandelt habe. Denn das, was ich hier tue, daß ich sie Ihnen, vielleicht ihrem schlimmsten Feinde, einfach übergebe, ist meiner Meinung nach eine solche Gemeinheit, daß ich sie selbstverständlich nicht werde überleben können.“
„Sie werden sich erschießen, wenn man uns traut?“
„Nein, erst viel später. Warum soll ich mit meinem Blut ihr Hochzeitskleid beflecken? Vielleicht werde ich mich auch nicht erschießen, weder jetzt, noch später.“
„Mit diesem Nachsatz wollen Sie mich wohl beruhigen?“
„Sie beruhigen? Was macht Ihnen denn ein Tropfen mehr verspritzten Blutes aus?“
Er erbleichte und seine Augen begannen zu brennen. Sie schwiegen beide eine Zeitlang.
„Verzeihen Sie mir, bitte, die an Sie gestellten Fragen,“ begann Stawrogin von neuem. „Zu einigen hatte ich durchaus kein Recht, doch um so mehr habe ich das, glaube ich, zu einer anderen Frage: sagen Sie mir, was Sie eigentlich veranlaßt hat, in mir solche Gefühle zu Lisaweta Nicolajewna vorauszusetzen? Ich meine, daß Sie so überzeugt waren, um zu mir kommen zu können ... und solch einen Antrag zu wagen?“
„Wie?“ Mawrikij Nicolajewitsch zuckte zusammen. „– Haben Sie denn nicht bei ihr angehalten? Werben Sie denn jetzt nicht um sie und wollen Sie es auch später nicht tun?“
„Über meine Gefühle zu dieser oder jener Frau vermag ich nicht laut zu einem Dritten zu sprechen, zu wem es auch sei, außer zu dieser Frau selbst. Verzeihen Sie, aber das ist nun einmal meine Eigenart. Doch dafür werde ich Ihnen die ganze übrige Wahrheit sagen: ich bin bereits verheiratet, und so ist mir ein Heiraten oder ‚Werben‘ schon nicht mehr möglich.“[45]
Mawrikij Nicolajewitsch fuhr förmlich zurück vor Bestürzung, und starrte Stawrogin eine Weile unbeweglich ins Gesicht.
„Denken Sie sich ... das habe ich wirklich nicht gedacht,“ murmelte er endlich. „Sie sagten an jenem Morgen, daß Sie nicht verheiratet seien ... und so glaubte ich, Sie wären wirklich unverheiratet.“
Er erblaßte unheimlich. Plötzlich schlug er aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.
„Wenn Sie nach solch einem Bekenntnis Lisaweta Nicolajewna nicht in Ruhe lassen und sie ins Unglück bringen, so schlage ich Sie tot, wie einen Hund hinterm Zaun!“
Damit sprang er auf und verließ das Zimmer. Pjotr Stepanowitsch lief schnell hinein – fand aber den Hausherrn in einer von ihm völlig unerwarteten Gemütsverfassung.
„Ah, das sind Sie!“ rief Stawrogin und lachte laut auf –, lachte, wie es schien, nur über die Erscheinung Pjotr Stepanowitschs, der mit so maßlos neugierigem Gesicht hereingeeilt kam.
„Haben Sie an der Tür gehorcht? Warten Sie, warum sind Sie doch jetzt gekommen? Habe ich Ihnen nicht irgend etwas versprochen ... Ach, richtig! ich weiß schon: zu den ‚Unsrigen‘! – Gehen wir! Freut mich sehr, Sie hätten sich wirklich nichts Besseres für diesen Augenblick ausdenken können.“
Er nahm seinen Hut und sie verließen sogleich das Haus.
„Sie lachen schon im voraus über die ‚Unsrigen‘?“ fragte Pjotr Stepanowitsch lustig scharwenzelnd, indem er bald versuchte, neben seinem Begleiter auf dem schmalen Fußsteig zu gehen, bald wiederum auf der schmutzigen Fahrstraße lief, denn Stawrogin bemerkte es nicht, daß er in der Mitte des Fußsteiges ging und folglich den ganzen Platz mit seiner Person einnahm.
„Ich lache durchaus nicht,“ antwortete Nicolai Wszewolodowitsch laut und heiter. „Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß Sie dort die ernstesten Leute haben.“
„‚Die ernsten Dummköpfe‘, wie Sie sich einmal auszudrücken beliebten.“
„Es gibt nichts Lustigeres, als manch einen ernsten Dummkopf.“
„Ah, Sie denken an Mawrikij Nicolajewitsch! Bin überzeugt, daß er zu Ihnen gekommen war, um seine Braut abzutreten – wie? Das habe ich ihm indirekt eingeblasen, wenn Sie es wissen wollen! Und wenn er sie nicht abtreten will, so nehmen wir sie eigenmächtig – wie?“
Pjotr Stepanowitsch wußte natürlich, was er wagte, wenn er sich solche Reden erlaubte; doch lieber wagte er schon alles, als daß er die Ungewißheit noch länger ertrug. Nicolai Wszewolodowitsch aber lachte nur.
„Und Sie beabsichtigen immer noch, mir zu helfen?“ fragte er.
„Sobald Sie rufen. Aber wissen Sie auch, daß es einen anderen, noch viel besseren Weg gibt?“
„Ich kenne Ihren Weg.“
„Nun, nein, der ist vorläufig noch ein Geheimnis. Nur vergessen Sie nicht, daß das Geheimnis Geld kostet.“
„Ich weiß auch, wieviel es kostet,“ brummte Stawrogin vor sich hin, bezwang sich aber sofort und verstummte.
„Wie viel? Wie? Was sagten Sie?“ fuhr Pjotr Stepanowitsch auf.
„Ich sagte: zum Teufel mit Ihnen samt dem Geheimnis. Sagen Sie mir lieber, wer dort sein wird. Ich weiß, daß wir zum Namensfest gehen, aber wen wird man dort eigentlich antreffen?“
„Oh, alle möglichen Leute! Sogar Kirilloff wird dort sein.“
„Alles Mitglieder von Gruppen?“
„Teufel noch eins, Sie beeilen sich aber! Hier hat sich noch nicht einmal eine einzige Gruppe gebildet.“
„Wie haben Sie denn so viele Proklamationen verbreiten können?“
„Dort werden im ganzen nur vier Mitglieder der Gruppe sein. Die übrigen bespionieren sich mittlerweile um die Wette, und teilen mir alles mit. Wirklich vielversprechendes Volk! Alles Material, das man organisieren muß und dann kann man sich aus dem Staube machen. Aber Sie haben ja selbst unser Gesetzbuch geschrieben. Da braucht man Ihnen doch nichts mehr zu erklären.“
„Nun wie, es geht wohl schwer? Ist es mißglückt?“
„Wie es geht? Wie man es sich leichter gar nicht wünschen kann. Warten Sie, ich werde Sie zum Lachen bringen! Also, das erste, das ungeheuer wirkt – das ist die Montur. Es gibt nichts, das eine größere Zugkraft hätte, als diese. Ich denke mir absichtlich Titel und Posten aus: habe da Sekretäre, Geheime Kundschafter, Vorsitzende, Registratoren, deren Gehilfen – das gefällt ungemein und wirkt vorzüglich. Darauf, die zweite Kraft, das ist die Sentimentalität, versteht sich. Wissen Sie, der Sozialismus verbreitet sich ja bei uns hauptsächlich infolge der Sentimentalität der Leute. Nur eines ist hier ein wahrer Jammer – das sind diese beißenden Leutnants. Da ist man nie sicher. Dann kommen die echten Spitzbuben. Nun, das ist ein guter Schlag, zuweilen ungemein vorteilhaft, doch muß man viel Zeit auf sie vergeuden: verlangen ununterbrochene Aufsicht. Na, und dann natürlich die Hauptkraft – der Zement, der alles zusammenhält – das ist die Schande, eine eigene Meinung zu haben. Ich sag’ Ihnen, das ist mir mal eine Kraft! Wer das nur so eingerichtet haben mag? und welcher ‚liebe Kerl‘ uns da wohl so nett vorgearbeitet hat, daß auch wirklich keine einzige eigene Idee in irgendeinem Kopf geblieben ist! Halten so was geradezu für eine Schande.“
„Aber wenn es so ist, wozu mühen Sie sich dann noch?“
„Ja aber, wenn es doch so einfach ist, öffnet sich ja der Mund von selber – wie soll man sie da nicht schlucken! Als ob Sie im Ernst nicht glaubten, daß ein Erfolg möglich ist? He, der Glaube ist ja da, aber das Wollen fehlt. Aber gerade mit solchen ist der Erfolg nur möglich. Ich sage Ihnen, sie gehen mir durchs Feuer – man braucht ihnen nur zu sagen, daß sie nicht genügend liberal sind. Die Esel werfen mir übrigens vor, daß ich sie alle mit einem ‚Zentralkomitee‘ und ‚zahllosen Verzweigungen‘ beschwindelt haben soll. Sie selbst haben es mir ja auch einmal vorgeworfen – aber wie kann denn hier von Beschwindeln die Rede sein? Das Zentralkomitee sind doch – ich und Sie, und an Verzweigungen werden alsbald so viele vorhanden sein, wie man sich nur wünscht.“
„Und durchweg solches Pack?“
„Nur Material. Auch dies wird zustatten kommen.“
„Sie rechnen noch immer auf mich?“
„Sie sind der Führer, Sie sind die Kraft; ich werde nur seitlich neben Ihnen stehen als Sekretär. Und dann, wissen Sie, setzen wir uns ‚in eine Barke und die Ruder sind aus Eichenholz und die Segel sind aus Seidenzeug, und außerdem sitzt da die schöne Braut, die lichte Lisaweta Nicolajewna‘ ... oder weiß der Teufel wie es da im alten Volkslied heißt ...“
„Und stocken schon,“ lachte Stawrogin. „Nein, ich werde Ihnen einen besseren Zusatz sagen. Sie zählen da an den Fingern her, aus welchen Kräften sich die Gruppen zusammensetzen? Das ist doch alles Beamtengeist und Sentimentalität – meinetwegen auch ein guter Kleister, aber es gibt doch einen noch weit besseren: bereden Sie mal vier Mitglieder, dem fünften den Garaus zu machen, unter dem Vorwand, daß er denunzieren wird, und Sie binden sie alle mit dem vergossenen Blut wie mit einem Strick zusammen. Dann werden sie zu Ihren Sklaven und werden nie mehr wagen, widerspenstig zu sein oder Abrechnungen zu verlangen. Ha–ha–ha!“
„Also so bist du ... na warte ... diese Worte wirst du mir bezahlen müssen,“ dachte Pjotr Stepanowitsch bei sich – „und zwar noch heute abend.“
So, oder fast so mußte Pjotr Stepanowitsch bei sich denken.
Inzwischen hatten sie den Weg zum Wirginskischen Hause schon zurückgelegt – das Haus war schon zu sehen.
„Sie haben mich natürlich als irgendein großes Tier hingestellt – mit Beziehungen zur Internationale, oder als Revisor?“ fragte plötzlich Stawrogin.
„Nein, nicht als Revisor; der Revisor wird ein anderer sein. Aber Sie sind der Gründer, der Anordner aus dem Auslande, der die wichtigsten Geheimnisse kennt – das ist Ihre Rolle. Sie werden natürlich reden?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie sind jetzt verpflichtet zu reden.“
Stawrogin blieb vor Verwunderung sogar mitten auf der Straße stehen, nicht weit von einer Laterne. Pjotr Stepanowitsch hielt frech und ruhig seinen Blick aus. Stawrogin spie aus und ging weiter.
„Werden Sie denn reden?“ fragte er plötzlich Pjotr Stepanowitsch.
„Nein, ich werde lieber zuhören, wenn Sie reden.“
„Der Teufel hole Sie! ... Aber Sie geben mir wirklich eine Idee!“
„Was für eine?“ Pjotr Stepanowitsch horchte sofort auf.
„Ich werde dort meinetwegen reden, aber dafür werde ich Sie dann nachher durchprügeln, aber gründlich.“
„Bei der Gelegenheit: ich habe vorhin Karmasinoff gesagt, Sie hätten einmal über ihn geäußert, daß man ihm kräftig Ruten geben müßte, und zwar nicht um der Ehre willen, sondern einfach, wie man einen Burschen drischt, schmerzhaft.“
„Aber das habe ich doch nie gesagt, ha–ha!“
„Macht nichts. Se non è vero.“
„Nun, danke, besten Dank.“
„Aber wissen Sie, was dieser Karmasinoff noch sagte: daß unsere Lehre im Grunde genommen die Verneinung der Ehre ist, und daß man mit dem öffentlichen Recht auf Ehrlosigkeit einen Russen am leichtesten ködern kann.“
„Aber das ist ja eine ausgezeichnete Bemerkung! Ganz wunderbar!“ rief Stawrogin. „Da hat er wirklich den Nagel gerade auf den Kopf getroffen! Das Recht auf Ehrlosigkeit – aber dann laufen ja alle zu uns über, kein einziger bleibt dort! Übrigens hören Sie, Werchowenski, sind Sie nicht von der höheren Polizei?“
„Wer solche Fragen im Sinne hat, der spricht sie nicht aus.“
„Verstehe, aber wir sind ja jetzt unter uns.“
„Nein, vorläufig noch nicht von der höheren Polizei. Genug davon, wir sind schon angekommen. Komponieren Sie mal Ihre Physiognomie, Stawrogin. Ich tue das jedesmal, wenn ich bei diesen erscheine. Nur etwas mehr Finsterheit, und das ist alles, weiter braucht man nichts; sehr einfache Sache.“
Wirginski wohnte in seinem eigenen Hause, oder richtiger, in dem seiner Frau. Es war ein einstöckiges Holzgebäude, das keine anderen Mieter hatte. Unter dem Vorwande, daß der Hausherr seinen Namenstag feiern wolle, versammelten sich an diesem Abend bei ihm ungefähr fünfzehn Gäste, doch glich die kleine Abendgesellschaft sehr wenig den bei uns in der Provinz üblichen „Geburtstagsgesellschaften“. Das Ehepaar Wirginski war schon gleich zu Anfang seiner Ehe darin übereingekommen, daß „Geburtstage feiern“ furchtbar dumm sei: es sei doch durchaus kein Grund vorhanden, sich an solchen Tagen besonders zu freuen! Und da sie diesen Grundsatz schließlich auch auf alle anderen Festtage übertrugen, so war es ihnen schon in ein paar Jahren gelungen, ohne jeden Verkehr zu leben. Wirginski kam zudem den Leuten wirklich nur wie ein Sonderling vor, der bloß die Einsamkeit liebte und zum Überfluß noch „anmaßend“ erschien – warum „anmaßend“, das weiß ich allerdings nicht. Frau Wirginski aber stand, da sie Hebamme war, gesellschaftlich sowieso sehr niedrig – und hinzu kam dann noch ihr dummes und unverzeihlich offenes Verhältnis zu dem „Hauptmann“ Lebädkin, das sie eigentlich nur „aus Prinzip“ begonnen hatte. Nachdem dieses Verhältnis bekannt geworden war, wandten sich selbst unsere nachsichtigsten Damen mit deutlicher Verachtung von ihr ab. Frau Wirginskaja aber tat noch, als hätte sie gerade das nötig und wünsche es selber so. Bemerkenswert ist jedoch, daß dieselben strengdenkenden Damen sich in gewissen Fällen nur und ausschließlich an sie wandten, obgleich wir noch drei andere Hebammen in der Stadt hatten. Man schickte sogar aus den Kreisstädten nach Arina Prochorowna: so anerkannt und allgemein bekannt waren ihre Kenntnisse, war ihr Glück und ihre Geschicktheit in ihrem Beruf. Daher kam es denn ganz von selbst, daß sie ihre Praxis nur in den reichsten Häusern hatte: denn Geld liebte sie bis zur Habgier. Nachdem sie erst einmal ihre Macht erkannt hatte, tat sie auch ihrem Charakter keinen Zwang mehr an. Unser Stabsarzt Rosanoff beteuerte, daß Arina Prochorowna gerade in den Augenblicken, wenn ihre schwachnervigen Patientinnen alles Heilige anzurufen pflegen, plötzlich „wie ein Flintenschuß“ mit einer unerhörten Blasphemie herausfahre, die dann gewöhnlich entscheidend auf die armen Frauen wirke. Übrigens vergaß Arina Prochorowna, wenn sie sonst auch Nihilistin war, doch nie gewisse alte Bräuche, die ihr etwas einbrachten. So hätte sie zum Beispiel für keinen Preis die Taufe des von ihr empfangenen Erdenbürgers versäumt: dann erschien sie stets in einem grünen Seidenkleide, das sogar eine Schleppe hatte, und mit eingelegten Locken, während sie sich sonst unglaublich nachlässig kleidete. Und wenn sie auch sonst unentwegt, ja sogar während der Erfüllung des Wunders der Geburt, ihre Frechheit zum Entsetzen aller Anverwandten bewahrte, so trug sie doch nach der Taufe sehr sittsam und eigenhändig den Champagner herein (nur zu dem Zweck erschien sie und putzte sie sich heraus) und dann hätte es einer nur versuchen sollen, ihr, nachdem er einen Pokal genommen, nicht das übliche Taufschmausgeld auf den Teller zu legen!
Die Gesellschaft – fast nur Herren –, die sich diesmal bei Wirginski versammelt hatte, nahm sich eigentlich recht sonderbar aus. Es gab weder Imbiß noch Karten. Im großen Gastzimmer, das schon seit undenklich langer Zeit immer ein und dieselben alten blauen Tapeten hatte, waren zwei Tische zusammengerückt und mit einem großen, nicht einmal ganz sauberen Tischtuch bedeckt. Auf ihnen kochten zwei Samoware und stand ein riesiges Teebrett mit fünfundzwanzig Gläsern, sowie ein flacher Korb mit gewöhnlichem Weißbrot, das wie in Pensionen für junge Mädchen oder Knaben in viele, viele gleiche Stücke geschnitten war. Den Tee goß die Schwester der Hausfrau ein – ein dreißigjähriges, hochblondes Fräulein, ohne Augenbrauen, sonst schweigsam, aber tödlich boshaft –, eine Dame, die gleichfalls die „neuesten Anschauungen“ teilte und vor der Wirginski in seinem eigenen Hause zitterte. Außer der Hausfrau und ihrer augenbrauenlosen Schwester war noch ihre Schwägerin anwesend: Fräulein Wirginskaja, die gerade aus Petersburg eingetroffen war. Arina Prochorowna (Wirginskis Frau), an sich eine nicht häßliche Frau von siebenundzwanzig Jahren, saß, in einem wollenen Alltagskleide von grünlicher Farbe, am oberen Tischende und betrachtete die Gäste mit einem Blick, als wollte sie sagen: „Seht, wie ich mich vor nichts fürchte!“ Wirginskis Schwester, die gleichfalls nicht häßlich aussah, dabei Studentin und Nihilistin, war rotwangig und rundlich wie ein kleiner Ball: sie saß halbwegs noch in ihren Reisekleidern neben Arina Prochorowna, mit irgendeiner Papierrolle in der Hand, und sah sich mit ungeduldigen, springenden Blicken die Gäste an. Wirginski fühlte sich an diesem Abend nicht ganz wohl, doch hatte er sich trotzdem in einem Lehnstuhl an den Teetisch gesetzt. Die Gäste saßen auf Stühlen um den ganzen Tisch herum, und in dieser steifen Gruppierung lag etwas, was nicht an ein Fest, sondern an eine Sitzung erinnerte. Ganz ersichtlich erwarteten alle irgend etwas, und wenn sie auch über alles mögliche laut miteinander sprachen, so merkte man doch sofort, daß es Nebensachen waren, die eigentlich niemanden interessierten: es war ein künstliches, gezwungenes Gespräch.
Als Stawrogin und Werchowenski eintraten, verstummten plötzlich alle.
Zur besseren Übersicht werde ich wohl einige weitläufigere Erklärungen geben müssen.
Ich glaube, wie gesagt, daß sich damals alle in der angenehmen Hoffnung, etwas ganz besonders Interessantes zu erfahren, eingefunden hatten. Sie gehörten sämtlich zu den knallrotesten Liberalen unserer Stadt und waren von Wirginski zu dieser „Sitzung“ sorgfältigst ausgesucht worden. Einige von ihnen waren noch nie bei Wirginski gewesen und hätten ihn auch sonst bestimmt nicht mit ihrem Besuche beehrt. Natürlich hatte die Mehrzahl der Gäste keine rechte Vorstellung davon, was eigentlich geschehen sollte: sie alle hielten damals Pjotr Stepanowitsch für einen vom ausländischen Verbande geschickten Auskundschafter, dem bestimmte Vollmachten gegeben worden waren – eine Ansicht, die sich sofort und ganz plötzlich festgesetzt hatte und ihnen ungeheuer schmeichelte. Währenddessen aber gab es auch unter den versammelten Gästen einige, denen bereits ganz bestimmte Vorschläge gemacht worden waren. Pjotr Werchowenski war es inzwischen schon gelungen, bei uns eine ähnliche „Fünf“ zu gründen, wie er es in Moskau getan hatte – und außerdem noch eine, wie es sich jetzt erwiesen hat, in der Kreisstadt, unter den Offizieren. Es heißt sogar, daß er noch eine dritte im H–schen Gouvernement zustande gebracht habe. Die fünf Auserwählten saßen jetzt am großen Tisch und verstanden es vorzüglich, sich den Anschein der harmlosesten Leute zu geben. Es waren das – da es heute kein Geheimnis mehr ist – erstens: Liputin und Wirginski, dann dessen Schwager mit den trauernden Ohren, Schigaleff, ferner Lämschin und ein gewisser Tolkatschenko, ein sonderbarer Mensch, etwa vierzig Jahre alt, und bekannt wegen seiner Studien, die er am Volk, hauptsächlich an Spitzbuben und Banditen machte, und der absichtlich zu diesem Zweck (das heißt, nicht gerade ausschließlich zu diesem Zweck) in den schmutzigsten Schenken verkehrte und auch unter uns sich in schlechten Kleidern, Schmierstiefeln und Kernausdrücken am besten gefiel. Ein oder zweimal hatte ihn Lämschin auch zu Stepan Trophimowitsch mitgebracht, wo er jedoch nicht besonders gut abschnitt. In der Stadt erschien er gewöhnlich nur zeitweilig, meistens dann, wenn er wieder einmal ohne Stellung war. Diese fünf nun befanden sich in dem festen Glauben, eine „Fünf“ zu bilden – eine unter hunderten, tausenden gleicher „Fünfer-Gruppen“, die angeblich über ganz Rußland verstreut und alle von irgendeiner mächtigen „Zentrale“ abhängig waren, welche wiederum ihrerseits mit der europäischen Revolutionsbewegung verbunden sein sollte. Nur muß ich zu meinem Bedauern hinzufügen, daß sogar schon damals Uneinigkeit zwischen ihnen herrschte. Die Sache war nämlich die, daß sie, die schon seit dem Frühling Pjotr Werchowenski erwarteten, der ihnen zuerst von Tolkatschenko und dann von Schigaleff angekündigt worden war, nun, als er endlich erschien, sofort auf seinen ersten Wink hin den von ihm geplanten Kreis oder die „Gruppe“ gebildet hatten: kaum aber hatten sie sich zu ihrer „Fünf“ zusammengeschlossen, als sie sich auch alle ohne Ausnahme irgendwie dadurch gekränkt fühlten, daß sie es getan hatten – so schnell und ohne weitere Erwägung, im Grunde wohl nur deshalb, damit man von ihnen nicht sagen könne, sie hätten es nicht gewagt! Vor allem, so empfanden sie, hätte Pjotr Werchowenski ihre edle Heldentat doch auch wirklich schätzen und ihnen nun zur Belohnung wenigstens irgendein Hauptgeheimnis mitteilen müssen. Werchowenski aber dachte nicht einmal daran, ihre gerechte Neugier zu befriedigen, und erzählte so gut wie gar nichts, behandelte sie im Gegenteil mit Strenge und andererseits wiederum fast mit Nachlässigkeit. Das aber reizte natürlich die „Fünf“, und einer von ihnen, Schigaleff, stachelte denn auch schon die anderen auf, von ihm einen „Rechenschaftsbericht“ zu fordern, allerdings nicht gleich heute bei Wirginski, denn dort gab es zu viele Fremde ...
Was aber diese Fremden betrifft, so glaube ich, daß die vorhin genannten Glieder der ersten „Fünf“ geneigt waren, an jenem Abend bei Wirginski unter den Gästen noch andere Mitglieder anderer „Gruppen“, von denen sie nichts wußten und die derselbe Werchowenski vielleicht geheimnisvoll organisiert hatte, zu vermuten. So kam es denn, daß zu guter Letzt sich alle Gäste gegenseitig verdächtigten und ein jeder eine ganz besondere Haltung annahm, was denn der ganzen Versammlung etwas Irreführendes, ja zum Teil sogar Romantisches verlieh. Außerdem gab es da einen Major, einen vollkommen unschuldigen Menschen und nahen Verwandten Wirginskis, der uneingeladen zum Namenstage erschienen war. Der Hausherr beunruhigte sich nun freilich weiter nicht, denn der Major hätte „auf keine Weise denunzieren können“: trotz seiner Dummheit liebte es dieser Verwandte Wirginskis, dorthin zu gehen, wo es Liberale gab, doch nicht etwa, weil er deren Anschauungen teilte, sondern einfach, weil er ihnen gerne zuhörte. Und dazu war er selbst, von früher her, noch ein wenig kompromittiert: in seiner Jugend waren einmal ganze Lager revolutionärer Schriften durch seine Hände gegangen, und wenn er für seine Person sich auch gefürchtet hatte, sie auch nur aufzubinden, so würde er doch die Weigerung, die Gefälligkeit zu erweisen und sie zu verbreiten, für eine grenzenlose Gemeinheit gehalten haben – solche Russen gibt es nun einmal und sogar heute noch. Die übrigen Gäste gehörten entweder zu dem Typ der „zu Galle gewordenen gekränkten Eigenliebe“, oder zu dem des „ersten edlen Ausbruchs feuriger Jugend“. Da waren auch zwei oder drei Lehrer, von denen der eine – ein Lehrer am Gymnasium – lahm und schon fünfundvierzig Jahre alt war, ein ungewöhnlich boshafter und eitler Mensch, und zwei oder drei Offiziere. Zu den letzteren gehörte ein ganz junger Artillerist, ein Fähnrich, der erst vor ein paar Tagen aus einer Kriegsschule gekommen war, ein netter, schweigsamer Jüngling. Noch hatte er in der Stadt keine einzige Bekanntschaft gemacht, und schon saß er bei Wirginski im Kreise der Eingeladenen mit einem Bleistift in der Hand und machte sich von Zeit zu Zeit in sein Taschenbuch irgendwelche Notizen. Alle sahen das, doch alle taten aus irgendeinem Grunde, als bemerkten sie es nicht. Außerdem war ein herumbummelnder Seminarist anwesend, der Lämschin geholfen hatte, jene schändlichen Photographien in den Sack der Bibelverkäuferin zu stecken, ein großer Bursche mit ungezwungenem Benehmen, jedoch immer etwas argwöhnisch, und mit einem ewig alles besser wissenden Lächeln, dabei aber von dem ruhigen Gehaben der siegenden Vollkommenheit, die für ihn in seiner Person verkörpert war. Ferner war, ich weiß nicht, weshalb, noch der Sohn unseres Stadthauptes zugegen, ein schändlicher, früh verlebter junger Mann. Der schwieg aber fast nur. Und schließlich war da noch ein achtzehnjähriger Gymnasiast, der mit der finsteren Miene eines in seiner Würde gekränkten jungen Mannes da saß und augenscheinlich unter seinen achtzehn Jahren litt. Dieser Bengel war schon der „Chef“ einer Verschwörung der Oberprimaner, die sich, wie sich später zum allgemeinen Erstaunen herausstellte, im Gymnasium gebildet hatte, und zwar vollkommen selbständig. Beinahe hätte ich Schatoff vergessen, der am unteren Tischende saß, seinen Stuhl ein wenig aus der Reihe zurückgeschoben hatte, die ganze Zeit schwieg, auch für den Tee dankte, beständig zu Boden sah und seine Mütze nicht aus der Hand legte, als hätte er damit zu verstehen geben wollen, daß er nicht als Gast, sondern nur aus irgendwelchen sachlichen Gründen gekommen war, und, wenn es ihm einfiel, einfach aufstehen und fortgehen könne. Nicht weit von ihm hatte sich dann noch Kirilloff hingesetzt: dieser schwieg gleichfalls, doch sah er nicht zu Boden, sondern blickte im Gegenteil jedem, der da sprach, gerade ins Gesicht, mit seinem unbeweglichen, glanzlosen Blick, und hörte allen ohne die geringste Verwunderung vollkommen ruhig zu. Einige von den Gästen, die ihn noch nicht gesehen hatten, beobachteten ihn verstohlen. Es ist bis heute ungewiß, ob eigentlich Frau Wirginskaja etwas von der bestehenden „Fünf“ wußte. Ich nehme an, daß sie durch ihren Mann über alles unterrichtet war. Die Studentin hatte natürlich von nichts eine Ahnung, doch dafür war sie mit ihrer eigenen Sorge beschäftigt: sie beabsichtigte, nur einen oder zwei Tage bei Wirginskis zu bleiben und dann weiter und weiter zu reisen, durch alle Universitätsstädte, um „Teilnahme an den Leiden der armen Studierenden zu erwecken und sie zum Protest aufzurufen“. Sie führte einige hundert Exemplare eines lithographierten, wenn ich mich nicht täusche, von ihr selbst verfaßten Aufrufs mit sich. Merkwürdigerweise begann der Gymnasiast die Studentin schon vom ersten Blick an zu hassen, und zwar gleich bis aufs Blut, ungeachtet dessen, daß er sie zum erstenmal im Leben sah, und sie erwiderte diesen Haß in genau demselben Maße. Der Major war ihr leiblicher Onkel, der sie vor gut zehn Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Als Stawrogin und Werchowenski eintraten, waren ihre Wangen rot wie Preißelbeeren: sie hatte mit dem Onkel gerade über die Frauenfrage aufs heftigste gestritten.
Werchowenski warf sich auffallend nachlässig auf einen Stuhl am oberen Tischende, fast ohne jemanden zu grüßen. Er sah mißgestimmt und sogar hochmütig aus. Stawrogin dagegen grüßte höflich die Anwesenden. Obgleich man nur auf diese beiden gewartet hatte, taten doch alle wie auf ein Kommando, als ob sie sie überhaupt nicht bemerkten. Kaum hatte Stawrogin sich gesetzt, als Frau Wirginskaja sich in strengem Ton an ihn wandte:
„Stawrogin, wollen Sie Tee?“
„Sehr gern,“ antwortete dieser.
„Reiche Herrn Stawrogin ein Glas Tee,“ befahl sie der Schwester, „– und Sie?“ fragte sie Werchowenski.
„Selbstverständlich, nur her damit, wer fragt denn die Gäste noch danach? Und geben Sie auch Sahne diesmal, sonst wird ja hier immer solch eine Abscheulichkeit anstatt Tee gereicht – und dabei gibt’s heute noch ein ‚Geburtstagskind‘ im Hause!“
„Wie, auch Sie erkennen das ‚Geburtstagefeiern‘ an?“ fragte die Studentin auflachend. „Wir haben soeben darüber gesprochen.“
„Abgedroschen!“ bemerkte sogleich am anderen Tischende der Gymnasiast mit überlegener Miene.
„Was ist abgedroschen? Vorurteile vergessen ist durchaus nicht abgedroschen, und wenn es auch die unschuldigsten von der Welt sind, sondern ist, im Gegenteil, zur allgemeinen Schande noch heute neu,“ gab die Studentin sofort empfindlich zurück. „Und zudem gibt es überhaupt keine unschuldigen Vorurteile,“ fügte sie geradezu erbittert hinzu.
„Ich wollte nur bemerken,“ regte sich der Gymnasiast furchtbar auf, „daß Vorurteile, wenn sie auch eine alte Sache sind, und man sie ausrotten muß ... was aber Namenstag- und Geburtstagfeiern anbetrifft ... so wissen schon alle längst, daß das Dummheiten sind und das Gerede darüber viel zu alt und abgedroschen ist, um darauf noch die kostbare Zeit zu vergeuden, die ohnehin schon von aller Welt vergeudet worden ist, so daß man seine Worte lieber einem bedürftigeren ...“
„Was ist das für ein Satz! Ich kann nichts verstehen!“ unterbrach ihn die Studentin.
„Ich glaube, daß ein jeder gleich anderen das Recht des Wortes hat, und wenn ich meine Meinung sagen will, wie jeder andere, so ...“
„Ihnen nimmt niemand das Recht des Wortes,“ unterbrach ihn die Hausfrau, „Sie sind nur gebeten worden, nicht so undeutlich zu sprechen, denn so kann Sie ja kein Mensch verstehen.“
„Aber, erlauben Sie mir, zu bemerken, daß Sie mich gar nicht achten: wenn ich vorhin meinen Gedanken nicht zu Ende sprechen konnte, so kam das nicht daher, daß ich keinen Gedanken hatte, sondern eher vom Überfluß von Gedanken ...“ stotterte der Gymnasiast fast verzweifelt und verwickelte sich endgültig.
„Wenn Sie nicht zu sprechen verstehen, so schweigen Sie lieber,“ platzte die Studentin heraus.
Der Gymnasiast sprang jetzt sogar vom Stuhl auf.
„Ich wollte nur sagen,“ rief er laut und brennend rot vor Schande, doch fürchtete er sich, jemanden anzusehen, „daß Sie sich nur deswegen mit Ihrem Verstande breitmachen wollen, weil Herr Stawrogin gekommen ist – da haben Sie’s!“
„Ihr Gedanke ist schmutzig und unsittlich und beweist nur die ganze Nichtigkeit Ihrer geistigen Entwickelung. Ich bitte Sie, sich weiter nicht an mich zu wenden!“ knatterte sofort die Antwort der Studentin.
„Stawrogin,“ begann die Hausfrau, „bevor Sie kamen, regten sie sich hier über Familienrechte auf – besonders der Herr Major,“ sie wies auf ihren Verwandten. „Aber ich werde Sie mit diesen alten Streitfragen, die doch schon längst erledigt sind, nicht weiter belästigen. Ich frage mich nur, woher sind nun diese Rechte und Pflichten der Familie gekommen, ich meine, im Sinne dieses Vorurteils, wie es jetzt besteht? Das ist die Frage. Was meinen Sie?“
„Wieso – woher gekommen?“ fragte Stawrogin zurück.
„Das heißt, wir wissen zum Beispiel, daß das Vorurteil, daß es einen Gott geben müsse, durch den Donner und Blitz hervorgerufen worden ist,“ ereiferte sich sofort wieder die Studentin, die mit den Augen förmlich auf Stawrogin lossprang. „Man weiß jetzt ganz genau, daß die Urmenschen, die sich vor Donner und Blitz fürchteten, den unsichtbaren Feind zum Gott erhoben, da sie ihre eigene Machtlosigkeit vor ihm fühlten. Aber wie ist nun das Vorurteil der Familie entstanden? Und wie ist überhaupt die Familie entstanden?“
„Das ist doch wohl nicht dasselbe ...“ versuchte die Hausfrau einzuwenden.
„Ich denke, die Antwort auf diese Frage dürfte nicht ganz – sagen wir, sittsam sein,“ antwortete Stawrogin.
„Wie das?“ rückte die Studentin wieder vor.
Aber schon hörte man aus der Lehrergruppe leises Lachen, das sofort am anderen Ende des Tisches, bei Lämschin und dem Gymnasiasten, ein Echo fand, worauf der Major plötzlich hell und laut loslachte.
„Sie sollten Vaudevilles schreiben,“ sagte die Hausfrau zu Stawrogin.
„Das macht Ihnen wirklich keine Ehre, – ich weiß nicht, wie Sie heißen,“ sagte die Studentin mit entschiedenem Unwillen zu Stawrogin.
„Du aber solltest nicht so vorwitzig sein!“ tadelte der Major. „Bist ein Fräulein, mußt dich sittsam halten, du aber bist ja ganz, als hättest du dich auf eine Nadel gesetzt.“
„Könnten Sie nicht lieber schweigen? Zum mindesten möchte ich Sie bitten, sich im Gespräch mit mir nicht so familiär auszudrücken. Und diese widerlichen Vergleiche verbitte ich mir einfach. Ich sehe Sie heute zum erstenmal und will nichts von Ihrer Verwandtschaft wissen.“
„Aber ich bin doch dein Onkel! Ich habe dich doch als Säugling auf meinen Armen geschleppt!“
„Was geht das mich an, was Sie da alles geschleppt haben! Ich habe Sie damals nicht darum gebeten, mein unhöflicher Herr Major, also muß es Ihnen wohl selbst Spaß gemacht haben, mich zu tragen. Und gestatten Sie mir noch zu bemerken, daß Sie sich nicht unterstehen dürfen, mich zu duzen, es sei denn als Bürgerin, sonst aber untersage ich es Ihnen ein für allemal.“
„So sind sie nun alle!“ Der Major schlug mit der Faust auf den Tisch und wandte sich an Stawrogin, der ihm gegenüber saß. „Nein, erlauben Sie, ich liebe Liberalismus und alles Zeitgemäße. Ich liebe auch klugen Gesprächen zuzuhören, aber – wohlgemerkt: von Männern! Doch von Frauen, von diesen da, von diesen Flattervögeln – nein, Verzeihung, aber das ist schon mein wunder Punkt! Du, dreh dich nicht so viel!“ fuhr er die Studentin an, die vor Ungeduld schon wieder fast vom Stuhl sprang. „Ich will auch einmal zu Wort kommen! Jetzt bin ich der Gekränkte!“
„Sie stören nur die anderen und selbst verstehen Sie doch nichts zu sagen,“ bemerkte die Hausfrau unwirsch.
„Nein, ich werde schon zu sagen verstehen, was ich sagen will,“ ereiferte sich der Major, und wandte sich an Stawrogin. „Ich rechne auf Sie, Herr Stawrogin, da Sie ein Neueingetretener sind, obgleich ich nicht die Ehre habe, Sie zu kennen. Ich hoffe, daß Sie mir beipflichten werden. Ohne Männer wären die Frauen einfach verloren, wie die Fliegen, – das ist meine Meinung. Die ganze Frauenfrage ist nichts weiter als Mangel an Originalität. Ich sage Ihnen; diese Frauenfrage haben ihnen nur die Männer ausgedacht, einfach aus purer Dummheit sich selbst auf den Hals geladen, – ich danke bloß Gott, daß ich nicht verheiratet bin! Nicht die geringste Verschiedenheit ist in den Frauen, nicht einmal ein einfaches Stickmuster können sie sich ausdenken, auch das müssen die Männer für sie tun! Sehen Sie, da habe ich sie als Kind auf den Händen getragen, habe mit ihr, als sie zehn Jahre alt war, Mazurka getanzt, – heute kommt sie an und wie ich ihr entgegenfliege, um sie abzuküssen, da erklärt sie mir schon nach dem zweiten Wort, daß es einen Gott überhaupt nicht gibt. Wenn sie es doch wenigstens nach dem dritten getan hätte, aber nein, sie muß es schon nach dem zweiten tun – so eilig hat sie’s! Nun schön, angenommen, kluge Leute glauben nicht an Gott, das soll ja bloß vom Verstande abhängen, aber du, sage ich ihr, was verstehst du denn unter Gott? Dich hat das doch wieder nur der Student gelehrt, hätte er dich aber die Lämpchen vor den Heiligenbildern anzünden gelehrt, so würdest du eben Lämpchen anzünden!“
„Das ist alles nicht wahr, was Sie da sagen. Sie sind ein sehr boshafter Mensch. Ich aber habe Ihnen vorhin bloß Ihre Dummheit beweisen wollen,“ sagte die Studentin nachlässig, als verachtete sie es im Grunde, sich mit solch einem Menschen noch weiter zu streiten. „Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß man uns nach dem Katechismus lehrt: ‚Ehre Vater und Mutter, damit es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden‘. Das steht in den zehn Geboten. Wenn nun Gott es für nötig hielt, für Liebe eine Belohnung zu versprechen, so ist meines Erachtens dieser euer Gott einfach unmoralisch. Das war es, was ich Ihnen vorhin auseinandersetzte, und durchaus nicht nach dem zweiten Wort, sondern einfach, weil Sie auf Ihre Verwandtenrechte pochten. Was kann ich dafür, daß Sie stumpfsinnig sind und mich bis jetzt noch nicht begriffen haben? Das kränkt Sie und Sie ärgern sich: das ist die ganze Lösung des Rätsels von Ihnen und Ihresgleichen.“
„Närrin!“ nannte sie der Major.
„Sie sind selbst ein Narr.“
„Schimpf nur!“
„Aber erlauben Sie, Kapiton Maximowitsch, Sie haben mir doch selbst gesagt, daß Sie an Gott nicht glauben,“ rief Liputin mit seiner unangenehmen Stimme vom anderen Tischende.
„Was hat das damit zu tun, was ich gesagt habe, ich – ich bin eine ganz andere Sache! Ich – nun, vielleicht glaube ich doch, nur glaube ich nicht so ganz. Wenn ich aber auch nicht ganz glaube, so sage ich doch noch nicht, daß man Gott gleich totschießen soll. Ich habe schon, als ich noch Husar war, über Gott nachgedacht. Es heißt sonst wohl in allen Gedichten, daß ein Husar bloß trinkt und durchgeht, schön, ich habe vielleicht auch getrunken, aber, glauben Sie mir, wenn es manchmal in der Nacht so dunkel ist, da springt man wohl plötzlich auf und kniet vor dem Heiligenbild nieder und schlägt ein Kreuz über das andere, damit Gott einem Glauben schicke, denn selbst damals konnte ich mich über diese Frage nicht beruhigen: gibt es einen Gott, oder gibt es keinen? Dermaßen bitter ist mir das geworden! Morgens, natürlich, da zerstreut man sich und wieder geht der Glaube gleichsam flöten, ja und überhaupt ist mir eigentlich aufgefallen, daß man am Tage den Glauben viel weniger nötig hat.“
„Haben Sie vielleicht Karten?“ fragte Werchowenski, sich zur Hausfrau wendend, und gähnte ungeniert.
„Ich kann Ihnen diese Frage nur zu sehr, nur zu sehr nachfühlen!“ beteuerte die Studentin eifrig.
„Man verliert bloß die goldene Zeit, wenn man so leerem Geschwätz zuhört,“ sagte die Hausfrau und blickte ihren Mann bedeutsam an.
Die Studentin raffte sich auf.
„Ich wollte der Versammlung von den Leiden und dem Protest der Studenten Mitteilung machen, und da die Zeit über unmoralischen Gesprächen vergeudet wird ...“
„Es gibt überhaupt weder Moralisches noch Unmoralisches!“ fiel ihr der Gymnasiast sogleich ins Wort, kaum daß er sah, daß die Studentin mit einer Rede beginnen wollte.
„Das habe ich, mein Herr Gymnasiast, schon viel früher gewußt, als Sie das aufgeschnappt haben!“
„Und ich behaupte,“ raste der Gymnasiast geradezu, „Sie sind – ein aus Petersburg angekommenes Kind, das uns bilden will! Daß das vierte Gebot, das Sie nicht einmal richtig aufzusagen verstanden, unmoralisch ist, das weiß schon seit Belinski ganz Rußland!“
„Wird das jemals ein Ende nehmen?“ fragte Frau Wirginskaja gereizt ihren Mann.
Als Hausfrau errötete sie wegen der nichtigen Gespräche, besonders nachdem sie einige fragende Blicke der Gäste untereinander bemerkt hatte.
„Meine Herren!“ Wirginski erhob plötzlich die Stimme, „falls jemand von Ihnen etwas, was mehr zur Sache paßt, zu sagen hat, so bitte ich, ohne Zeitverlust damit beginnen zu wollen.“
„Gestatten Sie mir eine Frage,“ sagte plötzlich der lahme Lehrer, der bis dahin nur geschwiegen und sehr zurückhaltend dagesessen hatte, „ich würde doch gern wissen, ob wir hier eine Sitzung halten sollen, oder ob wir uns wie gewöhnliche Sterbliche zu einer Geburtstagsfeier versammelt haben? Ich frage es mehr der Ordnung wegen.“
Die Frage machte nicht geringen Eindruck: man sah sich an, als ob ein jeder vom anderen die Antwort erwartete, und plötzlich wandten sich aller Augen, wie auf ein Kommando, auf Stawrogin und Werchowenski.
„Ich schlage vor, über die Antwort einfach abzustimmen. Die Frage ist: ‚Halten wir eine Sitzung oder nicht?‘“ sagte Frau Wirginskaja.
„Ich stimme ganz Ihrem Vorschlage bei,“ rief Liputin, „wenn er auch ein wenig unbestimmt ist.“
„Ich gleichfalls!“ „Ich auch!“ riefen noch andere Stimmen.
„Ich denke gleichfalls, daß das mehr Ordnung schaffen wird,“ meinte Wirginski.
„Also bitte die Stimmen abzugeben!“ rief die Hausfrau. „Lämschin, seien Sie so freundlich und setzen Sie sich so lange ans Klavier. Sie werden auch von dort aus Ihre Stimme abgeben können, wenn wir so weit sind.“
„Schon wieder!“ rief Lämschin. „Ich dächte, ich hätte Ihnen nachgerade genug vorgetrommelt!“
„Ich bitte Sie ausdrücklich darum: Wollen Sie denn der Sache nicht nützlich sein?“
„Aber ich versichere Sie, Arina Prochorowna, daß draußen niemand horcht. Das ist nur Ihre Phantasie. Die Fenster sind außerdem viel zu hoch; und wer würde denn hier überhaupt etwas verstehen, selbst wenn er alles hörte?“
„Wir verstehen uns ja selbst nicht,“ murmelte eine Stimme.
„Und ich behaupte, daß Vorsicht immer angebracht ist. Für den Fall, daß es Spione gibt,“ wandte sie sich darauf zu Werchowenski, „– mögen sie dann auf der Straße hören, daß es bei uns Musik und lustige Gäste gibt.“
„Zum Teufel!“ schimpfte Lämschin, setzte sich aber doch ans Klavier und begann irgendwie, fast mit den Fäusten, einen Walzer zu spielen.
„Ich schlage vor, daß alle, die eine Sitzung wünschen, die rechte Hand erheben,“ beantragte Frau Wirginskaja.
Einige erhoben die rechte Hand, einige wiederum nicht; andere erhoben sie und senkten sie wieder oder senkten sie und erhoben sie von neuem.
„Pfui, Teufel! Hab nichts kapiert!“ rief ein Offizier geärgert.
„Und ich verstehe auch nichts!“ rief ein anderer.
„Nein, ich verstehe wohl!“ rief ein dritter. „Wenn ‚ja‘, so hebt man die Hand auf.“
„Aber was bedeutet denn das ‚ja‘?“
„‚Ja‘ bedeutet: Sitzung!“
„Nein, umgekehrt!“
„Ich habe für die Sitzung gestimmt!“ rief der Gymnasiast Frau Wirginskaja zu.
„Warum haben Sie dann die Hand nicht erhoben?“
„Ich habe die ganze Zeit auf Sie gesehen: Sie hoben sie nicht, und so hob ich sie auch nicht.“
„Wie dumm das ist! Ich habe sie doch nur deswegen nicht erhoben, weil ich das Abstimmen vorgeschlagen hatte. Meine Herren, ich schlage nochmals vor: wer eine Sitzung will, der soll ruhig sitzen bleiben und keine Hand erheben, wer aber keine Sitzung will, der soll die rechte Hand aufheben.“
„Wer nicht will?“ fragte der Gymnasiast.
„Ach, Sie stellen sich wohl mit Absicht so stupid?“ rief Frau Wirginskaja zornig.
„Nein, erlauben Sie mal, wer nicht will, oder wer da will, das muß schon genauer festgestellt werden,“ ertönten zwei, drei Stimmen.
„Wer nicht will, nicht will!“
„Nun schön, aber was soll man denn jetzt tun, aufheben oder nicht aufheben, wenn man nicht will?“ rief ein Offizier.
„Ach ja, an eine Konstitution ist bei uns noch nicht zu denken!“ bemerkte der Major.
„Herr Lämschin, haben Sie die Güte, Sie hämmern ja dermaßen, daß niemand etwas verstehen kann,“ bemerkte der lahme Lehrer.
„Ja, bei Gott, Arina Prochorowna, es horcht doch wirklich kein Spion an den Türen!“ rief Lämschin aufspringend. „Und ich will auch nicht mehr spielen! Ich bin zu Ihnen zu Besuch gekommen, aber nicht, um hier das Klavier zu bearbeiten!“
„Meine Herren,“ begann Wirginski, „antworten Sie alle laut: halten wir Sitzung oder nicht?“
„Sitzung, Sitzung!“ ertönte es von allen Seiten.
„Gut, dann brauchen wir nicht mehr abzustimmen. Sind Sie einverstanden, meine Herren, oder sollen wir doch noch abstimmen?“
„Nicht nötig, genug, haben schon verstanden!“
„Vielleicht will aber irgend jemand doch nicht?“
„Nein, nein, alle wollen!“
„Ja, aber was ist denn das für eine Sitzung?“ erhob sich eine Stimme, die jedoch keine Antwort erhielt.
„Man muß einen Präsidenten wählen!“ riefen mehrere zugleich.
„Den Hausherrn, selbstverständlich, den Hausherrn!“
„Meine Herren, wenn es so ist,“ begann der erwählte Wirginski, „– dann mache ich nochmals meinen Vorschlag: falls jemand von Ihnen etwas, was mehr zur Sache paßt, zu sagen hat, so bitte ich, damit zu beginnen.“
Allgemeines Schweigen. Wieder wandten sich alle Blicke Stawrogin und Werchowenski zu.
„Werchowenski, hätten Sie nichts zu sagen?“ fragte ihn die Hausfrau.
„Nicht, daß ich wüßte,“ sagte der gähnend und lehnte sich nachlässig auf seinem Stuhl zurück. „Übrigens, ich würde gern einen Kognak trinken.“
„Stawrogin, wollen Sie nicht?“
„Nein, danke, ich trinke nicht.“
„Ich meinte, ob Sie nicht reden wollen, und nicht, ob Sie einen Kognak wünschen!“
„Reden, worüber? Nein, ich will nicht.“
„Sie werden sofort Ihren Kognak bekommen,“ sagte sie zu Werchowenski.
Die Studentin erhob sich wieder, was sie mittlerweile schon mehrmals halbwegs getan hatte.
„Ich bin gekommen, um von den Leiden der unglücklichen Studenten zu berichten und sie allerorten zum Protest aufzufordern ...“
Sie kam nicht weiter: am anderen Tischende erhob sich ein neuer Konkurrent und alle Blicke flogen ihm sofort zu. Schigaleff, der Mann mit den langen Ohren, erhob sich mit finsterem, geärgertem Gesicht bedächtig vom Stuhl und legte mit melancholischer Miene ein dickes, unendlich klein und eng beschriebenes Heft vor sich auf den Tisch. Die meisten sahen bestürzt auf das dicke Heft, doch Liputin, Wirginski und der lahme Lehrer waren augenscheinlich mit irgend etwas sehr zufrieden.
„Ich bitte ums Wort,“ sagte Schigaleff endlich finster, doch bestimmt.
„Herr Schigaleff hat das Wort,“ verkündete Wirginski.
Der Redner setzte sich, schwieg wieder und begann darauf feierlichst:
„Meine Herrschaften! ...“
„Hier haben Sie den Kognak!“ sagte die Verwandte, die den Tee eingegossen hatte und die inzwischen nach dem Kognak gegangen war, mit sichtlicher Verachtung. Sie stellte die Flasche und das Glas, die sie in der Hand ohne Untersetzer brachte, ärgerlich auf den Tisch vor Werchowenski hin.
Der unterbrochene Redner verstummte würdevoll.
„Fahren Sie nur fort, ich höre nicht zu!“ rief Werchowenski, der sich den Kognak eingoß.
„Meine Herren, indem ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehme,“ begann Schigaleff von neuem, „und wie Sie später sehen werden, Ihre Hilfe in einem Punkte von erstklassiger Wichtigkeit erbitte, muß ich vorher einige Worte zur Einleitung sagen.“
„Arina Prochorowna, haben Sie vielleicht eine Schere?“ fragte plötzlich Pjotr Stepanowitsch.
„Wozu brauchen Sie eine Schere?“ Sie sah ihn verwundert mit großen Augen an.
„Hab mir die Nägel zu schneiden vergessen, obgleich ich’s mir schon drei Tage immer wieder vorgenommen habe,“ sagte er, gelassen seine langen und ungeputzten Nägel betrachtend.
Arina Prochorowna wurde rot vor Ärger, doch die Studentin schien daran Gefallen zu finden.
„Ich glaube, ich habe vorhin hier auf einem Fenster eine Schere gesehen,“ sagte sie, erhob sich, suchte die Schere und kam sofort wieder zurück.
Pjotr Stepanowitsch sah sie nicht einmal an, als er die Schere nahm. Arina Prochorowna sagte sich, daß das wohl unter freien Menschen so sein müsse, und schämte sich ihrer Empfindlichkeit. Die Gäste sahen sich stumm untereinander an. Der lahme Lehrer lächelte boshaft und beobachtete Werchowenski mit gehässigem Ausdruck.
Schigaleff fuhr fort:
„Nachdem ich meine Energie dem Studium des Problems der sozialen Verfassung der zukünftigen Gesellschaft, mit dem sich alle Gegenwartsmenschen beschäftigen, gewidmet, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß alle Gründer sozialer Systeme, seit den ältesten Zeiten bis zu unserem 187...sten Jahre, bloß Grübler, Märchenerzähler, Dummköpfe gewesen sind, die sich selbst widersprochen und so gut wie nichts von der Naturwissenschaft und diesem sonderbaren Tiere, das wir Mensch nennen, gewußt haben. Plato, Rousseau, Fourier sind Säulen aus Aluminium, alles das taugt vielleicht für Spatzen, aber nicht für die menschliche Gesellschaft. Da aber die zukünftige Gesellschaftsform gerade jetzt festzusetzen unumgänglich nötig ist, gerade in diesem Augenblick, da wir uns endlich zu handeln anschicken, um dann nicht mehr nachdenken zu müssen, so schlage ich denn mein eigenes System der Welteinrichtung vor. Hier ist es!“ und er schlug mit der Hand auf sein dickes Heft. „Zuerst wollte ich der Versammlung mein Buch in gekürzter Form vorlegen, aber ich sah ein, daß ein derartiges Verfahren noch viele mündliche Erklärungen nötig machen würde. Daher habe ich mich denn entschlossen, es Ihnen an mindestens zehn Abenden – da es in zehn Kapitel eingeteilt ist – vorzutragen. (Leises Gelächter.) Ich muß Sie jedoch im voraus darauf aufmerksam machen, daß mein System noch nicht beendet, das heißt, noch nicht ganz ausgearbeitet ist. (Lauteres Gelächter.) Ich habe mich nämlich in meinen eigenen Argumenten verwickelt: meine schließliche Folgerung steht in geradem Widerspruch zu der anfänglichen Idee. Nachdem ich von unbeschränkter Freiheit ausgegangen bin, komme ich zum Schluß zu unbeschränktem Despotismus. Jedenfalls aber füge ich hinzu, daß es außer meiner Lösung der Gesellschaftsformel eine andere Lösung überhaupt nicht geben kann.“
Das Gelächter war lauter und immer lauter geworden, doch waren es eigentlich nur die jüngeren, die gewissermaßen nicht ganz eingeweihten Gäste, die da lachten. Auf dem Gesicht der Hausfrau, Liputins und des lahmen Lehrers drückte sich einiger Unwille aus.
„Wenn Sie selbst es nicht einmal verstanden haben, Ihr eigenes System zu vollenden, und darüber in Verzweiflung geraten sind, so sagen Sie doch bitte, was wir noch machen sollen?“ bemerkte vorsichtig einer der Offiziere.
„Sie haben recht, mein Herr aktiver Offizier,“ wandte sich Schigaleff schroff an ihn, „und vor allen Dingen darin, daß Sie das Wort ‚Verzweiflung‘ gebrauchten. Ja, ich geriet in Verzweiflung; doch nichtsdestoweniger ist alles, was in meinem Buche steht, unersetzlich, und einen anderen Ausweg gibt es nicht; einen solchen wird keiner finden. Und darum beeile ich mich, ohne Zeit zu verlieren, die ganze Gesellschaft aufzufordern, später, also nachdem ich mein System an zehn Abenden vorgetragen habe, ihre Meinung über dasselbe zu äußern. Wollen aber die Mitglieder mir nicht zuhören, so ist es besser, wir gehen sofort alle auseinander, – die Männer, um sich mit Verwaltungsarbeiten abzugeben, und die Frauen – in ihre Küchen, aus dem Grunde, weil sie, wenn sie mein System ablehnen, einen anderen Ausweg doch nicht mehr finden können. Kei–nen einzigen! Lassen sie aber die Zeit sich entgehen, so schaden sie sich damit nur, da sie dann doch unfehlbar zum ewig Alten zurückkehren werden.“
Man wurde ein wenig unruhig: „Was soll das ...? Wie ...? Etwa übergeschnappt ...?“ hörte man flüstern.
„Das heißt also, daß die Hauptsache jetzt bloß in Schigaleffs Verzweiflung besteht,“ folgerte Lämschin, „und die Tagesfrage nur lauten kann: hat er nun das Recht, verzweifelt zu sein, oder hat er es nicht?“
„Schigaleffs Verzweiflung ist eine vollkommen persönliche Frage,“ verkündete der Gymnasiast.
„Ich schlage vor, abzustimmen, inwieweit die Verzweiflung Schigaleffs die allgemeine Sache angeht, und ferner, ob es sich überhaupt lohnt, sein System anzuhören oder nicht?“ schlug heiter einer von den Offizieren vor.
„Hier handelt es sich nicht darum,“ mischte sich endlich der lahme Lehrer ins Gespräch. Er sprach gewöhnlich mit einem gewissen gleichsam spöttischen Lächeln, so daß es eigentlich schwer war, festzustellen, ob er im Ernst sprach oder nur scherzte. „Hier, meine Herrschaften, handelt es sich um etwas ganz anderes. Herr Schigaleff hat sich seiner Aufgabe gar zu gewissenhaft gewidmet und ist dabei allzu bescheiden. Ich kenne sein Buch. Er schlägt darin vor, und zwar als endgültige Lösung des Problems, die Teilung der Menschheit in zwei ungleiche Teile. Der kleinere Teil, ungefähr nur ein Zehntel der Menschheit, erhält allein persönliche Freiheit und das unbeschränkte Recht über die übrigen neun Zehntel. Diese neun Zehntel der Menschheit aber sollen ihre Persönlichkeit vollkommen einbüßen und zu einer Art Herde werden, um bei grenzenlosem Gehorsam mittels einer Reihe von Wiedergeburten die uranfängliche Unschuld wiederzugewinnen, etwa in der Form des alten Paradieses, wenn sie auch, nebenbei bemerkt, arbeiten müssen. Die Maßregeln, die der Autor vorschlägt, um den neun Zehnteln der Menschheit den persönlichen Willen zu nehmen, sowie um sie mittels einer neuen Erziehung ganzer Generationen in eine Herde umzubilden, – diese Maßregeln sind ungemein bemerkenswert, stützen sich zudem auf naturwissenschaftliche Tatsachen und sind sehr logisch. Man kann sich vielleicht mit einigen seiner Folgerungen nicht einverstanden erklären und ihm widersprechen, doch deshalb kann man noch nicht den Verstand und das Wissen des Autors anzweifeln. Das wäre auch unsinnig. Schade, daß seine Absicht, den Inhalt seines Buches an zehn Abenden vorzutragen mit den Umständen so unvereinbar ist, sonst bekämen wir viel Interessantes zu hören.“
„Meinen Sie das wirklich im Ernst?“ fragte Frau Wirginskaja fast beunruhigt den lahmen Lehrer. „Weil dieser Mensch nicht weiß, wohin er mit den Menschen soll, verlangt er, daß man neun Zehntel zu Sklaven macht? Ich habe ihn schon längst im Verdacht gehabt ... –“
„Sprechen Sie von Ihrem Bruder?“ fragte der Lahme.
„Wie, Sie erkennen Verwandtschaft an? Oder wollen Sie sich über mich lustig machen?“
„Und dazu noch für die Aristokraten arbeiten und ihnen wie Göttern gehorchen – das ist eine Gemeinheit!“ rief die Studentin empört.
„Ich schlage keine Gemeinheit vor, sondern ein Paradies, das irdische Paradies, und ein anderes kann es hier auf Erden überhaupt nicht geben,“ schloß Schigaleff mit Nachdruck.
„Ich aber würde anstatt des Paradieses,“ schrie Lämschin, „diese ganzen neun Zehntel der Menschheit nehmen und sie, da man mit ihnen doch nichts anzufangen weiß, einfach in die Luft sprengen, und würde nur ein Häufchen gebildeter Leute übriglassen, die dann nach der Wissenschaft herrlich und in Freuden leben könnten.“
„So etwas kann nur ein Narr sagen!“ fuhr die Studentin auf.
„Er ist ein Narr, aber er ist nützlich,“ flüsterte ihr Frau Wirginskaja zu.
„Und vielleicht wäre das die beste Lösung der Aufgabe!“ wandte sich Schigaleff lebhaft zu Lämschin. „Sie wissen natürlich nicht mal, welch einen tiefen Gedanken Sie da ausgesprochen haben, mein lustiger Herr. Da aber Ihr Vorschlag kaum erfüllbar ist, so muß man sich eben mit dem sogenannten Erdenparadies begnügen.“
„Einstweilen ist das schon genügender Unsinn!“ bemerkte plötzlich Werchowenski, anscheinend ganz unwillkürlich als Betrachtung, die einem mal so entschlüpft. Übrigens fuhr er dabei gelassen und ohne aufzublicken fort, seine Nägel zu beschneiden.
„Wieso, warum soll denn das ein Unsinn sein?“ griff sofort der lahme Lehrer die Bemerkung auf, als hätte er nur auf das erste Wort von Werchowenski gewartet, um ihn angreifen zu können. „Warum denn gerade ein Unsinn? Herr Schigaleff ist zum Teil ein Fanatiker der Menschenliebe; und erinnern Sie sich nur, daß selbst Fourier, Cabet ganz besonders, und sogar Proudhon eine Menge der allerdespotischsten und allerfanatischsten theoretischen Lösungen der Frage gegeben haben. Herr Schigaleff hat vielleicht noch am nüchternsten von ihnen allen die Sache angefaßt. Ich versichere Sie, daß es nach der Lektüre seines Buches fast unmöglich ist, mit einigen seiner Behauptungen nicht übereinzustimmen. Er hat sich vielleicht am allerwenigsten von der Realität entfernt, und sein Erdenparadies ist beinahe das wirkliche Paradies, dasselbe, über dessen Verlust die ganze Menschheit seufzt – vorausgesetzt natürlich, daß es wirklich einmal existiert hat.“
„Ich konnte mir ja denken, daß ich mir da was auf den Hals lade,“ murmelte Werchowenski wieder nachlässig.
„Erlauben Sie,“ regte sich der Lahme mehr und mehr auf, „Gespräche und Betrachtungen über die zukünftige soziale Einrichtung sind fast die dringendste Pflicht aller denkenden Menschen der Gegenwart. Alexander Herzen hat sich sein Leben lang einzig und allein darum gesorgt, und Belinski hat, wie ich aus der sichersten Quelle weiß, ganze Abende mit seinen Freunden verbracht, indem er mit ihnen im voraus über die kleinsten Einzelheiten der zukünftigen sozialen Welteinrichtung debattierte, ja, sozusagen über deren Küchenfragen stritt.“[46]
„Und einige werden darüber gar vollends verrückt,“ bemerkte der Major.
„Immerhin kann man sich so doch zu irgendeinem Ergebnis durchsprechen, und das ist, denke ich, jedenfalls besser, als wie die Diktatoren dazusitzen und zu schweigen,“ rief Liputin gehässig, der es jetzt endlich zu wagen schien, Werchowenski anzugreifen.
„Ich habe nicht zu Schigaleffs Ideen ‚Unsinn‘ gesagt,“ murmelte Werchowenski nachlässig, fast kaum verständlich seine Worte. „Sehen Sie, meine Herrschaften,“ er blickte kurz auf – „meiner Meinung nach sind alle diese Bücher Fouriers, Cabets, alle diese ‚Arbeitsrechte‘, der Schigalewismus – alles das erinnert an Romane, die man ja zu Hunderttausenden schreiben kann. Ästhetischer Zeitvertreib. Ich begreife ja, daß Sie es hier im Städtchen langweilig haben und sich eben darum aufs Schreibpapier stürzen.“
„Erlauben Sie,“ der Lahme rückte ungeduldig auf dem Stuhl, „wenn wir auch Provinzler sind und natürlich schon deswegen allein Mitleid verdienen, so wissen wir doch, daß inzwischen in der Welt nichts so Besonderes oder Neues geschehen ist, als daß wir Grund hätten, darüber zu klagen, daß wir es nicht mit unseren Augen gesehen haben. Da fordert man uns nun auf, durch verschiedene Schandblätter ausländischen Fabrikats, die hier verbreitet werden, uns zusammenzutun und Geheimbünde zu gründen, einzig zu dem Zweck der allgemeinen Zerstörung – unter dem Vorwande: wie man an der Welt auch herumdoktern wollte, ganz gesund könne man sie doch nicht machen; schneidet man aber radikal hundert Millionen Köpfe ab, so könne man nach dieser Erleichterung besser über den Graben springen. Ein herrlicher Gedanke, zweifellos, aber – mit der Wirklichkeit mindestens ebenso unvereinbar wie der Schigalewismus, über den Sie sich noch im Augenblick so verächtlich äußerten.“
„Na, ja, ich bin aber nicht zu dem Zweck hergekommen, um hier Betrachtungen anzustellen,“ versprach sich Werchowenski gleichsam mit einem bedeutsamen Wort, tat aber dabei, als hätte er das selbst gar nicht bemerkt, und zog ruhig ein Licht zu sich heran, damit er es heller habe.
„Schade, wirklich sehr schade, daß Sie nicht zu dem Zweck hergekommen sind, und desgleichen, daß Sie jetzt mit Ihrer Toilette beschäftigt sind!“
„Was hat das mit meiner Toilette zu tun?“
„Die Idee, die Menschheit um hundert Millionen Köpfe zu verringern, ist ebenso schwer zu verwirklichen, wie die Welt mittels Propaganda umzuändern. Vielleicht sogar noch schwerer, besonders in Rußland,“ wagte sich Liputin wieder vor.
„Man scheint jetzt allgemein auf Rußland zu hoffen,“ bemerkte einer von den Offizieren.
„Ja, auch wir haben davon gehört, daß man auf Rußland hofft,“ griff der lahme Lehrer die Bemerkung auf. „Wir wissen, daß auf unser herrliches Vaterland ein geheimnisvoller Inder weist, wie auf ein Land, das am meisten zur Ausführung der großen Aufgabe befähigt ist. Nur eines muß man dabei nicht außer acht lassen: im Falle einer allmählichen Lösung der Aufgabe durch Propaganda kann ich persönlich doch immerhin etwas dabei gewinnen, nun, wenn auch meinetwegen nur dies, daß ich angenehm habe plaudern können, oder ich erhalte von den Vorgesetzten gar einen Orden für meine Dienste für die soziale Sache. Aber im zweiten Falle, bei der schnellen Entscheidung durch das Abhauen von hundert Millionen Köpfen – was hätte ich da für eine Belohnung zu erwarten? Fange ich an dafür Propaganda zu machen, so schneidet man mir womöglich noch die Zunge ab.“
„Ihnen wird sie bestimmt abgeschnitten,“ sagte Werchowenski.
„Sehen Sie wohl. Da man aber selbst unter den günstigsten Umständen eine solche Metzelei vor fünfzig Jahren, oder meinetwegen auch nur dreißig, nicht beenden kann, – denn das sind doch keine Lämmer, die sich protestlos den Hals abschneiden lassen –, so meine ich: sollte es da nicht ratsamer sein, Hab und Gut aufzupacken und irgend wohin auf eine stille Insel im Stillen Ozean zu gehen und dort in Frieden seine Augen zu schließen? Glauben Sie mir,“ rief er lauter und klopfte dabei mit dem Finger an den Tischrand, „mit solch einer Propaganda rufen Sie nur allgemeine Auswanderung hervor und sonst nichts weiter!“
Er schloß sichtlich triumphierend. Er war bei uns bekannt als kluger Kopf. Liputin lächelte schadenfroh, Wirginski hörte ein wenig wehmütig zu, die anderen aber folgten ungewöhnlich aufmerksam dem ganzen Streit, besonders die Offiziere und die Damen. Alle begriffen, daß der Agent der hundert Millionen abgeschnittener Köpfe an die Wand gedrückt war und warteten nun, was aus all dem werden würde.
„Das haben Sie übrigens ganz gut gesagt,“ bemerkte womöglich noch gleichgültiger als vorher, ja, beinahe schon gelangweilt, Werchowenski. „Auswandern ist ein guter Gedanke. Aber da sich trotz all der augenscheinlichen Nachteile, die Sie ja vorausfühlen, doch von Tag zu Tag immer mehr Anhänger oder Soldaten für die neue Sache melden, so wird man auch ohne Sie auskommen. Hier ist, mein Bester, eben die neue Religion dabei, die die alte ersetzt, darum finden sich auch so viele Jünger ein. Also Sie wandern aus! Hm, wissen Sie, da würde ich Ihnen aber raten, doch lieber nach Dresden zu gehen, und nicht auf eine stille Insel. Erstens ist das eine Stadt, die noch nie eine Epidemie gesehen hat, und da Sie ja ein vernünftiger Mensch sind, so fürchten Sie doch bestimmt den Tod. Zweitens ist Dresden nicht sehr weit von der russischen Grenze, so daß man denn sehr schnell die Renten aus dem liebenswürdigen Vaterlande erhalten kann. Drittens hat es in seinen Mauern sogenannte Kunstschätze, Sie aber sind ein ästhetischer Mensch, gewesener Lehrer der Literatur, wenn ich mich nicht täusche. Na, und endlich hat es noch seine eigene kleine Schweiz, eine in der Taschenausgabe – so etwas aber ist doch für die poetische Inspiration unumgänglich nötig, zumal Sie doch gewiß Gedichte schreiben. Mit einem Wort, ein Schatz in einer Tabaksdose!“
Die Gäste wurden unruhig; besonders die Offiziere. Noch ein Augenblick, so schien es, und alle hätten plötzlich gesprochen. Der lahme Lehrer jedoch biß sofort nach dem Köder:
„Erlauben Sie, ich habe durchaus noch nicht gesagt, daß ich die allgemeine Sache im Stich lassen will! Das sollte man auseinanderhalten ...“
„Wieso, würden Sie denn in eine ‚Fünf‘ eintreten, wenn ich Ihnen das vorschlüge?“ warf plötzlich Werchowenski die Frage hin und legte die Schere auf den Tisch.
Die ganze Versammlung zuckte gleichsam zusammen. Der rätselhafte Mensch hatte sich etwas zu plötzlich aufgedeckt. Sogar das Wort „die Fünf“ hatte er ausgesprochen.
„Jeder, der sich für einen ehrlichen Menschen hält, zieht sich nicht von der allgemeinen Sache zurück,“ versuchte der Lehrer die offene Antwort zu umgehen, „aber ...“
„Nein, bitte, hier kann man mir nicht mit einem ‚aber‘ kommen,“ unterbrach ihn Werchowenski schroff und gebieterisch. „Ich erkläre hiermit, meine Herrschaften, daß ich eine offene, gerade Antwort verlange. Ich weiß nur zu gut, daß ich, der ich nicht grundlos hierher gekommen bin und Sie alle selbst versammelt habe, Ihnen Erklärungen schuldig bin.“ (Wieder ein unerwarteter Aufschluß.) „Wie aber soll ich Erklärungen geben, wenn ich nicht weiß, welcher Art Ihre Gedanken sind? Gespräche vermeide ich, – denn wozu soll man wieder dreißig Jahre lang schwatzen, wie man bisher schon dreißig Jahre geschwatzt hat – und frage Sie deshalb einfach, was Sie lieber wollen: den langsamen Weg, der im Schreiben sozialer Romane besteht und der kanzleimäßigen Vorausbestimmung der menschlichen Schicksale auf tausend Jahre, jedoch nur auf dem Schreibpapier, während der Despotismus in dieser Zeit die gebratenen Stücke schluckt, die eigentlich Ihnen in den Mund fliegen sollten und das bloß nicht können, weil Sie den Mund geschlossen halten? Oder sind Sie für die schnelle Entscheidung, worin diese auch bestehen sollte, die aber auf jeden Fall endlich die Hände befreit und der Menschheit erlaubt, sich frei ihr eigenes Schicksal zu schaffen, und zwar in der Wirklichkeit und nicht nur auf dem Papier? Da schreit man nun: ‚Aber hundert Millionen Köpfe!‘ Das ist vielleicht nur eine Metapher, aber wozu denn davor zurückschrecken, wenn der Despotismus bei der langsamen Papierlösung schon in irgend welchen hundert Jahren nicht nur hundert Millionen, sondern fünfhundert Millionen Köpfe verschlingen wird? Und vergessen Sie nicht, daß ein unheilbarer Kranker so wie so nicht gesund werden kann, was für Rezepte Sie ihm auch verschreiben mögen, – daß seine Krankheit sich, im Gegenteil, nur verschlimmert, je länger man sie hinzieht, bis er schließlich bei lebendigem Leibe verfault, derart, daß er auch uns ansteckt und alle frischen Kräfte, auf die wir jetzt rechnen, verdirbt – so daß wir dann womöglich überhaupt nichts mehr zustande bringen können. Ich gebe ja gern zu, daß ‚liberal‘ und schön zu reden, sehr angenehm ist, handeln aber – etwas ‚angreift‘ ... Nun ja, übrigens verstehe ich nicht zu reden. Ich bin mit Nachrichten hierher gekommen, und darum bitte ich jetzt die ganze verehrte Gesellschaft, nicht etwa abzustimmen, nein, sondern einfach und ohne Umschweife zu sagen, was Sie lustiger fänden: einen Schildkrötengang im Sumpf, oder mit Volldampf durch den Sumpf hindurch?“
„Ich erkläre mich positiv für den Volldampf!“ rief der Gymnasiast begeistert.
„Ich auch!“ rief Lämschin.
„Bei solcher Wahl bleibt natürlich kein Zweifel ...“ meinte einer der Offiziere. Nach ihm stimmte noch jemand bei und dann noch jemand.
Am meisten frappierte es alle, daß Werchowenski mit „Nachrichten“ hergekommen war und offenbar sofort reden würde.
„Meine Herrschaften, ich sehe, daß fast alle im Sinne der Proklamationen entscheiden,“ sagte er, während sein Blick alle Anwesenden überflog.
„Alle, alle!“ riefen die meisten.
„Ich muß gestehen, daß ich eigentlich mehr für eine humane Lösung bin,“ sagte der Major, „da aber schon alle dafür stimmen, so halte auch ich mit.“
„Es scheint also, daß auch Sie nicht widersprechen?“ wandte sich Werchowenski an den lahmen Lehrer.
„Ich kann nicht sagen, daß ich gerade ...“ erwiderte dieser zögernd und wurde ein wenig rot, „aber wenn ich mich jetzt den anderen anschließe, so tue ich es nur, um nicht zu stören ...“
„Na ja, so seid ihr ja alle! Seid bereit, ein halbes Jahr lang um der liberalen Redekunst willen zu streiten, und endet dann damit, daß ihr euch bloß ‚den anderen anschließt‘! Meine Herren, denken Sie erst einmal nach, ob Sie wirklich bereit sind?“
(Wozu bereit? – eine unbestimmte, doch furchtbar verlockende Frage.)
„Gewiß doch! natürlich, alle ...“ ertönten Stimmen.
Übrigens sahen sich dabei alle etwas scheu gegenseitig an.
„Aber vielleicht werdet ihr euch dann dadurch gekränkt fühlen, daß ihr so schnell einverstanden wart? Das ist doch gewöhnlich mit euch so.“
Man geriet in Erregung; aus verschiedenen Gründen; man geriet schon in Aufregung. Der Lahme stieß von neuem auf Werchowenski vor.
„Erlauben Sie einstweilen zu bemerken, daß die Antworten auf solche Fragen gewissermaßen bedingt sind. Wenn wir auch den Entschluß gefaßt haben, so bitte ich, doch nicht vergessen zu wollen, daß eine Frage, die in so sonderbarer Weise gestellt ...“
„Inwiefern in sonderbarer Weise?“
„Solche Fragen werden nicht so gestellt.“
„Dann sagen Sie mir gefälligst, wie. Im übrigen war ich von vornherein überzeugt, daß gerade Sie sich als erster gekränkt fühlen würden.“
„Sie haben unser Einverständnis zu sofortigem Handeln uns gewissermaßen entrissen. Aber was für ein Recht hatten Sie dazu? Was für Bevollmächtigungen besitzen Sie, um solche Fragen stellen zu können?“
„Das zu fragen, hätte Ihnen früher einfallen sollen! Warum haben Sie denn geantwortet? Sie haben sich einverstanden erklärt, und damit basta! Nun ist es zu spät, auf so etwas zurückzukommen.“
„Mir scheint, daß die leichtsinnige Aufrichtigkeit Ihrer Hauptfrage einen auf die Idee bringen kann, daß Sie weder Vollmacht, noch sonst ein Recht haben, diese Frage zu stellen, sondern einfach nur von sich aus – neugierig waren.“
„Wovon reden Sie? Was wollen Sie damit sagen?“ rief da plötzlich Werchowenski gleichsam erschrocken und tat, als werde er plötzlich unmutig.
„Ich meine, daß eine Aufnahme, was für eine es auch sei, wenigstens unter vier Augen gemacht wird, und nicht in unbekannter Gesellschaft von zwanzig Menschen!“ platzte der Lahme mit dem verhängnisvollen Wort heraus.
Werchowenski wandte sich sofort mit vorzüglich gespielter Aufregung an die Anwesenden.
„Meine Herren, ich halte es für meine Pflicht, allen mitzuteilen, daß das nur Dummheiten waren und unser Gespräch etwas zu weit gegangen ist. Ich habe noch so gut wie keinen aufgenommen, und niemand hat das Recht, von mir zu sagen, daß ich es hier getan hätte: wir haben einfach über verschiedene Meinungen gesprochen. Nicht wahr? Aber wie dem auch sei, jedenfalls regen Sie mich nicht wenig auf,“ wandte er sich wieder zu dem Lahmen, „ich hätte nie gedacht, daß man hier über solche fast unschuldigen Dinge nur unter vier Augen sprechen darf. Oder fürchten Sie, daß jemand uns anzeigen könnte? Kann denn wirklich jetzt ein Verräter unter uns sein?“
Die allgemeine Aufregung war ungeheuer. Alle begannen zu sprechen.
„Meine Herren, wenn das der Fall wäre,“ fuhr Werchowenski fort, „so bin ich es doch, den ich am meisten kompromittiert habe, und darum schlage ich vor, noch auf eine Frage zu antworten, versteht sich, nur wenn Sie wollen. Sie haben den freien Willen ...“
„Was für eine Frage? Welch eine Frage?“ riefen alle durcheinander.
„Eine Frage, nach deren Beantwortung wir entscheiden können, ob wir alle zusammen bleiben sollen, oder ob wir besser tun, wenn wir schweigend unsere Hüte nehmen und jeder seinen eigenen Weg geht.“
„Stellen Sie die Frage, stellen Sie die Frage!“
„Wenn einer von Ihnen von einem beabsichtigten politischen Morde erführe – würde er dann, wenn er alle Folgen voraussieht, hingehen und Anzeige erstatten, oder würde er zu Hause bleiben und den Dingen ruhig ihren Lauf lassen. Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Die Antwort auf meine Frage wird uns sagen, ob wir auseinandergehen oder zusammenbleiben sollen, und wenn das letztere, dann nicht nur für heute abend. Gestatten Sie, daß ich mich mit dieser Frage an Sie als ersten wende,“ wandte er sich an den Lahmen.
„Warum denn gerade an mich als ersten?“
„Weil doch nur von Ihnen diese ganze Auseinandersetzung heraufbeschworen worden ist. Haben Sie die Güte, die Antwort nicht umgehen zu wollen. Ausflüchte sind hier nicht am Platz. Doch übrigens, wie Sie wollen. Ihr freier Wille, wie gesagt.“
„Erlauben Sie, eine solche Frage ist einfach beleidigend.“
„Ich muß schon bitten, etwas deutlicher zu sein.“
„Ich bin noch nie Agent der Geheimpolizei gewesen.“
„Haben Sie die Güte, mich nicht aufzuhalten. Etwas bestimmter, wenn ich bitten darf.“
Der Lahme ärgerte sich dermaßen, daß er überhaupt aufhörte, zu antworten. Schweigend, mit bösem Blick, sah er, ohne seine Augen abzuwenden, hinter der Brille hervor auf seinen Peiniger.
„Ja oder nein? Würden Sie anzeigen, oder würden Sie nicht anzeigen?“ schrie plötzlich Werchowenski.
„Selbstverständlich zeige ich nicht an!“ schrie noch zweimal lauter der Lahme.
„Und keiner wird anzeigen, kein einziger! ... Ist doch wirklich lächerlich! ... so etwas! ...“ ertönten mehrere Stimmen.
„Gestatten Sie, daß ich mich jetzt an Sie wende, Herr Major: würden Sie anzeigen, ja oder nein?“ fuhr Werchowenski fort. „Bitte zu beachten, daß ich mich absichtlich an Sie wende.“
„Ich zeige nicht an.“
„Nun, aber wenn Sie wüßten, daß irgend jemand einen anderen erschlagen und berauben will, einen gewöhnlichen Sterblichen, so würden Sie es doch melden, nicht wahr?“
„Natürlich, aber das wäre doch ein ziviler Fall, hier aber handelt es sich um eine politische Anzeige. Bin kein Agent der Geheimpolizei.“
„Ja aber, das ist hier doch keiner!“ hörte man wieder ein paar Stimmen. „Unnütze Frage. Alle haben dieselbe Antwort. Hier gibt es doch keine Verräter!“
„Warum steht dieser Herr dort auf?“ rief plötzlich die Studentin.
„Das ist Schatoff! Warum sind Sie aufgestanden, Schatoff?“ rief die Hausfrau erregt.
Schatoff hatte sich tatsächlich erhoben, stand, die Mütze in der Hand, und sah auf Werchowenski. Es war, als wolle er ihm etwas sagen, doch schien er noch unentschlossen zu sein. Sein Gesicht war blaß und zornig, aber er bezwang sich, sagte kein Wort und verließ stumm das Zimmer.
„Schatoff, das ist doch für Sie selbst unvorteilhaft!“ rief ihm Werchowenski rätselhaft nach.
„Dafür ist es aber für dich vorteilhaft, für dich Spion und Schurken!“ rief Schatoff von der Tür zurück und trat hinaus.
Wieder Ausrufe, Lärm.
„Da haben wir ja jetzt die Probe!“ rief eine Stimme.
„Hat genützt!“ rief eine andere.
„Hat sie nicht vielleicht zu spät genützt?“ fragte eine dritte.
„Wer hat ihn eingeladen? – Wer hat ihn empfangen? – Wer ist es? – Was ist dieser Schatoff? – Wird er denunzieren? ... wird er nicht? ...“ schwirrten die Fragen durcheinander.
„Wenn er denunzieren wollte, so würde er sich verstellt haben, so aber hat er gleichsam auf die ganze Sache einfach gespuckt und ist fortgegangen,“ bemerkte jemand.
„Da steht auch schon Stawrogin auf! Stawrogin hat auch nicht auf die Frage geantwortet!“ rief wieder die Studentin.
Stawrogin war tatsächlich aufgestanden und sogleich hatte sich auch Kirilloff am anderen Tischende von seinem Platz erhoben.
„Verzeihen Sie, Herr Stawrogin,“ wandte sich die Hausfrau nervös an ihn, „wir haben hier alle auf die Frage geantwortet, während Sie nun allein schweigend fortgehen wollen?“
„Ich fühle mich nicht verpflichtet, auf eine Frage zu antworten, die Sie interessiert,“ sagte Stawrogin.
„Aber wir haben uns kompromittiert und Sie nicht!“ riefen die Stimmen wieder.
„Was geht das mich an, daß Sie sich kompromittiert haben,“ lachte Stawrogin auf, doch seine Augen funkelten.
„Wieso – geht das Sie nichts an? Wieso – geht das Sie nichts an?“ fragte man sofort.
Einige sprangen von ihren Plätzen auf.
„Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie!“ rief der Lahme. „Herr Werchowenski hat ja auch noch nicht auf die Frage geantwortet, sondern sie bloß gestellt!“
Diese Bemerkung machte einen geradezu lähmenden Eindruck. Alle sahen sich erstaunt an. Stawrogin lachte laut dem Lahmen ins Gesicht und ging aus dem Zimmer. Kirilloff folgte ihm. Werchowenski lief beiden sofort ins Vorzimmer nach.
„Was machen Sie aus mir!“ flüsterte er erregt, Stawrogins Hand fassend, die er mit aller Kraft in der seinigen preßte.
Der entriß sie ihm schweigend.
„Seien Sie sofort bei Kirilloff, ich werde kommen ... Ich muß, ich muß Sie unbedingt sprechen!“
„Für mich gibt es kein Muß!“ schnitt ihm Stawrogin das Wort ab.
„Stawrogin wird bei mir sein,“ beendete Kirilloff das Gespräch. „Stawrogin, es gibt für Sie doch ein Muß. Ich werde es Ihnen dort zeigen.“
Sie gingen hinaus.
Sie traten hinaus. Pjotr Stepanowitsch kehrte zuerst in das Gastzimmer zurück, um das Chaos zu besänftigen, doch er sah bald ein, daß hier jede Mühe vergeblich war, und so lief er denn schon nach zwei Minuten den Fortgegangenen nach. Unterwegs fiel ihm eine Querstraße ein, durch die er ein gutes Stück Weges abschneiden konnte. Er bog in sie ein – es war eine Winkelgasse, in der er im Schlamm fast bis über die Knöchel versank – und erreichte auf diese Weise das Filippoffsche Haus fast in demselben Augenblick, als Stawrogin und Kirilloff durch die Hofpforte traten.
„Schon hier? – Das ist gut.“ sagte Kirilloff. „Kommen Sie.“
„Wie, Sie sagten doch, daß Sie ganz allein leben?“ fragte Stawrogin, als er im Flur den schon aufgesetzten Samowar bemerkte, der schon zu summen begann.
„Werden gleich sehen, mit wem ich lebe,“ murmelte Kirilloff. „Treten Sie ein.“
Kaum hatten sie sich gesetzt, als Werchowenski den anonymen Brief, den er sich von Herrn von Lembke ausgebeten hatte, aus der Tasche zog und ihn vor Stawrogin auf den Tisch legte. Stawrogin las ihn schweigend durch.
„Dieser Schuft wird bestimmt das tun, wozu er sich erboten hat,“ erklärte Werchowenski. „Da er in Ihrer Hand ist, so sagen Sie bitte, wie man mit ihm umgehen soll. Ich versichere Ihnen, daß er vielleicht schon morgen zu Lembke geht.“
„Nun, mag er doch gehen.“
„Wieso, mag er doch? Wenn man das verhindern kann!“
„Sie irren sich, er hängt durchaus nicht von mir ab. Und übrigens ist es mir wirklich gleichgültig. Mir droht er doch mit nichts, bloß Ihnen.“
„Auch Ihnen.“
„Ich glaube nicht.“
„Aber andere könnten Sie vielleicht nicht schonen. Sollten Sie das wirklich nicht begreifen? Hören Sie, Stawrogin, das ist doch nur ein Spiel mit Worten. Tut Ihnen wirklich das Geld leid?“
„Ist dazu überhaupt Geld nötig?“
„Unbedingt. Zweitausend oder minimum tausend fünfhundert Rubel. Geben Sie mir die Summe morgen oder meinetwegen heute noch, und morgen abend schaffe ich ihn nach Petersburg. Das will er ja selbst! Wenn Sie wollen, mitsamt Marja Timofejewna – beachten Sie das!“
Es war etwas vollkommen Irres in Werchowenski, er sprach unvorsichtig, hastig, die Worte entfuhren ihm unbedacht.
Stawrogin betrachtete ihn mit Verwunderung.
„Ich habe gar keinen Grund, Marja Timofejewna fortzuschicken,“ sagte er.
„Vielleicht wollen Sie es nicht einmal?“ fragte Pjotr Stepanowitsch mit ironischem Lächeln.
„Vielleicht will ich es nicht einmal.“
„Kurzum: wird das Geld zur Stelle sein, oder wird es nicht zur Stelle sein?“ fuhr er plötzlich, in geärgerter Ungeduld und fast herrisch, Stawrogin an.
Dieser besah ihn sich mit ernstem Gesicht.
„Es wird nicht zur Stelle sein.“
„Ei, Stawrogin! Sie wissen offenbar irgend etwas, oder haben schon irgend etwas getan! Sie führen ein wildes Leben!“
Sein Gesicht verzog sich dabei. Seine Mundwinkel zuckten, und plötzlich lachte er ein ganz grundloses, unvermitteltes Lachen, das gar nicht hierher paßte.
„Sie haben erst kürzlich von Ihrem Vater Geld für das Gut erhalten,“ bemerkte Stawrogin ruhig. „Meine Mutter hat Ihnen die sechs- oder achttausend Rubel, die Sie von Stepan Trophimowitsch verlangten, für das Gut ausgezahlt. Davon können Sie doch, wenn das für Sie so nötig ist, sehr wohl tausendfünfhundert aus Ihrer Tasche bezahlen. Ich habe es satt, immer für andere zu zahlen, und habe schon so viel ausgegeben, daß es für mich beinahe kränkend ist ...“ Er mußte selbst über seine letzten Worte lächeln.
„Ah, Sie beginnen zu scherzen ...“
Stawrogin erhob sich, sofort sprang auch Werchowenski auf und stellte sich mechanisch vor die Tür, wie um den Ausgang zu versperren. Stawrogin machte schon eine Bewegung, um ihn fortzustoßen und hinauszugehen – doch plötzlich blieb er stehen.
„Ich trete Ihnen Schatoff nicht ab,“ sagte er.
Pjotr Stepanowitsch zuckte zusammen; sie sahen sich an.
„Ich habe Ihnen heute unterwegs gesagt, wozu Sie Schatoffs Blut brauchen,“ sagte Stawrogin mit funkelnden Augen. „Mit diesem Blut wollen Sie Ihre Fünfer-Gruppen zusammenleimen. Vorhin haben Sie ja Schatoff auf eine ganz vorzügliche Weise hinausgejagt: Sie wußten nur zu gut, daß er niemals sagen würde, ‚ich denunziere nicht‘ – vor Ihnen aber zu lügen für unter seiner Würde hält. Doch wozu brauchen Sie mich, mich jetzt eigentlich? Was soll ich bei all dem? Nachdem ich aus dem Auslande zurückgekehrt bin, drängen Sie sich mir immer wieder auf. Das, womit Sie mir Ihr Benehmen bis jetzt erklärt haben, ist nur Fieberphantasie. Dabei wollen Sie, daß ich, indem ich Lebädkin tausendfünfhundert Rubel einhändige, damit Ihrem Fedjka das Zeichen gebe, ihn zu erstechen. Ich weiß, Sie denken, daß ich zu gleicher Zeit auch meine Frau ermorden lassen will. Und wenn Sie mich dann mit einem Verbrechen an sich gebunden haben, so hoffen Sie, Macht über mich zu bekommen – ist es nicht so? Wozu aber wollen Sie diese Macht? Für welch eine Teufelei in aller Welt brauchen Sie mich? Ich sage Ihnen ein für allemal: machen Sie doch endlich einmal Ihre Augen auf und sehen Sie näher zu, ob ich überhaupt ein Mensch für Sie bin, und lassen Sie mich dann endlich in Ruh!“
„Fedjka ist selbst zu Ihnen gekommen?“ fragte Werchowenski beklommen.
„Ja, er ist selbst zu mir gekommen. Sein Preis ist gleichfalls genau tausend fünfhundert ... Da – er kann es ja selbst bestätigen, da ist er ja ...“ rief Stawrogin und streckte seine Hand gegen die Tür hin aus.
Pjotr Stepanowitsch drehte sich schnell um. Auf der Schwelle stand, aus der Dunkelheit hervortretend, eine Menschengestalt – Fedjka, im kurzen Pelz, doch ohne Mütze, ganz wie einer, der im Hause wohnt. Er stand da und lächelte, daß man seine gleichmäßigen weißen Zähne schimmern sah. Die schwarzen Augen mit dem gelben Zigeunerglanz huschten vorsichtig durch das Zimmer und gingen von einem zum anderen der Herren. Er schien irgend etwas nicht zu verstehen: wahrscheinlich hatte ihn Kirilloff herangewinkt, denn zu dem wandte sich immer wieder sein fragender Blick. Er blieb auf der Schwelle stehen und schien nicht eintreten zu wollen.
„Er ist hier wohl in Bereitschaft gehalten worden, um unseren ganzen Schacher mit anzuhören, vielleicht gar um das Geld gleich in Empfang zu nehmen – ist’s nicht so?“ fragte Stawrogin, und ohne die Antwort abzuwarten, verließ er das Haus.
Werchowenski lief ihm sofort nach, und holte ihn noch bei der Hofpforte ein.
„Bleib! Keinen Schritt!“ rief er und packte ihn am Ellenbogen.
Stawrogin riß seinen Arm zurück, konnte ihn jedoch nicht befreien. Da packte ihn die Wut und mit der linken Hand ergriff er Werchowenski bei den Haaren, schleuderte ihn mit aller Kraft zu Boden und trat dann hinaus auf die Straße. Aber noch war er nicht dreißig Schritt gegangen, als der andere ihn schon wieder einholte.
„Versöhnen wir uns, versöhnen wir uns,“ kam es in bebendem Flüsterton, fast bettelnd, von seinen Lippen.
Stawrogin zuckte mit der Schulter und ging weiter.
„Hören Sie, ich bringe morgen Lisaweta Nicolajewna zu Ihnen, wollen Sie? Nicht? Warum antworten Sie denn nicht? Sagen Sie nur, was Sie wollen, und ich tue es. Hören Sie: ich lasse Ihnen auch Schatoff, wollen Sie?“
„Dann ist es also wahr, daß Sie ihn wirklich ermorden wollten?“
„Nun, wozu brauchen Sie Schatoff? Was haben Sie von ihm?“ fuhr atemlos schnell Werchowenski fort, indem er ihm bald in den Weg lief, bald wieder ihn am Ellenbogen ergriff, augenscheinlich, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu werden. „Hören Sie: ich gebe Ihnen Schatoff, versöhnen wir uns nur, versöhnen wir uns! Ihre Rechnung ist groß, aber ... versöhnen wir uns!“
Stawrogin sah ihn schließlich an und war betroffen. Das war nicht mehr derselbe Blick, nicht mehr dieselbe Stimme, wie sonst und wie noch dort im Zimmer. Das war fast ein ganz anderes Gesicht, das er da vor sich sah. Und auch die Stimme war eine ganz andere: Werchowenski flehte, winselte geradezu. Das war ja ein Mensch, dem man das Teuerste auf Erden nimmt, oder schon fortgenommen hat, und der noch nicht zur Besinnung gekommen ist.
„Was ist mit Ihnen geschehen?“ rief Stawrogin unwillkürlich.
Werchowenski antwortete nicht und lief immer noch neben ihm her und sah mit demselben flehenden und doch gleichzeitig unnachgiebigen Blick zu ihm auf.
„Versöhnen wir uns!“ flüsterte er noch einmal. „Hören Sie, ich halte wie Fedjka ein Messer im Stiefel bereit, aber – ich will mich mit Ihnen versöhnen!“
„Zum Teufel, wozu brauchen Sie mich denn! Was wollen Sie von mir?“ rief Stawrogin in hellem Zorn, trotz seiner ganzen Verwunderung. „Soll das etwa ewig ein Geheimnis bleiben? Bin ich denn ein Talisman für Sie?“
„Hören Sie, wir machen einen Aufruhr,“ redete der andere schnell und wirr, fast wie im Fieber. „Sie glauben nicht, daß wir einen Aufruhr machen? Wir werden einen solchen Aufruhr machen, daß alles in den Grundfesten erbebt. Karmasinoff hat recht: es gibt nichts, woran man sich noch halten könnte. Karmasinoff ist sehr klug. Nur noch zehn solcher Gruppen in ganz Rußland, und ich bin nicht zu fangen.“
„Und überall dieselben Dummköpfe!“ entfuhr es Stawrogin wider Willen.
„Oh, seien Sie selbst etwas dümmer, Stawrogin, seien Sie selbst etwas dümmer! Wissen Sie, Sie sind ja auch gar nicht so klug, daß Sie dies noch wünschen sollten. Sie fürchten sich, Sie glauben nicht daran, der Umfang schreckt Sie. Und warum sollen sie Dummköpfe sein? Dabei sind sie gar nicht mal solche Dummköpfe! Heutzutage hat niemand seinen eigenen Verstand. Heutzutage gibt es überhaupt furchtbar wenig eigenen Verstand. Wirginski ist der reinste Mensch, viel reiner als solche wie wir, zehnmal reiner. Doch lassen wir ihn beiseite, was geht er uns an. Liputin ist ein Spitzbube, aber ich kenne seine Achillesferse. Es gibt keinen Spitzbuben, der nicht eine Achillesferse hätte. Nur Lämschin allein hat keine, dafür ist er ganz in meiner Hand. Und noch ein paar solcher Gruppen, und ich habe überall Pässe und Geld – beachten wir schon das allein! Wenn auch nur das allein! – was? Dazu sichere Verstecke. Mögen sie dann suchen! Eine Gruppe reißt man heraus, und auf die andere setzt man sich ahnungslos. Wir wiegeln auf ... Hören Sie, wir machen einen Aufruhr ... Glauben Sie denn wirklich nicht, daß wir zwei vollkommen genügen?“
„Nehmen Sie Schigaleff, mich aber lassen Sie in Ruh ...“
„Schigaleff ist ein genialer Mensch! Wissen Sie, das ist ein Genie à la Fourier, nur mutiger als Fourier, nur stärker als Fourier. Ich werde mich mit ihm beschäftigen. Er hat die ‚Gleichheit‘ erdacht!“
– „Er hat offenbar Fieber und phantasiert. Es muß etwas ganz Besonderes mit ihm geschehen sein,“ dachte Stawrogin und sah ihn noch einmal von der Seite an. Sie gingen beide, ohne stehen zu bleiben.
„In seiner Schrift ist das eine gut,“ fuhr Werchowenski fort, „er hat die Idee der Spionage. Bei ihm beobachtet innerhalb des Verbandes ein jeder den anderen, und ist verpflichtet, ihn nötigenfalls anzuzeigen. Jeder einzelne gehört allen und alle jedem einzelnen. Alle sind Sklaven und in der Sklaverei einander gleich. In äußersten Fällen Verleumdung und Mord, – aber die Hauptsache: Gleichheit! Als erstes senkt sich dann das Niveau der Bildung, der Wissenschaft und der natürlichen, angeborenen Begabung. Ein hohes geistiges Niveau ist nur höheren Begabungen zugänglich – wir aber brauchen keine höheren Begabungen! Höhere Begabungen haben stets die Macht an sich gerissen und waren Despoten. Höheren Begabungen ist es unmöglich, nicht Despoten zu sein, und stets haben sie mehr demoralisiert als Nutzen gebracht; man verjagt sie deshalb oder man richtet sie hin. Cicero wird die Zunge abgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen und Shakespeare wird gesteinigt – das ist der Schigalewismus! Sklaven müssen gleich sein: ohne Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleichheit gegeben, in der Herde aber muß Gleichheit sein, und da haben Sie den Schigalewismus! Ha–ha–ha, Ihnen kommt das sonderbar vor? Ich bin für den Schigalewismus!“
Stawrogin schritt schneller aus, um endlich nach Hause zu kommen. – „Wenn dieser Mensch betrunken sein sollte, wo hat er denn inzwischen trinken können?“ fuhr es ihm durch den Kopf. „Sollte wirklich der eine Kognak –?“
„Hören Sie, Stawrogin: Berge zur Ebene machen – ist ein guter Gedanke, nicht ein lächerlicher. Ich bin für Schigaleff! Bildung ist nicht nötig, von Wissenschaft haben wir genug! Auch ohne Wissenschaft reicht das Material für tausend Jahre, aber zuerst muß sich der Gehorsam durchsetzen. Nur eines ist noch nicht genug vorhanden in der Welt – und das ist Gehorsam. Jeder Bildungsdurst ist schon ein aristokratischer Trieb. Familie, Liebe – das ist gleich schon Wunsch nach Eigentum. Wir bringen ihn um, den Wunsch: wir verbreiten Trunksucht, Klatsch, Angeberei; wir verbreiten unerhörte Demoralisation; wir ermorden jedes Genie schon als Kind. Alles wird auf einen Nenner gebracht, vollständige Gleichheit durchgesetzt. ‚Wir haben ein Handwerk erlernt und wir sind ehrliche Leute, weiter brauchen wir nichts‘ – diese Antwort haben kürzlich englische Arbeiter gegeben. Unentbehrlich ist nur das Unentbehrliche, – das sei die Devise des Erdballs von nun an. Aber auch Krämpfe sind nötig; dafür werden wir sorgen, die Regenten. Sklaven müssen Regenten haben. Vollkommener Gehorsam, vollkommene Unpersönlichkeit, aber einmal in jeden dreißig Jahren gönnt Schigaleff doch einen Krampf, und dann frißt sich alles plötzlich gegenseitig auf, bis zu einer gewissen Grenze natürlich nur, einzig damit das Leben nicht zu langweilig wird. Langeweile ist eine aristokratische Empfindung; im Schigalewismus wird es keine Wünsche geben. Wünsche und Leiden für uns, für die Sklaven aber Schigalewismus.“
„Sich selbst schließen Sie aus?“
„Und Sie. Wissen Sie, zuerst wollte ich die Welt dem Papst geben. Mag er sich barfuß dem Pöbel zeigen: ‚Seht, wozu man mich gebracht hat!‘ und alles wird ihm nachlaufen, sogar das Heer. Der Papst oben, wir um ihn herum und unter uns Schigalewismus. Nur müßte sich die Internationale mit dem Papst einverstanden erklären; was sie auch tun wird. Der Alte selbst wird natürlich sofort einverstanden sein. Es wird ihm ja auch gar kein anderer Ausweg übrigbleiben, behalten Sie mein Wort, ha–ha–ha, dumm? Sagen Sie, ist’s dumm oder nicht?“
„Genug,“ murmelte Stawrogin geärgert.
„Genug! Hören Sie, ich habe den Papst Papst sein lassen! Zum Teufel mit dem Papst! Zum Teufel mit dem Schigalewismus! Wir brauchen die brennende Tagesfrage, aber nicht den Schigalewismus, denn der ist eine Juwelierarbeit. Schigalewismus ist ein Ideal, kommt erst für die Zukunft in Frage. Schigaleff ist ein Juwelier und dumm wie jeder Philantrop. Doch zunächst tut grobe Arbeit not, Schigaleff aber verachtet die grobe Arbeit. Hören Sie, der Papst wird im Westen sein, bei uns aber, bei uns – sind Sie!“
„Lassen Sie mich in Ruh, Sie Betrunkener!“ murmelte Stawrogin und ging noch schneller weiter.
„Stawrogin, Sie sind schön!“ rief Pjotr Stepanowitsch fast wie in einem Rausch. „Wissen Sie es auch selbst, daß Sie schön sind? Das Teuerste an Ihnen ist, daß Sie es zuweilen selbst gar nicht zu wissen scheinen, wie schön Sie sind. Oh, ich kenne Sie jetzt auswendig! Ich sehe Sie mir oft heimlich, von der Seite an, aus einem Winkel! In Ihnen ist sogar Treuherzigkeit und echte Einfalt – wissen Sie das auch? Ja, noch, noch sind die in Ihnen! Sie leiden offenbar, und leiden aufrichtig, dank dieser Treuherzigkeit. Ich liebe die Schönheit! Ich bin ein Nihilist, aber ich liebe Schönheit! Lieben denn Nihilisten die Schönheit nicht? Die lieben doch bloß Götzen nicht, nun, ich aber liebe einen Götzen! Und Sie, Sie sind mein Götze! Sie kränken niemanden, und doch werden Sie von allen gehaßt. Sie sehen auf alle gleich und doch werden Sie von allen gefürchtet, und das ist gut. An Sie wird niemand herantreten, um Sie auf die Schulter zu klopfen. Sie sind ein furchtbarer, ein geborener Aristokrat. Wenn ein Aristokrat unter die Demokraten geht, ist er bezaubernd! Ihnen macht es nichts aus, das Leben zu opfern, Ihr eigenes ebenso wenig, wie das anderer Menschen. Sie sind genau so, wie er sein muß. Und ich, ich brauche gerade solch einen, wie Sie. Außer Ihnen wüßte ich keinen. Sie sind der Anführer, Sie sind Sonne, ich aber bin Ihr Wurm ...“
Und plötzlich küßte er ihm die Hand. Kalt lief es Stawrogin über den Rücken und entsetzt riß er seine Hand zurück.
Sie blieben stehen.
„Wahnsinniger!“ murmelte Stawrogin.
„Vielleicht bin ich wahnsinnig, vielleicht phantasiere ich im Fieber!“ hastete Werchowenski weiter in seiner Rede, „aber ich habe den ersten Schritt ausgedacht. Niemals kann Schigaleff den ersten Schritt ausdenken. Es gibt viele Schigaleffs! Aber nur ein einziger, ein einziger in ganz Rußland hat den ersten Schritt ausgedacht und weiß, wie man ihn machen muß. Dieser Mensch bin ich. Warum sehen Sie mich so an? Ich brauche aber Sie, Sie, ohne Sie bin ich eine Null. Ohne Sie bin ich eine Fliege, eine Idee im Fläschchen; ein Kolumbus ohne Amerika!“
Stawrogin stand und sah aufmerksam in Werchowenskis sinnlose Augen.
„Hören Sie, wir machen zuerst einen Aufruhr,“ eilte jener wie gehetzt weiter in seiner Rede, während er immer wieder Stawrogins linken Ärmel anfaßte. „Ich habe Ihnen schon gesagt: wir dringen unmittelbar ins Volk. Wissen Sie auch, daß wir auch jetzt schon furchtbar stark sind? Unser sind nicht nur die, die da brennen und morden, oder klassische Schüsse abfeuern oder in Schultern beißen. Solche stören nur. Ich verstehe nichts ohne Disziplin. Ich bin doch ein Betrüger, aber kein Sozialist, ha–ha! Hören Sie, ich habe sie bereits alle zusammengezählt: der Lehrer, der mit den Kindern über ihren Gott und über ihre Wiege lacht, ist schon unser. Der Advokat, der den gebildeten Mörder damit verteidigt, daß der Mörder entwickelter gewesen ist, als seine Opfer und somit, um Geld zu bekommen, unmöglich nicht töten konnte, ist schon unser. Die Schuljungen, die einen Bauern töten, um zu sehen, was man dabei empfindet, sind unser. Die Geschworenen, die Verbrecher ohne Ausnahme freisprechen, sind unser. Unser sind Administratoren, Literaten, oh, unser sind viele, ihrer sind Legion, und sie wissen es selbst nicht einmal, daß sie unser sind! Andererseits hat der Gehorsam der Schuljungen und Dummköpfe den höchsten Grad erreicht. Bei denen aber, die sie leiten und lehren sollten, ist nichts als Galle. Überall grenzenlose Ruhmsucht, unerhörte, tierische Genußsucht ... Wissen Sie überhaupt, wie viele wir allein schon mit fertigen Ideechen einfangen? Als ich Rußland verließ, wütete die These Littrés, nach der Verbrechen Wahnsinn ist. Ich komme wieder – und schon ist das Verbrechen nicht mehr Wahnsinn, sondern gerade der wahre, der einzige Sinn, ist beinahe Pflicht oder zum mindesten ein edler Protest. – ‚Wie soll denn ein geistig entwickelter Mensch nicht morden, wenn er Geld braucht?‘ – Doch das sind erst kleine Pröbchen. Der russische Gott hat vor dem Schnaps schon die Flucht ergriffen. Das Volk ist betrunken, die Mütter sind betrunken, die Kinder sind betrunken, die Kirchen sind leer und an den Gerichtshöfen heißt es: ‚zweihundert Rutenstreiche oder schlepp den Eimer‘. Oh, gebt nur dieser Generation Zeit, aufzuwachsen! Der Jammer ist ja nur, daß wir keine Zeit zum Warten haben, sonst könnten wir sie noch betrunkener werden lassen! Ein Jammer, daß wir keine Proletarier haben! Aber wir werden sie schon bekommen, wir werden schon, denn dazu führt es ...“
„Ein Jammer gleichfalls, daß wir dümmer geworden sind,“ brummte Stawrogin und setzte seinen früheren Weg fort.
„Hören Sie, ich habe ein sechsjähriges Kind gesehen, das seine betrunkene Mutter nach Hause führte, und die schimpfte es noch mit gemeinen Worten. Sie glauben, daß ich mich darüber freue? Bekommen wir es in die Hände, so werden wir es vielleicht auch gesund machen ... wenn es nötig ist, treiben wir es auf vierzig Jahre in die Wüste hinaus ... Aber eine oder zwei Generationen mit unerhörter Sittenverderbnis sind jetzt unbedingt nötig: vertierte Sitten, gemeine, schändliche Sitten, so daß der Mensch sich in einen einzigen widrigen, feigen, grausamen, selbstsüchtigen Ekel verwandelt – das ist es, was nötig ist! Und dann ein bißchen ‚frisches Blut‘, damit er sich daran gewöhnt. Warum lachen Sie? Ich widerspreche mir nicht. Ich widerspreche nur den Philantropen und dem Schigalewismus, aber nicht mir! Ich bin ein Betrüger, aber kein Sozialist. Ha–ha–ha! Schade nur, daß wir so wenig Zeit haben. Ich habe Karmasinoff versprochen, im Mai zu beginnen und zum Oktober zu beenden. Schnell – wie? Ha–ha! Wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde, Stawrogin: im russischen Volk hat es bis jetzt noch keinen Zynismus gegeben, wenn es sich auch mit gemeinen Worten zu schimpfen pflegte. Wissen Sie auch, daß dieser leibeigene Sklave sich mehr achtete, als Karmasinoff sich achtet? Er wurde gedroschen, aber er stand für seinen Gott ein, Karmasinoff aber steht nicht für seinen Gott ein.“
„Nun, Werchowenski, ich höre Sie zum ersten Male, und höre Sie mit Verwunderung,“ sagte Stawrogin, „Sie sind also wirklich kein Sozialist, sondern ein politischer ... Streber?“
„Ein Betrüger, ein Betrüger. Macht Ihnen das Sorge, was ich eigentlich bin? Ich werde Ihnen sogleich sagen, wer ich bin, darauf komme ich jetzt. Habe Ihnen doch nicht umsonst die Hand geküßt. Aber es ist nötig, daß auch das Volk es glaubt, daß wir wissen, was wir wollen, und daß jene nur mit der ‚Keule fuchteln und die Eigenen schlagen‘. Ach, nur Zeit! Der einzige Jammer ist bloß der, daß wir keine Zeit haben! Wir verkünden die Zerstörung ... warum nur, warum ist diese Idee so bezaubernd? Aber man muß, man muß die Knochen gelenkig machen. Wir legen Feuer an ... Wir verbreiten Legenden ... Hierbei wird uns jede kleine räudige ‚Gruppe‘, jedes Häufchen zu statten kommen. Ich kann Ihnen aus diesen Gruppen solche Jäger heraussuchen, die zu jedem Schuß bereit sind und für die Ehre noch ewig dankbar bleiben. Und dann beginnt der Aufruhr! Ein Schaukeln hebt an und gerät in Schwung, wie’s die Welt bisher noch nie gesehen hat! ... Verfinstern wird sich Rußland und weinen wird die Erde nach den alten Göttern ... Und dann, dann bringen wir ... Wen?“
„Wen?“
„Den Zarewitsch Iwan!“
„We–en?“
„Den Zarewitsch Iwan; Sie, Sie!“
Stawrogin dachte einen Augenblick nach.
„Einen Usurpator?“ fragte er plötzlich und sah mit tiefer Verwunderung den Verzückten an. „Ah, also das ist Ihr Plan!“
„Wir sagen zuerst, daß er sich ‚verbirgt‘,“ flüsterte leise wie ein Liebesgeständnis Werchowenski, der in der Tat wie betrunken war. „Wissen Sie auch, was dieses Wörtchen bedeutet: ‚er verbirgt sich‘? ‚Aber er wird kommen, er wird kommen!‘ sagen wir. Die Legende, die wir verbreiten, wird besser sein, als die der Skopzen.[47] Er ist da – aber noch hat ihn niemand gesehen. Oh, was für eine Legende wir zuraunen können! Doch die Hauptsache – eine neue Kraft kommt! Gerade die aber tut ja not, gerade nach einer solchen sehnt man sich ja weinend! Was ist denn der Sozialismus: er hat ja nur alte Kräfte zerstört, neue aber nicht gebracht. Hier dagegen ist’s eine Kraft, und noch was für eine! Eine noch nie dagewesene! Wir brauchen ja nur für einmal den Hebel, um die Erde aufzuheben. Alles wird sich erheben!“
„So haben Sie im Ernst auf mich gerechnet?“ fragte Stawrogin ironisch.
„Warum lachen Sie und warum lachen Sie so boshaft? Erschrecken Sie mich nicht. Ich bin jetzt wie ein Kind, man kann mich zu Tode erschrecken, schon allein mit solch einem Lächeln. Hören Sie, ich werde Sie niemandem zeigen, niemandem: so muß es sein. Er ist da, aber keiner hat ihn gesehen. Er verbirgt sich. Oder wissen Sie, einem kann man Sie auch zeigen, von je Hunderttausend nur einem. Und über die ganze Erde hin wird es heißen: ‚Wir haben ihn gesehen, gesehen!‘ Haben doch die Leute den Iwan Filippowitsch,[48] ihren Zebaoth, den Herrn der Heerscharen, ‚gesehen‘, wie er im Wagen gen Himmel fuhr vor allen Menschen, haben es ‚mit eigenen Augen gesehen‘. Sie aber sind nicht nur ein Iwan Filippowitsch: Sie sind schön, sind stolz wie ein Gott, mit der Aureole des Opfers, wollen nichts für sich selbst, und ‚verbergen‘ sich. Die Hauptsache ist die Legende! Sie werden alle besiegen, Sie sehen sie nur einmal an und siegen. Er bringt die neue Wahrheit und – ‚verbirgt‘ sich. Und mittlerweile verbreiten wir ein paar Salomonische Aussprüche. Haben ja die Gruppen, die ‚Fünfer‘ – brauchen keine Zeitungen! Wenn von zehntausend Bitten nur eine einzige erfüllt wird, so kommen alle mit Bitten. In jedem Kreise wird jeder Bauer wissen, daß da in einem gewissen Baumstamm eine Höhlung ist, in die man Bittschriften hineinlegen kann. Und die ganze Erde jauchzt auf: ‚Das neue gerechte Gesetz kommt zu uns!‘ und das Meer gerät ins Wogen und die Schaubude stürzt, – dann aber werden wir daran denken, wie wir ein steinernes Gebäude errichten! Zum erstenmal! Denn bauen werden wir, nur wir, wir allein!“
„Raserei!“ murmelte Stawrogin.
„Warum, warum wollen Sie nicht? Fürchten Sie sich etwa? Ich habe doch gerade deshalb Sie erwählt, weil Sie nichts fürchten. Unvernünftig, wie? Aber ich bin doch vorläufig noch Kolumbus ohne Amerika – ist denn Kolumbus ohne Amerika vernünftig?“
Stawrogin schwieg. Sie waren bei dem Hause angelangt und blieben an der Vorfahrt stehen.
„Hören Sie,“ Werchowenski beugte sich zu seinem Ohr, „ich mache es Ihnen ohne Geld, morgen beende ich es mit Marja Timofejewna ... ohne Geld, und morgen noch bringe ich Ihnen Lisa. Wollen Sie Lisa, morgen noch?“
„Sollte er wirklich verrückt geworden sein?“ fragte sich Stawrogin und lächelte. Die Tür öffnete sich.
„Stawrogin, ist Amerika unser?“ Werchowenski ergriff zum letztenmal seine Hand.
„Wozu?“ fragte Stawrogin ernst und streng.
„Keine Lust also! – das konnte ich mir ja denken!“ stieß Pjotr Stepanowitsch in einem wahren Wutanfall hervor. „Aber das lügen Sie ja, Sie erbärmlicher, ausschweifender, brüchiger Herrensohn, ich weiß es besser: Sie haben sogar einen Wolfshunger danach! ... Begreifen Sie doch, daß Ihre Rechnung jetzt schon viel zu groß ist! Und ich kann doch nicht auf Sie verzichten! Es gibt keinen anderen auf der Welt als nur Sie! Ich habe Sie mir schon im Auslande ausgedacht; hab’s getan, indem ich Sie sah. Hätte ich Sie nicht mit Augen gesehn, aus meiner Ecke, mir wäre auch nichts in den Sinn gekommen! ...“
Stawrogin stieg, ohne zu antworten, die Stufen hinan.
„Stawrogin!“ rief ihm Werchowenski nach, „– ich gebe Ihnen noch einen Tag Bedenkzeit ... nun, zwei ... nun, meinethalben drei! ... Mehr als drei kann ich nicht, dann aber – Ihre Antwort!“
Inzwischen geschah bei uns etwas, das mich zunächst nur in Erstaunen versetzte, Stepan Trophimowitsch aber erschütterte.
Eines Morgens, noch vor acht Uhr, kam Nastassja, Stepan Trophimowitschs Mädchen, atemlos zu mir gelaufen, mit der Nachricht, ihr Herr sei „beschlagnahmt“ worden. Anfangs konnte ich aus ihren Reden überhaupt nicht klug werden, doch schließlich erfuhr ich immerhin, daß Beamte in der Frühe zu ihm gekommen waren und Papiere beschlagnahmt hatten; diese hatte dann ein Soldat „zu einem Bündel zusammengebunden und auf einer Schiebkarre weggeschleppt.“
Ich eilte sogleich zu meinem Freunde.
Der befand sich in einer sonderbaren Verfassung: er war erschrocken und erregt, und schien doch zu gleicher Zeit zu triumphieren. Auf dem Tisch kochte der Samowar und daneben stand ein Glas Tee, das schon des längeren eingegossen, doch noch nicht angerührt war. Stepan Trophimowitsch ging hin und her, ging rund um den Tisch herum, ging in alle Winkel des Zimmers, doch augenscheinlich ohne sich über seine Bewegungen Rechenschaft zu geben. Als ich kam, war er, wie vormittags gewöhnlich, in seinem roten Morgenrock, doch diesmal ging er, kaum daß er mich erblickt hatte, schnell ins andere Zimmer und zog sich Weste und Rock an – was er sonst nie getan hatte, wenn ihn einer seiner nahen Freunde in diesem Morgenrock antraf. Er ergriff sofort erregt meine Hand.
„Enfin un ami!“[126] (Er atmete tief auf.) „Cher, ich habe nur zu Ihnen allein geschickt und sonst weiß noch niemand etwas davon. Man muß Nastassja sagen, daß sie die Türen schließt und keinen Menschen hereinläßt, außer natürlich jene, falls sie ... Vous comprenez?“[111]
Er sah mich dabei unruhig an, als ob er eine Antwort erwartete. Selbstverständlich begann ich ihn sofort nach dem Vorgefallenen auszufragen, und so erfuhr ich denn schließlich, nach zahllosen Unterbrechungen und unnützen Zwischensätzen, daß um sieben Uhr morgens „plötzlich“ ein Gouvernementsbeamter zu ihm gekommen war ...
„Pardon, j’ai oublié son nom. Il n’est pas du pays, aber ich glaube, Lembke hat ihn mitgebracht, quelque chose de bête et d’allemand dans la physionomie. Il s’appelle Rosenthal.“[127]
„Rosenthal? Hieß er nicht Blümer?“
„Blümer? Ja, richtig, Blümer hieß er. Vous le connaissez? Quelque chose d’hébété et de très content dans la figure, pourtant très sévère, roide et sérieux.[128] Ein Polizeimensch, aber einer von den Ergebenen, je m’y connais.[129] Ich schlief noch, und denken Sie sich, er bat mich, auf meine ‚Bücher und Manuskripte‘ einen Blick werfen zu dürfen, oui, je m’en souviens, il a employé ce mot.[130] Er hat mich nicht arretiert, sondern nur die Bücher ... Il se tenait à distance,[131] und als er seinen Besuch zu erklären begann, da sah er aus, als ob ich ... enfin il avait l’air de croire que je tomberai sur lui immédiatement et que je commencerai à le battre comme plâtre. Tous ces gens du bas étage sont comme ça,[132] wenn sie es mit einem anständigen Menschen zu tun haben. Natürlich begriff ich sofort alles. Voilà vingt ans que je m’y prépare![133] Ich öffnete vor ihm alle Schubfächer und übergab ihm alle Schlüssel. Ich übergab sie selbst, ich habe ihm alles selbst übergeben. J’étais digne et calme.[134] Von den Büchern nahm er die ausländische Ausgabe Herzens, ein gebundenes Exemplar der ‚Glocke‘, vier Abschriften meiner Dichtung et enfin tout ça.[135] Dann noch Papiere und Briefe et quelques unes de mes ébauches historiques, critiques et politiques.[136] Das alles haben sie dann mitgenommen. Nastassja sagt, der Soldat habe es auf einer Schiebkarre fortgeschleppt und mit einer Schürze bedeckt. Oui, c’est cela,[137] mit einer Schürze.“
Das war ja Wahnsinn. Wer hätte hier etwas begreifen können? Ich suchte Wesentlicheres aus ihm herauszubekommen. War Blümer ganz allein erschienen, oder waren, außer dem Soldaten, noch andere mit ihm gekommen? In wessen Namen? Mit welchem Recht? Wie hatte man so etwas wagen können? Womit hatte er es erklärt?
„Il était seul, bien seul, übrigens war noch jemand dans l’antichambre, oui, je m’en souviens, et puis[138] ... Übrigens, ich glaube, es war außerdem noch jemand da, und im Vorzimmer stand eine Wache. Man muß Nastassja fragen. Die hat das alles besser gesehen. J’étais surexcité, voyez-vous. Il parlait, il parlait ... un tas de choses[139] ..., übrigens, nein, er sprach sehr wenig, ich war es eigentlich, der immer sprach ... Ich habe ihm mein ganzes Leben erzählt, natürlich nur unter diesem Gesichtswinkel ... J’étais surexcité, mais digne, je vous l’assure.[140] Ich fürchte übrigens, daß ich, ich glaube wenigstens, geweint habe. Die Schiebkarre haben sie vom Krämer nebenan genommen ...“
„Aber wie hat sich das alles nur zutragen können! So sprechen Sie doch um Gottes willen etwas genauer, Stepan Trophimowitsch. Das ist doch ein Traum, den Sie da erzählen!“
„Cher, ich bin auch selbst noch wie im Traum ... Savez-vous! Il a prononcé le nom de Teliatnikoff,[141] und ich glaube, gerade dieser war es, der sich im Vorzimmer versteckte. Ja, da fällt mir ein, er schlug einen Zeugen vor, und ich glaube, eben diesen Dmitri Mitritsch ... qui me doit encore quinze roubles de Whist, soit dit en passant. Enfin, je n’ai pas trop compris.[142] Aber ich war noch schlauer als sie, und was geht mich Dmitri Mitritsch an! Ich habe, glaube ich, sehr gebeten, daß niemand etwas davon erfahre, sehr gebeten, sehr, fürchte sogar, daß ich mich erniedrigt habe, comment croyez-vous? Enfin il a consenti[143] ... Nein, warten Sie, da fällt mir ein, das war er selbst, der darum bat, denn er sei nur gekommen, um zu ‚besehen‘, sagte er, et rien de plus,[144] und weiter nichts ... und daß, falls man nichts findet, auch nichts weiter geschehen wird. So haben wir denn auch alles beendet en amis, et je suis tout-à-fait content.“[145]
„Aber ich bitte Sie, er hat Ihnen doch einfach die in solchen Fällen üblichen Garantien angeboten, und Sie – Sie haben ihn noch selbst davon abgebracht!“ rief ich in freundschaftlichem Unwillen.
„Nein, es ist schon besser so, ohne Garantien. Und wozu ein Skandal? Lieber so lange es noch geht en amis ... Sie wissen doch, wenn man in der Stadt erfährt ... mes ennemis ... et puis à quoi bon ce procureur, ce cochon de notre procureur, qui deux fois m’a manqué de politesse et qu’on a rossé à plaisir l’autre année chez cette charmante et belle Natalia Pawlowna, quand il se cacha dans son boudoir. Et puis, mon ami,[146] widersprechen Sie mir nicht und entmutigen Sie mich nicht, ich bitte Sie, denn es gibt nichts Unerträglicheres, als wenn ein Mensch schon unglücklich ist und ihm dann hundert Freunde sofort noch erklären, wie dumm er gehandelt hat. Setzen Sie sich und trinken Sie Tee. Ich muß gestehen, ich bin sehr müde geworden ... sollte ich mich nicht hinlegen und eine Essigkompresse machen? Was meinen Sie?“
„Aber selbstverständlich,“ sagte ich, „und besser noch eine mit Eis. Sie sind sehr aufgeregt. Sie sind ja ganz bleich und Ihre Hände zittern. Legen Sie sich hin, erholen Sie sich und sprechen Sie vorläufig nicht. Ich werde mich zu Ihnen setzen und warten. Und nachher können Sie mir dann alles erzählen.“
Doch er konnte sich noch nicht entschließen, sich hinzulegen, ich aber bestand darauf. Nastassja brachte Essig in einer Tasse, ich feuchtete ein Handtuch damit an, das ich ihm dann auf den Kopf legte. Darauf kletterte Nastassja auf einen Stuhl und schickte sich zu meiner nicht geringen Verwunderung an, in der Ecke vor dem Heiligenbilde das Lämpchen anzuzünden. Noch nie hatte ich früher ein Lämpchen bei ihm gesehen und nun war es plötzlich da und wurde sogar angezündet.
„Das habe ich vorhin angeordnet, gleich nachdem sie fortgegangen waren,“ sagte Stepan Trophimowitsch leise zu mir und sah mich dabei schlau an, „quand on a de ces choses-là dans sa chambre et qu’on vient vous arrêter,[147] so macht das unbedingt einen guten Eindruck und die müssen dann doch aussagen, daß sie gesehen haben ...“
Als Nastassja mit dem Lämpchen fertig war, ging sie zur Tür, blieb aber dort stehen, legte mitleidig die rechte Hand an die Wange und begann, ihn mit bekümmertem Blick anzusehen.
„Eloignez-la unter irgendeinem Vorwand,“ winkte er mir vom Diwan zu. „Kann dieses russische Mitleid nicht ausstehen, et puis ça m’embête.“[148]
Doch sie ging schon von selbst hinaus. Es fiel mir auf, daß er immer wieder zur Tür blickte und zum Vorzimmer hinhorchte.
„Il faut être prêt, voyez-vous,“ (er sah mich dabei bedeutungsvoll an) „chaque moment[149] können sie kommen, einen festnehmen und huitt – weg ist ein Mensch!“
„Herrgott! Wer kann kommen? Wer kann Sie festnehmen?“
„Voyez-vous, mon cher,[150] ich habe ihn ganz einfach gefragt, als er schon fortgehen wollte: was wird man jetzt mit mir machen?“
„Hätten Sie doch lieber gleich gefragt, wohin man Sie verschicken will!“ rief ich unwillig.
„Das meinte ich ja auch damit, aber er ging fort und sagte nichts. Voyez-vous: was die Wäsche anbetrifft, die Kleider, die warmen Kleider besonders, ich glaube, das kann man schon mitnehmen, denke ich, doch vielleicht schicken sie einen auch im Soldatenmantel fort. Aber ich habe fünfunddreißig Rubel“ (er senkte plötzlich die Stimme und blickte ängstlich nach der Tür, durch die Nastassja hinausgegangen war) „heimlich durch die Westentasche, die ich ein bißchen aufgeschnitten habe, in die Weste hineingesteckt, sehen Sie hier, fühlen Sie ... Ich glaube, die Weste werden sie mir doch nicht ausziehen, u–und zum Schein habe ich in mein Portemonnaie sieben Rubel gelegt ‚alles, sozusagen, was ich habe‘. Und hier im Tisch ist noch Kleingeld und Kupfergeld, so daß sie gar nicht auf den Gedanken kommen werden, daß ich noch Geld versteckt habe. Sie werden glauben, das sei wirklich alles. Denn Gott mag wissen, wo ich heute noch nächtigen werde.“
Mir sank der Kopf auf die Brust ob solchem Wahnsinn. So, wie er es wiedergab, konnte man doch weder einen Menschen verhaften, noch Haussuchungen vornehmen. Daß er sich irgendwie täuschte, auch über das, was geschehen war, daran zweifelte ich jetzt nicht mehr. Allerdings hatte man ihm (nach seinen eigenen Worten) ein gesetzmäßigeres Vorgehen zugedacht, er aber war „noch schlauer“ gewesen und hatte das selbst verhindert ... Freilich geschah das damals noch vor den neuen diesbezüglichen Gesetzen ... und freilich durfte damals, also noch vor kurzem, der Gouverneur in äußersten Fällen ... Aber was konnte denn hier für ein äußerster Fall vorliegen?
„Es ist bestimmt ein Telegramm aus Petersburg gekommen,“ sagte plötzlich Stepan Trophimowitsch.
„Ein Telegramm! Ihretwegen? Weil Sie Herzens Bücher besitzen? Oder gar wegen Ihres Poems? Sie scheinen ja wirklich krank zu sein – was für einen Grund kann man denn deshalb haben, Sie zu arretieren?“
„Wer kann das wissen, in unserer Zeit, warum man arretiert wird?“ flüsterte er rätselhaft.
Ein unglaublicher, unmöglicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf.
„Stepan Trophimowitsch, sagen Sie mir jetzt einmal wie einem Freunde,“ rief ich, „wie einem aufrichtigen, treuen Freunde, ich werde Sie nicht verraten: gehören Sie nicht irgendeinem geheimen Verbande an?“
Und da antwortete er mir zu meiner Verwunderung keineswegs sicher und bestimmt, ob er zu solch einem geheimen Verbande gehörte oder nicht gehörte. Ich wurde nicht klug daraus.
„Ja, voyez-vous, es kommt darauf an, wie man’s nimmt. Voyez-vous ...“
„Wie man was ‚nimmt‘?“
„Wenn man immer mit dem ganzen Herzen für den Fortschritt gewesen ist, und ... wer kann denn sicher sein? Du glaubst, daß du nicht gehörst, und siehe da, du gehörst schließlich doch zu irgend etwas.“
„Wie ist das möglich, hier handelt es sich doch nur um ja oder nein?“
„Cela date de Pétersbourg,[151] als wir beide dort das Blatt gründen wollten. Da steckt die Wurzel. Wir drückten uns damals und man vergaß uns: jetzt aber haben sie sich wieder unserer erinnert. Cher, cher, kennen Sie mich denn nicht!“ rief er plötzlich krankhaft erregt. „Man wird uns festnehmen, in einen Bauernschlitten setzen und dann: marsch nach Sibirien fürs ganze Leben! Oder man vergißt uns in einer Kasematte!“
Und plötzlich begann er heiße, heiße Tränen zu weinen. Er bedeckte die Augen mit seinem seidenen Taschentuch und weinte und schluchzte ungefähr fünf Minuten lang. Ich konnte es nicht mit ansehen. Dieser alternde Mann, der jetzt zwanzig Jahre lang unser Freund und Lehrer, unser Patriarch gewesen war, der sich so hoch über uns allen zu halten verstanden hatte: der weinte plötzlich wie ein kleiner, ungezogener Junge, der den Stock, nach dem der Lehrer gegangen ist, fürchtet. Grenzenlos tat er mir leid. An den „Bauernschlitten“ glaubte er sicherlich eben so fest, wie daran, daß ich neben ihm saß – und erwartete ihn womöglich sofort, in der nächsten Minute schon. Und alles das für den Besitz der Werke Herzens oder irgendein eigenes Poem! Solch eine vollkommene Unkenntnis der alltäglichen Wirklichkeit war rührend und gleichzeitig doch auch widerlich.
Endlich hörte er auf zu weinen, erhob sich vom Diwan und ging wieder im Zimmer auf und ab. Sein Gespräch setzte er ebenso unzusammenhängend fort, wie zuvor; dabei blickte er jeden Augenblick zum Fenster hinaus oder horchte, ob nicht jemand ins Vorzimmer trat. Alle meine Beteuerungen und Beruhigungen sprangen von ihm ab wie Erbsen von der Wand. Er hörte mir kaum zu, und hatte es dabei doch ersichtlich furchtbar nötig, daß ich ihn beruhigte. Er sprach denn auch beinahe nur in dieser Absicht. Ich sah bald ein, daß er jetzt ohne mich nicht auskommen konnte, mich jedenfalls um keinen Preis jetzt von sich gelassen hätte. So blieb ich denn bei ihm und wir verbrachten ungefähr zwei Stunden miteinander.
Im Laufe des Gesprächs bemerkte er, daß Blümer unter anderem auch zwei Proklamationen, die er bei ihm irgendwo gefunden hatte, mitgenommen habe.
„Proklamationen!?“ Ich erschrak dummerweise. „Sind Sie denn ...“
„Ach, man hat mir einmal zehn Stück ins Haus geworfen,“ antwortete er geärgert. (Er sprach bald ungehalten und hochmütig mit mir, bald klagend und erniedrigt.) „Aber acht hatte ich schon beseitigt und Blümer hat nur noch zwei gefunden.“
Und plötzlich errötete er vor Unwillen.
„Vous me mettez avec ces gens-là![152] Sie halten es also für möglich, daß ich zu diesen Schuften, diesen heimlichen Zusteckern gehören könnte, zu solchen, wie mein Söhnchen Pjotr Stepanowitsch einer ist, avec ces esprits-forts de la lâcheté![153] O Gott!“
„Ja, aber sollte man Sie nicht vielleicht irgendwie verwechselt haben ... Übrigens, Unsinn, nein, das kann nicht sein!“
„Savez-vous,“ entriß es sich ihm plötzlich, „ich fühle zuweilen, que je ferai là-bas quelque esclandre.[154] Oh, gehen Sie nicht fort, lassen Sie mich um Gottes willen nicht allein! Ma carrière est finie aujourd’hui, je le sens.[155] Ich ... wissen Sie, ich werde mich vielleicht auch auf jemanden stürzen und beißen, wie jener Leutnant ...“
Er sah mich ganz sonderbar an, mit einem erschrockenen Blick, der aber zu gleicher Zeit auch selbst erschrecken zu wollen schien. Tatsächlich ärgerte er sich über irgendwen oder irgendetwas immer mehr, und zwar um so mehr, je länger der „Bauernschlitten“ auf sich warten ließ.
Plötzlich warf Nastassja, die aus der Küche ins Vorzimmer gegangen war, dort einen Kleiderhalter um. Stepan Trophimowitsch fuhr erschrocken auf und zitterte: als sich dann aber die Sache aufklärte, da schrie er sie an vor Wut, und jagte sie, mit den Füßen trampelnd, wieder zurück in die Küche.
Nach einiger Zeit sagte er, indem er mich verzweifelt anblickte:
„Ich bin verloren! Cher“ – er setzte sich plötzlich neben mich und sah mir traurig, unsäglich traurig, doch mit unverwandtem Blick, in die Augen. „Cher, ich fürchte ja nicht Sibirien, ich schwöre es Ihnen, oh, je vous jure,[156] ich fürchte etwas anderes ...“ und sogar Tränen traten ihm in die Augen.
Ich erriet sofort, schon an seinem Mienenspiel, daß er mir endlich etwas Besonderes mitteilen wollte, sich aber bis jetzt noch bezwungen hatte.
„Ich fürchte die Schande,“ flüsterte er schließlich geheimnisvoll.
„Welche Schande? ... Im Gegenteil! Glauben Sie mir doch, Stepan Trophimowitsch, alles wird sich noch heute aufklären, und zwar zu Ihrem Vorteil ...“
„Sind Sie so überzeugt, daß man mir verzeihen wird?“
„Was reden Sie von verzeihen! Was für Worte Sie da wieder gebrauchen! Was haben Sie denn begangen? Ich versichere Ihnen doch, Sie haben nichts getan!“
„Qu’en savez-vous[157] ... mein ganzes Leben war ... Cher ... Es wird ihnen alles von mir einfallen ... Und wenn sie nichts finden, um so schlimmer!“ fügte er plötzlich überraschend hinzu.
„Um so schlimmer?“
„Um so schlimmer.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Mein Freund, mein Freund, nun, meinetwegen Sibirien, nach Archangelsk, Verlust aller Rechte, – kommt man um, dann kommt man um! Aber ... ich fürchte das andere ...“ (wieder Geflüster, angstvolle Augen und Geheimtuerei).
„Aber was denn, was?“
„Sie werden mich durchprügeln!“ flüsterte er und sah mich wie verloren an.
„Wer wird Sie durchprügeln? Wo? Warum?“ rief ich erschrocken, denn ich glaubte schon, er habe den Verstand verloren.
„Wo? Nun da ... wo das gemacht wird.“
„Ja, wo wird denn das gemacht?“
„Ach, cher,“ flüsterte er mir beinahe schon ins Ohr, „plötzlich verschwindet unter einem ein Stück Diele und man fällt bis zur Hüfte in eine Öffnung ... Das weiß doch ein jeder ...“
„Fabeln!“ rief ich erratend, „das sind doch alte Fabeln. Ja, aber haben Sie denn wirklich bis jetzt an so etwas geglaubt?“ Ich begann zu lachen.
„Fabeln? So ganz grundlos entstehen solche Fabeln doch nicht. Ich hab es mir schon zehntausendmal in der Phantasie vorgestellt!“
„Aber warum denn Sie, gerade Sie? Sie haben doch nichts getan?“
„Um so schlimmer, sie werden einsehen, daß ich nichts getan habe, und prügeln dann erst recht!“
„Und Sie sind überzeugt, daß man Sie zu dem Zweck nach Petersburg bringen wird?“
„Mein Freund, ich habe schon gesagt, mir tut nichts mehr leid, ma carrière est finie.[158] Seit jener Stunde in Skworeschniki, als sie sich von mir verabschiedete, tut es mir um mein Leben nicht mehr leid ... aber die Schande, die Schande, que dira-t-elle,[159] wenn sie es erfährt?“
Verzweifelt sah er mich an und – der Arme! – errötete über und über. Ich senkte gleichfalls die Augen.
„Sie wird nichts erfahren, denn man wird Ihnen nichts tun. Es ist mir, als ob ich zum erstenmal mit Ihnen spräche, Stepan Trophimowitsch, dermaßen haben Sie mich heute in Erstaunen gesetzt.“
„Mein Freund, das ist doch keine Furcht. Nun, mögen sie mir da meinetwegen auch verzeihen, mich sogar wieder herbringen und mir auch sonst nichts antun – aber gerade hier bin ich ja dann verloren! Elle me soupçonnera toute sa vie[160] ... mich, mich, den Dichter, den Denker, den Menschen, den sie zweiundzwanzig Jahre lang angebetet hat!“
„Wird ihr gar nicht einfallen.“
„Es wird, wird!“ flüsterte er in tiefer Überzeugung. „Wir haben beide mehreremal darüber gesprochen, in Petersburg, bevor wir fortfuhren, als wir beide fürchteten. Elle me soupçonnera toute sa vie ... und wie sie überzeugen? Es wird alles so unwahrscheinlich klingen. Ja, und wer wird mir denn hier in der Stadt glauben? C’est invraisemblable ... Et puis les femmes[161] ... Sie wird sich freuen. Sie wird sehr betrübt sein, sogar aufrichtig betrübt, wie ein treuer Freund, aber, im geheimen – wird sie sich freuen ... Ich gebe ihr eine Waffe gegen mich fürs ganze Leben. Oh, vernichtet ist es jetzt, mein ganzes Leben! Zwanzig Jahre ein so großes Glück mit ihr ... und nun dies!“
Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
„Stepan Trophimowitsch, sollten Sie nicht Warwara Petrowna sofort von dem Vorgefallenen benachrichtigen?“ schlug ich vor.
„Gott soll mich davor bewahren!“ – er fuhr zusammen und sprang sogar auf. „Auf keinen Fall, niemals, nach dem, was in Skworeschniki gesagt worden ist, nie–mals!“
Seine Augen blitzten plötzlich.
Wir saßen, glaube ich, noch eine gute Stunde und warteten immer noch auf irgendetwas – es war das schon zu einer fixen Idee geworden. Er legte sich wieder hin, schloß sogar die Augen und lag ungefähr zwanzig Minuten ganz still, ohne ein Wort zu sprechen, so daß ich bereits glaubte, er sei eingeschlafen. Plötzlich aber erhob er sich jäh, riß das Handtuch vom Kopf, sprang vom Diwan auf und stürzte zum Spiegel, um sich sofort eine neue weiße Krawatte umzubinden, rief mit Donnerstimme Nastassja und befahl, ihm seinen Mantel, Hut und Stock zu geben.
„Ich kann’s nicht mehr aushalten,“ sagte er, „ich kann nicht, ich kann nicht! ... Ich gehe selbst.“
„Wohin?“ Auch ich sprang auf.
„Zu Lembke. Cher, ich muß, es ist meine Pflicht. Ja, meine Pflicht. Ich bin ein Bürger und ein Mensch, aber kein Strohhalm, ich habe Rechte, ich will mein Recht ... Ich habe zwanzig Jahre lang meine Rechte nicht mehr gefordert, ich habe sie mein ganzes Leben lang unverzeihlich vergessen ... aber jetzt werde ich sie verlangen. Er muß mir alles sagen, alles. Er hat gewiß ein Telegramm erhalten. Er darf mich nicht quälen. Wenn schon, denn schon – dann soll er mich lieber sofort verhaften, verhaften, verhaften!“
Er schrie die letzten Worte mit einer Stimme, die sich überschlug, und stampfte mit den Füßen.
„Ich gebe Ihnen vollkommen recht,“ sagte ich absichtlich so ruhig wie nur möglich, obgleich ich nicht wenig für ihn fürchtete. „Das ist wirklich besser, als mit einer solchen Sorge stillzusitzen. Nur Ihre ganze Stimmung kann ich nicht loben. Sehen Sie doch im Spiegel, wie Sie aussehen. Wie können Sie denn so zu Lembke gehen? Il faut être digne et calme avec Lembke.[162] Man könnte Ihnen jetzt wirklich zutrauen, daß Sie sich auf jemanden werfen und ihn beißen!“
„Ich liefere mich selbst aus! Ich gehe freiwillig in den Rachen des Löwen ...“
„Ich gehe natürlich mit Ihnen.“
„Anderes habe ich von Ihnen auch nicht erwartet, ich nehme Ihr Opfer an, als Opfer eines treuen Freundes, aber nur bis zum Hause, nur bis zum Hause: denn Sie dürfen nicht, Sie haben nicht das Recht, sich noch weiter mit mir zu kompromittieren. O, croyez-moi, je serai calme! In diesem Augenblick fühle ich mich à la hauteur de tout ce qu’il y a de plus sacré[163] ...“
„Ich werde mit Ihnen vielleicht auch ins Haus gehen,“ unterbrach ich ihn. „Gestern hat mich nämlich dieses dumme Komitee durch Wyssotzki benachrichtigt, daß man morgen zum Fest auf mich rechnet: als Anordner, oder wie sie da ... ich soll einer von den sechs jungen Herren sein, die nach den Teebrettern sehen, den Damen den Hof machen, den Gästen die Plätze aufsuchen und dabei eine weißrote Schleife an der linken Schulter tragen müssen. Ich wollte zuerst abschlagen – aber warum soll ich jetzt nicht zum Gouverneur gehen, unter dem Vorwande, die Angelegenheit mit Julija Michailowna selbst besprechen zu wollen? So gehen wir denn beide zusammen.“
Er hörte zu und nickte nur mit dem Kopf, doch wahrscheinlich hatte er nichts verstanden.
Wir standen schon an der Tür.
„Cher,“ rief er plötzlich und streckte die Hand zu der Ecke aus, in der das Lämpchen brannte, „cher, ich habe nie an das da geglaubt, aber ... lassen Sie mich, lassen Sie!“ und er bekreuzigte sich. „Allons!“[164]
„– Ist recht so,“ dachte ich bei mir, als ich nach ihm aus dem Hause trat, „unterwegs wird noch die frische Luft gut tun, wir werden uns beruhigen, wieder nach Hause kommen und uns schlafen legen ...“
Ich hatte aber die Rechnung ohne Stepan Trophimowitsch gemacht. Gerade unterwegs geschah etwas, das ihn noch mehr erschüttern sollte und ihn endgültig vorwärts trieb ... so daß ich, ich muß gestehen, eine solche Kühnheit, wie er sie an diesem Morgen zeigte, von unserm Freunde gar nicht erwartet hätte. Mein armer Freund! Mein guter, lieber Freund!
Das Erlebnis, das wir unterwegs hatten, war gleichfalls eines von den sonderbaren. Doch ich muß wohl alles in derselben Reihenfolge erzählen, in der es sich zugetragen hat. Ungefähr eine Stunde bevor wir, Stepan Trophimowitsch und ich, aus dem Hause traten, schob sich durch die Stadt, von vielen neugierig betrachtet, ein Menschenhaufe von etwa siebzig oder mehr Mann: es waren Arbeiter der Spigulinschen Fabrik. Sie zogen ruhig, würdevoll, fast stumm und absichtlich in der strengsten Ordnung durch die Straßen. Später wurde behauptet, daß diese Leute als Abgesandte der etwa neunhundert Arbeiter, die es im ganzen in der Fabrik gab, sich tatsächlich nur aufgemacht hätten, um beim Gouverneur ihr Recht zu suchen, da der Fabrikdirektor in Abwesenheit der Besitzer sie bei der Entlassung und Abrechnung schmählichst betrogen hatte – eine Tatsache, die heute keinem Zweifel mehr unterliegt. Andere behaupten freilich, daß siebzig Mann viel zu viel für eine Schar Abgesandte gewesen seien, und daß der Haufe aus den am meisten Geschädigten bestanden habe, die auf diese Weise einfach für sich selbst hätten bitten wollen; – jedenfalls aber will niemand von den siebzig einen „allgemeinen Arbeiter-Aufstand“ zugeben, von dem die Zeitungen hernach so fettgedruckt zu erzählen wußten. Wieder andere behaupten, diese siebzig Mann seien allerdings keine „gewöhnlichen“, dafür aber „politische“ Aufständische gewesen – und natürlich schieben dann diejenigen, welche die Sache so ansehen, mit Vorliebe die Schuld auf die in den vorhergegangenen Tagen heimlich zugesteckten Proklamationen. Aber wie dem auch sein mag (denn klar ist man sich bis heute noch nicht darüber), meiner eigenen Meinung nach hatten die Arbeiter diese zugesteckten Blätter überhaupt nicht gelesen, oder wenn doch, sie dann gar nicht verstanden, aus dem einfachen Grunde, weil die Verfasser derselben, trotz der Aufdringlichkeit ihres Stils, sich äußerst unklar ausdrücken. Da aber die Arbeiter bei der Abrechnung wirklich schändlich betrogen worden waren, und die Polizei, an die sie sich zuerst wandten, sich weiter nicht mit ihnen einlassen wollte, – was war da naheliegender, als selbst in hellem Haufen zum Gouverneur zu ziehen, wenn möglich gar mit einer Aufschrift, die ihre Wünsche in Devisenform aussprach und an der Spitze vorangetragen wurde, sich vor dem Gouverneursgebäude aufzustellen, um dann, wenn der Gefürchtete erschien, sogleich auf die Knie zu fallen und ein Gejammer wie zur heiligen Vorsehung selber zu erheben? Es ist meine feste Überzeugung, daß es sich nur darum und um nichts anderes handelte, zumal das ein uraltes und lang überliefertes Mittel ist: das russische Volk hat von jeher ein Gespräch mit dem „General selber“ allen anderen Verhandlungen vorgezogen – und zwar eigentlich allein schon um der Ehre willen, ganz gleichgültig, womit das Gespräch endete. So fest bin ich davon überzeugt, daß ich glaube, daß selbst Pjotr Stepanowitsch, Liputin und vielleicht noch jemand, sagen wir Fedjka, die heimlich mit den Fabrikarbeitern gesprochen hatten (wie sich dies jetzt mit ziemlicher Sicherheit herausgestellt hat), doch weiter keinen Einfluß auf diesen „Gang zum Gouverneur“ ausgeübt haben können, – abgesehen davon, daß es überhaupt nur zwei, drei, höchstens fünf Arbeiter gewesen sind, mit denen sie nachweisbar gesprochen haben. Was aber den „Aufstand“ betrifft, so werden wohl die Arbeiter, selbst wenn sie etwas von politischer Propaganda verstanden hätten, solchen geheimen Agitatoren doch kein Gehör geschenkt und ihr Gerede überhaupt nicht ernst genommen haben. Eine einzige Ausnahme machte höchstens Fedjka: diesem scheint es allerdings geglückt zu sein, und besser als Pjotr Stepanowitsch, mit den Arbeitern in vertrauliche Beziehung zu treten, denn an dem Brand in der Stadt, der in der übernächsten Nacht ausbrach, sind, wie man jetzt bestimmt weiß, im Bunde mit Fedjka noch zwei Fabrikarbeiter beteiligt gewesen. Und rechnet man dazu noch drei andere Arbeiter, die ein paar Wochen später in der nahen Kreisstadt verhaftet wurden, weil sie ebenfalls Feuer angelegt und geraubt hatten, so waren es im ganzen doch erst nur fünf von der Spigulinschen Fabrik, die man von anderer Seite verführt und aufgestachelt hatte.
Aber wie es sich damit nun auch verhalten mag, jedenfalls durchzogen die siebzig oder mehr Arbeiter die Stadt, stellten sich schließlich in aller Ordnung auf dem Platz vor dem Hause des Gouverneurs auf und sahen dann mit offenen Mäulern wartend auf die Vorfahrt. Der Gouverneur war aber gerade nicht anwesend. Wie ich später gehört habe, hätten sie schon gleich, nachdem sie sich geordnet, die Mützen abgezogen – etwa eine halbe Stunde bevor Herr von Lembke dann auf dem Schauplatz erschien. Die Polizei zeigte sich natürlich sofort: zuerst nur in einzelnen Vertretern, dann aber bald in möglichst geschlossenen Trupps. Man ging streng und drohend vor und befahl auseinander zu gehen. Die Arbeiter standen aber wie eine Herde Schafe, die am Zaun angelangt ist, und antworteten nur lakonisch, sie seien „zum General selber“ gekommen – kurz, man begegnete fester Entschlossenheit. Da hörte denn das Anschreien auf, Nachdenklichkeit trat an seine Stelle, geheimnisvoll geflüsterte Anordnungen und strenge, geschäftige Sorge, die die höheren Polizeibeamten die Augenbrauen zusammenziehen ließ. Der Polizeimeister zog es vor, statt irgendwelche Maßregeln zu ergreifen, doch lieber die Ankunft von Lembkes abzuwarten. Sonst pflegte der Polizeimeister bei solchen Gelegenheiten mit seiner Troika zum Entzücken aller Kaufleute stets in vollem Galopp anzufahren, und womöglich in die Ansammler mitten hinein: diesmal aber tat er es nicht, wenn er auch beim Abspringen nicht ohne ein kräftiges Wort, das geeignet war, seine Popularität zu erhalten, auskommen konnte. Doch es ist entschieden nicht wahr, daß man Soldaten herbeigerufen und von irgendwoher telegraphisch Artillerie und Kosaken erbeten hätte: das sind Märchen, an die jetzt niemand mehr glaubt. Unsinn ist gleichfalls, daß man die Feuerwehr gerufen habe und mit der Spritze gegen das angesammelte Volk vorgegangen sei. Ilja Iljitsch schrie einfach im Eifer, daß ihm kein einziger „trocken aus dem Wasser kommen“ solle – und daraus hat man dann wahrscheinlich die Feuerwehrspritze gemacht, die auch in den Nachrichtenteil der Petersburger Zeitungen überging. Das einzig Richtige ist, daß man die Arbeiter sofort mit allen nur verfügbaren Polizisten umstellte, während nach von Lembke, der vor einer halben Stunde nach Skworeschniki gefahren war, sofort der zweite Polizeioffizier mit der Troika des Polizeimeisters geschickt wurde.
Immerhin muß ich gestehen, daß mir noch eines unerklärlich scheint: wie kam es, wie war es möglich, daß man eine ruhige Versammlung gewöhnlicher Bittsteller so ohne weiteres und vom ersten Augenblick an gleich für einen politischen Aufstand halten konnte, der alles umzuwerfen drohte? Warum glaubte von Lembke selber nichts anderes, als er dreißig Minuten später mit dem Polizeioffizier eintraf? Am wahrscheinlichsten ist noch (doch das ist wieder nur meine eigene Meinung), daß Ilja Iljitsch, unser Polizeimeister, es einfach am allervorteilhaftesten und zweckmäßigsten fand, die Sache so und nicht anders aufzufassen, zumal er sich vor zwei Tagen während eines Gesprächs mit von Lembke überzeugt hatte, wie fest sein Vorgesetzter an eine baldige Wirkung der Proklamationen und an die Spigulinsche soziale Gefahr glaubte, so daß denn unser schlauer Ilja Iljitsch beim Fortgehen händereibend bei sich dachte: „Will sich in Petersburg auszeichnen, würde ihm leid tun, wenn sich alle Gefahr als Unsinn erweisen sollte – nun, mir soll’s recht sein ... werde danach vorkommendenfalls zu handeln wissen.“
Der arme Andrei Antonowitsch hätte freilich in Wirklichkeit um alles in der Welt keinen Aufstand gewünscht, nicht einmal um der persönlichen Auszeichnung willen. Er war ein ungewöhnlich pflichttreuer Beamter, der sich bis zu seiner Verheiratung seine Unschuld bewahrt hatte. Und war er denn daran schuld, daß statt des stillen, geruhigen Postens und des unschuldigen Mienchens, die er sich erträumt, die vierzigjährige Fürstentochter ihn zu sich erhoben hatte? Ich weiß mit aller Sicherheit, daß gerade an diesem verhängnisvollen Morgen die ersten deutlichen Anzeichen eben jenes Zustandes bei ihm zutage traten, der ihn dann in das bekannte Schweizer Sanatorium gebracht hat, wo er jetzt, wie verlautet, wieder zu Kräften kommt. Gibt man aber zu, daß sich schon an diesem Morgen gewisse Anzeichen bemerkbar machten, – nun, so kann man, meiner Meinung nach, nur annehmen, daß bei ihm auch schon am Tage vorher nicht alles ganz in Ordnung gewesen ist. Ich weiß es zudem dank der intimsten Mitteilungen ... (nun, nehmen Sie meinetwegen an, Julija Michailowna hätte mir später selbst, doch nicht mehr triumphierend, sondern fast schon bereuend – eine Frau bereut nie ganz – einen Teil dieser Geschichte erzählt) – ich weiß also, daß in der Nacht vorher, um etwa drei Uhr morgens, Andrei Antonowitsch seine Gemahlin plötzlich aufgeweckt und von ihr verlangt hat, daß sie sein „Ultimatum“ anhöre. Die Forderung war dermaßen bestimmt gestellt worden, daß Julija Michailowna sich gezwungen sah, sich tatsächlich zu erheben, trotz ihres Unwillens und der Papilloten im Haar, um auf dem Diwan Platz zu nehmen und ihren Herrn Gemahl anzuhören, wenn auch mit einem sarkastischen Lächeln, aber immerhin anzuhören. In dieser Nacht begriff sie zum erstenmal, wie weit es mit ihrem Mann schon gekommen war – und sie erschrak. Nun hätte sie sich eigentlich auch besinnen und erweichen lassen müssen – sie aber verbarg sozusagen ihren Schreck vor sich selber und wurde noch eigensinniger. Sie hatte (wie offenbar jede Frau) einen besonderen Trick, ihren Mann zu ärgern: Julija Michailowna pflegte nämlich in solchen Fällen verächtlich zu schweigen, und zwar nicht nur zwei oder drei Stunden lang, sondern mitunter ganze vierundzwanzig oder gar dreimal vierundzwanzig Stunden hintereinander, wenn’s ihr einmal darauf ankam. Sie schwieg dann, als ob Gott sie von Kindesbeinen an mit Stummheit und Taubheit geschlagen hätte, sie schwieg zu allem, was er auch sprechen mochte, sie hätte auch geschwiegen, selbst wenn Andrei Antonowitsch durch das Luftfenster gekrochen wäre, um sich vom dritten Stockwerk auf das Pflaster hinabzustürzen – sie schwieg ein Schweigen, das für einen gefühlvollen Menschen wirklich unerträglich war. Wollte sie ihn nun für seine in den letzten Tagen begangenen Fehler und seinen eifersüchtigen Neid als Gouvernementsherrscher auf ihre administrativen Fähigkeiten strafen? war sie nun unwillig über seine Kritik ihres Verhältnisses zu unserer Gesellschaft und besonders zu der Jugend, ohne ihre feinen und weitsichtigen politischen Ziele zu verstehen? oder war es seine kränkende unsinnige Eifersucht auf Pjotr Stepanowitsch? – Kurz, wie dem auch war, jedenfalls entschloß sie sich auch jetzt nicht, nachzugeben, ungeachtet dessen, daß es schon drei Uhr morgens war und Andrei Antonowitsch sich tatsächlich in ungewöhnlicher Erregung befand. Er ging in ihrem teppichbelegten Boudoir hin und her und rund herum, und schüttete alles, alles aus, was sich in seinem Herzen angesammelt hatte, denn es war, wie er sagte, schon „über die Grenzen gegangen“. Er begann damit, daß alle „über ihn lachten“ und ihn „an der Nase führten“. „Was scheren mich die Ausdrücke,“ schrie er, als er ihr Lächeln bemerkte, „meinetwegen mag das nicht ganz wörtlich sein, dieses ‚an der Nase‘, aber wahr ist es doch! ... Nein, meine Gnädige, jetzt ist der Augenblick gekommen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um spöttisches Lächeln und Weiberkoketterie. Wir sind jetzt nicht im Boudoir einer Zierdame, sondern wir sind wie zwei abstrakte Wesen im ... sagen wir in einem Luftballon, um uns die Wahrheit zu sagen.“ (Er verhaspelte sich natürlich ein wenig, doch das machte weiter nichts, daß er nicht immer den richtigen Ausdruck für seine an sich ganz richtigen Gedanken fand.) „Sie, meine Gnädige, Sie sind es, die mich aus meinem früheren Stande herausgerissen hat. Diesen Posten habe ich nur Ihretwegen angenommen, um Ihren Ehrgeiz zu befriedigen ... Sie lächeln spöttisch? Triumphieren Sie nicht, noch ist es dazu zu früh! Wissen Sie, meine Gnädige, ich könnte mit diesem Posten vorzüglich fertig werden, und nicht nur mit diesem allein, sondern noch mit weiteren zehn, denn ich besitze Fähigkeiten ... aber mit Ihnen, meine Gnädige, in Ihrer Gegenwart – kann man mit nichts fertig werden, mit Ihnen zusammen, meine Gnädige, habe ich keine Fähigkeiten mehr! Zwei Mittelpunkte können nicht nebeneinander sein. Sie aber haben zwei zustande gebracht – einen bei mir und den anderen bei sich im Boudoir – zwei Zentren der Macht, meine Gnädige: aber ich werde das nicht mehr erlauben, hören Sie, ich werde das nicht länger dulden!! Im Dienst wie in der Ehe ist nur ein Zentrum möglich, zwei aber sind ein Ding der Unmöglichkeit ... Womit lohnen Sie es mir?“ rief er plötzlich gereizt. „Unsere Ehe bestand bis jetzt nur darin, daß Sie mir täglich, stündlich bewiesen, daß ich nichtig, dumm und sogar gemein sei, und daß ich die ganze Zeit gezwungen war, Ihnen erniedrigenderweise zu beweisen, daß ich nicht nichtig und gar nicht dumm bin und, was die Gemeinheit angeht, sogar alle durch meinen Edelmut in Erstaunen setze. Sagen Sie mir doch bitte: ist das denn nicht erniedrigend? und zwar für beide Teile?“ Hier begann er mit beiden Füßen auf dem Teppich zu trampeln, so daß Julija Michailowna gezwungen war, sich in strenger Würde aufzurichten. Da wurde er sofort ganz still, verfiel aber nun ins Gefühlvolle und begann zu schluchzen (jawohl, zu schluchzen) und schlug sich vor die Brust, und das dauerte wohl ganze fünf Minuten, während welcher Zeit das unerschütterliche Schweigen seiner Gattin ihn vollends um seine Fassung brachte, – bis er schließlich das Falscheste tat, was er tun konnte: er gestand ihr, daß er auf Pjotr Stepanowitsch eifersüchtig war. Doch fast im selben Augenblick erriet er schon, daß er damit eine grenzenlose Dummheit begangen hatte, und wurde geradezu tierisch wild. Im Jähzorn schrie er alles Mögliche, schrie „Ich erlaube nicht, Gott zu verstoßen!“ „werde Ihren unverzeihlichen gottlosen Salon in alle Winde auseinanderjagen!“ „ein Gouverneur muß an Gott glauben und folglich auch seine Frau!“ „Sie, Sie, meine Gnädige, gerade Sie müßten schon um der eigenen Würde willen für Ihren Mann stehen, selbst wenn er gar keine Fähigkeiten hätte (dabei habe ich aber Fähigkeiten!) und währenddessen sind gerade Sie der Grund, daß man mich hier verachtet, gerade Sie haben diese Auffassung von mir allen beigebracht! ...“ Er schrie, er werde die ganze Frauenfrage vernichten, er werde dieses blödsinnige Fest für die Gouvernanten – die der Teufel holen solle! – morgen noch untersagen, und die erste Gouvernante, die ihm in den Weg komme, „von Kosaken“ aus dem Gouvernement jagen lassen. „Absichtlich, absichtlich!“ schrie er. „Wissen Sie auch, daß Ihre Nichtsnutze die Fabrikarbeiter aufhetzen und daß ich das weiß? Wissen Sie auch, daß diese selben jungen Leute absichtlich Proklamationen verbreiten, ab–sicht–lich!? Wissen Sie auch, daß ich die Namen von vier solchen Banditen kenne und daß ich den Verstand verliere, endgültig, endgültig den Verstand!!! ...“ Nun aber brach Julija Michailowna plötzlich ihr Schweigen und erklärte streng, sie wüßte selbst schon längst, was für verbrecherische Absichten gehegt würden, daß aber dies alles nur Dummheiten seien, die er viel zu ernst nähme, und was die unartigen Jungen beträfe, so kenne sie nicht nur vier Namen, sondern alle. (Das log sie.) Im übrigen aber habe sie deswegen noch lange nicht die Absicht, ihren Verstand zu verlieren, an den sie jetzt mehr denn je glaube, und ihr großes Ziel sei, alles in Harmonie aufzulösen: die Jugend zu ermutigen, sie zur Einsicht zu bringen, plötzlich und unerwartet diesen Jünglingen zu eröffnen, daß alle ihre Absichten bereits bekannt seien, und sie dann auf neue Ziele und eine vernünftige, segensreiche Tätigkeit hinzuweisen.
Doch was geschah nun mit Andrei Antonowitsch! Als er erfuhr, daß Pjotr Stepanowitsch ihn wieder übertölpelt und sich offen über ihn lustig gemacht, daß er ihr weit mehr und viel früher als ihm alles mitgeteilt hatte, und schließlich, daß vielleicht gerade Pjotr Stepanowitsch der Urheber aller verbrecherischen Absichten war – da geriet er einfach außer sich. „So wisse denn, du einfältiges, hämisches Frauenzimmer,“ schrie er, gleichsam alle Ketten sprengend, „wisse denn, daß ich deinen verächtlichen Liebhaber im Augenblick noch verhaften lasse, ihn in Ketten lege und in eine Kasematte werfe, oder – sofort unter deinen Augen aus dem Fenster auf die Straße springe!“ Auf diese Tirade aber antwortete Julija Michailowna, fahl vor Ärger, mit einem langen, hellen Gelächter, einem Gelächter mit Abstufungen und Anschwellungen, genau, aber genau so wie im französischen Theater die für hunderttausend Francs engagierte Pariser Schauspielerin zu lachen pflegt, wenn ihr Mann es wagt, sie der Untreue zu verdächtigen. Von Lembke stürzte zum Fenster, plötzlich aber blieb er wie angewachsen stehen, faltete die Hände auf der Brust und blickte sich totenbleich mit Unheil verkündendem Blick nach der Lachenden um: „Weißt du, weißt du, Julä ...“ murmelte er atemlos, mit beschwörender Stimme, „weißt du, ich kann mir wirklich etwas antun!“ Aber dem neuen, noch stärkeren Gelächter, das diesen Worten folgte, hielt er nicht mehr stand: er biß die Zähne zusammen, stöhnte und plötzlich stürzte er sich – nicht aus dem Fenster, sondern – auf seine Frau, über der er die Faust erhob! Doch er ließ sie nicht sinken, nein, dreimal nein; aber er verging auf der Stelle. Ohne die Füße unter sich zu spüren, stürzte er in sein Zimmer, wo er sich, so wie er war, in den Kleidern auf das Bett warf und den Kopf in die Decke wickelte. So lag er zwei Stunden lang – ohne Schlaf, ohne Gedanken, mit einem Stein auf dem Herzen und mit stumpfer, unbeweglicher Verzweiflung in der Seele. Hin und wieder erschauerte er am ganzen Körper unter einem quälenden Schüttelfrost. Gedanken hatte er nicht, doch fielen ihm allerhand unzusammenhängende Sachen ein, die mit seinem jetzigen Zustande nichts zu tun hatten: so dachte er zum Beispiel an eine alte Wanduhr, die er vor fünfzehn Jahren in Petersburg besessen hatte und von der der große Zeiger abgefallen war ... oder an seinen lustigen Freund Milbois – wie dieser einmal mit ihm im Alexanderpark einen Sperling gefangen und darauf furchtbar über diesen Jungenstreich gelacht hatte, als es ihnen plötzlich einfiel, daß der eine von ihnen schon „Kollegien-Assessor“ war. Erst gegen sieben Uhr morgens schlief er langsam ein, ohne es selbst zu merken, und schlief ruhig und mit wundervollen Träumen. Erst gegen zehn Uhr erwachte er, besann sich, sprang plötzlich wild auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn: jäh war ihm alles wieder eingefallen. Weder das Frühstück, noch Blümer, noch der Polizeimeister, noch Beamte mit Meldungen wurden vorgelassen, von all dem wollte er nichts mehr wissen – lief vielmehr wie von Sinnen in die Gemächer seiner Frau. Dort aber sagte ihm Sophia Antropowna, eine adlige alte Frau, die schon lange bei Julija Michailowna lebte, daß diese bereits vor einer Stunde mit einer ganzen Gesellschaft, in nicht weniger als drei Equipagen, nach Skworeschniki zu Warwara Petrowna Stawrogina gefahren sei, um dort die Säle zu besichtigen, da man das zweite Fest, das in zwei Wochen stattfinden sollte, dort zu arrangieren beabsichtigte, und der heutige Besuch schon vor drei Tagen mit Warwara Petrowna verabredet worden war. Bestürzt kehrte Andrei Antonowitsch in sein Arbeitszimmer zurück und befahl sofort, die Pferde anzuschirren. Kaum hielt er es aus, so lange zu warten, bis der Wagen vorfuhr. Seine Seele sehnte sich nach Julija Michailowna – nur sehen wollte er sie, nur ein paar Minuten lang bei ihr sein! Vielleicht wird sie ihm einen Blick schenken? ihm zulächeln wie früher? und ihm verzeihen? Oh – oh! „Wo bleiben denn die Pferde!“ Mechanisch schlug er ein dickes Buch auf, das auf dem Tisch lag (es kam vor, daß er zuweilen so ein Buch befragte, indem er es aufs Geratewohl aufschlug und dann auf der rechten Seite die ersten drei Zeilen las). Sein Blick fiel auf den Satz: „Tout est pour le mieux dans le meilleur des mondes possibles.“[165] Voltaire, „Candide“. Er spuckte wütend aus und eilte die Treppe hinab zum vorgefahrenen Wagen. „Nach Skworeschniki!“ befahl er. Der Kutscher erzählte später, der Herr habe ihn die ganze Zeit zu schnellerem Fahren angetrieben, bis er plötzlich, als sie sich dem Herrenhause näherten, befahl, umzukehren und in die Stadt zurück zu fahren. „Schneller, schneller!“ habe er auch dann noch ununterbrochen gerufen. „Doch als wir uns dem Stadtwall näherten,“ erzählte der Kutscher, „da befahl der Herr, wieder anzuhalten, stieg dann aus und ging aufs Feld, ich dachte ... aus irgendeinem Grunde ... – aber nein, er blieb mitten im Feld stehen und begann die Blümchen zu besehen ... so stand er dann lange Zeit, so daß ich gar nicht mehr wußte, was ich denken sollte.“ Ich erinnere mich noch des Wetters an jenem Morgen: es war ein kalter und klarer, doch windiger Septembertag. Vor Andrei Antonowitsch, der vom Wege aufs Feld getreten war, lag die herbe Landschaft der kahlen Felder, von denen das Getreide schon längst fortgeschafft war; der rauschende Wind schaukelte noch hier und da armselige Stiele vergilbter Feldblumen ... Wollte er vielleicht sich und sein Schicksal mit den spärlichen, von Wind und Frost schon siechen und zerzausten Feldblumen vergleichen? Das glaube ich nicht. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß Lembke die Blumen kaum bemerkt hat, daß er vielmehr alles, was er tat, ganz gedankenlos tat. Doch was man jedenfalls mit Sicherheit weiß, ist nur, daß jener Polizeioffizier des ersten Stadtreviers, der ihm mit dem Wagen des Polizeimeisters nachgeschickt ward, den Gouverneur unterwegs tatsächlich mit einem Strauß gelber Blümchen in der Hand antraf. Dieser Polizeioffizier, – Wassilij Iwanowitsch Flibustjeroff mit Namen, ein Beamter mit Begeisterung für seinen Beruf – war auch erst seit kurzer Zeit in unserer Stadt, doch hatte er sich nichtsdestoweniger durch seinen unmäßigen Diensteifer und seinen angeboren unnüchternen Zustand schon allgemein bekannt gemacht. Kaum hatte er den Gouverneur erblickt, als er sofort aus dem Wagen sprang, um, ohne Rücksicht auf das Blumenbukett, sofort zu melden:
„Exzellenz, in der Stadt ist Aufruhr.“
„Wie?“ fragte Andrei Antonowitsch, mit strengem Gesicht sich umwendend, doch ohne jedes Erstaunen, ganz wie er gewöhnlich in seinem Kabinett zu fragen pflegte.
„Pristaff des ersten Reviers, Flibustjeroff, Exzellenz. In der Stadt ist Aufruhr!“
„Flibustier?“ wiederholte Andrei Antonowitsch nachdenklich.
„Zu Befehl, Exzellenz. Die Spigulinschen sind aufständisch.“
„Die Spigulinschen! ...“
Irgendetwas schien ihm beim Namen Spigulin einzufallen. Er zuckte sogar zusammen und legte den Zeigefinger an die Stirn: „Die Spigulinschen!“ Schweigend und immer noch nachdenklich ging er, ohne sich zu beeilen, zum Wagen zurück, setzte sich und befahl, nach der Stadt zu fahren. Flibustjeroff fuhr im Wagen des Polizeimeisters hinter ihm her.
Ich glaube, Lembke wird unterwegs unklar an sehr verschiedene Sachen gedacht haben: doch es ist kaum anzunehmen, daß er, als er in die Stadt einfuhr, irgend eine bestimmte Absicht gehabt, noch sich eine Vorstellung von dem gemacht habe, was geschehen war. Als er aber plötzlich auf dem Platz vor dem Gouvernementsgebäude die fest und ruhig wartenden „Aufständischen“, die Reihe der Polizisten und den machtlosen – vielleicht auch absichtlich machtlosen – Polizeimeister erblickte, da strömte ihm alles Blut zum Herzen. Totenbleich stieg er aus dem Wagen.
„Die Mützen ab!“ sagte er kaum hörbar und atemlos. „Auf die Kniee!“ rief er dann plötzlich laut – am unerwartetsten wohl für ihn selbst. Und vielleicht war es gerade diese erschreckende Überraschung, die alles Weitere von selbst nach sich zog, wie auf den Rutschbergen in der Fastnachtswoche ein Schlitten, der schon hinabsaust, nicht mehr mitten auf der Strecke stehenbleiben kann. Andrei Antonowitsch hatte sich stets durch Geistesgegenwart ausgezeichnet; für solche Menschen aber ist es am gefährlichsten, wenn es einmal geschieht, daß ihr „Schlitten“ sich auf irgendeine Weise losreißt und den Berg hinabsaust.
Als Lembke aus dem Wagen stieg, drehte sich alles vor seinen Augen.
„Flibustier!“ rief er noch schneidender, fast kreischend und ganz sinnlos, und seine Stimme brach plötzlich ab. Er stand und wußte noch nicht, was er tun würde, doch fühlte er mit jeder Fiber, daß er sofort irgend etwas tun werde.
„Herrgott!“ hörte man das Volk murmeln. Ein Arbeiter bekreuzte sich, drei, vier wollten tatsächlich niederknieen, doch da schoben sich die anderen als ganze Schar um einige Schritte vor, und plötzlich fingen sie alle auf einmal zu sprechen an: „Exzellenz ... General ...“ riefen sie durcheinander, „wir haben uns verdingt zu vierzig ... der Direktor ... kannst du nicht ein Wort einlegen ...“ usw., usw. Man konnte nichts verstehen.
Der arme Andrei Antonowitsch von Lembke stand wie betäubt da, begriff nichts und hielt immer noch die Blümchen in der Hand. Den „Aufruhr“ glaubte er jetzt ebenso deutlich vor Augen zu sehen, wie Stepan Trophimowitsch schon den Bauernschlitten sah, der ihn nach Sibirien bringen sollte. Und zu alledem kam für ihn jetzt noch, daß er zwischen der Menge der „Aufständigen“, die ihn alle mit Glotzaugen anstarrten, plötzlich Pjotr Stepanowitsch nur so hin und herspringen und die Leute „aufwiegeln“ sah, diesen unseligen Pjotr Stepanowitsch, den Lembke seit dem vergangenen Tage nicht einmal auf eine Minute vergessen konnte, den er ständig vor Augen hatte, diesen von ihm so gehaßten Pjotr Stepanowitsch.
„Ruten!“ schrie von Lembke plötzlich noch überraschender.
Totenstille trat ein.
Das war der Anfang – wenigstens soweit mir alles Nähere bekannt geworden ist und soweit ich selbst manches mir zu erklären vermag. Doch die weiteren Begebenheiten sind schon viel weniger verbürgt, und auch ich vermag mir manches nicht recht zu deuten. Übrigens gibt es noch einige Tatsachen.
Doch vor allen Dingen kamen die Ruten gar zu schnell: sie waren augenscheinlich vom ahnungsvollen Polizeimeister schon während der Wartezeit vorbereitet worden. Dann aber wurden nur zwei, höchstens drei, doch bestimmt nicht mehr, mit Ruten bestraft. Rein erfunden ist es, daß alle oder die Hälfte der Arbeiter durchgeprügelt worden seien. Nicht wahr ist gleichfalls, daß man eine anständige vorübergehende Dame ergriffen und gleichfalls durchgeprügelt habe, wie später eine Petersburger Zeitung zu berichten wußte. Viel wurde ferner von einer Awdotja Petrowna Tarapygina gesprochen, einer alten Frau aus dem Armenhause, von der es hieß, sie habe, als sie auf dem Heimwege von einem Besuch in der Stadt auf dem Platz die Menschenmenge erblickte, sich in verständlicher Neugier vorgedrängt, und als sie sah, was da geschah, „solch eine Schmach!“ ausgerufen und dazu ausgespieen. Und dafür, so hieß es, hatte man sie sofort gleichfalls „beschlagnahmt“. Dieser Fall wurde nicht nur in den Zeitungen erwähnt, sondern man begann im Eifer sogar schon für sie zu sammeln. Auch ich habe zwanzig Kopeken gestiftet. Doch nun hat es sich herausgestellt, daß es eine solche Tarapygina hier überhaupt nicht gibt! Ich habe mich noch persönlich im Armenhause am Kirchhof nach ihr erkundigt: dort hat man von einer Tarapygina nie auch nur etwas gehört, ja, man war sogar richtig beleidigt, als ich zur Aufklärung der Sache das erwähnte Gerücht mitteilte. Wenn ich nun dieses leere Gerede hier überhaupt wiedergebe, so tue ich es nur deshalb, weil mit Stepan Trophimowitsch beinahe dasselbe geschah (d. h. falls jene Geschichte nicht frei erfunden gewesen wäre). Vielleicht aber ist diese ganze Geschichte von der Tarapygina nur durch Stepan Trophimowitsch entstanden, oder genauer ausgedrückt, durch einen kleinen Vorfall, den er heraufbeschwor. Es ist mir auch heute noch nicht klar, wie es geschah, daß Stepan Trophimowitsch mir plötzlich abhanden kam, kaum daß wir auf dem Platz vor dem Gouvernementsgebäude anlangten. Mir ahnte sogleich nichts Gutes und ich wollte ihn auf einem anderen Wege, nicht über den Platz, hinführen, doch aus Neugier blieb ich einen Augenblick stehen, um mich bei einem Bekannten zu erkundigen, was hier vorging, – und da war Stepan Trophimowitsch plötzlich verschwunden. Mein Instinkt sagte mir sofort, daß er bestimmt an der gefährlichsten Stelle am ehesten zu finden sein werde, denn aus einem ungewissen Grunde fühlte ich, daß auch bei ihm „der Schlitten“ sich losgerissen hatte und nun den Rutschberg hinabflog. Und richtig: er war schon mitten in der Menge. Ich weiß noch, ich erfaßte schnell seine Hand, doch er sah mich still und stolz, mit unermeßlicher Überlegenheit an.
„Cher,“ sagte er mit einer Stimme, in der etwas wie eine gesprungene Saite klang, „wenn man schon öffentlich hier auf dem Platz so zeremonielos verfährt, was soll man dann noch von diesem erwarten ... wenn er selbständig handeln dürfte?“
Und er wies zitternd vor Unwillen, mit dem heißen Verlangen, jemanden herauszufordern, auf den zwei Schritt vor uns stehenden und uns anstarrenden Flibustjeroff.
„Diesem?“ rief Flibustjeroff sofort zornbebend und es wurde ihm offenbar dunkel vor den Augen. „Was für einen ‚diesen‘? Wen meinst du damit hier? wer bist du überhaupt?“ schrie er uns an, mit geballter Faust auf uns zutretend. „Wer bist du?“ brüllte er wild, bis zur Tollheit erregt vor Diensteifer und Dünkel (dabei kannte er Stepan Trophimowitsch von Ansehen sehr gut).
Noch einen Augenblick und der rasende Flibustjeroff hätte ihn schon am Kragen gepackt; doch zum Glück wandte auf das Gebrüll hin von Lembke den Kopf und sah verwundert doch aufmerksam auf Stepan Trophimowitsch: es war, als ob er nachdachte – plötzlich aber winkte er ungeduldig mit der Hand ab und Flibustjeroff stand sofort stramm. Ich zog meinen Freund schnell aus der Menge. Vielleicht hatte auch er schon genug davon.
„Gehen wir nach Hause, sofort,“ sagte ich in sehr bestimmtem Tone. „Wenn man Sie jetzt nicht geschlagen hat, so verdanken Sie das nur Herrn von Lembke.“
„Gehen Sie, mein Freund. Es war unrecht von mir, Sie mit hineinzuziehen. Sie haben noch eine Zukunft und eine Karriere vor sich, ich aber – mon heure a sonné.“[166]
Und er betrat festen Schrittes die Treppe des Gouvernementsgebäudes. Der Portier kannte mich: ich sagte ihm, daß wir beide zu Julija Michailowna wollten. Man führte uns in den Empfangssalon, wir setzten uns und warteten. Ich konnte meinen Freund nicht verlassen, zu sprechen aber, oder ihn zu bereden, hielt ich jetzt für überflüssig. Er sah aus, wie ein Mensch, der sich dem Tode fürs Vaterland geweiht hat. Wir setzten uns nicht nebeneinander, sondern er nahm in der einen Ecke Platz und ich in der gegenüberliegenden, die näher zur Eingangstür lag. Sein Blick war nachdenklich gesenkt, die Hände stützte er leicht auf den Silberknopf seines Stockes und den breitkrämpigen Hut hielt er müde in der linken Hand. So saßen wir an die zehn Minuten.
Plötzlich trat von Lembke, in Begleitung des Polizeimeisters, mit schnellen Schritten ins Zimmer. Er blickte uns nur zerstreut an und wollte rechts in sein Arbeitszimmer gehen, doch schon stand Stepan Trophimowitsch vor ihm und verlegte ihm den Weg. Die hohe Gestalt, ja, die ganze so anders als die anderen wirkende Erscheinung Stepan Trophimowitschs machte augenscheinlich Eindruck auf von Lembke: er blieb stehen.
„Wer ist das?“ murmelte er verwundert. Doch wandte er den Kopf nicht zum Polizeimeister, sondern sah dabei starr Stepan Trophimowitsch an.
„Kollegienassessor Stepan Trophimowitsch Werchowenski, Exzellenz,“ antwortete Stepan Trophimowitsch mit einer würdevoll gemessenen Neigung des Kopfes.
Seine Exzellenz fuhr fort, ihn anzusehen, doch übrigens mit einem ziemlich stumpfen Blick.
„Sie wünschen?“ fragte er mit dem bekannten Lakonismus der höheren Vorgesetzten, launisch, ungeduldig sein Ohr zu Stepan Trophimowitsch wendend, den er wohl für einen gewöhnlichen Bittsteller nahm.
„Ein Beamter hat heute im Namen Eurer Exzellenz eine Haussuchung bei mir vorgenommen: ich wünschte ...“
„Der Name, der Name?“ fragte von Lembke ungeduldig, als ob ihm plötzlich etwas einfiel.
Stepan Trophimowitsch nannte zum zweitenmal und noch würdevoller seinen Namen.
„A–a–ah! Das ist ... das ist dieses Freidenkernest ... Mein Herr, Sie haben sich in einer solchen Weise ... Sie sind Professor? Professor?“
„Ich hatte früher einmal die Ehre, der Jugend einige Kollegs zu lesen, an der ...schen Universität.“
„Der Ju–gend?“ von Lembke schrak sichtlich zusammen, wenn er auch – darauf könnte ich wetten – kaum begriff, worum es sich hier handelte, noch mit wem er eigentlich sprach.
„Das, mein Herr, das lasse ich nicht zu!“ rief er plötzlich furchtbar erregt und aufgebracht. „Ich dulde keine Jugend! Das sind alles die Proklamationen. Das ist ein Angriff auf die Gesellschaft, mein Herr! Ein Angriff zur See! Ist Seeräuberei! Flibustjerismus! – Was wünschen Sie?“
„Im übrigen hat mich noch Ihre Frau Gemahlin gebeten, morgen auf dem Fest vorzulesen. Ich habe nicht die Absicht, hier um etwas zu bitten. Ich bin gekommen, um mein Recht zu verlangen ...“
„Auf dem Fest? Das Fest wird nicht stattfinden! Ich untersage euer Fest! Kollegs? Kollegs?“ rief Lembke wie toll.
„Ich würde Sie sehr bitten, ein wenig höflicher mit mir zu sprechen, Exzellenz, und mich nicht anzuschreien wie einen Schuljungen.“
„Sie ... vielleicht begreifen Sie, mit wem Sie sprechen?“ fragte plötzlich von Lembke errötend.
„Ich beschütze mit meiner Person die Gesellschaft, Sie aber wollen sie zerstören! ... Sie ... Übrigens, ich erinnere mich jetzt ..., waren Sie nicht Hauslehrer bei der Generalin Stawrogina?“
„Ja, ich war ... Hauslehrer bei der Generalin Stawrogina.“
„Und im Laufe von zwanzig Jahren sind Sie das Treibbeet alles dessen gewesen, was jetzt ausgebrochen ist ... alle Früchte ... Ich glaube, ich habe Sie soeben auf dem Platz gesehen. Hüten Sie sich, mein Herr, hüten Sie sich! Ihre Gedankenrichtung ist bekannt! Seien Sie überzeugt, daß ich das nicht aus dem Auge lasse! Ich kann Ihre Kollegs nicht gestatten, mein Herr, ich kann nicht! Mit solchen Bitten wenden Sie sich nicht an mich.“
Und von Lembke wollte wieder in sein Arbeitszimmer treten.
„Ich wiederhole, daß Sie sich täuschen, Exzellenz: es ist Ihre Frau Gemahlin, die mich gebeten hat – nicht ein Kolleg zu lesen, sondern morgen auf dem Fest etwas Literarisches vorzutragen. Doch jetzt werde ich mich selbst davon zurückziehen. Meine untertänigste Bitte ist nur, mir, falls möglich, zu erklären: warum man heute bei mir eine Haussuchung vorgenommen hat? Man hat mir einige Bücher und Papiere genommen, mir teure Privatbriefe, und auf einer Schiebkarre durch die Stadt ...“
„Wer hat das getan?“ fuhr Lembke, plötzlich ganz zur Besinnung kommend, auf und wandte sich hastig zum Polizeimeister.
In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür und die lange, plumpe Gestalt Blümers erschien. „Da! dieser selbe Beamte war es, Exzellenz,“ sagte Stepan Trophimowitsch schnell, der den Eintretenden sofort bemerkt hatte.
Blümer trat mit zwar schuldbewußtem, doch durchaus nicht nachgiebigem Ausdruck näher.
„Vous ne faites que des bêtises!“[167] warf ihm von Lembke ärgerlich zu, und plötzlich verwandelte er sich vollständig, als käme er erst jetzt völlig zu sich.
„Verzeihen Sie ...“ sagte er ungewöhnlich verwirrt zu Stepan Trophimowitsch und errötete dabei stark, „das war alles wahrscheinlich nur eine Ungewandtheit, ein Mißverständnis ... nur ein Mißverständnis.“
„Exzellenz,“ bemerkte Stepan Trophimowitsch, „in meiner Jugend war ich einmal Augenzeuge eines charakteristischen Vorfalls. Im Foyer eines Theaters trat irgend jemand auf einen Herrn zu und gab ihm vor dem ganzen Publikum eine schallende Ohrfeige. Gleich darauf bemerkte er, daß der Herr, dem er die Ohrfeige gegeben, durchaus nicht derselbe war, dem er sie hatte geben wollen, sondern ihm nur ähnlich sah, und geärgert sagte er – dabei eilig, ganz wie ein Mensch, der keine Zeit zu verlieren hat, – genau dieselben Worte, die Exzellenz soeben mir zu sagen beliebten: ‚Verzeihen Sie ... ich habe mich geirrt, das war ein Mißverständnis, nur ein Mißverständnis.‘ Und als der Beleidigte darauf immer noch gekränkt war und seiner Empörung Ausdruck gab, da sagte er schließlich ärgerlich: ‚Aber ich versichere Ihnen doch, daß das ein Mißverständnis war, was schreien Sie hier denn noch‘!“
„Das ... das ist natürlich komisch ...“ sagte von Lembke und verzog seinen Mund zu einem Lächeln.
„Aber ... aber sehen Sie denn nicht, wie unglücklich ich selbst bin?“
Er schrie es beinahe heraus und wollte schon, glaube ich, das Gesicht mit den Händen bedecken.
Dieser unerwartete gequälte Ausruf, dieser erstickte Schmerz machten einen unerträglichen Eindruck. Es war wohl der Augenblick des ersten Erwachens, des ersten klaren Erkennens alles dessen, was seit dem vergangenen Tage geschehen war – und gleich darauf vollständige, erniedrigende, sich ergebende Verzweiflung; wer weiß, vielleicht hätte er schon im nächsten Augenblick laut geschluchzt. Stepan Trophimowitsch sah ihn zuerst erschrocken an, dann senkte er plötzlich den Kopf und sagte mit einer tief mitfühlenden Stimme:
„Exzellenz, beunruhigen Sie sich weiter nicht wegen meiner kleinlichen Klage, und befehlen Sie nur, daß man mir meine Bücher und Briefe zurückschickt ...“
Er wurde unterbrochen. Gerade in diesem Augenblick kehrte Julija Michailowna mit der ganzen sie begleitenden Schar aus Skworeschniki zurück.
Das erste war, daß sämtliche Insassen der drei Equipagen fast alle zugleich in den Salon drängten. Eigentlich ging man in Julija Michailownas Gemächer unmittelbar vom Vestibül aus nach links; doch diesmal drängten alle nach rechts in den großen Empfangssalon – wohl bloß deshalb, weil Stepan Trophimowitsch sich in ihm befand. Davon und von allem Vorgefallenen wie auch von dem „Aufstand“ der Spigulinschen Arbeiter waren sie schon durch Lämschin unterrichtet worden. Dieser war zur Strafe für irgendeine neue Unart nicht mitgenommen worden – und so hatte er, der alles sogleich erfahren und teilweise selbst mit angesehen, schnell in hämischer Schadenfreude ein altes Kosakenpferd bestiegen und war der heimkehrenden Kavalkade entgegengeritten.
Julija Michailowna wird, denke ich mir, denn doch einigermaßen bestürzt gewesen sein, trotz ihrer „höheren Entschlossenheit“, als sie solche Neuigkeiten vernehmen mußte; aber wohl nur auf einen Augenblick. Die politische Seite der Frage konnte sie nicht weiter beunruhigen, denn Pjotr Stepanowitsch hatte ihr schon viermal gesagt, daß man die Spigulinschen Frechlinge einfach alle durchprügeln müsse: Pjotr Stepanowitsch aber war seit einiger Zeit eine ungeheuere Autorität für sie. „Er wird es mir schon bezahlen müssen,“ dachte sie bei sich, wobei das „Er“ sich natürlich auf ihren Mann bezog. Ich muß noch bemerken, daß Pjotr Stepanowitsch gleichfalls an der allgemeinen Ausfahrt nicht teilgenommen hatte und seit dem frühesten Morgen von niemandem gesehen worden war. Erwähnen muß ich auch noch, daß Warwara Petrowna, nachdem sie die Gäste in Skworeschniki empfangen hatte, mit ihnen zusammen (in einem Wagen mit Julija Michailowna) in die Stadt zurückgekehrt war, um an der letzten Sitzung des Komitees teilzunehmen. Natürlich mußten die von Lämschin gebrachten Nachrichten, die Stepan Trophimowitsch betrafen, sie gleichfalls interessieren, vielleicht aber regten sie sie sogar auf.
Die Heimzahlung, die Julija Michailowna sich vorgenommen hatte, ihrem Mann zu teil werden zu lassen, begann sofort, als sie in den Empfangssalon trat: das fühlte Lembke selbst schon nach dem ersten Blick auf seine schöne Gattin. Mit dem offensten, bezauberndsten Lächeln ging sie schnell auf Stepan Trophimowitsch zu, streckte ihm das elegant behandschuhte Händchen entgegen und überschüttete ihn mit den schmeichelhaftesten Worten – ganz als ob an diesem Vormittage all ihr Sinnen und Trachten nur darauf gerichtet gewesen wäre, Stepan Trophimowitsch ihr Entzücken darüber auszudrücken, daß sie ihn endlich bei sich begrüßen durfte. Über die Haussuchung verlor sie kein einziges Wort, nicht eine Silbe, als hätte sie überhaupt nichts davon gewußt. Kein Wort an ihren Mann, kein Blick auf ihn – als wenn er gar nicht anwesend gewesen wäre! Dabei schien ihr das noch nicht einmal genug zu sein, sie nahm vielmehr Stepan Trophimowitsch einfach für sich in Beschlag und führte ihn mit sich in die andere Ecke des Salons, was so viel heißen sollte wie: daß sie es gar nicht für wert hielt, daß sein Gespräch mit Lembke, in dem er doch offenbar begriffen gewesen war, zu Ende geführt wurde. Ich glaube, daß Julija Michailowna damit trotz ihres so sicheren Auftretens doch wieder einen Fehler machte. Und hierbei half ihr dann noch Karmasinoff (der diesmal auf ihre besondere Bitte an der Fahrt teilgenommen und bei dieser Gelegenheit Warwara Petrowna gewissermaßen doch noch seinen Besuch gemacht hatte, worüber diese in ihrer kleinen Eitelkeit geradezu entzückt war). Karmasinoff trat als letzter in den Empfangssalon und rief, kaum daß er Stepan Trophimowitsch erblickte, noch in der Tür stehend, sogleich aufs Lebhafteste:
„Wieviel Jahre, wieviel Lenze! Endlich ... Excellent ami!“[168]
Und er trippelte auf Stepan Trophimowitsch zu, ohne darauf zu achten, daß er sogar Julija Michailowna unterbrach, und hielt ihm seine Wange zum Kuß hin.
„Cher,“ sagte mir Stepan Trophimowitsch noch am selben Abend, als er über die Erlebnisse dieses Vormittags sprach, „in jenem Augenblick dachte ich: wer ist nun von uns beiden gemeiner? Er, der mich umarmt, um mich zu erniedrigen, oder ich, der ich ihn samt seiner Wange verachte und doch küsse, obgleich ich mich einfach abwenden könnte ... O pfui!“
„Nun, erzählen Sie, erzählen Sie doch alles, was Sie inzwischen erlebt haben,“ lispelte Karmasinoff in seiner manierierten Sprechweise, – als ob man das ganze Leben von fünfundzwanzig Jahren so einfach vornehmen und erzählen könnte. Aber diese törichte Oberflächlichkeit war nun einmal „höherer“ Ton.
„Erinnern Sie sich, wir haben uns zuletzt in Moskau beim Diner zu Ehren Granowskis gesehen, und seitdem sind vierundzwanzig Jahre vergangen ...“ begann Stepan Trophimowitsch ruhig und vernünftig (also sehr wenig im „höheren“ Tone).
„Ce cher homme,“[169] unterbrach ihn Karmasinoff familiär mit seiner kreischenden Stimme und faßte ihn mit freundschaftlicher Vertraulichkeit an der Schulter. „Aber Julija Michailowna, so bringen Sie uns doch schnell zu sich hinüber! Dort wird er sich dann hinsetzen und uns alles erzählen.“
„Dabei bin ich mit diesem alten, reizbaren Weibe von Mann nie Freund gewesen!“ fuhr am selben Abend Stepan Trophimowitsch zitternd vor Wut fort, sich bei mir zu beklagen. „Damals waren wir noch Jünglinge und schon damals begann ich, ihn zu hassen ... ganz wie er mich, natürlich ...“
Julija Michailownas Salon füllte sich schnell. Warwara Petrowna befand sich in ganz besonders gespannter Stimmung, wenn sie sich auch krampfhaft anstrengte, gleichmütig zu erscheinen. Ich bemerkte ein paarmal ihren gehässigen Blick auf Karmasinoff und manchen bösen Blick auf Stepan Trophimowitsch – böse schon im voraus, böse aus Eifersucht, aus Liebe: hätte Stepan Trophimowitsch jetzt in Gegenwart aller schlecht abgeschnitten oder hätte er sich von Karmasinoff irgend etwas bieten lassen, – ich glaube, sie wäre aufgesprungen und hätte ihn womöglich geschlagen.
Ich vergaß, zu erwähnen, daß auch Lisa anwesend war, und noch nie hatte ich sie fröhlicher, sorgloser, glücklicher gesehen. Selbstverständlich war auch Mawrikij Nicolajewitsch zugegen. Außerdem bemerkte ich unter den jungen Leuten, die Julija Michailownas ständiges Gefolge waren und von denen Zeremonielosigkeit für Lustigkeit und billiger Zynismus für Intelligenz gehalten wurde, zwei oder drei neue Persönlichkeiten: irgendeinen angereisten, auffallend scharwenzelnden Polen, einen deutschen Doktor – ein schon ältlicher Mann, der keinen Augenblick stillsitzen konnte und laut und mit Genuß in jeder Minute über seine eigenen Witze lachte – und irgendeinen sehr jungen Petersburger Fürsten, eine automatische Figur mit Diplomatenhaltung und in furchtbar hohem Kragen – ein Gast, den Julija Michailowna augenscheinlich ganz besonders schätzte und vor dessen Kritik ihr vielleicht sogar bangte, wenn sie an den Ton in ihrem Salon dachte ...
„Cher monsieur Karmazinoff,“ begann Stepan Trophimowitsch, der sich malerisch auf einen Diwan setzte und plötzlich die Worte ganz wie Karmasinoff manieriert skandierte, „cher monsieur Karmazinoff, das Leben eines Menschen unserer früheren Zeit muß, besonders wenn er gewisse Überzeugungen hat, selbst in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren eintönig erscheinen ...“
Der Deutsche lachte schallend, ja geradezu wiehernd auf, wahrscheinlich in dem Glauben, Stepan Trophimowitsch habe etwas überaus Komisches gesagt. Dieser sah sich mit ostentativer Verwunderung nach ihm um, doch auf den Lacher machte er damit gar keinen Eindruck. Der junge Fürst sah sich gleichfalls mitsamt seinem hohen Kragen um und setzte sogar den Zwicker auf, um den Deutschen besser betrachten zu können, blickte aber dabei, seinem Gesichtsausdruck nach, völlig gleichgültig, ohne jede Neugier auf ihn.
„... eintönig erscheinen,“ wiederholte Stepan Trophimowitsch absichtlich. „So ist es auch mit meinem Leben in diesem ganzen Vierteljahrhundert, et comme on trouve partout plus de moines que de raison,[170] – und da ich dem vollkommen zustimme, so scheint es, daß ich in diesen fünfundzwanzig Jahren ...“
„C’est charmant, les moines,“[171] flüsterte Julija Michailowna der neben ihr sitzenden Warwara Petrowna zu.
Warwara Petrowna antwortete ihr darauf mit einem stolzen Blick.
Karmasinoff aber ertrug den Erfolg der französischen Phrase nicht und fiel mit seiner kreischenden Stimme Stepan Trophimowitsch schnell ins Wort:
„Was mich betrifft, so bin ich in der Beziehung vollkommen beruhigt und sitze jetzt schon das siebente Jahr in Karlsruhe. Ja, als im vorigen Jahr der Stadtrat dortselbst beschloß, ein neues Wasserleitungsrohr zu legen, da fühlte ich in meinem Herzen, daß diese Karlsruher Wasserleitungsfrage mir teurer und lieber war, als die gesamten Fragen meines lieben Vaterlandes ... wenigstens für die Zeit der sogenannten russischen Reformen.“
„Sehe mich gezwungen, zu gestehen, daß ich Ihnen das nachfühlen kann, wenn auch gegen mein Herz,“ sagte Stepan Trophimowitsch halb aufseufzend und senkte vielsagend den Kopf.
Julija Michailowna triumphierte: das Gespräch wurde sowohl tief wie tendenziös.
„Eine Röhre für den ... Schmutz?“ erkundigte sich laut der Doktor.
„Ein Abzugsrohr, Doktor, ein Abzugsrohr, und ich habe damals selbst mitgeholfen, das Projekt auszuarbeiten.“
Der Doktor lachte wieder schallend auf. Nun begannen auch die anderen zu lachen, doch lachten sie jetzt schon dem Deutschen offen ins Gesicht, was dieser aber gar nicht gewahrte – im Gegenteil, er schien sogar sehr vergnügt darüber zu sein, daß endlich alle mitlachten.
„Erlauben Sie, Ihnen einmal nicht beizustimmen, Karmasinoff,“ beeilte sich Julija Michailowna zu bemerken. „Ich habe sonst nichts gegen Karlsruhe, aber Sie lieben zu mystifizieren, und diesmal glauben wir Ihnen nicht. Welcher russische Schriftsteller hat so viele zeitgenössische und echt russische Typen geschaffen, ist so vielen zeitgenössischen und echt russischen Fragen auf den Grund gegangen und hat so richtig jene Hauptmomente unserer Zeit erkannt, die den Typ des heute wirkenden Menschen bestimmen, wie gerade Sie, Sie allein von allen? Und nun, bitte, versuchen Sie uns noch Ihre Gleichgültigkeit gegen das Vaterland und Ihr ungeheueres Interesse für die Karlsruher Leitungsrohrangelegenheit glauben zu machen! Haha!“
„Ich habe allerdings,“ begann Karmasinoff geziert, „im Typ Pogosheff alle Fehler der Slawophilen gezeigt und im Typ Nikodimoff alle Fehler der Westler ...“
„Als ob er damit wirklich schon alle gezeigt hätte!“ flüsterte Lämschin ganz leise seinem Nachbar zu.
„... aber das tue ich nur so nebenbei, nur um die überflüssige Zeit irgendwie totzuschlagen und ... um alle diese aufdringlichen Anforderungen und Erwartungen meiner Landesgenossen zu befriedigen.“
„Es wird Ihnen wohl schon bekannt sein, Stepan Trophimowitsch,“ fuhr Julija Michailowna ganz bezaubert fort, „daß wir morgen das Vergnügen haben werden, etwas Wundervolles zu hören ... eine von den letzten und schönsten Inspirationen Semjon Jegorowitschs – sein ‚Merci‘. Er kündet in dieser Arbeit an, daß er künftig nichts mehr schreiben werde, unter keiner Bedingung, für keinen Preis, selbst dann nicht, wenn ein Engel vom Himmel käme und ihn bäte, den unwiderruflichen Entschluß aufzugeben. Mit einem Wort, er legt jetzt die Feder für immer aus der Hand. Und dieses graziöse ‚Merci‘ ist an das Publikum gerichtet, ist sein Dank für die unermüdliche Begeisterung, mit der es so viele Jahre lang seine treue Arbeit für den russischen Gedanken begleitet hat.“
Julija Michailowna war auf der Höhe der Seligkeit.
„Ja, ich verabschiede mich, ich sage mein ‚Merci‘ und reise dann weg, und dort ... in Karlsruhe ... werde ich meine Augen schließen,“ bemerkte Karmasinoff, den das Mitleid mit sich selbst mehr und mehr ergriff.
Wie so viele unserer großen Schriftsteller (und wir haben ungeheuer viel große Schriftsteller) konnte er Lobsprüche nicht gleichmütig hinnehmen, sondern wurde ungeachtet seines ganzen Scharfsinnes sofort schwach und weich. Aber ich denke, das ist am Ende verzeihlich. Erzählt man doch, daß einer von unseren Shakespeares in einem Privatgespräch ganz offen gesagt habe: „Ja, wir großen Männer, wir“ usw., und zwar ohne daß es ihm selbst aufgefallen wäre.
„Ja, dort in Karlsruhe schließe ich dann für immer meine Augen. Uns großen Männern bleibt ja nichts anderes übrig, als, nachdem wir unser Werk getan, schnell die Augen zu schließen, ohne noch lange auf Dank zu warten. So werde auch ich es denn machen.“
„Geben Sie mir Ihre Adresse, damit ich nach Karlsruhe zu Ihrem Grabe pilgern kann!“ rief der Deutsche und lachte selbst maßlos laut darüber.
„Jetzt kann man Tote auch mit der Eisenbahn versenden,“ sagte plötzlich einer der unbedeutenderen jungen Herren.
Lämschin quiekte nur so vor Vergnügen. Julija Michailowna zog, peinlich berührt, die Brauen zusammen.
In diesem Augenblick trat Nicolai Stawrogin ein.
„Und mir hat man gesagt, Sie wären aufs Polizeibureau gebracht worden?“ sagte er, sich gleich an Stepan Trophimowitsch wendend.
„Nein, es war im ganzen nur ein ... bureaukratischer Zwischenfall,“ antwortete Stepan Trophimowitsch lächelnd.
„Ich kann aber versichern, daß dieses Mißverständnis auf meine Veranlassung hin wieder gutgemacht werden wird,“ griff Julija Michailowna in das Gespräch ein. „Ich denke, daß Sie diese Unannehmlichkeit, die mir jetzt noch unerklärlich ist, nicht weiter beachten und uns trotzdem das Vergnügen bereiten werden, auf der literarischen Matinee etwas vorzutragen?“
„Ich weiß nicht ... jetzt ... eigentlich ...“
„Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, ich bin so unglücklich ... und denken Sie nur, gerade jetzt, wo ich mich am meisten darauf freute, einen der bemerkenswertesten und unabhängigsten russischen Geister endlich persönlich kennen zu lernen, äußert Stepan Trophimowitsch plötzlich die Absicht, sich von uns zurückzuziehen.“
„Das Lob ist ja so laut, daß ich es wohl nicht hören soll,“ bemerkte Stepan Trophimowitsch, jedes Wort prägend, „aber ich glaube nun einmal nicht, daß meine unwichtige Person für das Fest so unbedingt vonnöten sei. Übrigens, ich ...“
„Aber Sie verwöhnen ihn mir ja viel zu sehr!“ rief plötzlich Pjotr Stepanowitsch, schnell ins Zimmer schwirrend, dazwischen. „Kaum habe ich ihn in die Hand genommen, da, eines Morgens Haussuchung, Arrest, die Polizei packt ihn am Kragen, und nun verhätscheln ihn die Damen im Salon unseres Stadtgewaltigen! Na, in ihm muß ja jetzt jeder Knochen vor Entzücken einfach singen. Hat sich solch ein Benefiz wohl nicht mal träumen lassen, – kein Wunder, wenn er da anfängt, die Sozialisten anzuschwärzen.“
„Das kann nicht sein, Pjotr Stepanowitsch, der Sozialismus ist ein zu großer Gedanke, als daß Stepan Trophimowitsch das nicht auch einsähe,“ verteidigte Julija Michailowna den letzteren energisch.
„Der Gedanke ist zwar groß, doch seine Verkünder sind das nicht immer, mais brisons là, mon cher,“[172] sagte Stepan Trophimowitsch, sich mit weltmännischer Sicherheit vom Platz erhebend, zu seinem Sohn.
Da geschah plötzlich etwas völlig Unerwartetes.
Auch Herr von Lembke war den anderen gefolgt und befand sich gleichfalls schon seit einiger Zeit im Salon seiner Frau, doch sonderbarerweise tat man allgemein, als bemerke man ihn nicht, obgleich gewiß alle gesehen hatten, wie er eingetreten war. Aber Julija Michailowna fuhr nun einmal eigensinnig fort, ihrem Vorsatz getreu, ihn zu ignorieren. Er war nicht weit von der Tür stehen geblieben und hatte bisher finster, mit strengem Gesicht, dem Gespräch zugehört. Als jetzt die Bemerkungen über die Vorfälle des Morgens fielen, wurde er unruhig, sah plötzlich starr den jungen Fürsten an, dessen steifer Kragen wohl seinen Verdacht erregte. Da schlug die Stimme des hereinschwirrenden Pjotr Stepanowitsch an sein Ohr: er zuckte heftig zusammen, – und kaum hatte Stepan Trophimowitsch seine Sentenz über die Sozialisten ausgesprochen, als von Lembke schon schnurstracks auf ihn zutrat, ohne es zu beachten, daß er dabei Lämschin, der im Wege stand, zur Seite stieß. Lämschin sprang natürlich sofort mit gemachtem und übertriebenem Erstaunen zur Seite, rieb sich mit verwundertem Gesicht den Arm und tat, als habe von Lembke ihn wirklich furchtbar verletzt.
„Genug!“ rief dieser, indem er energisch die Hand des erschrockenen Stepan Trophimowitsch ergriff und sie mit aller Kraft in der seinigen drückte. „Genug, über die Flibustiers ist das Urteil schon gefällt. Kein Wort weiter. Ich habe schon Vorkehrungen getroffen ...“
Er sprach es laut und schloß mit scharfer Betonung. Der Eindruck, den seine Worte machten, war ein äußerst unangenehmer. Alle fühlten etwas Unheilvolles in der Luft. Ich sah, wie Julija Michailowna erbleichte. Der Eindruck wurde durch einen dummen Zufall abgeschlossen. Nachdem Lembke das von den Vorkehrungen gesagt hatte, wandte er sich schroff um und schritt schnell zur Tür, doch kurz bevor er sie erreichte, stolperte er über einen der Teppiche, klappte mit dem Oberkörper nach vorn und wäre beinahe gefallen. Einen Augenblick stand er stumm da, blickte auf die Stelle, wo er gestolpert war, sagte laut: „Das ist umzustellen,“ und verließ das Zimmer. Julija Michailowna erhob sich sofort und ging ihm eilig nach. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, da sprach und tuschelte schon alles durcheinander, so daß es schwer war, aus dem Gewirr klug zu werden. Die einen sagten, er sei „nervös“ und „überarbeitet“; andere wollten gehört haben, daß er gewissen Anfällen ausgesetzt sei; die dritten tippten heimlich mit dem Finger an die Stirn, und in einer Ecke, im Kreise der Jugend, hielt Lämschin sogar zwei Finger wie Hörnchen an die Stirn. Ja, man machte Andeutungen, munkelte von Familienszenen – doch sprach man davon selbstverständlich nicht laut, sondern nur flüsternd. Jedenfalls dachte niemand daran, jetzt fortzugehen; und vorläufig wartete man. Ich weiß nicht, was Julija Michailowna inzwischen hatte ausrichten können, doch schon nach einigen fünf Minuten kam sie zurück, und man merkte ihr nur an, daß sie sich sehr zusammennahm, um ruhig zu erscheinen. Sie antwortete ausweichend, sagte, Andrei Antonowitsch sei ein wenig erregt, aber das habe nichts auf sich, das wiederhole sich bei ihm schon von Kindheit an, sie wisse das alles „ganz genau“, und selbstredend werde das Fest morgen ihn wieder erheitern. Darauf richtete sie noch ein paar schmeichelhafte Worte an Stepan Trophimowitsch, jedoch nur um der gesellschaftlichen Form willen, und dann forderte sie mit erhobener Stimme die Mitglieder des Komitees auf, jetzt sofort mit der Sitzung zu beginnen. Nun erst begannen die anderen aufzubrechen, doch die beklagenswerten Vorfälle dieses verhängnisvollen Tages waren noch nicht zu Ende ...
Schon in dem Augenblick, als Nicolai Stawrogin eintrat, hatte ich bemerkt, daß Lisa ihn schnell und forschend ansah und dann lange den Blick nicht von ihm abwandte, so lange nicht, daß es bereits auffiel. Ich sah, wie Mawrikij Nicolajewitsch, der hinter ihrem Stuhle stand, sich niederbeugte, wie um ihr etwas zu sagen, doch plötzlich seine Absicht wieder aufgab und sich schnell aufrichtete, worauf er mit schuldbewußtem Blick die Anwesenden überflog. Auch Nicolai Stawrogin erregte einige Neugier: sein Gesicht war bleicher als sonst und sein Blick ungewöhnlich zerstreut. Nachdem er beim Eintreten seine Frage an Stepan Trophimowitsch gerichtet hatte, vergaß er ihn gleich wieder – ja, ich glaube, vergaß sogar, zur Hausfrau zu treten. Lisa sah er kein einziges Mal an, doch nicht etwa, weil er es nicht wollte, sondern weil er, wie ich mit Sicherheit behaupten kann, auch sie nicht bemerkte. Und nun, in der Stille, die Julija Michailownas Aufforderung an die Mitglieder des Komitees folgte, hörten wir plötzlich Lisas klare und absichtlich laute Stimme:
„Nicolai Wszewolodowitsch, mir schreibt irgendein Hauptmann, der sich für Ihren Verwandten ausgibt, für den Bruder Ihrer Frau, ein Hauptmann namens Lebädkin, fortwährend unanständige Briefe, in denen er sich über Sie beklagt und sich bereit erklärt, Geheimnisse, die Sie betreffen, mir mitzuteilen. Wenn Sie tatsächlich sein Verwandter sind, so verbieten Sie ihm doch derlei Beleidigungen und befreien Sie mich von diesen Belästigungen.“
Eine ungeheuere Herausforderung lag in diesen Worten, und das begriffen alle. Die Beschuldigung lag auf der Hand, wenn sie auch für sie selbst vielleicht ganz überraschend kam. Es war, wie wenn ein Mensch die Augen schließt, die Zähne zusammenbeißt und sich vom Dach hinabstürzt.
Doch die Antwort Nicolai Stawrogins war noch sonderbarer. Vor allem war schon das seltsam, daß er durchaus nicht erstaunt oder erschrocken zu sein schien und Lisa bis zum Schluß mit der ruhigsten Aufmerksamkeit anhörte. Weder Verwirrung noch Zorn drückte sich auf seinem Gesicht aus. Und einfach, fest, sogar mit voller Bereitwilligkeit, antwortete er auf die verhängnisvolle Frage:
„Ja, ich habe das Unglück, mit diesem Menschen verwandt zu sein. Ich bin der Mann seiner Schwester, der geborenen Lebädkina, jetzt schon seit fast fünf Jahren. Seien Sie versichert, daß ich ihm Ihre Forderungen in kürzester Zeit ausrichten werde, und ich verbürge mich dafür, daß er Sie hinfort nicht mehr belästigen wird.“
Nie werde ich das Entsetzen vergessen, das sich in Warwara Petrownas Gesicht ausdrückte. Wie von Sinnen erhob sie sich von ihrem Stuhl und streckte langsam wie zur Abwehr die rechte Hand vor sich aus. Nicolai Wszewolodowitsch sah sie an, sah Lisa an, die Zuschauer, und plötzlich lächelte er mit grenzenlosem Hochmut; und wortlos, ohne sich zu beeilen, verließ er den Salon. Alle sahen, wie Lisa vom Diwan aufsprang, kaum daß Stawrogin sich zur Tür wandte, und bereits eine Bewegung machte, um ihm nachzueilen, doch schon im nächsten Augenblick kam sie zur Besinnung und lief nicht, sondern ging still und leise, gleichfalls ohne ein Wort zu sagen und ohne jemanden anzusehen, hinaus, natürlich in Begleitung Mawrikij Nicolajewitschs, der sofort an ihrer Seite war ...
Von der Aufregung und dem Gerede an diesem Abend in der Stadt schweige ich lieber. Warwara Petrowna hatte sich in ihrem Stadthause eingeschlossen, und Nicolai Wszewolodowitsch war, wie man zu berichten wußte, ohne die Mutter gesehen zu haben, nach Skworeschniki gefahren. Stepan Trophimowitsch bat mich am Abend, zu „cette chère amie“[173] zu gehen und anzufragen, ob er nicht zu ihr kommen dürfe. Ich wurde aber nicht empfangen. Er war maßlos erschüttert und weinte sogar. „Solch eine Ehe! Solch eine Ehe! Solch ein Schrecken in der Familie!“ wiederholte er einmal über das andere. Aber zwischendurch gedachte er doch auch Karmasinoffs und schimpfte furchtbar über ihn. Zu dem Vortrag, den er auf der literarischen Matinee am nächsten Tage halten wollte, bereitete er sich eifrig vor, und – o künstlerische Natur! – tat es vor dem Spiegel. Und er suchte alle geistreichen Bemerkungen und alle Bonmots zusammen, die er je im Leben gemacht und die er in einem besonderen Heftchen notiert hatte, um sie nun in seinen Vortrag über die Sixtinische Madonna hineinzuflechten. „Mein Freund, ich tue das ja nur für die große Idee,“ sagte er zu mir, offenbar um sich zu rechtfertigen. „Cher ami, ich habe mich nach fünfundzwanzigjährigem Stillsitzen plötzlich von meinem Platze gerissen und bin losgefahren, wohin – das weiß ich nicht, aber ich bin losgefahren ...“
Das Fest fand statt, ungeachtet der bedenklichen Ereignisse des vorhergegangenen „Spigulinschen“ Tages. Ja, ich glaube, selbst wenn Lembke in der dazwischenliegenden Nacht gestorben wäre, hätte das Fest an diesem Vormittage doch seinen Anfang genommen – eine so große und besondere Bedeutung legte ihm Julija Michailowna bei. Zum Unglück blieb sie bis zum letzten Augenblick in ihrer Verblendung und begriff die Stimmung der Gesellschaft überhaupt nicht. Zu guter Letzt glaubte niemand mehr, daß der feierliche Tag ohne irgendein ungeheueres Ereignis vorübergehen werde, oder ohne „Entscheidung“, wie einige, sich im voraus die Hände reibend, sagten. Freilich bemühten sich viele, eine sehr finstere und politische Miene zur Schau zu tragen; doch – im allgemeinen gesprochen – den russischen Menschen freut nun einmal über alle Maßen jeglicher öffentliche skandalöse Tumult. Allerdings kam bei uns noch etwas unvergleichlich Ernsteres hinzu, als es bloße Skandalsucht gewesen wäre: es war da eine allgemeine Gereiztheit, etwas unstillbar Böses; anscheinend hatten alle alles bis zum schrecklichsten Überdruß satt. Es hatte sich ein gewisser irreführender Zynismus eingenistet, ein Zynismus, zu dem man sich anstrengte, der einem über die eigene Kraft ging. Nur die Damen waren sich über ihre Gefühle im klaren, wenn auch nur in einem Punkte, und zwar: in ihrem unbarmherzigen Haß gegen Julija Michailowna. In diesem Punkte stimmten alle verschiedenen Richtungen unserer Damenwelt überein. Julija Michailowna aber ahnte nichts davon und war noch bis zur letzten Stunde überzeugt, daß sie „umschwärmt“ und alle Welt ihr „fanatisch ergeben“ sei.
Ich habe schon erwähnt, daß in unserer Stadt mittlerweile verschiedene sonderbare und befremdliche Gestalten aufgetaucht waren. In den trüben Zeiten des Schwankens oder in Zeiten des Übergangs finden sich immer und überall verschiedene Leutchen ein. Ich rede nicht von den sogenannten „Anführern“, die stets allen voran (das ist ihre wichtigste Sorge, daß es allen voran geschieht) zu einem – wenn auch sehr oft allerdümmsten, so doch immerhin mehr oder weniger bestimmten – Ziele eilen. Nein, ich rede nur von dem Gesindel selbst. In jeder Übergangszeit pflegt dieses Gesindel, das in jeder Gesellschaft zu finden ist, sich zu erheben, und zwar nicht nur ohne ein Ziel, sondern sogar ohne auch nur eine Spur von einem Gedanken zu haben; statt dessen drückt es aus allen Kräften bloß Unruhe und Ungeduld aus. Indes pflegt dieses Gesindel, ohne sich dessen bewußt zu werden, fast immer unter das Kommando jenes kleinen Häufchens der „Anführer“ zu geraten, die mit einem bestimmten Ziel handeln, und jenes Häufchen lenkt dann diesen ganzen Kehricht wohin es ihm gefällt, wenn es nur nicht selber aus vollkommenen Idioten besteht, was übrigens auch vorzukommen pflegt. Jetzt, wo alles schon der Vergangenheit angehört, sagt man bei uns, die Internationale habe Pjotr Stepanowitsch gelenkt, dieser aber wiederum Julija Michailowna, von der dann nach seinem Kommando alle möglichen Leute gelenkt worden seien. Und jetzt wundern sich alle unsere soliden, klugen Köpfe über sich selbst: wie hatten sie damals nur so versagen, so ihre Pflicht verabsäumen können? Doch worin nun eigentlich die Unruhe unserer Zeit bestand oder wovon und zu was es einen Übergang bei uns gab – das weiß ich nicht, und ich denke, das vermag niemand zu sagen, oder höchstens ein paar auswärtige Beobachter. Indessen war es nicht zu leugnen, daß plötzlich die erbärmlichsten Leutchen ein gewisses Übergewicht bekamen, sich u. a. erlaubten, alles Heilige laut zu kritisieren, während sie früher nicht einmal gewagt hätten, auch nur den Mund aufzutun; und die angesehensten Leute, die bis dahin in so wohltuender Weise die Oberhand gehabt hatten, begannen plötzlich, diesen Leuten zuzuhören und selber zu schweigen, manche aber fingen schon an, ihnen schmählichst und mit schadenfrohem Grinsen zuzunicken. Irgendwelche Lämschins, Telätnikoffs, kleine Gutsbesitzer Tentetnikoffs, einheimische Schmutznasen, Radischtscheffs, wehleidig und hochmütig lächelnde Jüdchen, Lachbrüder unter angereisten Reisenden, Dichter mit Großstadtrichtung und Dichter, die sich statt durch Richtung oder Talent, durch Wamse und Schmierstiefel auszeichneten, Majore und Obersten, die sich über die Sinnlosigkeit ihres Berufs lustig machten und für einen Rubel mehr sofort bereit waren, ihren Degen abzulegen und sich als bessere Schreiber in die Eisenbahnverwaltung zu drücken; Generale, die es vorzogen, Advokaten zu werden, gerissene Vermittler, vielversprechende Geschäftsleute, unzählige Seminaristen, Frauen, die die Frauenfrage personifizierten, – all das bekam bei uns das Übergewicht. Und über wen? Über den Klub, über alte Würdenträger, über Generale mit Stelzfüßen, über unsere strengsten und unzugänglichsten Damen der Gesellschaft. Wenn schon eine Warwara Petrowna (bis zu der Katastrophe mit ihrem Sohne) sich derartig von diesem ganzen Pack ausnutzen und lenken ließ, so ist den anderen unserer Minerven ihre damalige Dummheit, die sich so betölpeln ließ, zum Teil doch wohl verzeihlich. Heute sieht man in alledem, wie ich schon erwähnte, die Wirkung der Internationale. Diese Ansicht hat sich so festgesetzt, daß man in diesem Sinne sogar angereisten Fremden die Vorgänge erklärt. Und noch kürzlich hat der Ratsherr Kubrikoff, ein Mann von zweiundsechzig Jahren, mit dem Stanislausorden am Halse, unaufgefordert in überzeugtem Tone gesagt, daß er im Laufe von ganzen drei Monaten unzweifelhaft unter dem Einfluß der Internationale gestanden habe. Als man ihn jedoch, bei aller Achtung, die man seinem Alter und seinen Verdiensten schuldig ist, bat, sich näher zu erklären, da konnte er allerdings keinerlei Belege dafür anführen, außer dem einen, daß er es „mit allen Sinnen so empfunden“ habe. Und überzeugt blieb er bei seiner Behauptung, so daß man schließlich nach Begründungen nicht weiter in ihn drang.
Doch ich sage nochmals: eine kleine Gruppe Vorsichtiger, die sich schon gleich zu Anfang abgesondert hatte, hielt sich dennoch abseits, und zwar womöglich hinter verschlossenen Türen. Doch welches Türschloß hält dem Naturgesetz stand? Auch in den vorsichtigsten Familien wachsen genau so wie in allen anderen Töchter heran, die einmal tanzen wollen. Nun, und so kam es denn, daß auch alle diese Abgesonderten sich zu guter Letzt gleichfalls in die Liste zum Gouvernantenfest eintrugen. Der Ball sollte ja so glänzend, so unvergleichlich werden; man erzählte schon Wunderdinge, sprach von zugereisten Fürsten mit Lorgnettes, von den zehn Anordnern, lauter jungen Kavalieren, die eine Bandschleife an der linken Schulter tragen sollten. Manche wußten zu berichten, daß Karmasinoff zur Erhöhung der Einnahme eingewilligt habe, sein „Merci“ in dem Kostüm einer Gouvernante vorzulesen, und daß die „Quadrille der Literatur“ gleichfalls in Kostümen getanzt werden und jedes Kostüm eine bestimmte literarische Richtung darstellen werde; und zu guter Letzt werde in einem besonderen Kostüm der „ehrliche russische Gedanke“ – an sich schon eine vollkommene Neuheit – auftreten und tanzen. Wie sollte man da seinen Namen nicht auf die Liste setzen? Und so zeichneten sich denn alle ein.
Das Fest war nach dem Programm in zwei Teile geteilt: zunächst, am Vormittage, von zwölf bis vier, sollte die literarische Matinee stattfinden, der Ball aber sollte erst abends um zehn Uhr beginnen und dann die ganze Nacht dauern. Doch gerade in dieser Teilung lagen die Keime zur Unzufriedenheit und Unordnung. Vor allem konnte sich auf dieser Grundlage das Gerücht verbreiten, daß es nach der literarischen Matinee in der angeblich nur zu diesem Zweck vorgesehenen Pause ein Frühstück geben werde, selbstredend unentgeltlich, und zwar ein Frühstück mit Champagner. Der hohe Preis der Eintrittskarten (die Karte kostete drei Rubel) verlieh diesem Gerücht etwas durchaus Glaubwürdiges, was zu seiner Verbreitung nicht wenig beitrug. „Würde ich denn sonst für nichts und wieder nichts mich eingeschrieben haben? Das Fest währt ja vierundzwanzig Stunden, na also – ernährt einen dann auch. Sonst würde man ja verhungern.“ So philosophierte man ganz allgemein bei uns. Ich muß aber gestehen, daß Julija Michailowna selbst durch ihren Leichtsinn diesem verderblichen Gerücht Vorschub geleistet hatte. Schon vor einem Monat, in der ersten Begeisterung für ihren großen Plan, hatte sie jedem ersten besten von ihrem Fest erzählt; und daß auf diesem Fest Reden und Toaste gehalten werden würden, hatte sie sogar in eine der hauptstädtischen Zeitungen lanciert. Gerade diese Toaste hatten es ihr damals angetan: wollte sie doch selber eine Rede halten, die sie im stillen denn auch schon auszuarbeiten begann. Diese Tischrede sollte unser Hauptziel erklären und was sie auf ihre Fahne geschrieben hatte (ich wette, daß die Arme es nicht einmal zu einem Entwurf einer solchen Tischrede gebracht hat), sollte dann als „Korrespondenz“ in die Zeitungen der Hauptstadt gelangen, die höchsten Vorgesetzten zugleich rühren und begeistern, um dann in alle Gouvernements zu flattern und überall Bewunderung wie Nachahmung zu finden. Doch zu Tischreden gehört nun einmal Champagner, und da man Champagner doch nicht gut auf nüchternen Magen trinken kann, so war selbstredend eine Tafel und ein Frühstück Voraussetzung. Später aber, als sich dank ihrer Bemühungen schon ein Komitee gebildet hatte und man sich ernstlich an die Sache machte, ward ihr sogleich klar und überzeugend bewiesen, daß, wenn man an ein Festessen dachte, für die Gouvernanten nur eine sehr geringe Summe verbliebe, selbst bei einer noch so hohen Einnahme. Die Frage war somit: entweder ein Gastmahl im Stile Belsazars, mit Reden und einigen neunzig Rubeln für die armen Gouvernanten, oder die Beschaffung einer ansehnlichen Summe durch ein Fest, das man sozusagen nur um der Form willen veranstaltete. Übrigens wollte das Komitee damit allen hochfliegenden Plänen zunächst nur einen Dämpfer aufsetzen, denn man war ja selbst keineswegs nur für das eine oder das andere, sondern man hatte sich eine dritte Möglichkeit ausgedacht, die sowohl versöhnend wie vernünftig war, nämlich ein in jeder Beziehung gutes Festessen, jedoch ohne Champagner, und folglich als Ergebnis einen recht annehmbaren Betrag für die Gouvernanten. Aber darauf ging Julija Michailowna nicht ein; ihr Charakter verachtete die kleinbürgerliche Mitte. Und so beschloß sie sofort, daß, wenn das erste Projekt sich nicht verwirklichen ließ, man sich für das andere Extrem entscheiden müsse, also für eine ungeheuere Einnahme, deren Höhe den Neid aller anderen Gouvernements erwecken mußte.
„Das Publikum muß doch endlich einsehen,“ schloß Julija Michailowna ihre temperamentvolle Erklärung auf der Sitzung des Komitees, „daß der humanitäre Zweck unvergleichlich erhabener ist, als kurze körperliche Genüsse, daß das Fest im Grunde nur die Verkündung einer großen Idee ist, und deshalb muß es sich mit einem so ökonomisch wie nur möglich veranstalteten kleinen deutschen Ball begnügen, der einzig pro forma gegeben wird – wenn man ohne diesen unausstehlichen Ball nun einmal nicht auskommen kann!“ – so sehr war er ihr plötzlich verhaßt.
Schließlich war es aber dem Komitee doch gelungen, sie zu besänftigen. So hatte man denn u. a. die „Quadrille der Literatur“ und ähnliche ästhetische Scherze als Ersatz für körperliche Genüsse in Vorschlag gebracht. Und auf eben dieser Sitzung hatte dann auch Karmasinoff endgültig eingewilligt, sein „Merci“ vorzutragen (bis dahin hatte er alle mittels ausweichender Antworten in quälender Ungewißheit belassen) um somit in unserem unenthaltsamen Publikum sogar jeden Gedanken an Essen und Trinken schon im voraus zu ersticken. Auf diese Weise hatte dann der Ball wiederum eine großartige Anziehungskraft erhalten, wenn auch eine von ganz anderer Art. Um jedoch nicht völlig dem Irdischen zu entschweben, beschloß man, zu Anfang des Balles Tee mit Zitrone und kleinem rundem Gebäck zu reichen, darauf einen Kühltrank und Limonade, und zum Schluß sogar noch Eis – doch das sollte denn auch alles sein. Für diejenigen aber, die immer und überall Hunger und besonders Durst zu verspüren pflegen, wollte man dann noch am Ende der Zimmerflucht ein Büfett errichten, das Prochorytsch (der erste Koch des Klubs) übernehmen sollte. Natürlich mußte für die verabfolgten Speisen und Getränke gezahlt werden, was gleich am Eingang auf einem besonderen Plakat dem Publikum mitzuteilen war. Doch während der Matinee sollte das Büfett unbedingt geschlossen bleiben, damit auch nicht das geringste Geräusch den Vortrag störte, obgleich man für das Büfett einen Raum vorsah, der fünf Zimmer von dem weißen Saal entfernt war, in dem Karmasinoff sein „Merci“ vorzutragen eingewilligt hatte. Merkwürdigerweise wurde diesem Ereignis, dem Vortrag dieses „Merci“, wie mir scheint, von dem Komitee eine übertriebene Bedeutung beigelegt, und das taten sogar die nüchternsten Leute. Von den poetischen Naturen aber hatte z. B. die Gattin des Adelsmarschalls Karmasinoff schon mitgeteilt, daß sie sogleich nach dem Vortrag an der Wand ihres weißen Saales eine Marmorplatte anbringen lassen werde, auf der mit goldenen Lettern das Ereignis verewigt werden sollte, daß in dem und dem Jahre, an dem und dem Tage, hier in diesem Saal der große russische und europäische Schriftsteller, seine Feder niederlegend, persönlich sein „Merci“ gesprochen und somit zum erstenmal von dem russischen Publikum, in Gestalt der Vertreter unserer Stadt, Abschied genommen hat, und daß schon abends auf dem Ball, also kaum einige fünf Stunden nach dem Vortrage, alle diese Gedächtnistafel würden lesen können. Wie ich genau weiß, war es vor allen anderen gerade Karmasinoff gewesen, der verlangt hatte, daß das Büfett während der Matinee, wenn er las, unter keiner Bedingung geöffnet werde, trotz der Einwände etlicher Komiteemitglieder, daß ein solches Ansinnen sich mit unseren Landesbräuchen nicht ganz in Übereinstimmung befinde.
So lagen die Dinge in Wirklichkeit, während man in der Stadt immer noch an ein Festmahl im Stile Belsazars glaubte, d. h. an unentgeltliches Essen und Trinken auf Kosten des Komitees. Daran glaubte man bis zur letzten Stunde. Unsere jungen Damen träumten nur noch von Konfekt und Eis. Man wußte, daß die Sammlung ungeheuer reich ausgefallen war, daß die ganze Stadt sich eifrigst zum Fest vorbereitete, daß sogar aus der Umgegend viele kommen würden, und daß die Eintrittskarten bei diesem Andrang nicht ausreichten. Bekannt war gleichfalls, daß außer der Einnahme durch den Verkauf der Eintrittskarten noch bedeutende Schenkungen gemacht worden waren: Warwara Petrowna beispielsweise hatte für ihre Eintrittskarte dreihundert Rubel gezahlt und zur Ausschmückung des Saales alle Blumen und Blattpflanzen ihrer Orangerie hergegeben. Die Gattin des Adelsmarschalls (ein Mitglied des Komitees) stellte das Haus und die Beleuchtung, der Klub die Musikkapelle, die Bedienung und den Koch. Hinzu kamen noch andere Schenkungen, wenn auch nicht so bedeutende, weshalb denn auch das Komitee schon den Gedanken erwog, den Preis für die Eintrittskarte von drei Rubel auf zwei Rubel herabzusetzen. Man hatte nämlich zu Anfang tatsächlich befürchtet, es vermöchten doch nicht alle jungen Damen drei Rubel dafür auszugeben, und in Erwägung gezogen, ob man nicht Familienkarten ausgeben sollte, wobei man besonders an die Familien dachte, in denen es viele Töchter gab. Aber diese Befürchtung erwies sich als überflüssig; im Gegenteil, gerade die Töchter erschienen vollzählig. Selbst die ärmsten Beamten führten ihre sämtlichen Töchter heran, und es war ja klar, daß sie, falls sie keine Töchter gehabt hätten, auch im Traum nicht daran gedacht haben würden, ihren Namen auf die Liste zu setzen. Ja, ein armseliger kleiner Sekretär erschien mit ganzen sieben Töchtern, dazu noch die Frau und eine Nichte, und jede von ihnen hielt eine Eintrittskarte zu drei Rubel in der Hand. Man kann sich also vorstellen, was für eine Revolution das in der Stadt abgab! Man bedenke bloß das eine, daß die Teilung des Festes zweierlei verschiedene Toiletten für jede Dame verlangte: ein Kleid für die literarische Matinee und ein Ballkleid für den Abend. Man bedenke, was das für manche Verhältnisse bedeutete! Wie sich später herausstellte, hatten denn auch viele aus den mittleren Klassen zu diesem Tage so ziemlich alles versetzt, was sie besaßen, sogar ihre Bettwäsche, ja, manche hatten womöglich ihre Matratzen zu den Juden getragen, von denen sich seit nun schon zwei Jahren erschreckend viele in unserer Stadt festgesetzt haben und immer mehr sich festsetzen. Fast alle Beamten hatten ihr Monatsgehalt vorausgenommen und von den Gutsbesitzern hatten manche sogar ihr notwendigstes Vieh verkauft, und all das nur, um ihre Damen als Marquisen und Komtessen auf den Ball zu führen und damit keine der anderen nachstehe. Die Toiletten waren diesmal von einer bei uns noch nie gesehenen Kostbarkeit. Schon zwei Wochen vor dem Fest war die ganze Stadt geradezu vollgestopft mit Familienanekdoten, die von unseren jungen Spottvögeln mit Vergnügen am „Hofe“ Julija Michailownas zum besten gegeben wurden. Bald folgten ganze Familienkarikaturen. Ich habe selbst etliche dieser Spottzeichnungen in Julija Michailownas Album gesehen. All das kam aber selbstredend auch denen zu Ohren, die den Stoff zu diesen Anekdoten und Karikaturen abgaben, – und das war wohl der Grund, wie mir scheint, weshalb in den Familien gerade in der letzten Zeit ein solcher Haß gegen Julija Michailowna sich aufspeicherte. Ich rede nicht von heute: denn jetzt schimpfen natürlich alle über sie und knirschen, wenn sie an diese Zeit denken. Nein, schon damals war es vorauszusehen, daß, wenn der Ball nicht geradezu glänzend ausfiel und das Komitee auch nur den geringsten Anlaß zur Unzufriedenheit gab, der Ausbruch des allgemeinen Unwillens ein ungeheuerer werden würde. Und eben deshalb erwartete denn im geheimen wohl ein jeder einen Skandal; wenn aber ein Skandal schon so erwartet wurde, wie hätte er dann noch ausbleiben können?
Um punkt zwölf Uhr begann das Orchester mit klingendem Spiel. Da ich zu den Festordnern gehörte, d. h. einer von den zehn „jungen Kavalieren mit der Bandschleife an der Schulter“ war, so blieb ich Augenzeuge aller Ereignisse dieses blamablen Tages. Das Fest begann mit einer furchtbaren Drängerei am Eingange. Wie es kam, daß alles schon vom ersten Schritt an fehlschlug oder versagte, wie z. B. die Polizei? Dem Publikum kann ich keinen Vorwurf machen: die Familienväter waren es nicht, die die Drängerei hervorriefen, im Gegenteil, man sagt sogar, sie seien schon auf der Straße ein wenig scheu geworden, als sie den für unsere Stadt ungewöhnlichen Andrang erblickten und dazu diese ungeduldige Menge, die das Haus förmlich belagerte und sich gerader hineinwälzte, statt ruhig einzutreten. Dabei fuhren unausgesetzt Equipagen vor, die schließlich die ganze Straße versperrten. Im übrigen bin ich heute überzeugt, daß manche Leute, die eigentlich zum abscheulichsten Pöbel unserer Stadt gehörten, von Lämschin und Liputin einfach ohne Eintrittskarten eingeführt wurden, und vielleicht noch von einigen anderen, die gleichfalls „Anordner“ waren. Wenigstens erschienen auch vollkommen unbekannte Personen, die aus Kreisstädten oder Gott weiß woher angereist waren. Diese Wilden begannen nun, kaum daß sie den Saal betreten hatten, sogleich und merkwürdig übereinstimmend (ganz als wären sie instruiert worden) nach dem Büfett zu fragen, und als sie erfuhren, daß es jetzt noch kein Büfett gab, da fingen sie sofort und ohne jede Politik mit einer bei uns bisher unerhörten Frechheit zu schimpfen an. Allerdings waren einige von ihnen bereits betrunken erschienen. Viele waren zunächst verblüfft durch die nie geschaute Pracht des Saales, verstummten im ersten Augenblicke und sahen sich nur mit offenem Munde die Herrlichkeit an. Freilich war dieser große Weiße Saal tatsächlich sehr prunkvoll: zwei Stockwerke hoch, mit alter Deckenmalerei, die von goldenen Verzierungen umrahmt war, mit Chören und Spiegelwänden, mit roten Vorhängen zwischen weißen Wandflächen, mit Marmorstatuen (gleichviel was für welchen, aber immerhin Statuen), mit alten, schweren Möbeln aus der Napoleonischen Zeit, weiß mit Gold und mit rotem Samt ausgeschlagen. An dem einen Ende des Saales erhob sich eine Tribüne für die Vortragenden und der ganze Saal war, wie das Parkett eines Theaters, mit Stühlen in dichten Reihen völlig angefüllt, ausgenommen nur die drei breiten Durchgänge für das Publikum. Doch schon nach den ersten Augenblicken der Bewunderung und des Schweigens begannen die sinnlosesten Fragen und Bemerkungen. „Wir wollen vielleicht überhaupt keine Vorträge ... Wir haben unser Geld gezahlt ... Man hat das Publikum unverschämt betrogen ... Wir, nicht Lembkes, sind hier die Herren! ...“ Kurz, es war, als habe man sie nur zu diesem Zweck hereingelassen. Unter anderem erinnere ich mich besonders eines Zwischenfalles, bei dem der junge angereiste Fürst mit dem hohen steifen Kragen und dem Aussehen einer Holzpuppe sich auszeichnete. Auf Julija Michailownas dringende Bitte hin hatte auch er schließlich eingewilligt, das Festordnerband an seine linke Schulter zu stecken und somit zu unserem Kollegen zu werden. Tags zuvor, an eben jenem denkwürdigen Vormittage, hatte ich ihn in Julija Michailownas Salon zum erstenmal gesehen. Nun zeigte es sich, daß diese stumme Wachsfigur, wenn auch nicht zu sprechen, so doch auf ihre Art zu handeln verstand. Als nämlich ein riesiger, pockennarbiger verabschiedeter Hauptmann, unterstützt von einem ganzen Haufen ihm nachdrängender fragwürdiger Gestalten, dem jungen Fürsten auf den Leib rückte und unablässig nach dem Büfett fragte, da winkte dieser kurz entschlossen einen Polizisten heran, und der angetrunkene Ruhestörer wurde ungeachtet seiner Proteste und seines Schimpfens einfach aus dem Saal entfernt. Inzwischen begann auch schon das „eigentliche“ Publikum zu erscheinen und zog sich in drei langen Fäden durch die drei Durchgänge zwischen den Stuhlreihen zu den Plätzen hin. Das schlechtere Element im Hintergrunde wurde kleinlauter und beruhigte sich nach und nach, aber das „gute“ Publikum sah doch beunruhigt und befremdet aus; manche Damen aber schauten entschieden mit Bangen drein.
Schließlich hatten sich alle gesetzt; nun verstummte auch die Musik. Man schnaubte sich, man sah sich um ... Kurz, man wartete mit schon gar zu feierlicher Miene – was bereits an und für sich ein schlechtes Zeichen ist. Doch „die Lembkes“ erschienen noch immer nicht. Seiden, Samt und Brillanten glänzten und funkelten von allen Seiten; Parfüm verbreitete sich in der Luft. Die Herren trugen alle ihre Orden auf der Brust, die Militärs und die Beamten waren selbstredend in Galauniform. Endlich erschien auch die Gattin des Adelsmarschalls mit Lisa. Noch nie war Lisa so blendend schön gewesen wie an diesem Vormittage. Sie trug ein entzückendes Kleid. Ihre Haare lagen in Locken, ihre Augen glänzten, in ihrem ganzen Gesicht lag ein Lächeln. Wie man sah, machte sie auf alle einen großen Eindruck. Man steckte die Köpfe zusammen und tuschelte. Jemand meinte, ihre Augen hätten, als sie in den Saal trat, Stawrogin gesucht. Doch weder Stawrogin noch seine Mutter waren erschienen. Damals begriff ich den Ausdruck ihres Gesichts nicht: warum war so viel Glück, Freude, Energie und Kraft in diesem Gesicht? Ich dachte an den Vorfall des vorhergegangenen Tages und stand verständnislos vor einem Rätsel.
Doch Lembkes erschienen noch immer nicht. Das war der schwerste Fehler, der gemacht wurde. Später erfuhr ich, daß Julija Michailowna bis zum letzten Augenblick auf Pjotr Stepanowitsch gewartet hatte. Ohne Pjotr Stepanowitsch konnte sie nun einmal nichts mehr unternehmen, wenn sie sich das auch nie eingestand. Nebenbei bemerkt, hatte Pjotr Stepanowitsch auf der letzten Komiteesitzung es abgelehnt, ein Festordnerband zu tragen, und damit Julija Michailowna bis zu Tränen gekränkt. Nun kam er obendrein nicht. Was mochte das bedeuten? Und tatsächlich blieb Pjotr Stepanowitsch den ganzen Tag über verschwunden: zu der literarischen Matinee erschien er einfach überhaupt nicht. Und zu Julija Michailownas Verzweiflung konnte ihr auch kein Mensch sagen, wo er steckte, und bis zum Abend hatte ihn niemand gesehen.
Inzwischen wurde das Publikum immer ungeduldiger. Auch auf der Tribüne erschien noch niemand. In den letzten Reihen des Saales applaudierte man grundlos, ganz wie im Theater, wenn man zu lange auf die Vorstellung warten muß. Die Väter und Mütter wurden unmutig: „Lembkes tun ja wirklich furchtbar wichtig,“ hieß es. Einige wußten zu erzählen, daß Lembke krank sei. Andere äußerten laut die Vermutung, daß das Fest wohl aufgeschoben werden würde.
Aber endlich erschienen sie doch. Andrei Antonowitsch führte Julija Michailowna am Arm. Sofort versanken alle Märchen und die Wirklichkeit trat in ihr Recht. Zudem schien Lembke selbst bei voller Gesundheit zu sein. Überhaupt waren es in der höheren Gesellschaft nur wenige gewesen, die vermutet hatten, daß es mit Lembke irgendwie nicht ganz stimmte. Seine Amtsführung hielten alle für gut. Sogar die Rutengeschichte bezog man in dieses Urteil ein. „Das wäre von Anfang an das Richtige gewesen,“ sagten die Honoratioren, „sonst beginnen sie immer mit der Philantropie, bis sie schließlich doch bei der Strenge enden, ohne zu wissen, daß gerade diese zur Philantropie als erstes nötig ist.“ So urteilte man im Klub und verurteilte eigentlich nur Lembkes Aufregung. „So etwas muß man mit Kaltblütigkeit machen,“ hieß es, „aber er ist es eben noch nicht gewöhnt.“
Mit besonderer Neugier richteten sich die Blicke auf Julija Michailowna. Man wird von mir gewiß nicht verlangen, daß ich bis in alle Einzelheiten weiß, was am Tage vorher zwischen ihr und Lembke noch geschehen war: das ist und bleibt ein Geheimnis, ein Frauengeheimnis. Ich weiß nur eines: daß sie am Abend in das Arbeitszimmer Andrei Antonowitschs gegangen und bis weit nach Mitternacht bei ihm geblieben war. Jedenfalls hatte Andrei Antonowitsch sich beruhigt und es war ihm ausdrücklich vergeben worden. Das Ehepaar hatte sich ausgesprochen, alles sollte vergessen sein ... und als am Ende seiner weitläufigen Erklärungen von Lembke dennoch auf die Knie fiel, gequält von der entsetzlichen Erinnerung, daß er zu guter Letzt die Hand gegen sie erhoben hatte, da hatten die schönen Händchen und schließlich auch die Lippen seiner Gattin die glühenden Ergießungen der Reue dieses ritterlich zartfühlenden, doch nun von Rührung überwältigten Mannes wunderbar zu beschwichtigen gewußt.
Jetzt sahen alle in ihrem Gesicht eitel Glück. Mit offener Miene, in einer prachtvollen Toilette schritt sie am Arm ihres Gemahls durch den mittleren Gang. Offenbar war sie auf der Höhe ihrer Wünsche: das Fest, das Ziel und die Krönung ihrer ganzen Politik, war verwirklicht. Bei ihren Plätzen – in der ersten Reihe vor der Tribüne – angelangt, blieben beide Lembkes stehen, grüßten und erwiderten die Grüße nach allen Seiten. Sie wurden sofort umringt. Die Adelsmarschallin schritt auf sie zu ... Doch da passierte ein garstiges Mißverständnis: das Orchester, das bisher geschwiegen hatte, schmetterte plötzlich mir nichts, dir nichts einen Tusch in den Saal, – nicht etwa irgendeinen Marsch oder sonst ein Stück, sondern einfach einen Tusch, wie im Klub, wenn dort bei einem offiziellen Diner ein Hoch ausgebracht wurde. Heute weiß ich, daß Lämschin dahintersteckte, der gleichfalls zu den Festordnern gehörte und als solcher diesen Tusch angeblich zu Ehren der erschienenen Lembkes anbefohlen hatte. Natürlich konnte er sich immer noch damit entschuldigen, daß er es aus Dummheit oder aus Übereifer getan habe ... Doch ach, damals wußte ich noch nicht, daß jene an Entschuldigungen schon gar nicht mehr dachten und mit diesem Tage alles zu beenden glaubten. Zur Erhöhung der Peinlichkeit der Situation, die im Publikum teils Befremden, teils ein gewisses Lächeln hervorrief, wurde plötzlich im Hintergrunde des Saales, oben auf dem Chor, Hurra! geschrien, gleichfalls wie Lembkes zu Ehren. Der Stimmen waren zwar nur wenige, aber ich muß gestehen, sie hörten doch nicht so bald auf. Julija Michailowna schoß das Blut in die Wangen, ihre Augen flammten. Lembke blieb vor seinem Platz kerzengerade stehen und übersah, sich zu den Ruhestörern umwendend, mit majestätischem und strengem Blick den Saal ... Man redete ihm aber schnell zu, sich doch nur zu setzen. Mit Schrecken bemerkte ich auf seinem Gesicht dasselbe gefährliche Lächeln, mit dem er tags zuvor im Salon seiner Gemahlin Stepan Trophimowitsch angesehen hatte, bevor er auf ihn zutrat. Wie mir schien, nahm sein Gesicht auch jetzt einen gewissermaßen unheilvollen Ausdruck an und, was das schlimmste dabei war, einen gleichzeitig lächerlichen: den Ausdruck eines Gatten, der sich schließlich – also sei es denn! – zum Opfer bringt, nur um den höheren Zielen und Zwecken seiner Gattin zu dienen ... Julija Michailowna winkte mich schnell zu sich heran und flüsterte mir zu, ich solle sofort zu Karmasinoff eilen und ihn beschwören, unverzüglich zu beginnen, doch kaum hatte ich mich umgewandt, um hinauszueilen, da geschah schon eine zweite Schändlichkeit, eine noch viel größere als die erste. Auf der Tribüne, auf der leeren Tribüne, wohin alle Blicke und alle Erwartungen sich wandten und auf der man zunächst nur einen Stuhl und einen Tisch und auf letzterem ein Glas Wasser auf silbernem Tablett sah – auf dieser selben leeren Tribüne erschien plötzlich die kolossale Gestalt des „Hauptmanns“ Lebädkin in Frack und weißer Binde. Ich war so bestürzt, daß ich meinen Augen nicht traute. Augenscheinlich wurde der Hauptmann selbst etwas verlegen und blieb hinten auf der Tribüne stehen. Da ertönte plötzlich aus dem Publikum ein erstaunter Ausruf: „Lebädkin! du?“ – und die dumme, rote Fratze des Hauptmanns (er war vollkommen betrunken) verzog sich zu einem breiten, stumpfsinnigen Grinsen. Er hob die Hand, rieb sich die Stirn, schüttelte plötzlich seinen struppigen Kopf und trat, wie auf einmal zu allem entschlossen, zwei Schritte vor und – platzte plötzlich in Lachen aus, nicht in ein lautes, aber gallertiges, langes, glückliches Lachen, von dem die ganze schwere Masse seines Körpers ins Schaukeln geriet und die Äuglein im Fett nahezu verschwanden. Bei diesem Anblick begann fast die Hälfte des Publikums zu lachen, in den hinteren Reihen klatschte man Beifall. In dem ernsten Publikum dagegen sah man sich befremdet an und wechselte finstere Blicke; aber das währte alles kaum länger als eine halbe Minute. Da eilten schon Liputin (mit der Festordnerschleife) und zwei Diener herbei; sie faßten behutsam den Hauptmann unter den Armen und Liputin flüsterte ihm etwas zu. Lebädkin sah ihn unwirsch an, brummte aber schließlich: „Nun denn, wenn’s so besser ist!“ und schlug einmal mit der Hand durch die Luft, worauf er dem Publikum seine riesige Rückseite zuwandte und mitsamt seinen Begleitern verschwand. Doch einen Augenblick später erschien Liputin wieder auf der Tribüne. Auf seinen Lippen lag das süßeste Lächeln, wenn es auch immer noch, wie stets bei ihm, an eine Mischung von Essig und Zucker gemahnte, und in der Hand hielt er ein Blatt Papier. Mit kleinen, schnellen Schritten trat er an den vorderen Rand der Tribüne.
„Meine Damen und Herren!“ begann er, sich an das Publikum wendend. „Durch Unachtsamkeit ist ein komisches Mißverständnis entstanden, das jetzt aber schon beseitigt ist. Hoffnungsvoll habe nunmehr ich den Auftrag übernommen und zugleich die ehrerbietigste Bitte eines unserer hiesigen Dichter ... Durchdrungen, wie er ist, von dem humanen und hohen Ziele ... ungeachtet seines äußeren Zustandes ... von demselben Ziele, das uns alle hier vereinigt hat ... die Tränen der armen gebildeten Mädchen unseres Gouvernements hinfüro abzuwischen, ... will dieser Herr, das heißt, ich meine, dieser unser einheimischer Dichter ... obzwar er sein Inkognito gewahrt zu sehen wünscht ... würde er, wie gesagt, dennoch sehr wünschen, daß seine Dichtung vor Beginn des Balles vorgetragen werde ... das heißt, ich wollte vielmehr sagen: vor Beginn der literarischen Vorträge. Obzwar nun besagtes Gedicht im Programm nicht vorgesehen ist ... sintemal es uns erst vor einer halben Stunde zugestellt wurde ... aber es will uns (wen meinte er damit? Ich gebe diese zerhackte und unklare Rede wortwörtlich wieder) dennoch scheinen, daß es, im Hinblick auf die Naivität des Gefühls, die mit Humor verbunden ist, daß ... wie gesagt, daß das Gedicht dennoch vorgetragen zu werden verdiente, das heißt, nicht als etwas Ernstzunehmendes, sondern bloß als etwas zum Feste Passendes ... ich meine, zu der Idee ... Um so mehr, als es ja nur ein paar Zeilen sind ... wozu ich nunmehr um die Erlaubnis des hochverehrten Publikums gebeten haben wollte.“
„Lesen Sie!“ dröhnte eine Stimme aus den letzten Reihen.
„So soll ich es vorlesen?“
„Jawohl! Lesen! Vorlesen! Lesen!“ riefen jetzt schon viele Stimmen.
„Also denn – mit Erlaubnis des verehrten Publikums ...“ Liputin verbeugte sich und wand sich mit demselben süßen Lächeln.
Aber es war doch, als könne er sich trotzdem nicht entschließen, und wie mir schien, war er merklich aufgeregt. Bei aller Frechheit, die solche Leute wie Liputin besitzen, werden sie manchmal doch unsicher. Übrigens wäre ein Seminarist von heute gewiß nicht unsicher geworden, aber Liputin gehörte ja schließlich doch noch zur alten Generation.
„Ich schicke voraus, oder vielmehr, ich habe die Ehre, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß dieses Gedicht keine Ode ist, wie sie früher zu Festen verfaßt wurden, sondern es ist sozusagen eher ein Scherz, jedoch unstreitig ein gefühlvoller, der überdies mit spielerischer Heiterkeit verbunden ist und dabei sozusagen die realste Wirklichkeit zum Gegenstande hat ...“
„Lesen! Lies doch! Nur los!“
Liputin faltete sein Papier auseinander. Natürlich kam niemand mehr dazu, den Vortrag zu verhindern. Zudem trug auch Liputin das Band eines Festordners an der Schulter, und so deklamierte er denn mit heller Stimme darauf los.
„Unserer einheimischen Gouvernante zum Gouvernantenfest von einem Dichter gewidmet:
Lebe hoch! o Gouvernante!
Freue dich und jubiliere,
Denn jetzt bleibst du nicht mehr Tante,
Oh, sei stolz und triumphiere!“
„Das hat ja Lebädkin gemacht!“ „Das ist ja ein echter Lebädkin!“ ertönten aus den hinteren Reihen des Saales mehrere Stimmen. Viele lachten, manche klatschten sogar Beifall.
„Feministin oder sonst was!
– Schrecklich ist’s, wenn man bedenkt,
Wie du früher dich gequält hast,
Und dich nutzlos angestrengt!“
„Hurra! Hurra!“ unterbrach man wieder in den letzten Reihen.
„Bra–avoooo!“
„Also hör’: seit dem Betriebe
Der Reformen – jetzt gib acht! –
Wird die Freiheit und die Liebe
Einzig noch vom Geld gemacht ...“
„Stimmt! Bravooo! Hurra!“
„Ja, mein Fräulein, sie ist bitter,
Diese Wahrheit, – nämelich:
Auch der allergrößte Ritter
Nimmt nicht ohne Mitgift dich!“
„Stimmt! stimmt! Das ist der wahre Realismus! Ohne Mitgift keinen Schritt!“
„Drum, – da wir nun tanzend spenden
Eine Mitgift für das Weib,
Die wir dir dann übersenden
Zu ’nem bessren Zeitvertreib –
Feministin oder sonst was:
(Bleibst doch stets vom selben Holz)
Mit ’ner Mitgift bist du etwas,
Spuck auf alles und sei stolz!“
Ich muß gestehen, ich traute meinen Ohren nicht. Das war eine so erklärte Gemeinheit, daß die Möglichkeit, Liputin etwa mit Dummheit zu entschuldigen, von vornherein ganz ausgeschlossen erschien. Und gerade Liputin war doch alles andere eher als dumm. Die Absicht, die dahinter steckte, war mir denn auch sofort klar: hier sollte Unordnung geschaffen werden, und dazu war allerdings keiner geeigneter, als Liputin.
Übrigens schien Liputin selbst zu fühlen, daß er doch ein zu starkes Stück auf sich genommen hatte. Er stand noch immer auf der Tribüne und war sich offenbar nicht klar darüber, ob er noch etwas hinzusetzen sollte oder nicht. Ein Teil des Publikums hatte das Gedicht übrigens ganz ernst genommen. Die andere Hälfte war freilich um so gekränkter. Julija Michailowna erzählte später, sie sei einer Ohnmacht nahe gewesen. Einer der ehrwürdigsten alten Herren unserer Stadt erhob sich sogar und verließ mit seiner Frau am Arm den Saal. Und wer weiß, vielleicht hätte dieses Beispiel auch noch andere nach sich gezogen, wenn nicht gerade jetzt Karmasinoff auf der Tribüne erschienen wäre. Sein kleines Figürchen war tadellos gekleidet, selbstredend in Frack und weißer Binde. In der Hand hielt er ein Heftchen. Julija Michailowna sah ihn wie erlöst an, als wäre er ihr Retter ...
Doch ich war schon hinter den Kulissen: ich mußte unter allen Umständen mit Liputin sprechen.
„Das haben Sie absichtlich getan!“ rief ich empört und packte ihn am Arm.
„Bei Gott, ich habe gar nicht daran gedacht,“ log er und spielte den Unglücklichen. „Die Verse hatte man mir soeben erst gegeben, ich dachte, es wäre ein lustiger Scherz ...“
„Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Halten Sie denn wirklich diesen Blödsinn in Knüttelversen für einen Scherz?!“
„Ja, gewiß, jawohl.“
„Das lügen Sie einfach! Und man hat Ihnen diese Verse durchaus nicht erst vorhin gebracht. Sie, Sie selbst haben diese Reime zusammen mit Lebädkin geschmiedet, vielleicht noch gestern abend, damit es nur ja zum Skandal kommt! Die letzte Strophe war schon sicher von Ihnen. Und warum erschien denn Lebädkin im Frack? Schon daraus geht hervor, daß alles von Ihnen vorbereitet war: das Gedicht sollte er wohl selber vortragen, nach Ihrer Absicht! Wenn er sich nur nicht wieder betrunken hätte!“
„Was geht das Sie an?“ fragte mich da Liputin plötzlich mit sonderbarer Ruhe.
„Wie soll mich das nichts angehen? Sie tragen doch gleichfalls das Festordnerband ... Wo ist Pjotr Stepanowitsch?“
„Ich weiß nicht, hier irgendwo. Was soll das alles?“
„Was das soll? Daß ich Sie jetzt durchschaue! Es ist einfach eine Intrige gegen Julija Michailowna – damit Sie’s wissen!“
Liputin sah mich von der Seite an.
„Ja, und was geht das Sie an?“ fragte er nochmals, lächelte, zuckte mit den Achseln und ging davon.
Mich überlief es kalt. So gingen denn alle meine Vorahnungen schon in Erfüllung. Und ich hatte immer noch gehofft, mich getäuscht zu haben! Was sollte ich tun? Ich hätte mich gern mit Stepan Trophimowitsch beraten, aber der stand vor dem Spiegel und probierte auf verschiedene Arten zu lächeln; zwischendurch blickte er immer wieder auf ein Blatt Papier, auf dem er sich seine Notizen gemacht hatte. Er sollte gleich nach Karmasinoff an die Reihe kommen und war jetzt nicht imstande, mit mir auch nur ein Wort zu sprechen. Sollte ich zu Julija Michailowna eilen? Doch dazu war es noch zu früh: sie mußte eine noch viel nachhaltigere Lehre bekommen, um von der Überzeugung, alle Welt sei ihr „fanatisch ergeben“, geheilt zu werden. Sie hätte mir doch nicht geglaubt und mich nur für einen „Gespensterseher“ gehalten. Ja, und was konnte sie jetzt noch tun? „Ach,“ dachte ich, „was geht denn das schließlich mich an, ich nehme meine Schleife von der Schulter und gehe nach Hause, sobald es anfängt.“ (Ich gebrauchte wirklich diesen Ausdruck: „sobald es anfängt“, ich erinnere mich noch genau.)
Aber jetzt mußte ich doch vor allen Dingen Karmasinoff hören! Als ich noch ein letztes Mal hinter die Kulissen sah, bemerkte ich, daß da eine Menge mir ganz unbekannter Leute sich angesammelt hatte, darunter sogar Frauen. Dieses „hinter den Kulissen“ war ein recht enger Raum, eigentlich ein Korridor, der den Saal mit den anderen Räumen verband und zum Publikum hin mit einem Vorhang abgeschlossen war. In diesem Korridor warteten die Vortragenden, bis sie an die Reihe kamen. Besonders setzte mich einer in Erstaunen: der Nächstfolgende nach Stepan Trophimowitsch. Das war auch so etwas wie ein Professor, der sich freiwillig aus irgendeiner Lehranstalt wegen irgendwelcher Studentengeschichten entfernt hatte und aus irgendeinem Grunde erst ein paar Tage vorher in unserer Stadt aufgetaucht war. Auch ihn hatte man Julija Michailowna empfohlen und sie hatte ihn fast mit Ehrfurcht empfangen. Er war bei ihr den Abend vorher eingeladen gewesen, hatte während des ganzen Essens geschwiegen und nur hin und wieder mokant zum Tone und zu den Scherzen der anderen Gäste, Julija Michailownas Suite, gelächelt, und auf alle durch sein beleidigendes Aussehen und Benehmen einen unangenehmen Eindruck gemacht. Julija Michailowna hatte ihn selbst darum gebeten, auf dem Fest zum Besten der Gouvernanten irgend etwas vorzutragen. In diesem Augenblick ging er aus einer Ecke in die andere, ganz wie Stepan Trophimowitsch, flüsterte auch vor sich hin, sah aber dabei zu Boden und nicht in den Spiegel. Zwar studierte und probierte er nicht zu lächeln, aber er lachte von Zeit zu Zeit grimmig in sich hinein. Es war klar, daß man auch mit ihm nicht sprechen durfte. Er war klein von Wuchs, etwa vierzig Jahre alt, kahlköpfig, mit einem ergrauenden Bärtchen. Gekleidet war er anständig. Am merkwürdigsten an ihm war, daß er bei jeder Wendung, die er machte, seine rechte Faust erhob, sie über seinem Haupte schüttelte und dann plötzlich niederfallen ließ, als wollte er einen Gegner kurz und klein schlagen. Und diese Bewegung machte er fast jede Minute einmal. Mir wurde angst und bange. Ich machte mich davon, um, wie gesagt, Karmasinoff zu hören.
Im Saale war wieder etwas nicht ganz in Ordnung. Jedes Genie in Ehren! Und volles Verständnis für seine Eigentümlichkeiten im voraus! Aber warum müssen sich Genies, wenn sie älter werden, so oft wie – nun, einfach wie kleine Knaben benehmen? Selbst wenn man ein Karmasinoff war und mit der Würde von fünf Kammerherren auftrat, wie konnte er nur ein solches Publikum eine ganze Stunde mit einem solchen Aufsatz langweilen? Nicht mehr als zwanzig Minuten hätte man es mit einem leicht verständlichen literarischen Vortrag ungestraft unterhalten dürfen. Dabei war man ihm, als er zuerst auftrat, äußerst ehrerbietig begegnet: selbst die allergesetztesten Herren hatten Wohlgefallen und Neugier, die Damen sogar Entzücken bekundet. Der Begrüßungsapplaus war indessen nur kurz und abgerissen gewesen. Dafür war aber in den letzten Reihen auch kein einziger Ausfall erfolgt. Und auch dann, als Karmasinoff zu sprechen angefangen hatte, geschah zunächst nichts eigentlich Störendes: lediglich Verwunderung griff allmählich um sich. Nur ganz am Anfang hatte sich ein kleiner Zwischenfall zugetragen: als Karmasinoffs piepsendes und quäkendes Stimmchen ertönte, lachte im Publikum jemand einfach laut auf. Ich habe schon früher erzählt, daß Karmasinoff eine hohe, schreiende Stimme hatte, die einer Frauenstimme glich, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, daß er fein und vornehm lispelte. Die Umsitzenden wiesen den Störer übrigens sofort durch Zischen zur Ruhe, und so konnte denn Karmasinoff ungestört seine Rede beginnen. Zunächst erklärte er, daß er „ursprünglich überhaupt nicht habe lesen wollen“ (was zu erklären eigentlich gar nicht nötig war), denn es gebe Zeilen, die „so unmittelbar aus dem Herzen fließen“, daß man sie gar nicht an die Öffentlichkeit tragen dürfe (ja warum trug er sie denn?). Aber da man ihn nun einmal so gebeten habe, so tue er es doch, und da er jetzt seine Feder für immer hingelegt und sich geschworen habe, nichts mehr zu schreiben, und weil das nun einmal beschlossene Sache sei, so habe er dieses Abschiedsopus doch noch geschrieben; und da er sich gelobt, nie etwas öffentlich vorzulesen, niemals und unter keiner Bedingung, so werde er denn jetzt einmal eine Ausnahme machen und, also sei es, dieses letzte Opus einem Publikum persönlich vorlesen, usw. usw. – noch allerhand in diesem Sinne.
Doch das wäre alles noch nicht so schlimm gewesen, und wer kennt denn schließlich nicht die Vorreden der Autoren? Ich will aber zugeben, daß bei der geringen literarischen Bildung unseres Publikums und der Reizbarkeit der hinteren Reihen auch das schon aufreizend mitwirken konnte. Nun wohl: wäre es unter diesen Umständen nicht weit besser gewesen, er hätte eine kurze Novelle vorgetragen oder ein kleines Geschichtchen von der Art, wie er sie früher manchmal schrieb – zwar gedrechselt und geziert, aber mitunter doch ganz witzig? Damit wäre alles gerettet gewesen. Aber es sollte nun einmal nicht sein. Und so begann denn die Litanei! Oh Gott, was hatte er da alles zusammengetragen! Ich bin überzeugt, daß selbst ein Großstadtpublikum schließlich einen Starrkrampf bekommen hätte, nicht bloß ein Publikum wie unseres. Man denke sich das gezierteste und müßigste Geschwätz in einer Länge von fast zwei Druckbogen; und das trug dieser Herr zum Überfluß mit einer gewissen wehmütigen Herablassung vor, als wenn er eine Gnade erwiese, und schon darin allein lag etwas nahezu Beleidigendes für unser Publikum. Das Thema ... Aber wer konnte denn daraus klug werden, aus diesem Thema! Das war gewissermaßen ein Bericht über irgendwelche Eindrücke, untermischt mit irgendwelchen Erinnerungen. Doch Eindrücke wovon? Erinnerungen an was? – Wie sehr unsere Gouvernementsköpfe während der ganzen ersten Hälfte des Vortrags auch die Stirn in Falten legten, – sie konntens doch nicht bewältigen, so daß sie die zweite Hälfte bloß aus Höflichkeit anhörten. Nun ja, es war da viel von Liebe die Rede, von der Liebe des Genies zu einer Person, aber ich muß gestehen, das wirkte einigermaßen peinlich. Es paßte irgendwie nicht recht zu dem kleinen, dicken Figürchen des genialen Schriftstellers (wenigstens für mein Empfinden), daß er von seinem ersten Kuß sprach ... Und zudem sollten diese Küsse, was wiederum verletzend wirkte, durchaus ganz anders geküßt worden sein, als von der ganzen übrigen Menschheit, und dazu noch unter ganz besonderen Nebenumständen. Bei Karmasinoffs erstem Kuß wuchs ringsum Ginster (unbedingt gerade Ginster, oder wenigstens irgend so ein Kraut, von dem man sich erst nach einem botanischen Handbuch eine Vorstellung machen kann). Der Himmel aber hatte derweil unbedingt einen violetten Farbenton, den natürlich noch nie zuvor ein Sterblicher bemerkt hat, obschon ihn alle zwar gesehen haben, sogar schon mehrfach, doch ihn wahrzunehmen hat eben bisher noch kein einziger verstanden. „Nun aber seht,“ – so ungefähr wirkte Karmasinoffs Art – „ich allein habe diesen Farbenton zum erstenmal wahrgenommen und beschreibe ihn jetzt euch Tölpeln wie eine ganz bekannte Sache!“ Der Baum dagegen, unter dem das interessante Paar Platz genommen, war durchaus orangefarben. Der Ort, wo sie saßen, lag irgendwo in Deutschland. Plötzlich sahen sie Pompejus oder Kassius am Abend vor einer Schlacht und die Kälte der Begeisterung durchdrang sie sofort alle beide. Dann begann eine Nixe im Gebüsch zu zirpen und im Schilf spielte plötzlich Gluck auf der Geige. Das Stück, das er vortrug, wurde en toutes lettres[174] genannt, doch blieb es trotzdem uns allen unbekannt, so daß man in einem Musiklexikon nachschlagen müßte. Währenddessen aber stieg ein Nebel auf und ballte sich und ballte sich, und ballte sich so, daß er alsbald eher Millionen von Kissen glich, als einem Nebel. Plötzlich aber verschwand alles und das große Genie begibt sich an einem Wintertage, jedoch bei Tauwetter, über das Eis der Wolga. Zweieinhalb Seiten Übergang; und dennoch kommt er nicht hinüber, sondern fällt in ein Loch im Eise. Das Genie sinkt, versinkt, – Sie meinen, es ertrinkt? Nein, es denkt auch nicht einmal daran: es fiel überhaupt nur deshalb in das Loch, um in dem Augenblick, als es schon bis über die Nase im Wasser versank und bereits zu schlucken begann, plötzlich ein Eisstückchen zu erblicken, ein winziges Eiskörnchen von der Größe einer kleinen Erbse, aber so rein und klar „wie eine gefrorene Träne“. In diesem Eisperlchen spiegelte sich dann Deutschland oder richtiger der Himmel Deutschlands, und das Spiel der Regenbogenfarben in diesem Eisperlchen erinnerte ihn an just die Träne, die, „weißt du noch, aus deinem Auge rann, als wir unter dem smaragdenen Baume saßen und du freudig ausriefst: ‚Es gibt kein Verbrechen!‘ – ‚Ja‘, sagte ich unter Tränen, ‚doch wenn es so ist, dann gibt es auch keine Gerechten‘. Wir schluchzten auf und nahmen Abschied voneinander.“ Sie ging an einen Meeresstrand und er begab sich in eine Höhle tief unter der Erde: er sinkt also hinab und hinab, drei Jahre lang sinkt er genau unter dem Moskauer Ssuchareffturm hinab, bis er plötzlich mitten im Innern der Erde ein Lämpchen findet und vor diesem Lämpchen einen Asketen. Der Asket betet. Das Genie drückt die Stirn an ein kleines vergittertes Fensterchen. Und plötzlich vernimmt es einen Seufzer. Sie glauben, der Asket habe geseufzt? Weit gefehlt! Das Genie wird doch nicht einen Asketen beachten! Nein, das war nur so ein Seufzer, doch dieser Seufzer erinnerte ihn an ihren ersten Seufzer vor siebenunddreißig Jahren, „als wir, weißt du noch, in Deutschland unter dem achatenen Baume saßen und du zu mir sprachst: ‚Wozu lieben? Sieh, ringsum blüht es ockergelb und ich liebe, doch das Gelb wird aufhören zu blühen und ich werde aufhören zu lieben‘. – Dann ballte sich wieder ein Nebel zusammen, Ernst Amadeus Hoffmann erschien, eine Nixe flötete eine Melodie von Chopin und plötzlich tauchte aus dem Nebel über den Dächern Roms, einen Lorbeerkranz im Haar, Ancus Marcius auf. Ein Schauer der Ekstase lief uns über den Rücken und wir trennten uns auf ewig“ usw. usw.
Mit einem Wort, wenn ich es auch vielleicht nicht richtig wiedergebe oder es überhaupt nicht wiederzugeben verstehe, so war doch der Sinn des Geschwätzes gerade von dieser Art. Und dann: was ist das doch für eine schmähliche Sucht in unseren großen Geistern, Witze und Wortspiele im „höheren“ und „literarischen“ Sinne anzubringen! Der große europäische Philosoph, der große Gelehrte, Erfinder, der mühevoll Schaffende und Märtyrer, – alle diese sich Mühenden und Beladenen sind für unser großes russisches Genie entschieden nur so eine Art Köche in seiner Küche. Er ist der Herr, sie aber erscheinen vor ihm mit der Zipfelmütze in der Hand und warten auf seine Befehle. Allerdings, er spöttelt hochmütig auch über Rußland, und überhaupt ist ihm nichts so angenehm, wie den Bankrott Rußlands in jeder Hinsicht vor den großen Geistern Europas wieder einmal festzustellen. Doch was ihn selbst betrifft, – oh, mit Verlaub, er selbst hat sich über diese großen Geister Europas natürlich schon längst emporgeschwungen: für ihn sind sie bloß Material zu seinen Wortspielen. Er nimmt eine Idee, die nicht in seinem Kopfe entstanden ist, verknüpft sie mit ihrer Antithese und das Wortspiel ist fertig. Es gibt Verbrechen, es gibt kein Verbrechen; es gibt keine Wahrheit, also gibt es auch keine Gerechten; Atheismus, Darwinismus, Moskauer Glocken ... Doch wehe, er glaubt schon nicht mehr an Moskauer Glocken. Rom, Lorbeeren ... Doch er glaubt nicht einmal an Lorbeeren ... Hier ein obligatorischer Anfall von Byronschem Weltschmerz, dort eine Heinesche Grimasse, dann wiederum Anklänge an Petschorin[49], – und so ging das fort und fort, wie eine in Schwung geratene Maschine ... „Übrigens, so lobt mich doch, lobt mich doch, denn das liebe ich über alle Maßen! Und ich sage ja nur so, daß ich die Feder für immer aus der Hand lege; nein, wartet nur und ihr werdet meiner noch dreihundertmal überdrüssig werden, werdet noch müde werden, mich zu lesen ...“
Natürlich konnte das kein gutes Ende nehmen; das Schlimme war aber, daß es damit nun überhaupt anfing. Schon lange hatte im Saale ein Räuspern, Hüsteln, Schnauben begonnen, ein Hin- und Herrücken auf den Stühlen und Husten, kurz, es gab alle die bekannten Lebenszeichen, die stets einzusetzen pflegen, wenn bei einer literarischen Veranstaltung der Vortragende, wer er auch sei – ja selbst wenn er das größte Genie ist –, das Publikum länger als zwanzig Minuten in Anspruch nimmt. Doch der geniale Schriftsteller merkte nichts davon. Er fuhr fort zu lispeln und zu schnarren, ohne das Publikum überhaupt einer Beachtung zu würdigen, so daß schließlich eine allgemeine Verständnislosigkeit Platz griff. Und da nun geschah es, daß aus einer der hinteren Reihen plötzlich eine einsame, doch laute Stimme sich vernehmen ließ:
„Gott, was für ein Unsinn!“
Das war irgend jemandem wohl ganz unfreiwillig entschlüpft und gewiß – davon bin ich überzeugt – ohne jede Absicht einer Demonstration. Ein Mensch war einfach müde geworden. Doch Herr Karmasinoff brach sofort ab, blickte spöttisch aufs Publikum, und plötzlich fragte er mit derselben affektierten Aussprache und der Miene eines verletzten Kammerherrn:
„Mir scheint, meine Herrschaften, Sie sind des Zuhörens bereits gehörig überdrüssig?“
Gerade hiermit aber beging er einen unverzeihlichen Fehler: daß er überhaupt ein Gespräch anknüpfte. Denn mit dieser Frage forderte er doch eine Antwort heraus, gab er jedem beliebigen aus dem Gesindel der hinteren Reihen die Möglichkeit, ja das Recht, nun gleichfalls laut im Saale zu reden, während man anderenfalls, wenn diese Frage und Unterbrechung nicht erfolgt wäre, sich zwar noch weiter geschnaubt und geschnaubt, aber schließlich doch alles bis zum Ende angehört hätte ... Oder erwartete er vielleicht als Antwort auf seine Frage stürmischen Beifall? Der blieb jedoch vollständig aus; im Gegenteil: alle waren gleichsam erschrocken, zogen sich in sich selbst zurück und verhielten sich ganz still.
„Sie haben Ancus Marcius überhaupt nie gesehn, das sind lauter stilisierte Phrasen!“ ertönte plötzlich eine gereizte, vor Verbissenheit schon überreizte Stimme.
„Natürlich nicht!“ stimmte sofort eine andere Stimme bei. „Heutzutage gibt’s keine Gespenster, es gibt nur noch Naturwissenschaften. Werden Sie mit diesen fertig!“
„Meine Herrschaften, nichts habe ich weniger erwartet, als solche Einwendungen,“ sagte Karmasinoff, in der Tat maßlos verwundert. – Dem großen Genie war in Karlsruhe das Vaterland völlig fremd geworden.
„In unserem Jahrhundert ist es eine Schande, solchen Schwindel vorzutragen! – gleich dem von den drei Walfischen, auf denen die Welt ruhen soll!“[50] schmetterte plötzlich eine Jungfrau in den Saal. „Zudem haben Sie, Karmasinoff, überhaupt nicht in das Innere der Erde zu einem Asketen hinabsinken können. Und wer redet denn jetzt noch von Asketen?“
„Meine Herrschaften, am meisten wundert mich, daß das so ernst genommen wird. Übrigens ... übrigens ... Sie haben vollkommen recht. Niemand achtet die reale Wahrheit mehr als ich ...“
Er lächelte zwar ironisch, war aber merklich doch sehr betroffen. Der Ausdruck seines Gesichts sagte indessen geradezu wörtlich: „Ich bin doch nicht so einer, wie ihr glaubt, ich bin doch ganz eurer Meinung, nur lobt mich, lobt mich mehr, lobt mich soviel wie möglich; denn das liebe ich über alles ...“
„Meine Herrschaften,“ rief er schließlich, aber nun schon durchaus verletzt, „ich sehe, daß mein armes Poemchen hier deplaziert war. Ja und auch ich selbst bin hier, wie mir scheint, deplaziert.“
„Er zielte auf eine Krähe, traf aber eine Kuh!“ schrie nun bereits mit lautester Stimme irgendein Esel in den Saal, wahrscheinlich ein Angeheiterter, doch diesen Ausruf hätte man schon unter keinen Umständen beachten sollen.
„Ein wahres Wort!“ Dazu respektloses Lachen.
„Eine Kuh, sagen Sie?“ griff dagegen Karmasinoff das Sprichwort sofort auf. Seine Stimme wurde immer kreischender. „Bezüglich des Vergleichs mit Krähen und Kühen erlaube ich mir keine Äußerung, meine Herrschaften. Ich achte sogar jedes Publikum doch allzusehr, um mir Vergleiche, und seien es auch ganz unschuldige, zu erlauben. Aber ich dachte ...“
„Ach, mein Herr, Sie sollten doch lieber nicht gar so ...,“ fiel ihm jemand aus den letzten Reihen ins Wort.
„... aber ich dachte, daß ich, da ich nun meine Feder für immer aus der Hand lege und Abschied nehme von meinem Leser, wenigstens bis zum Ende angehört werden würde ...“
„Ja, aber ja, wir wollen Sie doch auch anhören, wir wollen doch ...“ ertönten ein paar endlich mutig gewordene Stimmen aus der ersten Reihe.
„Lesen Sie, lesen Sie!“ fielen mehrere begeisterte Damenstimmen ein und schließlich ertönte auch ein Applaus, freilich nur ein dünner, spärlicher.
Karmasinoff lächelte schief und erhob sich von seinem Platz.
„Glauben Sie mir, Karmasinoff, wir alle halten es sogar für eine Ehre,“ konnte sich selbst die Adelsmarschallin nicht enthalten zu versichern.
„Herr Karmasinoff,“ erklang plötzlich eine junge, frische Stimme aus der Tiefe des Saales. Es war die Stimme eines sehr jungen Lehrers aus der Kreisschule, eines stillen, anständigen und prächtigen Menschen, der noch nicht lange Zeit bei uns weilte. Er war jetzt sogar von seinem Platze aufgestanden. „Herr Karmasinoff, wenn ich das Glück gehabt hätte, so zu lieben, wie Sie es uns beschreiben, so hätte ich wirklich nicht davon in einem Aufsatz gesprochen, der zum öffentlichen Vorlesen bestimmt war ...“
Dabei errötete er über und über.
„Meine Herren,“ rief Karmasinoff, „ich habe nichts mehr hinzuzufügen! Ich übergehe den Schluß und entferne mich. Erlauben Sie mir nur noch, die letzten Zeilen zum Abschied zu lesen!“
Und ohne sich hinzusetzen, begann er sogleich: „Ja, mein Freund und Zuhörer, lebe wohl! – lebe wohl, mein Leser, ich bestehe nicht einmal darauf, daß wir als Freunde scheiden: In der Tat, wozu dich beunruhigen? Schilt, wenn du willst, schilt, wenn es dir Vergnügen macht! Aber mich deucht, es wäre besser, wir vergäßen uns für immer. Und wenn ihr alle, meine Zuhörer, plötzlich so gut wäret, mich auf den Knien und mit Tränen in den Augen zu bitten: ‚Schreibe noch, Karmasinoff, – für uns, für das Vaterland, für die Nachwelt, für die Lorbeerkränze!‘ so würde ich euch sogar dann noch antworten, selbstredend mit allem Dank: ‚Nein, wir haben uns schon genug miteinander abgegeben, liebe Kompatrioten, merci! Es ist Zeit, daß wir uns trennen! Merci, merci, merci!‘“
Karmasinoff verbeugte sich zeremoniell, – und ganz rot im Gesicht, als hätte man ihn gekocht, begab er sich hinter die „Kulissen“.
„Niemand wird auf die Knie fallen, eitle Phantasie!“ rief ihm eine Stimme nach.
„Was für eine Eigenliebe!“
„Aber das ist doch Humor,“ glaubte jemand erklären zu müssen.
„Nein, verschonen Sie uns bitte mit solchem Humor.“
„Das war einfach eine Frechheit, meine Herren!“
„Na, wenigstens hat er endlich Schluß gemacht!“
„Das war aber eine Langeweile! – daß Gott erbarm’!“
Aber alle diese unhöflichen Ausrufe der letzten Reihen wurden übertönt von dem Applaus des anderen Publikums. Man rief Karmasinoff hervor. Einige Damen, an der Spitze Julija Michailowna und die Adelsmarschallin, versammelten sich vor der Tribüne. In den Händen hielt Julija Michailowna ein weißes Samtkissen, auf dem ein Lorbeerkranz in einem zweiten Kranz von Rosen lag.
„Lorbeer!“ rief Karmasinoff mit einem feinen und etwas boshaften Lächeln. „Ich bin natürlich gerührt und ich nehme diesen im voraus geflochtenen Kranz, der noch nicht verwelkt ist, mit aufrichtigem Danke an: aber ich versichere Sie, Mesdames,[175] ich bin plötzlich soweit Realist geworden, daß ich Lorbeeren heutzutage in den Händen eines Kochs besser aufgehoben fände, als in den meinigen ...“
„Ja, ein Koch ist auch nützlicher!“ rief der Seminarist, der mit auf der „Sitzung“ bei Wirginskis gewesen war.
Die Ordnung wurde gestört. In vielen Reihen stieg man auf die Stühle, um besser die Zeremonie der Überreichung des Lorbeerkranzes sehen zu können.
„Ich würde jetzt für einen Koch noch drei Rubel zuzahlen,“ ertönte eine laute Stimme.
„Ich gleichfalls!“
„Ich auch!“
„Gibt es denn hier wirklich kein Büfett?“
„Meine Herren, das ist einfach ein Betrug ...“
Immerhin bewahrten die Ruhestörer noch einigen Respekt vor unseren Honoratioren und den anwesenden Polizeioffizieren. Ungefähr zehn Minuten nachher hatten sie sich denn auch alle wieder gesetzt. Aber die ursprüngliche Ordnung war doch nicht mehr vorhanden. Und in diesem Anfangsstadium eines drohenden Tumults mußte nun der arme Stepan Trophimowitsch auftreten ...
Ich hielt es nicht aus und eilte doch noch zu ihm hinter die Kulissen, um ihn anzuflehen, jetzt seinen ganzen Vortrag aufzugeben, ein Unwohlsein vorzuschützen und nach Hause zu fahren. Es sei nun alles schon verspielt und verloren, auch ich würde mein Festordnerband ablegen, meinen Ehrenposten aufgeben und mit ihm davongehen. Er war in diesem Augenblick gerade im Begriff, die Tribüne zu betreten: nun blieb er stehen, maß mich hochmütig vom Kopf bis zu den Füßen und fragte mit geradezu feierlichem Ernst:
„Wie kommen Sie dazu, mein Herr, von mir eine solche Schändlichkeit zu erwarten?“
Ich trat zurück, überzeugt, daß er ohne Katastrophe von dort nicht zurückkehren werde. In vollständiger Mutlosigkeit stand ich da, als plötzlich wieder die Figur des angereisten Professors vor mir auftauchte. Er ging immer noch auf und ab, in sich versunken und vor sich hinmurmelnd, aber ein triumphierendes Lächeln glitt hin und wieder über sein Gesicht, und von Zeit zu Zeit hob er immer noch die Faust, um sie dann wuchtig niedersausen zu lassen. Ich trat ganz unabsichtlich auf ihn zu.
„Wissen Sie,“ sagte ich, „erfahrungsgemäß hört kein einziges Publikum länger als zwanzig Minuten jemandem zu. Selbst die größte Berühmtheit wird es keine halbe Stunde ...“
Er blieb stehen. Ein ungeheurer Hochmut lag auf seinem Gesicht.
„Seien Sie unbesorgt,“ brummte er verächtlich und ging an mir vorüber.
In dieser Minute ertönte im Saale die Stimme Stepan Trophimowitschs.
„Ach, daß Euch der ...!“ fluchte ich und eilte in den Saal.
Stepan Trophimowitsch hatte sich in den Stuhl gesetzt, noch bevor die Ordnung im Saale einigermaßen hergestellt war. Aus den ersten Reihen empfingen ihn nicht gerade wohlwollende Blicke. Im Klub hatte man in der letzten Zeit aufgehört, ihn besonders zu schätzen oder gar zu lieben. Aber immerhin war es schon viel, daß man ihn nicht einfach auszischte. Mich hatte die ganze Zeit die fixe Idee verfolgt, daß etwas Derartiges geschehen werde. Vermutlich bemerkte man ihn bei der allgemeinen Unordnung zunächst gar nicht. Doch was konnte er denn überhaupt erwarten, wenn man sogar mit Karmasinoff so verfahren war? Er war bleich; aus seiner Aufregung ersah ich, der ich ihn doch so gut kannte, daß er sein Erscheinen auf dieser Tribüne selber als eine Art Schicksalsfügung empfand. So stand er denn nach zehn Jahren wieder vor der Öffentlichkeit! Lieb und teuer war mir dieser Mensch. Und was fühlte ich nicht alles für ihn, als ich nun seine ersten Worte vernahm!
„Meine Damen und Herren!“ stieß er hervor, wie zu allem entschlossen, und doch mit einer Stimme, die vor innerer Erregung gleichsam keinen Atem hatte. „Meine Damen und Herren! Noch heute morgen lag einer dieser verbotenen und gesetzwidrigen Aufrufe vor mir, und ich stellte mir wohl zum hundertsten Mal die Frage: ‚Worin besteht das Geheimnis ihrer Macht?‘“
Der ganze Saal verstummte im Augenblick; alle Blicke wandten sich ihm zu. Kein Zweifel: wenigstens hatte er es verstanden, gleich mit den ersten Worten zu fesseln. Sogar hinter den Kulissen steckte man die Köpfe hervor: Liputin und Lämschin lauschten geradezu gierig. Julija Michailowna rief mich wieder mit einem Wink zu sich.
„Halten Sie ihn auf, was es auch koste, halten Sie ihn auf!“ flüsterte sie mir erregt zu.
Ich zuckte nur mit der Achsel. Wie konnte man einen Menschen, der sich schon zu allem entschlossen hatte, noch aufhalten? Und ich verstand Stepan Trophimowitsch nur zu gut.
„Aha, von den Proklamationen!“ flüsterte man im Publikum.
„Meine Damen und Herren, ich habe das ganze Geheimnis erraten. Das Geheimnis ihrer Macht und ihres Erfolges liegt in ihrer – Dummheit!“ (Seine Augen erglänzten.) „Ja, wäre das eine erklügelte Dummheit, eine Dummheit aus Berechnung – oh, dann wäre sie genial! Aber man muß den Verfassern volle Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie bringen sie nicht aus Berechnung, nein, sondern es ist einfach die allernaivste, die alleroffenherzigste, die allerbilligste Dummheit – c’est la bêtise dans son essence la plus pure, quelque chose comme un simple chimique.[176] Wäre das alles ein wenig klüger ausgedrückt, so würde ein jeder die ganze Armseligkeit dieser billigen Dummheit einsehen. So dagegen bleiben alle in der Ungewißheit, denn keiner will es doch glauben, daß es wirklich so erstklassig dumm sei. ‚Es kann doch nicht sein, daß nichts dahinter stecke‘, sagt sich ein jeder, und man sucht nach dem geheimen Sinn, glaubt an ein Geheimnis und will zwischen den Zeilen lesen. Damit aber ist der Erfolg schon gesichert! Oh, noch nie hat die Dummheit eine so feierliche Belohnung erhalten, ungeachtet dessen, daß sie sie so oft verdient ... Denn, en parenthèse,[177] die Dummheit, wie das höchste Genie, sind innerhalb des Geschickes der Menschheit beide von gleichem Nutzen.“
„Sentenzen der vierziger Jahre!“ hörte man eine übrigens recht bescheidene Stimme sagen.
Doch nun war es mit der Ruhe zu Ende: alles schrie und lärmte los.
„Meine Herren, Hurra! Ich schlage vor, einen Toast auf die Dummheit auszubringen!“ rief Stepan Trophimowitsch, den ganzen Saal gleichsam herausfordernd.
Ich lief zu ihm, unter dem Vorwande, Wasser ins Glas zu gießen.
„Stepan Trophimowitsch, lassen Sie davon ab, Julija Michailowna bittet Sie inständig ...“ flüsterte ich schnell.
„Nein, lassen Sie von mir ab, Sie müßiger junger Mann!“ rief er mir mit lauter Stimme zu.
Ich zog mich zurück.
„Messieurs!“ fuhr er fort, „wozu die Aufregung, warum dieses Geschrei des Unwillens, das ich höre? Ich bin ja mit dem Olivenzweig gekommen. Ich bringe das letzte Wort, denn in dieser Sache habe ich das letzte Wort – und wir können uns versöhnen.“
„Fort mit ihm!“ riefen die einen.
„Ruhig, laßt doch hören, laßt ihn zu Ende sprechen!“ schrien die anderen.
Besonders regte sich der junge Lehrer auf, der, nachdem er einmal zu sprechen gewagt hatte, nun sich nicht mehr halten konnte.
„Messieurs, das letzte Wort in dieser Sache ist – die gegenseitige Vergebung. Ich, ein alter Mann, ich erkläre feierlich, daß der Geist des Lebens noch ebenso stürmt wie früher und die lebendige Kraft auch in der jungen Generation nicht versiegt ist. Der Enthusiasmus unserer jetzigen Jugend ist noch ebenso rein und licht, wie er es zu meiner Zeit war. Es ist nur eines geschehen: man hat die Ziele geändert, die eine Schönheit ward durch die andere ersetzt! Das ganze Mißverständnis liegt nur darin, was ist schöner: Shakespeare oder ein Paar Stiefel, Rafael oder ein Petroleur?“
„Das ist eine Anklage!“ brüllte man irgendwoher.
„Das sind kompromittierende Fragen!“
„Agent-provocateur!“[178]
„Ich aber erkläre,“ rief Stepan Trophimowitsch wie rasend, „ich aber erkläre, daß Shakespeare und Rafael – höher als die Aufhebung der Leibeigenschaft, höher als das Volk, höher als der Sozialismus, höher als die gesamte junge Generation, höher als die Chemie, höher fast als die ganze Menschheit stehen, und vielleicht die höchste Frucht sind, die es überhaupt geben kann! Die Form der Schönheit ist damit schon erreicht, die Prägung, ohne die ich vielleicht gar nicht einwilligen würde, zu leben ... O Gott!“ er erhob die Arme, „vor zehn Jahren habe ich das in Petersburg genau so von einer Tribüne den Menschen zugerufen, mit denselben Worten, und ebensowenig haben sie mich damals verstanden, haben gelacht und gepfiffen wie jetzt ... O ihr kleinen, kleinen Menschen, was fehlt euch, daß ihr das nicht verstehen könnt? Ja, wißt ihr denn nicht, wißt ihr denn nicht, daß ohne den Engländer die Menschheit noch leben kann, auch ohne den Deutschen, ohne den russischen Menschen schon ohne weiteres, auch ohne die Wissenschaft, auch ohne Brot, nur ohne die Schönheit, nur ohne Schönheit kann sie nicht leben, denn da gäbe es überhaupt nichts mehr zu tun auf der Welt! Hier liegt das ganze Geheimnis, liegt die ganze Weltgeschichte! Selbst die Wissenschaft würde ohne die Schönheit nicht einen Augenblick bestehen – wißt ihr das auch, ihr Lacher –, alles würde sich in Hamitentum verwandeln, nichts mehr würdet ihr erfinden, nicht einmal einen Nagel! ... Dabei bleibe ich!“ und er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.
Viele sprangen von ihren Plätzen, andere drängten sich näher zu der Tribüne. Alles das geschah schneller, als sich’s beschreiben läßt, und erst recht schneller, als daß man Vorsichtsmaßregeln hätte treffen können – wenn man überhaupt welche hätte treffen wollen!
„Ihr habt es gut, ihr Verwöhnten an euren vollen Tischen!“ brüllte schon unmittelbar vor der Tribüne der Seminarist und fletschte Stepan Trophimowitsch höhnisch an.
Der bemerkte es und trat sofort bis an den äußersten Rand:
„Habe nicht ich, nicht ich soeben noch gesagt, daß der Enthusiasmus unserer jungen Generation ebenso rein und licht ist wie früher, und daß sie nur deshalb ins Verderben geht, weil sie sich in den Formen des Schönen täuscht? Ist euch das zu wenig? Und wenn ihr bedenkt, daß ein gebeugter und beleidigter Vater zu euch spricht, ist es dann, – o ihr kleinen Menschen! ... Kann man denn überhaupt noch leidenschaftsloser und klarer schauend über den Ansichten stehen? Undankbare, ungerechte Menschen ... warum wollt ihr nicht Frieden schließen ...“
Und plötzlich brach er in hysterisches Schluchzen aus. Er wischte sich mit den Fingern die Tränen ab. Die Brust und die Schultern zitterten vor Schluchzen – er vergaß alles um sich her.
Eine wirkliche Panik ergriff das Publikum, fast alle erhoben sich von ihren Plätzen. Auch Julija Michailowna erhob sich schnell und zog ihren Mann von seinem Stuhle in die Höhe.
„Stepan Trophimowitsch!“ brüllte triumphierend der Seminarist. „Hier in der Stadt und in der Umgegend treibt sich jetzt ein entsprungener Zuchthäusler herum, Fedjka mit Namen. Er stiehlt überall und vor nicht langer Zeit hat er einen neuen Mord verübt. Gestatten Sie die Frage: wenn Sie ihn vor fünfzehn Jahren nicht zur Begleichung einer Kartenschuld als Rekruten verkauft hätten, wäre er dann auch nach Sibirien gekommen? Hätte er dann auch Menschen ermordet im Kampfe ums Dasein? Was sagen Sie dazu, Herr Ästhetiker?“
Ich verzichte darauf, die nun folgende Szene zu beschreiben. Zunächst ertönte ein rasender Applaus. Es applaudierten natürlich nicht alle, vielleicht nur der fünfte Teil des Saales, aber der applaudierte dafür auch wie wahnsinnig. Der Rest des Publikums strömte zum Ausgang, der applaudierende Teil dagegen zur Tribüne hin, und so entstand ein allgemeines Gewühl. Damen schrien auf. Junge Mädchen weinten und wollten nach Hause. Lembke stand noch immer an seinem Platz und sah drohend um sich. Julija Michailowna verlor zum erstenmal in ihrem Leben völlig den Kopf. Stepan Trophimowitsch schien von den Worten des Seminaristen zuerst völlig zerschmettert zu sein, doch plötzlich erhob er beide Hände und rief:
„Ich schüttle den Staub von meinen Füßen und verfluche ... Das ist das Ende ... das Ende ...“
Und sich umkehrend lief er, gestikulierend und noch mit den Händen drohend, hinter die Kulissen.
„Er hat die Gesellschaft beleidigt! ... Er schmäht uns! Werchowenski!“ schrie man.
Und schon wollte man hinter ihm her stürzen, was in diesem Augenblick schwer zu verhindern gewesen wäre, – aber siehe da! nun sollte noch die letzte Katastrophe wie eine Bombe in die Versammlung einschlagen! Der dritte Redner, jener Maniak, der hinter den Kulissen hin und her geschritten war und in einem fort die Faust hochgehoben hatte, erschien plötzlich auf der Tribüne.
Er hatte entschieden das Aussehen eines Verrückten. Mit breitem, triumphierendem Lächeln, voll unermeßlichen Selbstvertrauens übersah er die aufgeregte Menge, und es schien ihn nicht im geringsten zu verwirren, daß er vor solchem Publikum reden sollte, vielmehr schien er an der Unordnung sogar seine Freude zu haben, und zwar so augenscheinlich, daß gerade das die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.
„Wer ist denn das?“ hörte man fragen. „Was will denn der noch? Still! Pst! Was?“
„Meine Herren!“ begann dieser Mensch, ganz am äußersten Rande der Tribüne stehend, schreiend laut und fast mit einer ebenso kreischend-weibischen Stimme, wie Karmasinoff sie hatte, nur lauter und ohne das aristokratische Lispeln.
„Meine Herren! Vor zwanzig Jahren, am Vorabend unseres Krieges mit dem halben Europa, war Rußland das Ideal aller Staats- und Geheimräte! Die Literatur stand im Dienst der Zensur! An den Universitäten lehrte man exerzieren! Das Heer wurde zum Ballett! Das Volk aber bezahlte stier und stumm Abgaben, schwieg und schmachtete unter der Knute der Leibeigenschaft! Patriotismus wurde zum Geschäft: man erpreßte von Lebenden und von Toten! Die nicht Schmiergelder nahmen, galten für revolutionär, denn sie störten die Harmonie! Die Birkenwälder wurden rasiert als Hilfe zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung. Europa zitterte. Doch in Rußland hatte es in dem ganzen sinnlosen Jahrtausend seiner Existenz noch niemals elender ausgesehen! Rußland war nur noch eine einzige Schmach und weiter nichts!“ Und mit einer wüsten Bewegung erhob er die Faust, schüttelte sie drohend über seinem Haupte und ließ sie dann ingrimmig niedersausen, als wollte er mit einem einzigen Schlage einen unsichtbaren Gegner zerschmettern.
Ein unbändiges Gebrüll erhob sich von allen Seiten. Ohrenbetäubendes Klatschen und Trampeln erschütterte den Saal. Es applaudierte schon beinahe die Hälfte der Anwesenden. Die Harmlosesten wurden mitgerissen: Rußland wurde öffentlich geschmäht, entehrt, vor dem ganzen Publikum heruntergerissen – wie sollte man da nicht brüllen vor Entzücken?
„Das ist’s! ... Der weiß es! ... Der hat recht! Hurra ... Das ist besser als Ästhetik! ... Hurra!“
Triumphierend fuhr der Maniak in seiner Rede fort: „Seit der Zeit sind zwanzig Jahre vergangen! Die Universitäten haben sich vermehrt! Das Exerzieren in den Hörsälen ist zur Legende geworden! An Offizieren im Heer fehlt’s jetzt zu Tausenden! Die Eisenbahnen haben alles Kapital verschlungen und Rußland wie mit einem Spinngewebe überzogen, so daß man in zehn bis fünfzehn Jahren vielleicht auch wirklich wird reisen können. Die Brücken brennen nur selten, aber die Städte dafür um so häufiger. Auf den Gerichten werden salomonische Urteile gefällt, doch die Geschworenen nehmen Schweigegelder an, um nicht Hungers zu sterben! Die befreiten Leibeigenen peitschen sich jetzt gegenseitig, an Stelle der Gutsbesitzer, die es früher taten! Ozeane von Schnaps trinkt man aus, damit das Budget zustande kommt! Und in Nowgorod hat man vor der alten und unnützen Sophienkirche eine kolossale Kugel aufgestellt und feierlich enthüllt, als Denkmal der tausendjährigen Unordnung und Sinnlosigkeit, die wir jetzt glücklich hinter uns haben! Europa aber ärgert sich und fühlt sich von neuem beunruhigt ... Fünfzehn Jahre der Reformen! Indessen ist Rußland noch niemals, nicht einmal in den groteskesten Zeiten seines ganzen unsinnigen Bestehens, zu solch einer ...“
Seine letzten Worte wurden schon vom Gebrüll der Menge verschlungen. Man sah nur noch, wie er wieder die Faust erhob und sie dann wieder niedersausen ließ. Der Jubel überstieg bereits alle Grenzen. Man schrie, man heulte, man klatschte unbändig in die Hände. Sogar einzelne Damen riefen: „Genug! Besseres können Sie nicht mehr sagen!“ Man war wie betrunken. Oben auf der Tribüne aber stand der Redner, überschaute alle und schmolz gleichsam in seinem Triumphgefühl.
Ich sah nur noch, wie Lembke in unaussprechlicher Aufregung irgendjemandem irgendetwas befahl. Neben ihm stand Julija Michailowna kreideweiß. Der junge Fürst näherte sich ihnen schnell. Sie flüsterte ihm etwas zu. Doch in diesem Moment sah ich schon mehrere Herren auf der Tribüne, meist offizielle Persönlichkeiten, die sich blitzschnell auf den Redner warfen und ihn hinter die Kulissen schleppten. Irgendwie gelang es aber diesem doch noch, sich loszureißen, und im Augenblick stand er wieder auf der Tribüne, um, mit erhobener Faust, gerade noch schreien zu können:
„Aber noch nie ist Rußland zu solch einer ...“
Doch schon hatte man ihn wieder gepackt, überwältigt und schleppte ihn weg. Sogleich stürmte ein ganzer Haufe von etwa fünfzehn Mann hinter die Kulissen, um ihn zu befreien, stürmte seitlich an der Tribüne vorüber, riß eine Barriere um ...
Ich sah nur noch, daß plötzlich – ich traute meinen Augen nicht – die Studentin (Wirginskis Schwester) auf der Tribüne stand. Sie hielt dieselbe Papierrolle in der Hand, war ebenso angezogen, ebenso rundlich, doch hinter ihr standen noch zwei oder drei Gesinnungsgenossinnen und zwei oder drei Genossen, unter diesen auch ihr Todfeind, der Gymnasiast. Ich vernahm sogar noch ihre ersten Worte:
„Ich bin gekommen, um Ihnen von den Leiden der unglücklichen Studenten zu erzählen und alle zu einem Protest aufzurufen!“ ...
Doch da lief ich schon hinaus. Mein Festordnerband steckte ich in die Tasche, durch eine Hintertür gelangte ich auf die Straße. Mein erster Weg war natürlich zu Stepan Trophimowitsch.
Stepan Trophimowitsch empfing mich nicht. Er hatte sich eingeschlossen und schrieb. Auf mein Klopfen und Rufen hin antwortete er mir nur durch die verschlossene Tür:
„Lieber Freund, ich habe mit allem abgeschlossen, wer kann noch mehr von mir verlangen?“
„Sie haben gar nicht mit allem abgeschlossen! Sie haben nur das Ihre dazu beigetragen, daß alles zusammenbrach! Im Ernst, Stepan Trophimowitsch, machen Sie die Tür auf, man muß Vorkehrungen treffen. Die Bande kann schließlich noch zu Ihnen kommen, um Sie zu beschimpfen ...“
Ich hielt mich für berechtigt, streng mit ihm zu reden. Vor allem fürchtete ich, daß er irgendeine Torheit begehen könnte. Aber zu meinem Erstaunen stieß ich bei ihm auf feste Entschlossenheit.
„Wenn Sie mich nur nicht als erster beleidigen wollten. Ich danke Ihnen für alles Gewesene, aber ich muß Ihnen wiederholen, daß ich mit allem abgeschlossen habe, mit dem Guten, wie mit dem Bösen. Ich schreibe soeben einen Brief an Darja Pawlowna, die ich unverzeihlicherweise bis jetzt ganz vergessen hatte. Morgen bringen Sie ihr dann den Brief, wenn Sie so freundlich sein wollen. Heute aber – ‚Merci‘.“
„Stepan Trophimowitsch, ich versichere Ihnen, daß die Sache ernster ist, als Sie glauben. Oder glauben Sie vielleicht, daß Sie dort jemanden zerschmettert haben? Ach, doch nur sich selbst, wie ein leeres Glas!“ (Oh, ich war roh und grausam; heute ist mir das eine schmerzliche Erinnerung!) „An Darja Pawlowna haben Sie jetzt entschieden nichts zu schreiben ... und was wollen Sie jetzt ohne mich anfangen? Was wissen Sie denn von der Wirklichkeit? Sicher haben Sie jetzt irgendeine besondere Absicht! Was haben Sie vor, Stepan Trophimowitsch? Sicher werden Sie sich noch einmal blamieren, wenn Sie wieder etwas unternehmen ...“
Er stand auf und kam zur Tür.
„Sie haben noch nicht lange mit diesen Leuten verkehrt, und doch haben Sie deren Sprache und Ton schon angenommen. Dieu vous pardonne, mon ami, et Dieu vous garde.[179] Aber ich habe in Ihnen immer einen gewissen inneren Anstand wahrgenommen, und so hoffe ich, daß Sie noch zur Besinnung kommen werden – après le temps[180] natürlich, wie wir alle, wir russischen Menschen. Was Ihre Bemerkung über meine Unkenntnis der Wirklichkeit betrifft, so möchte ich Sie an einen alten Gedanken von mir erinnern: daß bei uns in Rußland unzählige Menschen sich nur damit beschäftigen, mit größtem Wuteifer und mit einer Unermüdlichkeit, die an Fliegen im Sommer gemahnt, über alle anderen herzufallen, indem sie ihnen Unkenntnis der Wirklichkeit vorwerfen. Jedem Menschen machen sie den Vorwurf, er sei ‚unpraktisch‘, nur sich selbst machen sie ihn nie. Cher, bedenken Sie, daß ich erregt bin, und quälen Sie mich nicht. Noch einmal Dank für alles und scheiden wir voneinander, wie Karmasinoff vom Publikum – das heißt, vergessen wir uns gegenseitig so großmütig wie möglich. Das war von ihm übrigens nur eine Finte, daß er seine alten Leser so inständig bat, ihn zu vergessen. Quant à moi,[181] so bin ich nicht so selbstsüchtig und verlasse mich vor allem auf die Jugend Ihres unversuchten Herzens: wozu sollten Sie sich lange eines nutzlosen Greises erinnern? Darum, mein Freund, ‚leben Sie mehr‘, wie mir Nastassja zu meinem letzten Namenstage wünschte (ces pauvres gens ont quelque fois des mots charmants et pleins de philosophie[182]). Nicht zu viel Glück wünsche ich Ihnen, das würde langweilig werden. Aber ich wünsche Ihnen auch kein Unglück, sondern sage nur wie der Volksmund: ‚Leben Sie mehr‘! Und versuchen Sie irgendwie, sich nicht zu grämen. Diesen überflüssigen Wunsch füge ich noch von mir aus hinzu. Und nun leben Sie wohl. Im Ernst gesagt: leben Sie wohl. – Bleiben Sie nicht an meiner Tür, ich werde nicht aufmachen.“
Er ging auch tatsächlich fort von der Tür und ich konnte nichts weiter von ihm erfahren. Ungeachtet seines Geständnisses, daß er „erregt“ sei, hatte er langsam, fließend und eindringlich gesprochen. Natürlich war er mir aus irgendeinem Grunde gram und rächte sich nun auf diese Weise. Vor allem aber brachten ihn die Tränen, die er am Morgen vor dem Publikum geweint, wenn er auch vorher einen halben Sieg errungen hatte, in eine etwas komische Lage, und das fühlte er wohl selbst. Nun war aber gewiß kein Mensch gerade um die Schönheit und die Strenge der äußeren Formen – selbst im Verkehr mit seinen Freunden – so besorgt wie Stepan Trophimowitsch. Oh, ich mache ihm keinen Vorwurf! Damals aber war es eben diese Erwägung, daß ein Mensch, der sich trotz aller Erschütterung in dieser gewissen Pedanterie und diesem Sarkasmus treu blieb, doch wohl nicht so erschüttert sein konnte, um nun geneigt zu sein, etwas Tragisches oder Außergewöhnliches zu unternehmen. So dachte ich damals bei mir, aber, o Gott, wie täuschte ich mich! Ich ließ doch gar zu vieles außer acht ...
Hier möchte ich nun, obgleich ich damit den Ereignissen vorgreife, einige Zeilen aus dem Brief mitteilen, den Darja Pawlowna am anderen Tage tatsächlich erhielt.
„Mon enfant![183] Meine Hand zittert, aber ich habe mit allem abgeschlossen. Sie waren nicht zugegen bei meinem letzten Zusammenstoß mit den Menschen, bei diesem ‚Vortrag‘, und Sie taten recht. Aber man wird Ihnen erzählen, daß in unserem an Charakteren gänzlich verarmten Rußland ein Mensch sich erhoben und trotz der Gefahren, die er lief, diesen kleinen Dummköpfen die ganze Wahrheit gesagt hat, das heißt: daß sie dumme Närrchen sind. Oh, ce sont des pauvres petits vauriens et rien de plus, des petits Närrchen – voilà le mot![184] Der Würfel ist gefallen. Ich verlasse diese Stadt. Ich kehre niemals wieder. Ich weiß noch nicht, wohin ich meinen Fuß setzen werde. Alle, die ich liebte, haben sich von mir abgewandt. Nur Sie, Sie reines und gutes Geschöpf, Sie Sanfte, deren Schicksal sich beinahe mit dem meinen vereinigt hätte, nach dem Willen eines kapriziösen und herrschsüchtigen Frauenherzens, Sie, die vielleicht mit Verachtung auf mich herabsehen, seit ich am Vorabend unserer nicht zustande gekommenen Heirat meine kleinmütigen Tränen vergossen habe; Sie, die in mir gewiß nichts anderes sehen können, als einen lächerlichen Menschen, nur Sie, oh, nur Sie grüße ich noch! Nur Ihnen noch diesen letzten Schrei meines Herzens, Ihnen meine letzte Pflicht, Ihnen allein! Kann ich Sie doch nicht so auf ewig verlassen! – mit der Vorstellung von mir als einem undankbaren, unwissenden, selbstsüchtigen Toren, wie mich Ihnen wohl täglich ein undankbares und grausames Herz schildert, ein Herz, das ich – o Schmerz! – nicht vergessen kann ...“
Der Brief war auf einem Bogen großen Formats geschrieben und vier Seiten lang ...
... Ich pochte noch dreimal an die Tür, nachdem er mit den Worten, er werde nicht aufmachen, ins Zimmer zurückgegangen war. Dann rief ich ihm zu, daß er heute noch dreimal Nastassja zu mir schicken werde mit der Bitte, zu ihm zu kommen, aber dann werde das gleichfalls vergeblich sein. Damit ging ich fort und begab mich zu Julija Michailowna.
Hier sollte ich Zeuge einer empörenden Szene werden: die arme Frau wurde auf eine geradezu infame Weise betrogen. Ich sah es, aber ich war ja machtlos. Was hätte ich ihr denn sagen sollen? Ich hatte ja selbst nur erst unklare Vorgefühle, doch keinen einzigen Beweis für meinen Verdacht.
Als ich eintrat, lag sie weinend unter Eau de Cologne-Kompressen und Eiswasser auf der Chaiselongue. Vor ihr standen Pjotr Stepanowitsch, der ununterbrochen redete, und der junge Fürst, der ununterbrochen schwieg, als hätte man ihm mit einem Schlüssel den Mund verschlossen.
Unter Tränen warf sie Pjotr Stepanowitsch seine „Abtrünnigkeit“ vor. Sonderbar war dabei, daß sie nur ihm allein und seiner Abwesenheit das Mißlingen und den ganzen Zusammenbruch des Festes zuschrieb.
An Pjotr Stepanowitsch selber fiel mir eine merkwürdige Veränderung auf: er war ungewöhnlich ernst und offenbar mit irgendwelchen Gedanken beschäftigt. Sonst war er ja nie ernst gewesen, sondern hatte immer gelacht, selbst dann, wenn er sich ärgerte – und er ärgerte sich oft. Auch jetzt war er sichtlich geärgert, sprach grob, nachlässig und rücksichtslos, voll Hast und Ungeduld. Er versicherte, daß er die ganze Zeit mit Kopfschmerzen und Übelkeit bei Gaganoff gelegen hätte, zu dem er, wie er sagte, schon am frühen Morgen gegangen wäre: an ein Erscheinen auf der Matinee sei auch nicht einmal zu denken gewesen.
Jetzt drehte sich der ganze Streit hauptsächlich darum, ob die andere Hälfte des Festes, der Ball am Abend, stattfinden sollte oder nicht?
Julija Michailowna wollte unter keiner Bedingung auf ihm erscheinen – oder vielmehr, sie wollte mit aller Gewalt darum gebeten werden, und zwar gerade von Pjotr Stepanowitsch. Sie hörte noch immer auf ihn wie auf ein Orakel, und da es durchaus in seinen dunklen Plänen lag, daß der Ball heute noch stattfand und Julija Michailowna auf ihm erschien, so bat er denn auch.
„Warum weinen Sie denn? Sie müssen natürlich wieder eine Szene machen! Wir aber müssen jetzt zu einem Entschluß kommen. Was am Morgen verdorben wurde, machen wir am Abend wieder gut! Auch der Fürst ist ganz meiner Meinung. Tja, wenn der Fürst nicht gewesen wäre, womit würde das wohl geendet haben!“
Daß dies auch die Meinung des Fürsten sei, war nun freilich nicht ganz richtig. Dieser war nämlich zunächst nur dafür, daß der Ball stattfand, nicht aber dafür, daß Julija Michailowna auf ihm erschien. Schließlich schien er aber auch dagegen nichts mehr einzuwenden zu haben.
Mich setzte nun vor allem die unglaubliche Frechheit Pjotr Stepanowitschs in Erstaunen. Daß an den gewöhnlichen Klatschgeschichten, die über die Art seines Verhältnisses zu Julija Michailowna umliefen, kein wahres Wort war, wußte ich. Er beherrschte diese Frau einfach dadurch, daß er auf alle ihre gesellschaftlichen Träume und ehrgeizigen Pläne, auf ihre Absicht, im Gouvernement eine besondere Rolle zu spielen und selbst den Petersburgern zu imponieren, in geschickter Weise einging und ihr mit den gröbsten Schmeicheleien um den Mund redete. Aber erstaunlich war es doch, wie rasch er sich jetzt wieder bei ihr in Gunst zu setzen wußte.
Als sie mich eintreten sah, rief sie mit blitzenden Augen:
„Da! fragen Sie ihn, er ist die ganze Zeit nicht von mir gewichen, ganz wie der Fürst! Und Sie, – erklären Sie ihm doch bitte, daß dieser ganze Skandal nichts als eine Verschwörung gegen mich und Andrei Antonowitsch war! Oh, die hatten sich alle verschworen! Sie hatten einen gemeinsamen Plan! Es war alles im voraus darauf abgesehen!“ ...
„Sie irren sich, wie immer! Stets ein Poem im Kopf! Ich bin übrigens froh, den Herrn ...“ er tat, als habe er meinen Namen vergessen ... „er wird uns seine Meinung sagen.“
„Ich bin ganz der Ansicht Julija Michailownas,“ beeilte ich mich zu erklären. „Daß eine Verabredung vorlag, das sah man doch nur zu deutlich. Ich bringe Ihnen im übrigen hier meine Bänder, Julija Michailowna. Ob der Ball zustande kommt oder nicht, das ist natürlich nicht meine Sache. Doch meine Rolle als Anordner ist zu Ende. Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht gegen meine Überzeugung handeln und – gegen allen gesunden Menschenverstand.“
„Hören Sie, hören Sie!“ rief sie und schlug die Hände zusammen.
„Ich höre ja schon ... Aber was ich noch sagen wollte,“ wandte sich Pjotr Stepanowitsch zu mir, „ich bin jetzt überzeugt, daß alle irgend etwas gegessen haben müssen, wovon sie krank geworden sind. Meiner Meinung nach ist nichts geschehen, nichts, was nicht auch früher schon bei solchen Festen fast immer geschehen ist. Was für eine Verabredung sollte denn das gewesen sein? Es sind da ein paar scheußliche Dummheiten passiert, aber was hat das mit einer Verschwörung zu tun? Das war nicht gegen Julija Michailowna persönlich, sondern höchstens gegen ihre Günstlinge und Schützlinge gerichtet! Julija Michailowna! Was habe ich Ihnen den ganzen Monat ununterbrochen vorgehalten? Wovor habe ich Sie gewarnt? Nun, sagen Sie mir doch: wozu, wozu brauchten Sie dieses ganze Volk da? – Wozu mit solch einem Pack sich abgeben? Warum und wozu war das nötig?“
„Wann haben Sie mich gewarnt? Im Gegenteil, Sie begünstigten das, Sie verlangten sogar ... Sie selbst haben mir allerhand sonderbare Menschen zugeführt!“
„Im Gegenteil, ich habe mich mit Ihnen wegen dieser Leute herumgestritten, aber nicht sie begünstigt und eingeführt! Jetzt soll ich es gewesen sein, der dieses Pack hier eingeführt hat, womöglich noch in letzter Zeit, als sie schon zu Dutzenden herbeiströmten, um diese ‚literarische Quadrille‘ mitzumachen! Ich könnte wetten, daß es gerade diese Mimen gewesen sind, die alles mögliche Volk ohne Billetts eingeführt haben.“
„Das dürfte stimmen!“ bemerkte ich.
„Sehen Sie, schon müssen Sie mir recht geben. Und erinnern Sie sich doch nur, welch ein Ton hier in der letzten Zeit eingerissen war! Das war ja schon die richtige Gemeinheit, das war ja ein Skandal und Lärm, daß einem die Ohren davon weh taten! Und wer begünstigte das? Wer deckte das alles mit seiner Autorität? Wer hat hier alle irre gemacht? Wer hat hier alle Spießer erbittert? Sind doch in Ihrem Album alle hiesigen Familiengeheimnisse karikiert! Und haben nicht Sie, gerade Sie alle unsere Stegreifdichter und Karikaturisten verwöhnt, haben Sie sich nicht sogar von einem Lämschin die Hand küssen lassen? Und hat nicht in Ihrer Gegenwart der Seminarist einen Staatsrat beschimpfen dürfen und der Tochter des Staatsrats mit seinen Schmierstiefeln das Kleid abgetreten? Warum wundern Sie sich nun noch, daß das Publikum Ihnen jetzt nicht gerade freundlich gesinnt ist?“
„Aber das haben doch alles Sie selbst ... O Gott!“
„Ich? ich habe Sie immer nur gewarnt! Worüber hätten wir uns denn sonst die ganze Zeit gestritten?“
„Aber Sie lügen mir ja ins Gesicht!“
„Nun ja, das kostet Ihnen ja weiter nichts, so was zu sagen. Sie haben jetzt ein Opfer nötig, an dem Sie Ihren Ärger auslassen können – da komme ich Ihnen gerade recht. Ich werde mich lieber an Sie wenden, Herr ...“ Er konnte sich offenbar noch immer nicht auf meinen Namen besinnen. „Zählen wir’s doch an den Fingern ab: ich behaupte, daß außer der Liputingeschichte keine einzige Verabredung sich nachweisen läßt, kei–ne ein–zige! Das werde ich Ihnen sogleich beweisen; aber nehmen wir zuerst Liputin. Er trat mit dem Gedicht des Dummkopfs Lebädkin auf – schön! oder vielmehr, das war nicht schön. Aber was soll denn das für eine ‚Verschwörung‘ sein? Er kam sich einfach geistreich vor! Im Ernst: geistreich! Er wollte einen Witz machen, uns unterhalten, erheitern, – verlassen Sie sich darauf! ... und nicht nur uns, sondern vor allen anderen die Protektrice Julija Michailowna erheitern! Und das ist alles! Sie glaubens nicht? Aber war denn das nicht ein Witz in genau demselben Tone, wie er hier schon den ganzen letzten Monat herrschte? Und wenn Sie wollen, daß ich alles sage: bei Gott, unter anderen Umständen wäre er vielleicht auch glatt durchgegangen! Der Scherz war meinethalben roh, na, sagen wir, war vielleicht ein starkes Stück, aber an sich doch schließlich witzig.“
„Wie! Sie halten diese elende Handlungsweise Liputins auch noch für geistreich?“ fragte Julija Michailowna empört, „eine solche Dummheit, eine solche Taktlosigkeit, eine solche Niederträchtigkeit und Gemeinheit, dieser Anschlag! Ja, dann gibt es keine andere Erklärung: dann sind Sie selbst mit jenen im Bunde!“
„Na, natürlich doch! Ich saß ja hinter den Kulissen, habe von dort aus die ganze Maschine dirigiert. – Wenn ich hinter einer Verschwörung gesteckt hätte, dann, glauben Sie mir, dann wäre das nicht bei Liputin allein geblieben! Folglich steckte ich wohl auch, Ihrer Meinung nach, hinter meinem Papachen? damit er absichtlich einen solchen Skandal heraufbeschwört? Ja, sagen Sie doch: wer ist nun daran schuld, daß man auch Papachen zum Lesen aufforderte? Wer hat Ihnen noch gestern davon abgeraten, noch gestern, gestern!!“
„Oh, hier il avait tant d’esprit,[185] und ich rechnete so auf ihn! Und dann, er hat doch Manieren! Ich dachte: er und Karmasinoff ... und nun statt dessen!“ ...
„Tja, und nun statt dessen! Aber ungeachtet des tant d’esprit, hat Papachen alles verpfuscht. Doch da ich das voraussah, so hätte ich, als Mitglied der überzeugend nachweisbaren Verschwörung gegen Ihr Fest, Ihnen doch wohl nicht abgeraten, diesen Ziegenbock zum Gärtner zu machen? Ist’s nicht so? Indessen habe ich Ihnen tatsächlich abgeraten, habe noch gestern abgeraten, und zwar, weil ich schon so ’ne Vorahnung hatte, wie das enden würde. Natürlich habe ich nicht alle Details vorausgesehen, das wäre ja auch gar nicht möglich gewesen: er hat doch sicher selber nicht gewußt, womit er im nächsten Augenblick herausplatzen wird. So ’n nervöser Alter ist doch überhaupt kein Mensch mehr! Aber man kann da noch manches retten: schicken Sie gleich morgen, zur Genugtuung des Publikums, zwei Ärzte zu ihm, die sich nach seinem Gesundheitszustande erkundigen, oder schon heute, und dann so – na, auf administrativem Wege in eine Kaltwasserheilanstalt mit ihm. Wenigstens würden dann alle lachen und einsehen, daß man keine Ursache hat, sich gekränkt zu fühlen. Ich kann ja noch heute auf dem Ball unter der Hand ein paar diesbezügliche Erklärungen abgeben, da ich ja der Sohn bin. Eine andere Sache ist es mit Karmasinoff, der hat sich schön als grüner Esel entpuppt und seinen Gallimathias eine ganze Stunde lang geleiert, – na, mit dem steckte ich Ihrer Ansicht nach doch zweifellos unter einer Decke! Den habe ich wohl ausdrücklich gebeten, mitzutun, um Julija Michailowna zu schaden!“
„Oh, Karmasinoff, quelle honte![186] Ich verging, ich verging vor Schande für unser Publikum!“
„Na, ich wäre nicht vergangen, sondern hätte lieber ihm das Gehen beigebracht. Das Publikum war durchaus im Recht. Aber wer ist nun in diesem Fall wieder der Schuldige? Habe etwa ich Ihnen auch diesen aufgebunden? Habe ich bei seiner Vergötterung mitgeholfen? Doch, zum Teufel mit ihm! Aber der dritte, der Maniak, der Politiker! Das war schon eine andere Nummer! An dem haben sich schon alle versehen, aber nicht ich allein etwa!“
„Ach, reden Sie nicht davon, das ist schrecklich, schrecklich! Daran bin ich, ich allein schuld!“
„Tja, freilich, aber nun muß ich Sie doch verteidigen. So etwas kann niemand voraussehen, – und wer, zum Teufel, kennt sich denn heute unter diesen ‚Aufrichtigen‘ überhaupt noch aus? Vor so einem ist man selbst in Petersburg nicht sicher. Er war Ihnen doch empfohlen! und wie noch! Sehen Sie nun nicht ein, daß Sie sogar verpflichtet sind, auf dem Ball zu erscheinen? Man weiß doch, daß Sie es waren, die ihn auf die Tribüne brachte: darum müssen Sie nun öffentlich zu erkennen geben, daß Sie sich mit ihm nicht solidarisch fühlen, daß der Kerl schon in den Händen der Polizei ist und daß man Sie auf unerklärliche Weise betrogen hat. Sie müssen es mit Unwillen kundgeben, daß Sie das Opfer eines Verrückten gewesen sind. Denn daß der Kerl ein Verrückter ist, sieht doch ein jeder! Ich kann diese Beißenden nicht ausstehen. Freilich rede ich selber manchmal noch schärfer, aber ich tu’s doch nicht von der Tribüne aus! Und da reden noch die Leute wie absichtlich gerade jetzt von dem Senator!“
„Von was für einem Senator? Wer redet ...?“
„Tja, was weiß ich! Aber wie, haben Sie denn nichts von einem Senator gehört?“
„Einem Senator? Nein!“
„Ja, sehen Sie, man erzählt sich, daß irgendein Senator hierher geschickt werde, und daß man Sie von Petersburg aus absetzen will. Ich habe es von vielen gehört.“
„Ich allerdings auch!“ bestätigte ich.
„Wer hat das gesagt?“ fuhr Julija Michailowna auf und das Blut schoß ihr ins Gesicht.
„Wer das zuerst gesagt hat? ... Wie soll ich das wissen. Die ganze Stadt redet so. Besonders gestern sprach man davon. Alle tun so ernst dabei, obgleich man gar nicht recht klug daraus werden kann. Natürlich – die bißchen Klügeren und Kompetenteren, die reden ja nicht davon, aber auch von diesen hören manche aufmerksam zu.“
„Welch eine Niederträchtigkeit! Und ... welch eine Dummheit!“
„Na, wie gesagt, und schon deshalb müssen Sie erscheinen, um diesen Dummköpfen ...“
„Ich sehe ein, ja, ich fühle es jetzt selbst, daß ich verpflichtet bin ... aber wie, wenn mich eine neue Schande erwartet? Und wenn der Ball am Ende gar nicht zustande kommt? Keiner wird kommen, keiner, keiner! Sie werden sehen!“
„Ach, da sollte man die Menschen nicht kennen! Wo blieben denn da die Toiletten? Sie als Frau sollten sich das doch selbst sagen! Sonderbare Menschenkenntnis!“
„Die Adelsmarschallin wird bestimmt nicht erscheinen!“
„Zum ... was ist da denn nun eigentlich passiert! Warum soll sie denn nicht erscheinen?“ rief er plötzlich ganz wütend vor Ungeduld.
„Die Schmach, die Blamage! Ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß nur, daß es mir nach alledem unmöglich ist, hinzugehen!“
„So! Warum denn nicht? Ja, woran sind Sie denn eigentlich schuld? Ist denn nicht das Publikum an allem schuld? Wo waren denn die Stadtältesten, die Familienväter? – deren Pflicht wäre es doch gewesen, die Taugenichtse zurückzuhalten. In keiner Gesellschaft und überhaupt nirgendwo kann die Polizei allein für alles einstehen. Bei uns verlangt aber jeder, der eintritt, daß hinter ihm ein Polizist stehe und ihn beschütze. Niemand begreift hier, daß jede Gesellschaft sich selbst beschützen muß. Aber was machen bei uns die Herren Honoratioren samt Frauen und Töchtern in solchen Fällen? Sie schweigen und blähen sich! spielen die Gekränkten! Nicht einmal diese Bengel von Störenfrieden im Zaum zu halten verstehen sie, selbst dazu reicht ihr gesellschaftlicher Instinkt nicht aus!“
„Ach, das ist ja nur zu wahr! Sie schweigen, blähen sich und ... sehen sich um.“
„Und wenn das wahr ist, so muß man das auch so sagen, daß alle es hören, furchtlos und streng! Sie müssen auf dem Ball erscheinen, und in den Zeitungen muß es stehen, daß Sie erschienen sind! Ich werde die Sache selbst in die Hand nehmen und Ihnen alles arrangieren. Wir bringen den Bericht in die Petersburger ‚Stimme‘ und in die ‚Börsennachrichten‘. Versteht sich: mehr Aufmerksamkeit, das Büfett strenger beaufsichtigen, den Fürsten bitten, den Herrn da bitten! Und dann müssen Sie erscheinen, offen vor aller Welt, am Arme Andrei Antonowitschs. Wie geht es ihm übrigens?“
„Oh, wie ungerecht, wie falsch, wie beleidigend haben Sie immer über diesen engelsguten Menschen geurteilt!“ rief Julija Michailowna plötzlich, mit ganz überraschender Glut, fast unter Tränen aus und drückte ihr Taschentuch an die Augen.
Diese Wendung kam für Pjotr Stepanowitsch so unerwartet, daß er im Augenblick nicht wußte, was er sagen sollte.
„Aber ich bitte Sie, ich ... ja, was denn! ... ich habe doch immer ...“
„Niemals, niemals, niemals haben Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen!“
„Eine Frau kann man doch nie auskennen!“ brummte Pjotr Stepanowitsch mit einem eigentümlichen Spottlächeln.
„Das ist der gerechteste, der feinfühlendste Mensch! Der beste, der gütigste von allen!“
„Aber ... ich bitte Sie, ich ... wieso, ich habe doch immer – namentlich in betreff der Güte ... habe ich ihm immer ...“
„Nein, niemals! Aber lassen wir das. Ich bin schlecht für ihn eingetreten. Und vorhin hat diese Jesuitin, die Adelsmarschallin, auch einige sarkastische Bemerkungen wegen gestern fallen lassen.“
„Oh, der ist es jetzt nicht mehr ums Gestrige zu tun, die hat von heute genug! Aber machte es Ihnen denn wirklich etwas aus, wenn sie nicht auf den Ball käme? Denn natürlich wird sie nicht kommen, nachdem sie selbst in einen solchen Skandal verwickelt worden ist! Möglich, daß sie nicht schuld ist, aber die Reputation ist doch hin: schmutzige Hände!“
„Was heißt das? ... ich verstehe nicht, – warum schmutzige Hände?“ Julija Michailowna sah ihn verständnislos an.
„Das heißt, ich will ja nichts behaupten, aber die ganze Stadt läutet es schon aus, daß sie die Geschichte begünstigt habe.“
„Was? Aber was denn begünstigt?“
„Ja, wissen Sie es denn noch nicht?“ rief er mit vorzüglich gespieltem Erstaunen. „Stawrogin und Lisaweta Nicolajewna!“ ...
„Wie? Was?“ riefen wir alle.
„Ja, wissen Sie denn wirklich noch nichts? Na, hören Sie mal! Aber es haben sich doch soeben Tragiromane abgespielt! – Es hat Lisaweta Nicolajewna gefallen, sich unmittelbar aus der Equipage der Adelsmarschallin in die Equipage Stawrogins hinüberzusetzen und ‚mit diesem letzteren‘ nach Skworeschniki zu entschlüpfen, mitten am hellichten Tage. Erst vor einer Stunde, noch nicht einmal einer Stunde.“
Wir erstarrten. Natürlich stürzten wir uns dann ins Ausfragen, doch wunderlicherweise konnte er, obschon er selbst „zufällig“ Augenzeuge gewesen sein wollte, von den näheren Umständen nichts Genaues erzählen. Geschehen war es angeblich folgendermaßen: Als die Adelsmarschallin nach der Matinee Lisa und Mawrikij Nicolajewitsch in ihrer Equipage heimbrachte und der Wagen vor dem Hause von Lisas Mutter (deren Füße immer noch krank waren) hielt, da wartete nicht weit, ungefähr fünfundzwanzig Schritt von der Vorfahrt, etwas abseits, eine andere Equipage. Und kaum war Lisa vor der Treppe ausgestiegen, – da sei sie sofort zu jener Equipage geeilt; der Schlag habe sich geöffnet, sei zugeklappt; Lisa habe Mawrikij Nicolajewitsch nur noch zugerufen: „Schonen Sie mich!“ – und die Equipage sei in voller Karriere davongefahren nach Skworeschniki. Auf unsere hastigen Fragen: War das eine Verabredung? Wer saß in jener Equipage? – antwortete Pjotr Stepanowitsch, er wisse nichts; zweifellos sei das abgekartet gewesen, doch Stawrogin habe er in der Equipage nicht gesehen; vielleicht saß nur der Kammerdiener im Wagen, der alte Alexei Jegorytsch. Auf die Frage: „Wie kam es denn, daß gerade Sie zugegen waren? Und woher wissen Sie, daß die Equipage nach Skworeschniki gefahren ist?“ – antwortete er, daß er zugegen gewesen sei, weil er gerade vorüberging, und als er da Lisa erblickte, sei er sogar zu jener Equipage geeilt (und dennoch wollte er nicht gesehen haben, wer in der Equipage saß, ein so neugieriger Mensch wie er!), Mawrikij Nicolajewitsch aber sei ihr nicht nur nicht nachgejagt mit dem anderen Gefährt, sondern habe nicht einmal versucht, Lisa zurückzuhalten, ja er habe noch mit beiden Händen die Adelsmarschallin zurückgehalten, die mit lauter Stimme geschrien habe: „Sie fährt zu Stawrogin! zu Stawrogin!“ Da aber riß mir die Geduld und ich schrie, toll vor Wut, Pjotr Stepanowitsch ins Gesicht:
„Das hast du, Schurke, alles veranstaltet! Nur dazu hast du auch den ganzen Vormittag gebraucht! Du hast Stawrogin geholfen, du hast die Equipage hingebracht, du hast sie aufgenommen, den Schlag geöffnet und zugeklappt ... du, du, du! ... Julija Michailowna, das ist Ihr Feind, er wird auch Sie ins Verderben bringen! Nehmen Sie sich in acht vor ihm!“
Und ich stürzte Hals über Kopf hinaus.
Noch heute begreife ich nicht und wundere mich, wie ich ihm das damals so zuschreien konnte. Aber ich hatte den Zusammenhang erraten: es war fast alles tatsächlich so geschehen, wie ich es ihm dort ins Gesicht schrie, doch das stellte sich erst später heraus. Das Entscheidende war wohl die gar zu offenkundige Unnatürlichkeit der Art, wie er die Nachricht mitteilte. Er hatte sie nicht sofort erzählt, als erste und außergewöhnliche Neuigkeit, sondern hatte getan, als wüßten wir sie bereits, als hätten wir sie schon von anderen hören können, – was doch in dieser kurzen Zeit ganz unmöglich war. Und selbst wenn uns diese Kunde schon zu Ohren gekommen wäre, so hätten wir doch nicht so lange darüber geschwiegen, bis er davon anfing. Auch konnte er, gleichfalls wegen der Kürze der Zeit, unmöglich schon gehört haben, daß „die ganze Stadt“ der Adelsmarschallin eine Schuld daran zuschrieb oder sonst etwas „ausläutete“. Zudem hatte er, als er uns Auskunft gab, etwa zweimal ganz eigentümlich, gewissermaßen gemein und leichtfertig, gelächelt, wahrscheinlich in dem Glauben, daß er uns Dummköpfe schon vollkommen überzeugt habe. Doch jetzt war es mir nicht mehr um ihn und seine Entlarvung zu tun; da ich ihm die wichtigste Tatsache doch glaubte, lief ich geradezu außer mir von Julija Michailowna weg. Diese Katastrophe traf mich mitten ins Herz. Ich hätte weinen mögen vor Schmerz, ja vielleicht weinte ich auch wirklich. Ich wußte nicht und konnte nicht überlegen, was jetzt zu tun wäre. So eilte ich denn zunächst zu Stepan Trophimowitsch, aber der ärgerliche Mensch machte wieder nicht auf. Nastassja versicherte ehrfurchtsvoll flüsternd, daß er sich schlafen gelegt habe, doch ich glaubte ihr das nicht. Im Hause Lisas erfuhr ich einiges von den Dienstboten; sie bestätigten die Flucht, wußten aber selbst nichts Näheres. Im Hause herrschte große Unruhe; die kranke gnädige Frau hatte einen Ohnmachtsanfall nach dem anderen und Mawrikij Nicolajewitsch war bei ihr. Es erschien mir unmöglich, Mawrikij Nicolajewitsch herausbitten zu lassen. Bezüglich Pjotr Stepanowitschs sagte man mir auf meine Frage, daß er in den letzten Tagen allerdings sehr oft ins Haus gekommen sei, manchmal sogar zweimal am Tage. Die Dienstboten waren traurig und sprachen von Lisa mit einer gewissen ganz besonderen Ehrerbietung; sie wurde von ihnen geliebt. Daß sie verloren, rettungslos verloren war, – daran zweifelte ich nicht, aber die psychologische Seite der Tat konnte ich entschieden nicht begreifen, besonders nicht nach der Szene zwischen Lisa und Stawrogin am vergangenen Tage bei Julija Michailowna. Mich in der Stadt bei schadenfrohen Bekannten zu erkundigen, unter denen die Nachricht sich jetzt natürlich schon verbreitet hatte, erschien mir widerlich, ja und für Lisa auch erniedrigend. Doch sonderbar war, daß ich zu Darja Pawlowna ging, wo ich übrigens nicht empfangen wurde (im Stawroginschen Hause wurde seit dem vergangenen Tage niemand empfangen); und ich weiß auch nicht, was ich ihr hätte sagen mögen und wozu ich dorthin eilte. Von dort begab ich mich zu ihrem Bruder. Schatoff hörte mich finster und schweigend an. Erwähnen muß ich, daß ich ihn in einer so düsteren Stimmung antraf, wie noch nie zuvor; er war wie ganz in Gedanken vertieft und hörte mich an, als müßte er sich dazu überwinden. Er sagte so gut wie nichts und begann in seiner Dachstube auf und ab zu gehen, aus einer Ecke in die andere, wobei er lauter als sonst mit den Stiefeln auftrat. Als ich die Treppe bereits hinuntergegangen war, rief er mir plötzlich nach, ich solle doch zu Liputin gehen: „Dort werden Sie alles erfahren.“ Zu Liputin ging ich nicht, doch, nachdem ich schon weit gegangen war, kehrte ich wieder um und ging zu Schatoff zurück, und nachdem ich die Tür halb aufgemacht, fragte ich lakonisch und ohne alle Erklärungen: ob er nicht heute noch zu Marja Timofejewna gehen könnte? Als Antwort darauf schimpfte Schatoff und ich ging weg. Ich füge hier gleich hinzu, um es nicht zu vergessen, daß er noch an demselben Abend tatsächlich nach jener äußersten Vorstadt zu Marja Timofejewna gegangen ist, die er seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Er fand sie bei bester Gesundheit und in heiterer Stimmung, Lebädkin dagegen in schwerer Betrunkenheit schlafend auf dem Diwan im ersten Zimmer. Schatoff war dort um neun Uhr abends. Das sagte er mir bereits am folgenden Tage, als wir uns in der Eile auf der Straße begegneten. Gegen zehn Uhr abends aber entschloß ich mich doch noch, auf den Ball zu gehen, freilich nicht mehr als „Festordner“ (mein Band war ja auch bei Julija Michailowna geblieben), sondern nur aus quälender Neugier: ich wollte hören (ohne zu fragen), wie man im allgemeinen über alle diese Vorfälle sprach. Und dann wollte ich auch Julija Michailowna sehen, wenn auch nur von ferne. Ich machte mir Vorwürfe und bereute es sehr, daß ich vorhin so von ihr weggelaufen war.
Diese ganze Nacht mit ihren fast absurden Ereignissen und mit ihrem entsetzlichen „Ausgang“ gegen Morgen kommt mir noch immer wie ein gräßlicher Traum oder Albdruck vor und ist – wenigstens für mich – der schwerste Teil meiner Chronik. Ich kam zwar etwas spät auf den Ball, doch immerhin noch rechtzeitig, um sein Ende mitzuerleben, – so früh war es ihm bestimmt, sein Ende zu finden. Die Uhr ging schon auf elf, als ich an der Vorfahrt des Hauses der Adelsmarschallin anlangte. Derselbe weiße Saal, in dem die literarischen Vorträge stattgefunden hatten, war bereits, trotz der kurzen Zwischenzeit, ausgeräumt und in den Haupttanzsaal, wie man annahm, „für die ganze Stadt“, verwandelt worden. Aber wie schlimm meine Befürchtungen, nach diesem Verlauf der Matinee, für den Ball auch waren, eine solche Wirklichkeit hatte ich doch nicht vorausgesehen: von der höheren Gesellschaft hatte sich auch nicht eine einzige Familie eingefunden; selbst die Beamten von auch nur einiger Bedeutung fehlten alle; das aber war doch schon ein äußerst starkes Symptom. Was nun die Damen und jungen Mädchen betrifft, so erwiesen sich Pjotr Stepanowitschs Berechnungen (jetzt war seine Hinterlist schon offenkundig) als im höchsten Grade falsch: es waren nur äußerst wenige erschienen; auf vier Herren kam vielleicht eine Dame, und was waren das für Damen! „Irgendwelche“ Frauen von Oberoffizieren gewöhnlicher Linienregimenter, von Postbeamten und anderen beamteten kleinen Leuten, drei Frauen von Ärzten mit ihren Töchtern, zwei bis drei Gutsbesitzerinnen (von den ärmeren dieses Standes), die sieben Töchter und die eine Nichte jenes Sekretärs, den ich gelegentlich schon erwähnt habe, Kaufmannsfrauen ... War das die Gesellschaft, die Julija Michailowna vorzufinden erwartet hatte? Selbst von den Kaufleuten war fast die Hälfte fern geblieben. Was nun die Männer anbelangt, so bildeten sie, trotz der geschlossenen Abwesenheit unserer ganzen Notabilität, dennoch eine dichte Masse, aber diese Masse machte einen zweideutigen, Mißtrauen erweckenden Eindruck. Natürlich gab es da auch ein paar überaus stille und ehrenwerte Offiziere mit ihren Frauen, ein paar gehorsamste Familienväter, wie z. B. jener selbe Sekretär und Vater seiner sieben Töchter. Doch alle diese stillen bescheideneren Leute waren sozusagen nur „in Ermangelung eines anderen Auswegs“ gekommen, wie sich einer dieser Herren buchstäblich ausdrückte. Andererseits aber hatte sich die Menge der kecken Persönlichkeiten, im Vergleich zum Vormittage, anscheinend noch vermehrt und desgleichen die Anzahl solcher, die offenbar ohne Eintrittskarten hereingelassen waren, – diesen Verdacht hatten ich und Pjotr Stepanowitsch bereits am Nachmittage ausgesprochen. Vorläufig saßen sie alle noch im Büfettraum, und zwar begaben sie sich, wenn sie erschienen, sofort geradenwegs dorthin, wie zu einem verabredeten Sammelplatz. Wenigstens hatte ich diesen Eindruck. Das Büfett befand sich ganz am Ende der Zimmerreihe in einem geräumigen Saal, wo Prochorytsch sich mit sämtlichen Verlockungen der Klubküche etabliert und eine verführerische Ausstellung aller Imbisse, Liköre und Getränke aufgebaut hatte. Hier fielen mir Gestalten auf, die fast in zerrissenen Röcken, wenigstens in höchst zweifelhaften, gar zu wenig ballmäßigen Anzügen erschienen waren; dazu waren sie augenscheinlich nur mit größter Mühe und selbstredend nur für kurze Zeit ernüchtert, Leute, die man Gott weiß wo aufgetrieben hatte, jedenfalls nicht Einheimische, sondern Hergereiste aus anderen Städten. Es war mir natürlich bekannt, daß vom Komitee nach Julija Michailownas Idee beschlossen worden war, den Ball nach durchaus demokratischen Grundsätzen zu veranstalten, „ohne selbst Kleinbürgern den Zutritt zu verweigern, falls es geschehen sollte, daß jemand dieses Standes eine Eintrittskarte erwirbt“. Diese Worte hatte sie in ihrem Komitee dreist aussprechen können, denn sie durfte überzeugt sein, daß es von den ausnahmslos bettelarmen Kleinbürgern unserer Stadt auch nicht einem in den Sinn kommen würde, für drei Rubel eine Eintrittskarte zu lösen. Nichtsdestoweniger bezweifelte ich, daß man diese finsteren Leute in den fast zerrissenen Röcken hereinlassen konnte, selbst wenn das Komitee noch so demokratisch gesinnt war. Aber wer hatte sie denn jetzt hereingelassen und zu welchem Zweck schließlich? Liputin und Lämschin waren ihres Amtes als Festordner bereits enthoben (was sie jedoch nicht hinderte, auf dem Ball anwesend zu sein, zumal sie auch zu den in der „Quadrille der Literatur“ Mitwirkenden gehörten); doch an die Stelle Liputins war jetzt, zu meiner Verwunderung, jener selbe Seminarist getreten, der durch seinen Zusammenstoß mit Stepan Trophimowitsch mehr als alles andere den „Skandal der Matinee“ heraufbeschworen hatte, und Lämschin wurde gar ersetzt durch – Pjotr Stepanowitsch in eigener Person. Was konnte man in dem Falle noch erwarten?
Ich versuchte, von den Gesprächen einiges aufzufangen. Manche Ansichten überraschten durch ihre Ungereimtheit. So wurde z. B. in einer Gruppe behauptet, diese ganze Geschichte mit Stawrogin und Lisa sei von Julija Michailowna arrangiert worden und sie habe von Stawrogin Geld dafür angenommen. Man nannte sogar die Summe. Man behauptete, daß sogar das ganze Fest von ihr zu diesem Zweck veranstaltet worden sei; eben deshalb sei auch die halbe Stadt nicht gekommen, nachdem man erfahren, um was es sich handelte; Lembke selbst aber sei dadurch so erschüttert worden, daß diese Erschütterung seinen Verstand „zerrüttet“ habe und nun „führe“ sie ihn als Verrückten umher. – Hierzu gab es viel Gelächter, sowohl lautes, offenes, wie heiseres, gemeines und lautlos verschlagenes, hinter dem sich eigene Gedanken bargen. Auch der Ball wurde von allen fürchterlich kritisiert und auf Julija Michailowna wurde schon ohne jede Rücksicht geschimpft. Es war das überhaupt ein merkwürdig ungeordnetes, bruchstückhaftes, betrunkenes und ruheloses Schwatzen, so daß es schwer hielt, sich darauf einen Vers zu machen oder etwas Bestimmtes daraus zu folgern. Doch in demselben Büfettsaal hatten sich auch viele harmlos lustige Leute niedergelassen, sogar einzelne Damen von der Sorte, die man mit nichts in Erstaunen setzen oder einschüchtern kann, äußerst liebenswürdige und lustige Geschöpfe, meist jene erwähnten Offiziersfrauen mit ihren Männern. Sie hatten sich in Gruppen an mehreren Tischchen niedergelassen und tranken fröhlich Tee. Der Büfettsaal wurde zur warmen Herberge nahezu für die Hälfte des erschienenen Publikums. Und dieses ganze hier versammelte Publikum mußte doch bald, wenn die Quadrille der Literatur begann, voll Neugier auf einmal in den Tanzsaal fluten. Es war geradezu unheimlich, sich das auch nur vorzustellen.
Inzwischen hatte man im weißen Saale, dank der Mitwirkung des jungen Fürsten, drei magere Quadrillen zustande gebracht. Die jungen Töchter tanzten also und die Eltern sahen zu und freuten sich. Doch selbst von diesen ehrenwerten Familienhäuptern begannen schon viele heimlich zu überlegen, wie sie sich, nachdem die Töchter ihr Vergnügen gehabt, zeitiger entfernen könnten, und nicht erst dann, „wenn’s anfängt“. Daß es aber unfehlbar wieder „anfangen“ werde, davon waren entschieden alle überzeugt.
Julija Michailownas Gemütszustand zu schildern, dazu wäre ich wohl kaum imstande. Ich habe dort nicht mit ihr gesprochen, obschon ich ziemlich in ihrer Nähe war. Meinen Gruß erwiderte sie nicht, da sie ihn nicht bemerkte (sie bemerkte ihn tatsächlich nicht). In ihrem Gesicht lag etwas Krankhaftes, ihr Blick war hochmütig und voll Verachtung, aber unstät und erregt. Sie überwand sich mit sichtlicher Qual, – doch wozu eigentlich und für wen? Sie hätte unbedingt den Ball verlassen und vor allen Dingen ihren Gatten heimbringen sollen, sie aber blieb! Dabei konnte man es schon ihrem Gesicht ansehen, daß die Augen ihr nun „endlich aufgegangen“ waren und daß sie auf nichts mehr hoffte. Sie rief auch nicht ein einziges Mal Pjotr Stepanowitsch zu sich (der ging ihr auch, glaube ich, schon selbst aus dem Wege; ich sah ihn im Büfettraum, er war übertrieben lustig). Aber sie blieb doch auf dem Ball und ließ ihren Mann nicht auf einen Augenblick von ihrer Seite. Oh, sie hätte noch vorhin am Nachmittage jede Anspielung auf seinen Gesundheitszustand mit aufrichtiger Empörung zurückgewiesen. Jetzt aber mußten ihr auch in der Beziehung die Augen endlich aufgegangen sein. Mir wenigstens war es schon auf den ersten Blick klar, daß sein Zustand sich im Vergleich zum Vormittage verschlimmert hatte. Er machte den Eindruck, als sei er sich überhaupt nicht dessen bewußt, wo er sich befand. Hin und wieder richtete er seinen Blick plötzlich mit ganz unerwarteter Strenge auf den einen oder anderen, zweimal z. B. auch auf mich. Einmal begann er zu sprechen, begann laut und wichtig, sprach aber den Satz nicht zu Ende, wodurch er einen bescheidenen alten Beamten, der zufällig in seiner Nähe stand, geradezu erschreckte. Doch selbst dieser Teil des Publikums, das im weißen Saale anwesend war, selbst diese Bescheidenen und Scheuen gingen finster und ängstlich Julija Michailowna aus dem Wege, obschon sie gleichzeitig äußerst sonderbare Blicke auf ihren Gemahl warfen, Blicke, deren Unverwandtheit und Offenheit mit der sonstigen Schüchternheit dieser Leute gar zu wenig harmonierte.
„Sehen Sie, gerade dieser Zug war es, der mich plötzlich durchbohrte, und ich begann endlich zu erraten, wie es um Andrei Antonowitsch stand,“ sagte Julija Michailowna später einmal zu mir.
Ja, wieder war sie die Schuldige. Wahrscheinlich hatte sie sich am Nachmittage, als nach meiner Flucht aus ihrem Hause auf Pjotr Stepanowitschs Zureden hin beschlossen worden war, daß der Ball stattfinden und sie auf ihm erscheinen solle, – wahrscheinlich hatte sie sich dann wieder in das Kabinett ihres Gatten begeben, zu ihrem Andrei Antonowitsch, den, wie sie meinte, nur der Skandal der Matinee „erschüttert“ hatte, und dort wird sie wohl wieder alle ihre Verführungskünste angewandt haben, um ihn zum Mitgehen zu bewegen. Wie groß mußte demnach ihre Qual jetzt sein! Und dennoch blieb sie auf dem Ball! War es nun ihr Stolz, der sie trotz aller Pein auf ihrem Platz auszuharren zwang, oder hatte sie bereits den Kopf verloren – ich weiß es nicht. Jedenfalls versuchte sie in geradezu erniedrigender Weise und mit freundlichem Lächeln (bei ihrem Hochmut!) einzelne Damen in ein Gespräch zu ziehen, doch die wurden sofort unsicher, antworteten mißtrauisch und einsilbig mit einem „ja“ oder „nein“ und gingen ihr sichtlich aus dem Wege.
Von den wirklichen Würdenträgern unserer Stadt befand sich auf diesem Ball nur ein einziger, – jener selbe wichtige General a. D., von dem ich schon einmal erzählt habe: der bei der Adelsmarschallin nach dem Duell zwischen Stawrogin und Gaganoff seiner alten Gewohnheit gemäß „gerade davon laut zu sprechen anfing, wovon alle nur heimlich zu flüstern wagten“, und der somit wieder einmal der allgemeinen Spannung die Tür öffnete. Jetzt spazierte er würdevoll durch alle Säle, beobachtete und hörte zu und bemühte sich, durch sein Mienenspiel recht offenkundig zu zeigen, daß er nur so, um die Sitten zu beobachten, mehr Studien halber, als um eines reinen Vergnügens willen, gekommen sei. Er endete damit, daß er sich ganz und gar Julija Michailowna zugesellte und nicht einen Schritt von ihr wich, sichtlich bestrebt, sie zu ermutigen und zu beruhigen. Gewiß war er ein Mensch von großer Herzensgüte, sehr vornehm und bereits so alt, daß man von ihm sogar Mitleid hinnehmen konnte; doch sich gestehen zu müssen, daß dieser alte Schwätzer sie, Julija Michailowna, zu bemitleiden und fast zu beschützen wagte, indem er sehr wohl begriff, daß er ihr mit seiner Anwesenheit eine Ehre erwies, das war doch mehr als ärgerlich. Der General aber hielt unentwegt Stand und schwatzte ohne aufzuhören.
„Hm, man sagt, keine Stadt könne bestehen ohne sieben Gerechte ... sieben, glaub’ ich, müssen es sein, entsin–ne mich nicht mehr genau der vor–schriftsmäßigen Zahl. Ich weiß nicht, wieviele von diesen sieben ... unzwei–felhaft Gerechten unserer Stadt ... die Ehre haben auf Ihrem Ball anwesend zu sein, doch was mich betrifft, so beginne ich, trotz der Anwesenheit derselben, mich nicht außer–halb jeder Gefahr zu empfinden. Vous me pardonnerez, charmante dame, n’est-ce pas?[187] Ich spreche natürlich allegorisch. Begab mich vorhin zum Büfett, bin aber faktisch froh, daß ich heil und ganz wieder herausgekommen bin ... Unser unschätz–barer Prochorytsch ist dort nicht an seinem Platz, und mich deucht, zum Morgen hin wird seine ganze Bude vertilgt sein. Übrigens, amüsant. Warte nur noch auf diese ‚Quadrille der Li–te–ratur‘, dann aber – ins Bett. Verzeihen Sie das schon einem alten Podagristen, muß mich früh hinlegen. Aber auch Ihnen würde ich raten, ‚in die Federchen zu gehen‘, wie man aux enfants[188] zu sagen pflegt ... Bin eigentlich wegen der jungen Schön–heiten gekommen ... die ich natürlich nirgendwo in solcher Voll–zähligkeit antreffen könnte, wie hier ... Alle von jenseits des Flusses, und dorthin pflege ich nicht zu fahren. Die Frau eines Leutnants ... ich glaube, von den Jägern ... ist sogar wirklich nicht übel ... hm, in der Tat ... und das weiß sie auch selbst. Hab’ mit ihr gesprochen; schlagfertig und ... so, nun ja. Nun und die Mädel, gleichfalls frisch ... Ja; aber das ist auch alles. Außer der Frische fak–tisch nichts. Übrigens, amüsant. Wenigstens für mich. Es gibt da Knöspchen ... nur die Lippen ein wenig dick. Überhaupt ist in der russischen Schönheit der Frauenantlitze wenig von jener Regelmäßigkeit vorhanden und ... und ein bißchen läuft sie doch auf einen Pfannkuchen hinaus ... Vous me pardonnerez, n’est-ce pas[189] ... übrigens immer bei gleichzeitig schönen Augen ... lachenden Augen. Diese Knöspchen sind so in den ersten zwei Jahren ihrer Jugend be–zau–bernd, sogar drei Jahre lang ... dann aber, nun ja, dann werden sie unwiderruflich dick ... wodurch sie in ihren Männern jenen traurigen In–dif–ferentismus erzeugen, der die Entwicklung der Frauenfrage so überaus begünstigt ... vorausgesetzt, daß ich diese Frauenfrage richtig verstehe ... Hm! Der Saal ist nicht übel; die Räume schön geschmückt. Es hätte schlechter sein können. Die Musik könnte sogar sehr viel schlechter sein ... ich sage nicht ‚sollte‘. Ein übler Eindruck, daß überhaupt wenig Damen vorhanden sind. Die Toiletten übergehe ich. Böse ist, daß dieser dort in den grauen Beinkleidern sich so unverhüllt Cancan zu tanzen erlaubt. Ich würde es verzeihen, wenn es von ihm aus Freude geschähe, und zumal er ein hiesiger Apotheker ist ... aber um elf ist es immer–hin noch zu früh, selbst für einen Apotheker ... Dort im Büfettsaal begannen zwei sich zu prügeln und wurden nicht hinausbefördert. Um elf aber müssen Raufbolde noch hinausbefördert werden, gleichviel welcher Art die Sitten des Publikums sonst sind ... ich will nicht sagen, um drei Uhr morgens, dann muß man der öffentlichen Meinung schon eine Konzession machen, – vorausgesetzt, daß dieser Ball die dritte Morgenstunde überhaupt erlebt ... Warwara Petrowna aber hat doch nicht Wort gehalten, und ihre Blumen sind nicht eingetroffen. Hm! Die hat jetzt an anderes zu denken, als an Blumen. Pauvre mère![190] Und die arme Lisa, – Sie haben doch schon gehört? Man sagt, eine geheimnisvolle Geschichte und ... und wieder ist dieser Stawrogin in der Arena ... Hm! Ich müßte nun doch ins Bett ... Meine Nase nickt schon von selbst. Aber wann wird denn eigentlich diese ‚Quadrille der Li–te–ratur‘ beginnen?“
Und schließlich begann denn auch die „Quadrille der Literatur“. Wenn in der letzten Zeit irgendwo in der Stadt das Gespräch auf den bevorstehenden Ball gekommen war, dann hatte man bereits nach den ersten Worten unfehlbar von dieser „Quadrille der Literatur“ gesprochen, und da sich niemand eine Vorstellung von dieser Aufführung machen konnte, so erregte sie natürlich übermäßige Neugier. Das aber war schon an sich die größte Gefahr für einen Erfolg, und – wie groß war daher die Enttäuschung!
Eine Seitentür des weißen Saales, die bis dahin geschlossen war, wurde geöffnet und plötzlich erschienen ein paar Masken im Saal. Das Publikum drängte sich sofort gierig um sie herum. Im Augenblick verbreitete sich die Kunde bis zum Büfett und schon stürzte, wälzte sich von dort der ganze Menschenschwarm bis auf den letzten zum weißen Saal, in den er wie eine Flut hineinbrach. Die Masken begannen sich zum Tanze aufzustellen. Es gelang mir noch, mich bis zu den ersten Reihen durchzudrängen und ich blieb dicht hinter Lembkes und dem alten General stehen. Da tauchte plötzlich flink Pjotr Stepanowitsch neben Julija Michailowna auf, nachdem er sich ihr bis dahin gar nicht gezeigt hatte.
„Ich sitze die ganze Zeit am Büfett und beobachte,“ flüsterte er ihr mit der Miene eines schuldbewußten Schulbuben zu, die er übrigens absichtlich annahm, um sie noch mehr aufzubringen.
Sie wurde feuerrot vor Zorn.
„Wenn Sie mich doch wenigstens jetzt nicht mehr betrügen wollten, Sie unverschämter Mensch!“ entfuhr es ihr fast mit lauter Stimme, so daß es die Umstehenden hörten.
Pjotr Stepanowitsch schlüpfte, äußerst zufrieden mit sich selbst, wieder flink davon.
Es wäre schwer, sich eine armseligere, billigere, noch talentlosere und fadere Allegorie vorzustellen, als es diese „Quadrille der Literatur“ war. Und gewiß hätte man nichts ersinnen können, das weniger zu unserem Publikum paßte, als diese Allegorie; dabei hieß es, daß Karmasinoff sie erdacht habe. Freilich, in Szene gesetzt war sie von Liputin, der sich mit dem lahmen Lehrer beraten hatte (mit demselben, der an jenem Abend auch bei Wirginski war). Aber die Idee stammte doch von Karmasinoff und man sagte, er habe sogar selbst mitwirken, sich maskieren und eine besondere, selbständige Rolle übernehmen wollen. Die Quadrille bestand aus sechs kläglichen Maskenpaaren, ja eigentlich waren es nicht einmal richtige Masken, denn die Maskerade bestand nur darin, daß sie sich etwa einen künstlichen Bart oder sonst einen billigen Blödsinn angeklebt hatten. Da war z. B. ein älterer Herr, nicht groß von Wuchs, im Frack – also genau so angezogen, wie alle Herren auf einem Ball erscheinen –, mit einem ehrwürdigen grauen Bart (der Bart war allerdings nur angeklebt und das war seine ganze Verkleidung). Dieser Herr strampelte, trippelte und tänzelte mit biederem Gesichtsausdruck fast nur auf einer Stelle umher, ohne sich recht vom Fleck zu bewegen. Dazu brachte er mit gemäßigtem, doch schon heißer gewordenem Baßstimmchen allerhand Laute hervor. Diese Heiserkeit der Stimme aber sollte eine unserer bekannten Tageszeitungen gerade besonders charakterisieren[51]. Dieser Maske vis-à-vis tanzten zwei Riesen X und Z, und zwar waren ihnen diese Buchstaben am Frack angesteckt, doch was dieses X und dieses Z bedeuten sollten, das blieb unaufgeklärt. „Der ehrliche russische Gedanke“ wurde dargestellt von einem Herrn in mittleren Jahren mit einer Brille, im Frack, in Handschuhen und – in Fesseln (es waren richtige eiserne Fesseln, wie sie Gefangenen angelegt werden). Unter dem Arm trug dieser „Gedanke“ eine Mappe mit Akten über eine zu unternehmende Sache oder eine bevorstehende „Tat“. Aus seiner Fracktasche schaute ein entsiegelter, aus dem Auslande gekommener Brief hervor, der die Ehrlichkeit des „ehrlichen russischen Gedankens“ allen denen, die seine Ehrlichkeit bezweifelten, verbürgen sollte. Dies alles wurde von den Festordnern bereits mündlich erklärt, denn lesen konnte man den aus der Tasche hervorlugenden Brief natürlich nicht. In der erhobenen rechten Hand hielt der „ehrliche russische Gedanke“ einen Pokal, ganz als wollte er einen Toast ausbringen. Zu beiden Seiten dieses Gedankens und in einer Reihe mit ihm tanzten zwei kurzgeschorene Nihilistinnen; ihm gegenüber aber tanzte ein gleichfalls schon älterer Herr, im Frack, doch mit einem schweren Knüppel in der Hand: diese Gestalt sollte eine gefürchtete, doch nicht in Petersburg erscheinende Zeitschrift darstellen. Der Knüppel aber sollte wohl sagen: „Wenn ich mal zuschlage, bleibt von meinem Feinde nur noch ein nasses Fleckchen übrig.“ Doch ungeachtet seines Knüppels konnte er auf keine Weise den durch die Brillengläser unverwandt auf ihn gerichteten Blick des „ehrlichen russischen Gedankens“ ertragen, weshalb er sich alle Mühe gab, nach links oder rechts diesem Blick auszuweichen, und jedes Mal, wenn es zum pas de deux kam, wand, drehte, kringelte er sich förmlich und wußte nicht, wohin er sehen sollte, – so sehr quälte ihn wahrscheinlich das Gewissen ... Doch wer kann schließlich alle diese stumpfsinnigen erklügelten Witzchen aufzählen und behalten! Alles war von dieser Art, so daß ich mich zu guter Letzt qualvoll zu schämen begann. Und siehe, genau dieselbe Empfindung gleichsam eines Schamgefühls spiegelte sich auch in allen übrigen Gesichtern des Publikums wieder, sogar in den mürrischsten Physiognomien aus dem Büfettraum. Eine Zeitlang schwiegen alle und sahen mit geärgerter Verständnislosigkeit zu. Wenn ein Mensch sich schämt, fängt er gewöhnlich an sich zu ärgern und ist dann zum Zynismus geneigt. Allmählich aber begann ein Gebrumm:
„Was soll das denn eigentlich bedeuten?“ brummte in einer Gruppe jemand von denen, die das Büfett belagert hatten.
„Irgend ’nen Blödsinn.“
„Das soll eine Art Literatur sein. Die ‚Stimme‘ wird kritisiert.“
„Was geht das mich an!“
In einer anderen Gruppe:
„Diese Esel!“
„Nein, nicht sie sind die Esel, sondern die Esel sind wir.“
„Warum bist du denn ein Esel?“
„Nein, ich bin kein Esel, aber ...“
„Na, wenn selbst du kein Esel bist, dann bin ich schon lange keiner!“
In einer dritten Gruppe:
„Mit einem Tritt sie alle hinauswerfen und dann hole sie der Teufel!“
„... Den ganzen Saal ausfegen ...“
In einer vierten:
„Daß die Lembkes sich nicht schämen, zuzusehen!“
„Warum sollen sie sich denn schämen? Du schämst dich doch nicht?“
„Nein, ich schäme mich schon, er aber ist noch der Gouverneur!“
„Ja, und du bist nur ein Schwein ...“
„In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen so einfachen Ball erlebt,“ sagte eine Dame gehässig in nächster Nähe von Julija Michailowna, sichtlich mit dem Wunsch, gehört zu werden.
Diese Dame – eine korpulente und geschminkte Frau von etwa vierzig Jahren, in einem grellfarbenen Seidenkleide – war in der Stadt zwar allen Leuten bekannt, doch wurde sie in keinem Hause empfangen. Sie war die Witwe eines Staatsrates, der ihr ein hölzernes Wohnhaus und eine karge Pension hinterlassen hatte, aber sie lebte gut und hielt sich sogar eigene Pferde. Vor etwa zwei Monaten hatte sie als erste von allen Damen bei Julija Michailowna ihre Visite machen wollen, war aber von dieser nicht empfangen worden.
„Und das war ja auch wirklich vorauszusehen,“ fügte sie hinzu, indem sie frech Julija Michailowna in die Augen sah.
„Wenn es vorauszusehen war, warum sind Sie dann noch erschienen?“ fragte plötzlich Julija Michailowna, die sich nicht mehr bezwingen konnte.
„Ach, aber doch wirklich nur aus Gutgläubigkeit!“ versetzte jene Dame sofort schlagfertig und im Augenblick ungemein belebt (sie hätte gar zu gern einen Wortwechsel angeknüpft), doch der alte General trat zwischen sie und Frau von Lembke.
„Chère dame,“ – er beugte sich zu Julija Michailowna – „wenn ich einen Rat geben dürfte, so wäre es der, jetzt heimzufahren. Wir behindern die Gesellschaft nur, ohne uns wird man sich vortrefflich amüsieren. Sie haben alles getan, was nötig war, haben den Ball eröffnet, nun und ... jetzt überlassen Sie die Leute sich selbst ... Zumal auch Andrei Antonowitsch sich an–schei–nend nicht wohl fühlt ... Ich meine, damit ihm nicht hier noch ein Unglück zustößt ...“
Doch es war bereits zu spät.
Herr von Lembke hatte schon die ganze Zeit die Tänzer der „Quadrille“ mit einer gewissen ungehaltenen Verständnislosigkeit betrachtet, als aber die ersten kritischen Bemerkungen im Publikum laut wurden, begann er sich sogleich unruhig umzuschauen. Da fielen ihm offenbar zum erstenmal auch einzelne Gestalten aus dem Büfettraum auf; sein Blick drückte das größte Befremden aus. Plötzlich erscholl lautes Gelächter über eines der in der „Quadrille“ produzierten Stückchen: der Herausgeber der „gefürchteten, doch nicht in Petersburg erscheinenden Zeitschrift“, der mit dem Knüppel in der Hand tanzte, empfand wohl endgültig, daß er die Brillengläser des „ehrlichen russischen Gedankens“ nicht mehr zu ertragen vermochte, und da er nicht wußte, wie er ihnen ausweichen sollte, begann er plötzlich, in der letzten Tour, den Brillengläsern verkehrt, d. h. auf den Händen, mit den Beinen in der Luft, entgegen zu gehen, was gleichzeitig die bekannte Entstellungsmanier der „gefürchteten, doch nicht in Petersburg erscheinenden Zeitschrift“ veranschaulichen sollte, die unter Umständen selbst die gesunde Vernunft auf den Kopf stellt. Da nur Lämschin auf den Händen zu gehen verstand, hatte er es übernommen, den Herausgeber mit dem Knüppel zu mimen. Julija Michailowna hatte nicht das Geringste davon gewußt, daß jemand auf den Händen gehen werde. „Das hatte man mir verheimlicht, absichtlich verheimlicht!“ sagte sie später immer wieder, als sie in ihrer Verzweiflung und Empörung mir alles erzählte. Das Gelächter der Menge wurde natürlich nicht von der Allegorie hervorgerufen, an die man überhaupt nicht dachte, sondern galt einfach dem Anblick eines auf den Händen gehenden Menschen in einem Frack, dessen Schoße nun selbstredend umgeklappt herabhingen.
Lembke brauste auf und bebte vor Erregung.
„Der Nichtswürdige!“ schrie er, indem er auf Lämschin wies. „Ergreift den Spitzbuben! Umkehren! Umkehren auf die Füße ... der Kopf ... damit der Kopf nach oben ... oben!“
Lämschin sprang wieder auf die Füße. Das Gelächter verstärkte sich.
„Hinausjagen alle Spitzbuben, die da lachen!“ befahl plötzlich Lembke.
Die Menge begann zu murren und zu johlen.
„So geht das denn doch nicht, Exzellenz.“
„Das Publikum darf man nicht beschimpfen.“
„Selber ein Esel!“ tönte es irgendwoher aus einer ferneren Ecke.
„Die Flibustiers!“ rief jemand vom entgegengesetzten Ende des Saales.
Lembke drehte sich bei diesem Ruf hastig nach dieser Seite hin um und wurde ganz bleich. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem stumpfsinnigen Lächeln, als habe er plötzlich etwas begriffen, als erinnere er sich an etwas.
„Meine Herren“ ... angstvoll wandte sich Julija Michailowna an die näherrückende Menge, während sie gleichzeitig ihren Mann mit sich fortzuziehen suchte, „entschuldigen Sie Andrei Antonowitsch, meine Herren, Andrei Antonowitsch fühlt sich nicht wohl ... er ist krank ... entschuldigen Sie ... verzeihen Sie ihm, meine Herren!“
Ich hörte es mit eigenen Ohren, wie sie „verzeihen Sie“ sagte. Die Szene spielte sich sehr schnell ab. Aber ich weiß noch genau, daß schon in diesem Augenblick ein Teil des Publikums wegdrängte zum Ausgang des Saales, gleichsam erschrocken, und zwar geschah das gerade nach diesen Worten Julija Michailownas. Ich erinnere mich sogar noch eines hysterischen weiblichen Ausrufs halb unter Tränen:
„Ach, wieder ist’s ganz so wie am Vormittage!“
Und plötzlich, mitten in dieses bereits beginnende Gedränge, schlug auf einmal wieder eine Bombe ein, also tatsächlich „ganz so wie am Vormittage“:
„Es brennt! Die ganze Vorstadt brennt überm Fluß!“
Ich erinnere mich bloß nicht, wo dieser entsetzliche Schrei zuerst erschallte: ob im Saal oder – ich glaube, es kam jemand aus dem Vestibül, vom Eingang hereingestürzt. Jedenfalls entstand sofort ein solcher Tumult, daß ich nicht einmal versuchen will, ihn zu schildern. Von dem Publikum, das sich zum Ball noch eingefunden hatte, stammte die Mehrzahl aus eben jener Vorstadt: es waren zumeist die Besitzer der dort, auf der anderen Seite des Flusses, belegenen hölzernen Häuser, oder deren Einwohner. Man stürzte zu den Fenstern, im Nu waren die Vorhänge zur Seite gezogen, die Stores herabgerissen. Die Vorstadt lohte. Freilich, der Brand begann erst, aber es lohte schon an drei ganz verschiedenen Stellen, – und gerade das war das Erschreckendste.
„Brandstiftung!“ – „Die Spigulinschen!“ brüllte man im Gedränge.
Ich habe noch ein paar überaus charakteristische Ausrufe behalten:
„Hat doch mein Herz das vorausgefühlt, daß sie brandstiften werden, das hat es die ganzen letzten Tage vorausgefühlt!“
„Die Spigulinschen, die Spigulinschen, wer denn sonst!“
„Man hat uns absichtlich hier versammelt, um dort derweil anzünden zu können!“
Diesen letzten, wunderlichsten Schrei stieß eine Frauenstimme aus; es war der unbedachte, der unwillkürliche Schrei einer Koróbotschka[52], die ihr Hab und Gut brennen sieht. Alles stürzte zum Ausgang. Das Gequetsche und Gedränge im Vorraum beim Suchen nach den Pelzen, Tüchern und Umhängen, das Gekreisch erschreckter Frauen und das Weinen der Töchter werde ich nicht weiter beschreiben. Es ist kaum anzunehmen, daß hierbei direkt gestohlen wurde, doch es ist schließlich kein Wunder, daß bei einem solchen Durcheinander manche ohne ihre Überkleider, die nicht zu finden waren, wegfuhren, worüber noch lange nachher in der Stadt vieles erzählt wurde, natürlich mit Erdichtungen und Übertreibungen. Lembke und Julija Michailowna wurden in der Tür von der Menge nahezu erdrückt.
„Alle zurückhalten! Nicht einen hinauslassen!“ brüllte plötzlich Lembke, indem er drohend die Hand gegen die Andrängenden ausstreckte. „Alle einzeln strengstens untersuchen, sofort!“
Die Antwort darauf war aus dem Saal ein Hagel von kräftigen Schimpfwörtern.
„Andrei Antonowitsch! Andrei Antonowitsch!“ rief Julija Michailowna in vollständiger Verzweiflung.
„Als erste verhaften!“ schrie dieser und wies streng mit dem Finger auf sie. „Als erste untersuchen! Der Ball war inszeniert zum Zweck der Brandstiftung ...“
Sie stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht (oh, dieser Ohnmachtsanfall war natürlich schon ein echter). Ich, der Fürst und der General stürzten zur Hilfe herbei; auch andere halfen uns in diesem schweren Augenblick, sogar einige von den Damen. Wir trugen die Unglückliche aus dieser Hölle zu ihrer Equipage; doch sie kam erst unterwegs, kurz vor ihrem Hause, zu sich und ihr erstes war, daß sie wieder nach Andrei Antonowitsch rief. Nach dem Zusammenbruch aller ihrer Phantastereien verblieb ihr als einziges nur noch ihr Andrei Antonowitsch. Es wurde sofort nach dem Doktor geschickt. Ich wartete eine ganze Stunde bei ihr, der Fürst gleichfalls; der General wollte in einer Anwandlung von Großmut (obgleich ihm der Schreck arg in die Glieder gefahren war) die ganze Nacht „am Bette der Unglücklichen“ verbringen, schlief aber schon nach zehn Minuten, noch bevor der Arzt erschien, im Saal auf einem Lehnstuhl ein, wo wir ihn dann auch so schlafen ließen.
Dem Polizeimeister, der vom Ball zur Brandstätte eilte, gelang es noch, Andrei Antonowitsch gleich nach uns hinauszuführen, und er wollte ihn zu Julija Michailowna in den Wagen setzen, indem er aus allen Kräften Seiner Exzellenz zuredete, „der Ruhe zu pflegen“. Ich verstehe nicht, warum er das nicht durchsetzte. Selbstredend wollte Andrei Antonowitsch von Ruhe nichts wissen und strebte mit Gewalt zur Brandstätte; aber das war doch kein vernünftiger Grund. So endete es denn damit, daß der Polizeimeister ihn noch in seinem eigenen Wagen zur Brandstätte brachte. Später erzählte er, Lembke habe unterwegs die ganze Zeit gestikuliert und „solche Ideen als Befehle hervorgestoßen, daß es wegen ihrer Ungewöhnlichkeit unmöglich war, sie auszuführen“. So ist denn nachher auch rapportiert worden: daß Se. Exzellenz sich zu der Zeit, infolge der „Plötzlichkeit des Schrecks“, bereits im Fieberdelirium befunden habe.
Es erübrigt sich wohl, zu erzählen, wie der Ball endete. Einige Dutzend Taugenichtse und sogar ein paar Damen blieben in den Sälen. Die Polizei war nicht mehr da. Das Orchester mußte spielen, denn die Musikanten, die weggehen wollten, wurden verprügelt. Zum Morgen hin war „Prochorytschs ganze Bude“ vertilgt, man soff bis zur Bewußtlosigkeit, tanzte den Kamarinskij ohne Zensur, besudelte die Räume; und erst bei Morgengrauen langte ein Teil dieser Bande, vollkommen betrunken, auf dem erlöschenden Brandplatz an, – zu neuen Unruhen. Die andere Hälfte blieb und schlief gleich dort in den Sälen in steif besoffenem Zustande, mit allen Folgen eines solchen, auf den Plüschdiwans und in den Ecken auf dem Fußboden. Am nächsten Morgen wurden sie – das war das erste, was man tat – an den Beinen hervorgezogen und hinausgeschleift auf die Straße. Und damit endete das Fest zum Besten der Gouvernanten unseres Gouvernements.
Die Feuersbrunst erschreckte unser Publikum vom anderen Flußufer gerade dadurch am meisten, daß es sich hierbei um eine so offenkundige Brandstiftung handelte. Beachtenswert ist, daß schon nach dem ersten Schrei „wir brennen“, sofort auch geschrien wurde, „die Spigulinschen“ seien die Brandstifter. Jetzt hat es sich bereits mit aller Sicherheit herausgestellt, daß in der Tat drei „Spigulinsche“ an der Brandstiftung beteiligt waren, aber nur drei, nicht mehr; alle anderen Arbeiter der Fabrik wurden vollkommen freigesprochen, sowohl von der öffentlichen Meinung, wie vom Gericht. Außer diesen drei Taugenichtsen (von denen einer bald gefangen wurde und alles gestand, während man der beiden anderen noch bis heute nicht habhaft geworden ist), war zweifellos auch der sogenannte „Zuchthäusler-Fedjka“ an der Brandstiftung beteiligt. Das ist aber auch alles, was man bisher über die Entstehung des Brandes sicher weiß; die Vermutungen sind eine Sache für sich. Was nun diese drei Taugenichtse zu dieser Tat bewogen hat, ob sie von jemandem dazu angestiftet worden sind oder nicht – diese Fragen sind selbst heute noch schwer zu beantworten.
Das Feuer verbreitete sich infolge des starken Windes und da die Vorstadt dort überm Fluß fast nur aus hölzernen Häusern bestand, sowie infolge der Brandstiftung an drei verschiedenen Stellen, mit unglaublicher Schnelligkeit und Gewalt (übrigens ging der Brand genau genommen doch nur von zwei Stellen aus, denn an der dritten Stelle gelang es, das Feuer fast gleich nach seinem Ausbruch zu ersticken, wovon später noch die Rede sein wird). Aber in den Berichten der Residenzblätter wurde unser Unglück doch stark vergrößert: was niederbrannte, war nicht mehr (ja vielleicht sogar noch weniger) als ungefähr der vierte Teil der ganzen Vorstadt überm Fluß. Unsere Feuerwehr, deren Mannschaft im Verhältnis zur Ausdehnung der Stadt und der Einwohnerzahl nur ein schwaches Häuflein ist, verrichtete ihre Aufgabe doch mit großer Hingabe und Sorgfalt. Dennoch hätte sie wohl kaum des Brandes Herr werden können, selbst bei einmütiger Unterstützung von seiten der Bevölkerung, wenn der Wind sich nicht gedreht und kurz vor Morgengrauen plötzlich ganz gelegt hätte.
Als ich kaum eine Stunde nach der Flucht vom Ball am anderen Ufer anlangte, tobte das Feuer bereits mit größter Wut. Die ganze Straße, die dem Fluß parallel läuft, lohte. Es war taghell. Das Bild, das die Brandstätte bot, werde ich nicht weiter beschreiben: wer kennt es in Rußland nicht? In den Quergassen neben der brennenden Hauptstraße war ein maßloses Hasten und Gedränge. Hier war das Feuer mit Sicherheit zu erwarten und die Einwohner schleppten ihr Hab und Gut hinaus, gingen aber vorläufig doch noch nicht weg von ihren Häusern und saßen wartend auf ihren hinausgeschafften Kästen und Federbetten, ein jeder vor seinen Fenstern. Ein Teil der männlichen Einwohnerschaft verrichtete schwere Arbeit: da wurden erbarmungslos Zäune gefällt, ja wurden sogar ganze Hütten abgetragen, die nahe dem Feuer und unter dem Winde standen. Aus dem Schlaf geweckte kleine Kinder weinten, und Weiber, die ihr Gerümpel schon herausgeschleppt hatten, jammerten und heulten. Andere, die mit dem Herausschaffen noch nicht fertig waren, schafften inzwischen schweigend und energisch noch weiter heraus, was sie besaßen. Funken und fliegende Feuerbrände sprühten weit mit dem Winde; man löschte sie nach Möglichkeit. Auf dem Brandplatze selbst drängten sich die Zuschauer, die aus allen Ecken und Enden der Stadt herbeigelaufen waren. Manche halfen löschen, andere gafften nur so als Liebhaber. Ein großes Feuer in der Nacht macht immer einen erregenden und lustigen Eindruck; darauf beruhen die Feuerwerke. Doch bei diesen verläuft das Feuerspiel in schönen Linien und Formen und erweckt im Zuschauer, da er sich selbst vollkommen außer Gefahr weiß, eine fröhliche und leichte Empfindung, wie nach einem Glase Champagner. Etwas anderes ist ein wirklicher Brand: hierbei erzeugen der Schrecken und das doch immer vorhandene Gefühl einer gewissen persönlichen Gefahr im Zuschauer (selbstredend nicht im Bewohner des brennenden Hauses), neben dem erwähnten lustigen Eindruck eines nächtlichen Feuers, eine Art Gehirnerschütterung und wirken wie eine Herausforderung seiner eigenen zerstörenden Instinkte, die sich, ach! in jeder Seele verbergen, selbst in der Seele des sanftmütigsten Familienmenschen und Titularrats ... Diese lichtscheue Empfindung ist fast immer berauschend. „Ich weiß wirklich nicht, ob man einem Schadenfeuer ohne ein gewisses Vergnügen zusehen kann?“ Diesen Satz sprach einmal wortwörtlich Stepan Trophimowitsch zu mir, als wir von einem nächtlichen Brande, dessen Zuschauer er ganz zufällig geworden war, heimgingen – noch unter dem ersten Eindruck des Anblicks. Natürlich würde sich der nämliche Liebhaber nächtlicher Feuersbrünste auch selbst ins Feuer stürzen, um aus den Flammen ein Kind oder eine Greisin zu retten; aber das ist doch schon ein ganz anderes Kapitel.
Ich schob mich hinter anderen Neugierigen durch das Gedränge und kam so ohne zu fragen zur wichtigsten und gefährlichsten Stelle, wo ich endlich Lembke erblickte. Ich suchte ihn im Auftrage von Julija Michailowna. Seine Stellung war seltsam und außergewöhnlich. Er stand auf einem niedergerissenen Bretterzaun; links von ihm, keine dreißig Schritte weit, ragte das schwarze Gerüst eines fast schon ganz ausgebrannten zweistöckigen hölzernen Hauses empor, mit Löchern statt der Fenster in beiden Stockwerken, mit eingestürztem Dach und mit immer noch leckenden Feuerzungen an den verkohlten Balken. Im Hintergrunde des Hofes, etwa zwanzig Schritt von diesem Hause, begann gerade ein gleichfalls zweistöckiges Nebengebäude zu brennen, und um dieses mühte sich aus allen Kräften die Feuerwehr. Rechts von Lembke wurde ein ziemlich großes hölzernes Gebäude, das zwar noch nicht brannte, aber schon mehrmals Feuer gefangen hatte, von der Feuerwehr und anderen Helfern zu retten gesucht, obschon es zweifellos nicht zu retten war. Lembke schrie und gestikulierte – er stand mit dem Gesicht zu jenem Nebengebäude auf dem Hof – und gab Befehle, die niemand ausführte. Ich dachte schon, daß man ihn hier ganz sich selbst überlassen und sich von ihm völlig zurückgezogen habe. Wenigstens fiel es mir auf, daß die dichte und aus Menschen sehr verschiedenen Standes bestehende Menge – es waren da auch Herren und sogar der Oberpriester unserer Kathedralkirche – seinen Ausrufen wohl neugierig und verwundert zuhörte, jedoch niemand mit ihm sprach oder den Versuch machte, ihn wegzuführen. Lembke, der bleich, doch mit blitzenden Augen dastand, stieß allerdings die sonderbarsten Dinge hervor; zum Überfluß war er noch ohne Hut, den er schon längst verloren hatte.
„Alles Brandstiftung! Das ist Nihilismus! Wenn hier etwas loht, so ist das der Nihilismus!“ vernahm ich von ihm fast mit Entsetzen, und wenn das auch schon vorauszusehen gewesen war, so hat doch die greifbare Wirklichkeit immer etwas Erschütterndes in sich.
„Exzellenz,“ – neben ihm stand plötzlich ein Revierschutzmann – „wenn Euer Exzellenz geruhen wollten, es mit der häuslichen Erholung zu versuchen ... Denn hier ist doch schon das bloße Stehen gefährlich, Exzellenz.“
Dieser Polizeimann war, wie ich später erfuhr, vom Polizeimeister absichtlich zu Andrei Antonowitsch abkommandiert worden, mit dem Auftrage, auf ihn acht zu geben und nach Möglichkeit zu versuchen, ihn nach Hause zu bringen, im Falle einer Gefahr aber, wenn nötig, sogar Gewalt anzuwenden – ein Auftrag, der ersichtlich über die Kraft des Beauftragten ging.
„Die Tränen der Abgebrannten werden weggewischt werden, aber die Stadt werden sie niederbrennen. Das sind alles die vier Schurken, vier und ein halber! Man verhafte den Schurken! Er schleicht sich in die Ehre der Familien ein. Zum Anzünden der Häuser hat man die Gouvernanten benutzt. Das ist gemein, gemein! Ach, was tut der dort!“ rief er plötzlich, als er auf dem Dach des nun bereits brennenden Nebengebäudes einen Feuerwehrmann erblickte, unter dem das Dach schon durchgebrannt war und um den ringsum Flammen hervorschlugen. „Holt ihn herunter, er wird durchs Dach fallen, er wird anbrennen, löscht ihn ... Was tut er dort?“
„Er löscht selbst, Exzellenz.“
„Das ist unwahrscheinlich. Die Feuersbrunst ist in den Gehirnen der Menschen, aber nicht auf den Dächern der Häuser. Man soll ihn herunterholen und alles liegen lassen! Lieber liegen lassen, lieber liegen lassen! Mag es selbst irgendwie! ... Ach, wer weint dort noch? Eine Alte! Eine Alte schreit, warum hat man die Alte vergessen?“
Tatsächlich: im unteren Stock dieses bereits brennenden Nebenhauses schrie ein altes Weib, eine achtzigjährige Verwandte des Kaufmanns, dem das Haus gehörte. Aber man hatte sie nicht dort vergessen, sondern sie war selbst in das Haus zurückgekehrt, so lange das noch möglich war, mit der wahnsinnigen Absicht, aus ihrem Kämmerlein an der Ecke des Hauses ihr Federbett zu retten. Fast erstickend im Rauch und schreiend vor Hitze, denn die Flammen hatten das Kämmerlein nun schon erreicht, mühte sie sich, mit ihren altersschwachen Armen das Pfühl durch den Fensterrahmen, dessen Glasscheibe herausgeschlagen war, hindurchzuzwängen. Lembke stürzte zu ihr, um ihr zu helfen. Alle sahen, wie er zum Fenster lief, einen Zipfel des Pfühls ergriff und es mit aller Gewalt durch das Fenster zu ziehen begann. Da wollte es das Unglück, daß in eben diesem Augenblick ein herausgebrochenes Brett vom Dach herabfiel und den Helfer traf; es schlug ihn nicht tot, nur das eine Ende traf ihn am Halse, doch damit war die Laufbahn Andrei Antonowitschs eigentlich beendet, wenigstens bei uns; der Schlag warf ihn um und er blieb bewußtlos liegen.
Endlich brach ein trübes, düsteres Morgengrauen an. Der Brand sank in sich zusammen; nach dem Winde trat plötzlich Windstille ein und dann begann ein langsamer, feiner Regen, wie durch ein feines Sieb. Ich war schon in einer anderen Gegend dieser Vorstadt, weit von jener Stelle, wo Lembke hingefallen war, und hier hörte ich unter den Leuten sehr sonderbare Gespräche. Eine seltsame Tatsache stellte sich heraus: ganz am Rande der Vorstadt, hinter Gemüsegärten auf freiem Platz, über fünfzig Schritte weit von den nächsten Gebäuden, stand ein erst kürzlich erbautes, nicht großes hölzernes Wohnhaus, und dieses entlegene Haus hatte ganz zu Anfang des Brandes gleichfalls, ja womöglich noch früher als alle anderen, zu brennen begonnen. Selbst wenn es niedergebrannt wäre, hätte es bei seiner einsamen Lage keines der anderen Häuser dieser Vorstadt anstecken können, und umgekehrt: auch wenn der ganze Stadtteil auf dieser Seite des Flusses niedergebrannt wäre, so hätte einzig dieses Haus verschont bleiben können, sogar bei noch so starkem Winde. Also mußte es selbständig und für sich allein in Brand geraten sein und folglich nicht ohne besondere Ursache. Doch die Hauptsache war, daß man ihm zum Niederbrennen keine Zeit gelassen hatte und daß in seinem Inneren dann sonderbare Dinge entdeckt worden waren. Der Besitzer dieses neuerbauten Hauses, ein Kleinbürger, der in der nächsten Gasse wohnte, war sogleich bei Ausbruch des Feuers herbeigeeilt und hatte noch rechtzeitig den Brand ersticken können, indem er mit Hilfe der Nachbarn den in Brand gesteckten Holzvorrat für den Winter, dessen Stapel an der einen Seitenwand des Hauses stand, auseinanderriß und löschte.
Doch in dem Hause hatten Menschen gewohnt: der in der Stadt wohlbekannte „Hauptmann“ Lebädkin mit seiner Schwester und einer schon älteren Arbeiterin als Aufwartefrau. Und diese drei Einwohner, der Hauptmann, seine Schwester und die Arbeiterin, wurden nun, als man in das Haus eindrang, ermordet und augenscheinlich beraubt vorgefunden. (Eben hierher hatte sich dann der Polizeimeister vom Brandplatz begeben, kurz bevor Lembke das Pfühl rettete.) Bei Morgengrauen hatte sich das Gerücht von der Untat schon verbreitet und eine ungeheure Menge der verschiedensten Menschen, darunter sogar viele der soeben Abgebrannten, strömte zu diesem abgelegenen neuen Hause. Es war schwer, näher zu gelangen, so groß war dort das Gedränge. Man erzählte mir sogleich, daß man den Hauptmann mit durchgeschnittener Kehle, angekleidet auf der Schlafbank liegend, gefunden habe. Wahrscheinlich sei er wieder steif betrunken gewesen und man habe ihn wohl nur so hingeschlachtet, ohne daß ihm zu Bewußtsein kam, was da geschah. Blut aber sei aus ihm so viel geflossen „wie aus einem Ochsen“. Seine Schwester Marja Timofejewna dagegen sei von Messerstichen „ganz zerstochen“ und habe an der Tür auf dem Fußboden gelegen, also habe sie mit dem Mörder gewiß schon im Wachen gekämpft und sich wohl wie rasend gewehrt. Der Aufwartefrau, die anscheinend gleichfalls vorher erwacht war, sei der Schädel eingeschlagen.
Wie der Besitzer des Hauses erzählte, sei der „Hauptmann“ noch am Morgen dieses Tages betrunken zu ihm gekommen, habe geprahlt und viel Geld gezeigt, an die zweihundert Rubel. Die alte, abgenutzte grüne Brieftasche des „Hauptmanns“ fand man leer auf dem Boden liegen; doch Marja Timofejewnas Koffer war unangerührt, ebenso die silberne Verzierung des Heiligenbildes. Desgleichen fand man alles, was der „Hauptmann“ an Kleidern besessen, vollzählig vor. Daraus ersah man, daß der Dieb sich beeilt hatte und jedenfalls ein Mensch gewesen sein mußte, der den Hauptmann und seine Gewohnheiten gut kannte, es nur auf das bare Geld abgesehen hatte und wußte, wo dieses sich befand. Hätte der Besitzer des Hauses den Brand nicht sofort bemerkt, so hätte der angezündete Holzstapel sicher das Haus in Brand gesteckt, „vor den verkohlten Leichen aber wäre man schwerlich hinter den wahren Sachverhalt gekommen“.
So wurde der Tatbestand wiedergegeben. Hinzu kam dann noch ein Bericht: daß der eigentliche Mieter dieser Wohnung der Herr Stawrogin sei, Nicolai Wszewolodowitsch, der einzige Sohn der Generalin Stawrogina. Er sei sogar persönlich gekommen, um die Wohnung zu mieten, habe noch sehr zugeredet, denn der Besitzer habe sie gar nicht vermieten, sondern hier eine Kneipe einrichten wollen, aber Nicolai Wszewolodowitsch habe auf den Preis nicht geachtet und die Miete gleich für ein halbes Jahr vorausbezahlt.
„Dieser Brand ist nicht ohne Grund entstanden,“ hörte man in der Menge sagen.
Doch die Mehrzahl schwieg. Die Gesichter waren finster, aber eine große, sichtliche Empörung war eigentlich nicht wahrzunehmen. Nur erzählte man sich ringsum noch mehr Geschichten von dem Herrn Stawrogin. So sprach man u. a. auch davon, daß die Ermordete seine Frau war, gestern aber habe er aus einem der ersten Häuser der Stadt, aus dem der Generalin Drosdowa, ein junges Mädchen, die Tochter der Generalin, zu sich gelockt, „auf unehrliche Weise“, und daß man eine Klage über ihn nach Petersburg einreichen werde. Daß aber seine Frau nun ermordet worden ist, das sei doch, wie man sieht, nur deshalb geschehen, damit er frei werde und jetzt die Drosdowa heiraten könne.
Skworeschniki war nicht mehr als nur zwei und eine halbe Werst entfernt und ich weiß noch, mir kam der Gedanke: sollte ich nicht dorthin Nachricht schicken? Übrigens ist es mir nicht aufgefallen, daß jemand die Menge im besonderen aufgehetzt hätte, das muß ich schon der Wahrheit gemäß sagen, wenn mir auch flüchtig zwei oder drei Fratzen aus der Schar der „Büfettleute“ auffielen, die gegen Morgen auf der Brandstätte erschienen und die ich sofort wiedererkannte. Doch besonders erinnerlich ist mir ein hagerer, großer Bursche, ein Kleinbürger, mit ausgemergeltem Gesicht und krausem Haar, dazu wie mit Ruß geschwärzt, – ein Schmied, wie ich später erfuhr. Er war nicht betrunken, doch, im Gegensatz zu der finster dastehenden Menge, wie außer sich. Er wandte sich immer wieder an das ringsum stehende Volk, aber ich erinnere mich nicht mehr seiner Worte. Alles, was er zusammenhängend hervorbrachte, war nicht länger als: „Ja aber wie denn, Brüder, wie ist denn das? Bleibt das nun alles so und wird da nichts geschehen?“ und er gestikulierte mit den Armen.
Aus dem großen Saal des Herrenhauses von Skworeschniki (demselben Saal, wo die letzte Zusammenkunft von Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch stattgefunden hatte) konnte man das Feuer wie auf der Handfläche sehen. Bei Tagesgrauen, zwischen fünf und sechs Uhr morgens, stand dort, rechts am letzten Fenster des Saales, Lisa und sah starr in den verlöschenden Widerschein des Brandes. Sie war allein. Sie trug dasselbe Kleid, in dem sie auf dem Fest erschienen war, ein duftiges, zartgrünes Gewand, von Spitzen überrieselt, doch schon zerdrückt und jetzt in der Hast unordentlich angezogen. Als sie plötzlich bemerkte, daß es über der Brust nicht richtig geschlossen war, errötete sie und hakte es schnell zu, raffte ihr rotes Tuch vom Lehnstuhl auf, das sie gestern beim Eintreten dorthin geworfen hatte und schlang es sich um den Hals. Ihr prachtvolles Haar fiel in gelösten Locken auf ihre rechte Schulter. Ihr Gesicht sah müde aus, besorgt, doch ihre Augen brannten unter den zusammengezogenen Brauen. Sie trat wieder ans Fenster und drückte ihre heiße Stirn an das kalte Glas. Die Tür öffnete sich und Nicolai Wszewolodowitsch trat ein.
„Ich habe einen Diener zu Pferde hingeschickt,“ sagte er, „in zehn Minuten werden wir alles wissen. Die Leute sagen, daß der Stadtteil über dem Fluß, rechts von der Brücke, niedergebrannt sei. Das Feuer soll um Mitternacht ausgebrochen sein; jetzt ist es schon im Abflauen.“
Er ging nicht bis ans Fenster heran, sondern blieb drei Schritte hinter ihr stehen; sie wandte sich nicht nach ihm um.
„Nach dem Kalender hätte es schon seit einer Stunde hell sein müssen, und noch ist es dunkel wie in der Nacht,“ sagte sie ärgerlich.
„Die Kalender lügen alle,“ bemerkte er schon mit liebenswürdigem Spott, schämte sich aber sofort und fügte schnell hinzu: „Nach dem Kalender ist es langweilig zu leben, Lisa.“
Aber er fühlte, daß er dadurch das Gesprochene nur noch schlimmer gemacht hatte. Ärgerlich über sich selbst schwieg er ganz. Lisa lächelte bitter.
„Sie scheinen in einer so niedergeschlagenen Stimmung zu sein, daß Ihnen zu einem Gespräch mit mir sogar die Worte fehlen. Aber beruhigen Sie sich, Sie haben das sehr zur rechten Zeit gesagt: ich lebe immer nach dem Kalender. Jeder meiner Schritte ist nach dem Kalender berechnet. Sie wundern sich?“
Sie wandte sich schnell vom Fenster ab und setzte sich in den Sessel.
„Bitte, setzen Sie sich gleichfalls. Wir werden nicht lange zusammen sein und ich möchte alles sagen, was ich sagen mag ... Warum sollten nicht auch Sie alles sagen, was Sie vielleicht sagen wollen?“
Nicolai Wszewolodowitsch setzte sich neben sie und nahm leise, beinahe furchtsam, ihre Hand.
„Was bedeutet diese Sprache, Lisa? Woher das plötzlich? Was soll das bedeuten: ‚Wir bleiben nicht lange zusammen‘? Das ist schon der zweite rätselhafte Ausspruch in dieser halben Stunde nach deinem Erwachen aus dem Schlaf.“
„Sie fangen an, meine rätselhaften Aussprüche zu zählen?“ fragte sie lachend. „Aber erinnern Sie sich, daß ich gestern, als ich eintrat, mich als eine Tote Ihnen vorstellte? Sehen Sie, das haben Sie für nötig befunden, zu vergessen. Zu vergessen oder zu überhören.“
„Ich erinnere mich nicht, Lisa. Warum als Tote? Man muß leben ...“
„Und Sie verstummen? Ihnen ist ja die Beredsamkeit ganz und gar abhanden gekommen. Ich habe meine Stunde auf der Welt zu Ende gelebt und nun ist es genug. Erinnern Sie sich noch Christophor Iwanowitschs?“
„Nein, ich erinnere mich nicht,“ – sein Gesicht verfinsterte sich.
„Nicht Christophor Iwanowitschs? – in Lausanne? Er verdroß Sie doch zu guter Letzt so entsetzlich. Wenn er kam, sagte er immer: ‚Ich komme nur auf einen Augenblick‘, und dann blieb er den ganzen Tag. Ich möchte es nicht wie Christophor Iwanowitsch machen und den ganzen Tag bleiben.“
Eine schmerzhafte Empfindung spiegelte sich in seinem Gesicht wider.
„Lisa, es tut mir weh um diese verzerrte Sprache. Diese Grimasse kostet dich selbst zu viel. Wozu das alles? Warum?“
„Lisa,“ rief er aus, „ich schwöre es dir, ich liebe dich jetzt mehr als gestern, als du bei mir eintratest!“
„Was für ein sonderbares Geständnis! Was soll das jetzt, dieses Gestern und Heute, und wozu beides mit dem Maß messen?“
„Du verläßt mich nicht,“ fuhr er fast verzweifelt fort, „wir verreisen zusammen, heute noch! Nicht? Nicht?“
„Ah, pressen Sie meine Hand nicht so schmerzhaft! Wohin sollen wir denn heute noch reisen? Wieder irgendwohin, um ‚aufzuerstehen‘? Nein, genug der Versuche ... und das geht mir auch zu langsam; ich bin nicht fähig dazu. Das ist zu hoch für mich. Wenn wir reisen sollen, dann schon gleich nach Moskau und dort Visiten machen und selbst empfangen – das ist mein Ideal, wie Sie wissen, ich habe Ihnen schon in der Schweiz nicht verheimlicht, wie und wer ich bin. Da es uns aber unmöglich ist, nach Moskau zu reisen und dort Visiten zu machen, weil Sie verheiratet sind, so reden wir lieber gar nicht davon.“
„Lisa! Was war denn das gestern?“
„Es war das, was es war.“
„Das ist unmöglich! Das ist grausam!“
„Was tut’s denn, daß es grausam ist? Und wenn es grausam ist, so tragen Sie es doch!“
„Sie rächen sich an mir für die gestrige Phantasie ...“ sagte er halblaut, mit dem Versuch, boshaft zu lächeln.
Lisa flammte auf.
„Was für ein niedriger Gedanke!“
„Warum schenkten Sie mir dann ... ‚so viel Glück‘? Habe ich ein Recht, das zu erfahren?“
„Nein, Sie müssen sich schon irgendwie ohne Rechte behelfen; krönen Sie die Niedrigkeit Ihrer Vermutung nicht mit einer Dummheit. Heute wird es Ihnen nicht gelingen. Übrigens, fürchten Sie nicht gar die Meinung der Welt, und daß man Sie für dieses ‚so viel Glück‘ verurteilen wird? Oh, wenn es das ist, so beunruhigen Sie sich um Gottes willen nicht. Sie haben ja in diesem Fall nicht die geringste Veranlassung gegeben und sind niemandem Verantwortung schuldig. Als ich gestern Ihre Tür aufmachte, da wußten Sie nicht einmal, wer da eintrat. Es war eben nur meine Phantasie, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, und nichts weiter. Sie können allen dreist und siegesbewußt in die Augen blicken!“
„Deine Worte, dein Hohn, jetzt schon eine ganze Stunde, bringen die Kälte des Grauens über mich! Dieses ‚Glück‘, von dem du so gehässig sprichst, kostet mich ... alles. Kann ich dich denn jetzt verlieren? Ich schwöre dir, ich liebte dich gestern weniger. Warum nimmst du mir denn heute alles wieder? Weißt du auch, was sie mich kostet, diese neue Hoffnung? Ich habe sie mit dem Leben bezahlt!“
„Mit dem eigenen oder dem anderer?“
Stawrogin stand hastig auf.
„Was heißt das?“ fragte er und sah sie starr an.
„Bezahlen Sie mit Ihrem oder mit meinem Leben? Das war es, was ich damit fragen wollte. Oder haben Sie jetzt völlig aufgehört, zu verstehen?“ Das Blut schoß ihr ins Gesicht. „Warum sind Sie aufgesprungen? Warum starren Sie mich mit solch einem Ausdruck an?“ Lisa blickte ihm plötzlich angstvoll in die Augen. „Sie erschrecken mich ... Was fürchten Sie denn so? Ich habe es schon die ganze Zeit bemerkt, daß Sie etwas fürchten, gerade jetzt, in dieser Minute ... Mein Gott, wie blaß Sie werden!“
„Wenn du irgend etwas weißt, Lisa, ich schwöre dir, ich weiß nichts ... und habe soeben überhaupt nicht davon gesprochen, als ich sagte, daß ich es mit dem Leben bezahlt hätte ...“
„Ich verstehe Sie gar nicht,“ sagte sie ängstlich stockend.
Da erschien schließlich ein langsames, nachdenkliches Lächeln auf seinen Lippen. Er setzte sich still wieder hin, stützte die Ellenbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
„Ein böser Traum und Wahn ... Wir sprachen von zwei ganz verschiedenen Dingen.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie gesprochen haben. Aber wußten Sie denn gestern wirklich nicht, daß ich Sie heute verlassen würde? Wußten Sie das wirklich nicht? Lügen Sie nicht! Sagen Sie, wußten Sie es oder wußten Sie es nicht?“
„Ich wußte es ...“ sagte er leise.
„Nun also, was wollen Sie dann noch: Sie wußten es und nahmen den ‚Augenblick‘. Wozu nun diese Abrechnungen?“
„Sage mir die ganze Wahrheit,“ rief er in tiefem Leid: „als du gestern meine Tür aufmachtest, wußtest du es selbst, daß du sie nur auf eine Stunde aufmachtest?“
Sie sah ihn mit Haß an.
„Es ist doch wahr, daß selbst der ernsteste Mensch die sonderbarsten Fragen stellen kann. Was beunruhigen Sie sich deswegen? Sollte es wirklich aus Eigenliebe geschehen, weil eine Frau Sie zuerst verläßt, und nicht Sie die Frau? Wissen Sie, Nicolai Wszewolodowitsch, ich merke unter anderem, seit ich bei Ihnen bin, daß Sie furchtbar großmütig zu mir sind, und gerade das kann ich von Ihnen nicht ertragen.“
Er erhob sich vom Platz und ging ein paar Schritte durchs Zimmer.
„Gut, mag das nun so enden ... Aber wie konnte das alles geschehen?“
„Auch eine Sorge! Und die Hauptsache – Sie wissen das ja selbst, so gut, als hätten Sie es an den Fingern abgezählt, wissen es besser, als alle auf der Welt, und rechneten sogar selbst damit! Ich bin eine höhere Tochter, mein Herz ist in der Oper erzogen, sehen Sie, das war die Ursache, das ist die ganze Lösung des Rätsels!“
„Nein.“
„Darin liegt nichts, was Ihre Eigenliebe kränken könnte. Es ist einfach die Wahrheit. Es begann mit einem schönen Augenblick, den ich nicht ertrug. Vor drei Tagen, als ich Sie vor aller Welt ‚beleidigte‘ und Sie mir so ritterlich antworteten, fuhr ich nach Hause und sagte mir, daß Sie mich gemieden hatten, weil Sie verheiratet waren, und nicht aus Verachtung, was ich als Dame der Gesellschaft am meisten fürchtete. Ich begriff, daß Sie mich Unsinnige beschützten, indem Sie mich mieden. Sehen Sie wohl, wie ich Ihre Großmut schätze. Da sprang dann Pjotr Stepanowitsch für Sie ein und erklärte mir alles. Er offenbarte mir, daß ein großer Gedanke Sie beherrsche, ein Gedanke, vor dem er und ich nichts sind, aber daß ich Ihnen dennoch ‚im Wege‘ stehe. Und sich zählte er immer mit; er wollte unbedingt, daß wir zu dreien seien, und er sprach noch die phantastischsten Dinge, sprach von einer großen Barke mit Rudern aus nordischem Ahorn, wie es in irgendeinem russischen Liede heißt. Ich lobte ihn, sagte ihm, er sei ein Dichter, und er nahm das alles für die barste Münze. Da ich aber auch ohnedem schon längst wußte, daß ich nur für einen Augenblick ausreichen würde, so nahm ich mich und entschloß mich. Nun, und das war alles, aber jetzt genug davon, und bitte keine Erklärungen mehr. Sonst geraten wir womöglich noch in Streit. Wie gesagt, fürchten Sie niemanden, ich nehme alles auf mich. Ich bin schlecht, kapriziös, ich habe mich von der opernhaften Barke blenden lassen, ich bin eine junge Dame der Gesellschaft ... Aber wissen Sie, ich habe bei alledem doch gedacht, daß Sie mich furchtbar lieben. Verachten Sie nicht die Törin und lachen Sie nicht über diese Träne, die jetzt fiel. Ich liebe es sehr, ‚mich selbst bemitleidend‘ zu weinen. Nun, genug, genug. Ich bin zu allem unfähig und Sie sind zu allem unfähig; zwei Nasenstüber beiderseits, finden wir uns also damit ab. Wenigstens leidet so die Eigenliebe nicht.“
„Ein Traum und Wahn!“ rief Nicolai Wszewolodowitsch und schritt, die Hände ringend, im Zimmer auf und ab. „Lisa, du Arme, was hast du dir angetan?“
„Habe mich am Licht verbrannt, und das ist alles. Wie, Sie weinen doch nicht gleichfalls? Seien Sie anständiger, seien Sie gefühlloser ...“
„Warum, warum bist du zu mir gekommen?“
„Aber verstehen Sie denn nicht endlich, in welch eine komische Lage Sie sich mit solchen Fragen selbst bringen?“
„Warum hast du dich selbst zugrunde gerichtet, so ungeheuerlich und töricht! Und was soll jetzt geschehen?“
„Und das ist Stawrogin, der ‚blutdürstige Stawrogin‘, wie hier eine Dame, die in Sie verliebt ist, Sie nennt! Hören Sie, ich habe es Ihnen doch schon gesagt: ich habe mein Leben auf eine Stunde gesetzt und bin jetzt ruhig. Tun Sie dasselbe auch mit Ihrem Leben ... übrigens, wozu sollten Sie das, Sie werden noch viele solcher ‚Stunden‘ und ‚Augenblicke‘ haben!“
„Ebensoviele wie du: ich gebe dir mein heiliges Wort, nicht eine Stunde mehr als du!“
Er ging immer noch auf und ab und sah ihren schnellen, durchbohrenden Blick nicht, in dem plötzlich gleichsam Hoffnung aufleuchtete. Aber dieser Lichtstrahl erlosch in derselben Minute.
„Wenn du den Preis meiner jetzigen unmöglichen Aufrichtigkeit wüßtest, Lisa, wenn ich dir nur enthüllen könnte ...“
„Enthüllen? Sie wollen mir irgend etwas enthüllen? Gott bewahre mich vor Ihren Enthüllungen!“ unterbrach Sie ihn fast mit Schrecken.
Er blieb stehen und wartete in Unruhe.
„Ich muß Ihnen gestehen, in mir hat sich schon damals, schon in der Schweiz, der Gedanke festgesetzt, daß Sie etwas Entsetzliches auf der Seele haben müssen, etwas Schmutziges und Blutiges, und ... gleichzeitig etwas, das Sie furchtbar lächerlich macht. Hüten Sie sich, mir das zu enthüllen, wenn es so ist: ich würde Sie verspotten. Ich würde über Sie lachen solange Sie leben ... Oh, Sie erbleichen wieder? Ich werde ja nicht, ich werde nicht, ich gehe gleich fort.“ Und sie erhob sich schnell mit einer angeekelten und verachtenden Bewegung.
„Quäle mich, richte mich, schütte alle Wut über mich aus!“ rief er in Verzweiflung. „Du hast das volle Recht dazu! Ich wußte, daß ich dich nicht liebe, und richtete dich zugrunde. Ja, ich ‚nahm den Augenblick‘, ich nahm ihn an: ich hatte noch eine Hoffnung ... schon lange ... eine letzte ... Ich konnte dem Licht nicht widerstehen, das plötzlich mein Herz erhellte, als du bei mir eintratst, allein, als erste. Ich glaubte plötzlich ... Vielleicht glaube ich auch jetzt noch ...“
„Eine so edle Aufrichtigkeit bezahle ich Ihnen mit gleichem: ich will nicht Ihre barmherzige Schwester sein. Es ist möglich, daß ich wirklich Krankenpflegerin werde, wenn ich nicht heute noch zur rechten Zeit zu sterben verstehe; aber wenn ich das auch würde, so ginge ich doch nicht zu Ihnen, obschon Sie selbstredend jedem Bein- oder Armlosen gleichwertig sind. Es hat mir immer geschienen, daß Sie mich an irgendeinen Ort bringen würden, wo eine böse Riesenspinne von Menschengröße sitzt, und wir würden dort unser Lebelang auf diese Spinne sehen und uns vor ihr fürchten. Und darüber wird dann unsere gegenseitige Liebe vergehen. Wenden Sie sich an Daschenka; die wird mit Ihnen gehen, wohin Sie wollen.“
„Sie konnten es auch jetzt nicht unterlassen, sie zu erwähnen?“
„Das arme Hündchen! Grüßen Sie sie von mir. Wußte sie es, daß Sie sie schon damals in der Schweiz für Ihr Alter bestimmten? Welch eine Fürsorge! Welch eine Vorsicht! – Ach! Wer ist da?“
In der Tiefe des Saales hatte sich kaum die Tür geöffnet: ein Kopf schob sich durch und zog sich schnell wieder zurück.
„Bist du es, Alexei Jegorytsch?“ fragte Stawrogin.
„Nein, das bin nur ich,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, der sich nun von neuem und diesmal gleich bis zur Hälfte durch die Tür schob. „Guten Tag, Lisaweta Nicolajewna; auf alle Fälle wünsche ich einen guten Morgen. Wußte ich’s doch, daß ich Sie beide in diesem Saal antreffen würde. – Ich bin wirklich nur auf einen Augenblick gekommen, Nicolai Wszewolodowitsch, – bin um jeden Preis hergeeilt, nur auf ein paar Worte ... die allernotwendigsten ... nur ein paar Wörtchen!“
Stawrogin ging, aber nach drei Schritten kehrte er zu Lisa zurück.
„Wenn du jetzt gleich etwas erfahren wirst, Lisa, so wisse: ich bin schuld!“
Sie fuhr zusammen und sah ihn scheu an; doch er ging schnell hinaus.
Das Zimmer, in das sich Pjotr Stepanowitsch zurückzog, war ein großes ovales Vorzimmer. Bis zu seinem Erscheinen hatte der alte Diener Alexei Jegorytsch hier gesessen, den hatte er aber jetzt weggeschickt.
Nicolai Wszewolodowitsch schloß die Saaltür hinter sich und blieb in Erwartung stehen. Pjotr Stepanowitsch sah ihn schnell und prüfend an.
„Nun?“
„Das heißt, wenn Sie es schon wissen sollten –“ begann Pjotr Stepanowitsch eilig und als wolle er mit den Augen Stawrogin in die Seele springen, „so ist selbstverständlich niemand von uns schuld daran, besonders nicht Sie, denn es ist nur ein zufälliges Zusammentreffen ... eine Reihe von Zufällen ... mit einem Wort, juridisch kann man Ihnen nichts anhaben, und ich bin nur gekommen, um Sie zu benachrichtigen.“
„Sie sind verbrannt? Ermordet?“
„Ermordet, aber nicht verbrannt, das ist eben das Dumme! Doch ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich bin nicht schuld daran! Das heißt, wenn Sie die ganze Wahrheit wissen wollen: sehen Sie, ich hatte wirklich einmal den Gedanken – Sie selbst haben ihn mir eingegeben (nicht im Ernst, natürlich, Sie neckten mich ja nur damit, denn Sie werden doch nicht im Ernst so etwas sagen!) – doch ich hätte mich niemals zur Ausführung entschlossen, für nichts in der Welt, nicht für hundert Rubel, – denn ich habe ja gar keinen Vorteil davon, gar keinen – das heißt, ich, ich persönlich ...“ (Er überhastete sich furchtbar und sprach wie eine Plappermühle.) „Aber nun hören Sie, was für ein Zusammentreffen von Zufällen: ich gab ihm von meinem Gelde, von Ihrem war nicht ein Rubel dabei, Sie wissen das selbst, ich gab also dem betrunkenen Dummkopf Lebädkin zweihundertunddreißig Rubel, vor drei Tagen, noch am Abend, – hören Sie: vor drei Tagen, und nicht erst gestern nach der Matinee, beachten Sie das: das ist sehr wichtig! Denn ich wußte damals noch nicht, ob Lisaweta Nicolajewna zu Ihnen fahren würde oder nicht: – gab ihm von meinem eigenen Gelde, nur darum, weil Sie nun mal die Idee hatten, Ihr Geheimnis allen aufzudecken. Nun, darüber werde ich mich nicht weiter verbreiten, ... das ist Ihre Sache ... Ritter, und so weiter ... Ich gestehe aber, ich wunderte mich doch sehr, als ob ich mit einer Keule einen Schlag vor den Kopf bekommen hätte. Da mir aber diese Tragödien scheußlich langweilig geworden waren – ich spreche jetzt, merken Sie sich das wohl, im Ernst, wenn ich auch burschikose Ausdrücke gebrauche –, da nun alles das meine Pläne kreuzte, so schwor ich mir, Lebädkin, was es auch koste, und auch ohne Ihr Wissen, nach Petersburg zu schicken. Nur einen Fehler habe ich da vielleicht begangen: ich gab ihm das Geld in Ihrem Namen! War das nun ein Fehler oder nicht? Vielleicht war es auch kein Fehler! Aber hören Sie jetzt, hören Sie, wohin das alles geführt hat ... –“
Im Eifer der Rede war er Stawrogin immer näher gerückt und wollte ihn schließlich am Rockaufschlag anfassen (vielleicht, bei Gott, mit Absicht). Stawrogin schlug ihm mit einem heftigen Schlag die Hand herunter.
„Wie ... was!? ... Na ... bloß, so können Sie einem ja die Hand brechen ... Die Hauptsache ist nun, was daraus alles entstanden ist ...“ schnatterte er dann schon weiter, ohne sich über den Schlag viel zu wundern. „Am Abend gebe ich ihm das Geld, damit er mit seiner Schwester am nächsten Morgen, sowie es hell wird, sich davonmacht: beauftrage mit dieser Sache den Schuft Liputin, der ihn selbst einpacken und fortschicken soll. Aber der Schuft Liputin mußte mit dem Publikum seinen dummen Schulbubenstreich machen, – Sie haben wohl schon davon gehört? auf der Matinee? Nun hören Sie, hören Sie doch: beide betrinken sich und schmieden Verse. Liputin zieht dem anderen einen Frack an und versteckt ihn hinter den Kulissen (mir versichert er dabei, er habe ihn am Morgen auf die Bahn gebracht), um ihn im gegebenen Moment auf die Tribüne zu schubsen. Lebädkin aber betrinkt sich inzwischen wieder vollständig. Darauf folgt der bekannte Skandal – Lebädkin wird steif betrunken nach Hause gebracht, schlafend, Liputin nimmt ihm die zweihundert Rubel aus der Brieftasche und läßt ihm nur das Kleingeld. Zum Unglück aber hatte Lebädkin schon am Morgen das Geld gezeigt und damit herumgeprahlt. Da aber Fedjka nur darauf wartete – er hatte bei Kirilloff etwas davon gehört (erinnern Sie sich noch Ihrer Anspielung?), so entschloß er sich, die Gelegenheit zu benutzen. Ich bin aber doch froh, daß Fedjka wenigstens das Geld nicht vorgefunden hat, – dabei hat der Schurke eigentlich auf Tausende gerechnet! Er beeilte sich also, aber das Feuer scheint ihn dann selbst erschreckt zu haben ... Glauben Sie, mir ist dieser Brand wie ein Keulenschlag vor den Kopf! Das ist ja ... der Teufel weiß, was das ist! Das ist eine solche Eigenmächtigkeit ... Sehen Sie, ich werde Ihnen, da ich so viel von Ihnen erwarte, nichts verheimlichen: ich habe schon lange selber diese Idee, Feuer anzulegen, in mir herumgetragen. Das ist so populär, so volklich ... aber ich habe sie immer für die kritische Zeit aufbewahrt, für den großen Augenblick, wenn wir uns alle erheben und ... Und da haben sie das jetzt plötzlich eigenmächtig und ohne Befehl getan, und das noch in einem Augenblick, wo man den Atem anhalten und alles verheimlichen müßte! Nein, das ist eine solche Eigenmächtigkeit! ... Ich weiß ja noch nichts darüber: man spricht von zweien aus der Spigulinschen Fabrik ... wenn aber von den unseren jemand dabei war, wenn auch nur einer seine Hand dabei im Spiele hat – gnade ihm Gott! Sehen Sie, was das heißt, sie ein bißchen vernachlässigen! Oh, dieses demokratische Pack mit seinen ‚Fünfern‘ ist, das sehe ich, eine schlechte Stütze! Ein einziger großartiger, götzenhafter, despotischer Wille tut not, einer, der sich nicht auf etwas Zufälliges und außerhalb Stehendes stützt ... Dann werden auch die ‚Fünfer‘ gehorsam und vielleicht noch von Nutzen sein. Doch jedenfalls, wenn sie jetzt auch alle schreien und in die Trompete blasen, daß Stawrogin sich von seiner Frau befreien wollte, und daß darum die Stadt brennen mußte, so –“
„Also man schreit das schon?“
„Das heißt, nein, noch gar nicht, und ich muß gestehen, ich habe davon bis jetzt noch nichts gehört, aber was ist mit dem Volk denn anzufangen, besonders mit den Abgebrannten? Vox populi, vox Dei! Braucht es denn viel Zeit, um selbst das dümmste Gerücht zu verbreiten? Sie, wie gesagt, haben sich vor nichts zu fürchten. Juridisch ist alles einwandfrei, vor Ihrem Gewissen gleichfalls, denn Sie wollten das doch nicht? Sie wollten das doch nicht? Beweise gibt es keine, alles war nur Zufall ... Es sei denn, daß Fedjka sich Ihrer damaligen unvorsichtigen Worte bei Kirilloff erinnert (wozu haben Sie sie damals auch ausgesprochen?), aber das beweist doch nichts. Und Fedjka machen wir schnell mundtot. Ich werde ihm noch heute ...“
„Und die Leichen sind gar nicht verbrannt?“
„Nein: diese Kanaille hat nichts wie es sich gehört zu machen verstanden. Aber ich freue mich vor allen Dingen, daß Sie so ruhig sind ... denn wenn Sie daran auch gar keine Schuld tragen, nicht mal in Gedanken, so ist es doch – na, immerhin. Jedenfalls werden Sie mir aber zugeben, daß das alles sehr schön Ihre Angelegenheiten in Ordnung bringt: Sie sind plötzlich ein freier Witwer und können noch in dieser Stunde das schönste Mädchen mit einem riesigen Vermögen heiraten, – ein Mädchen, das noch dazu schon in Ihren Händen ist. Sehen Sie, was ein einfacher, grober Zufall alles tun kann, nicht wahr?“
„Sie wollen mich einschüchtern, Sie Dummkopf?“
„Nun, schon gut, schon gut, warum gleich Dummkopf, und was ist das für ein Ton? Wer sollte sich mehr freuen, als Sie? Ich bin hergelaufen, um Sie zu benachrichtigen ... Womit sollte ich Sie denn einschüchtern? Als ob ich Ihnen zu drohen nötig hätte! Ich brauche Ihren freien Willen, aber nicht einen erzwungenen! Sie sind das Licht und die Sonne. Ich fürchte Sie, aber nicht Sie mich! Ich bin doch nicht Mawrikij Nicolajewitsch ... Stellen Sie sich vor, ich sause hierher in einer Droschke – und wen sehe ich? – Mawrikij Nicolajewitsch! An Ihrem Gartenzaun, ganz am Ende des Gartens, – im Mantel, völlig durchnäßt, er muß wohl die ganze Nacht dort gewartet haben! Wunderbar! Wie weit die Menschen doch den Verstand verlieren können!“
„Mawrikij Nicolajewitsch! Ist das wahr?“
„Es ist wahr, es ist wahr. Steht am Gartenzaun. Von hier – na, dreihundert Schritte von hier, wenn ich mich nicht irre. Ich beeilte mich, an ihm vorüber zu kommen, aber er hat mich doch gesehen. Sie wußten es nicht? In dem Fall bin ich sehr froh, daß ich nicht vergessen habe, es Ihnen mitzuteilen. Sehen Sie, solch einer ist am gefährlichsten! wenn der einen Revolver bei sich hat! und zuletzt, die Nacht, die Nässe, die Erregung, und dann – wie ist denn seine Lage jetzt, ha, ha! Was meinen Sie, warum sitzt er da?“
„Er wartet natürlich auf Lisaweta Nicolajewna.“
„So–o! Ja warum sollte sie denn zu ihm hinausgehen? Und ... in diesem Regen ... so ein Esel!“ ...
„Sie wird sogleich zu ihm hinausgehen.“
„Aha! Das ist mir mal eine Neuigkeit! Also ... Aber hören Sie, jetzt hat sich doch Ihre Situation völlig geändert: wozu braucht sie jetzt den Mawrikij? Sie sind doch jetzt ein freier Witwer und können sie doch morgen heiraten? Weiß sie noch nichts? Dann überlassen Sie es mir, ich werde gleich alles in Ordnung bringen. Wo ist sie, man muß ihr doch auch eine Freude machen!“
„Eine Freude?“
„Sie fragen noch! Gehen wir.“
„Und Sie glauben, daß sie vor diesen Leichen nichts errät?“ fragte Stawrogin, indem er ihn mit halb zugekniffenen Augen ansah.
„Natürlich nicht,“ antwortete Pjotr Stepanowitsch, den Dummen spielend, „denn juridisch ... Ach, Sie! Und wenn sie es auch errät! Von den Frauen wird das alles so schnell abgetan! Sie kennen die Frauen noch nicht! Außerdem muß sie Sie doch ganz einfach heiraten, denn sie hat sich doch nun mal kompromittiert, ganz abgesehen davon, daß ich ihr von der ‚Barke‘ schon erzählt habe: und habe gesehen, daß man gerade damit Eindruck auf sie macht – da sieht man gleich, von welchem Kaliber das Mädchen ist. Beruhigen Sie sich, sie wird über diese Leichen so hinwegtreten, wie nichts! Außerdem sind Sie ja doch tatsächlich ganz unschuldig, vollständig unschuldig, nicht wahr? Sie wird die Erinnerung an diese Leichen nur aufbewahren, um Sie vom zweiten Jahre Ihrer Ehe an damit zu peinigen. Jedes Weib, das zum Altar geht, rächt sich so an ihrem Mann, aber was dann sein wird ... was wieder übers Jahr sein wird? Ha, ha, ha!“
„Sie sind mit einer Droschke gekommen? Die Droschke wartet noch? Dann fahren Sie in dieser Droschke mit Lisa zu Mawrikij Nicolajewitsch. Sie hat mir soeben gesagt, daß sie mich nicht lieben kann, daß sie von mir geht, da wird sie selbstverständlich keine Equipage von mir annehmen.“
„Aber was soll denn das bedeuten? Ist das wirklich ihr Ernst? Was hat denn das veranlassen können?“ Pjotr Stepanowitsch sah ihn mit einem recht dummen Gesicht an.
„Sie hat es irgendwie erraten, in dieser Nacht, daß ich sie gar nicht liebe ... was sie natürlich schon immer gewußt hat.“
„Ja, aber wie – lieben Sie sie denn nicht?“ fragte Pjotr Stepanowitsch mit der Miene grenzenlosen Erstaunens. „Aber wenn das so ist, warum haben Sie ihr das dann nicht gestern gleich gesagt, daß Sie sie nicht lieben? Das ist doch eine schreckliche Gemeinheit von Ihnen, und wie stehe ich denn jetzt vor ihr da?“
Stawrogin begann plötzlich zu lachen.
„Ich lache über meinen Affen,“ erklärte er sofort.
„Ah! Sie haben’s durchschaut, daß ich den Bajazzo spiele!“ Pjotr Stepanowitsch lachte sogleich furchtbar lustig mit. „Ich hab’s ja nur getan, um Sie zu amüsieren! Stellen Sie sich vor, ich hab’s doch im Augenblick, wie Sie aus der Tür traten, Ihrem Gesicht angesehen, daß es bei Ihnen ‚Unglück‘ gegeben hat. Vielleicht sogar einen vollständigen Mißerfolg, wie? Nun, ich möchte schwören,“ rief er, sich vor Entzücken fast verschluckend, „daß Sie die ganze Nacht im Saal nebeneinander wie Puppen auf den Stühlen gesessen, über hohe Sachen sich gestritten und so die ganze kostbare Zeit verbracht haben ... Doch, verzeihen Sie, verzeihen Sie, was geht das mich an! Ich wußte ja schon gestern, daß es bei Ihnen mit einer Dummheit enden werde. Ich habe sie Ihnen ja auch überhaupt nur gebracht, um Ihnen ein Vergnügen zu verschaffen, und um Ihnen zu beweisen, daß Sie es mit mir nicht langweilig haben werden! Dreihundertmal kann ich Ihnen noch mit so was dienen! Ich liebe es überhaupt, den Menschen gefällig zu sein. Und wenn Sie sie jetzt also nicht mehr brauchen, worauf ich ja rechnete, dann – nun ja, dann bin ich eben hierhergefahren, um ...“
„So haben Sie sie mir also nur zu meinem Vergnügen gebracht?“
„Wozu denn sonst?“
„Und nicht deshalb, um mich zu zwingen, meine Frau zu ermorden?“
„So–o, ja haben Sie sie denn ermordet? Was für ein tragischer Mensch Sie sind!“
„Gleichviel, Sie haben sie ermordet.“
„Wieso denn ich? Aber ich sage Ihnen doch, ich bin da auch nicht mit einem Tropfen beteiligt. Indessen, Sie fangen an mich zu beunruhigen ...“
„Fahren Sie fort, Sie sagten: ‚Wenn Sie sie also jetzt nicht mehr brauchen, so ...‘“
„So überlassen Sie sie mir, selbstverständlich! Ich werde sie glänzend mit Mawrikij Nicolajewitsch verheiraten, den nicht ich unten am Gartenzaun aufgestellt habe – setzen Sie sich nicht auch das noch in den Kopf! Ich fürchte ihn jetzt sogar. Wahrhaftig, wenn er vorhin einen Revolver gehabt hätte! ... Gut, daß auch ich einen habe! Da ist er –“ (er zog einen Revolver aus der Tasche, zeigte ihn, steckte ihn aber schnell wieder ein), „ich habe ihn wegen des weiten Weges zu mir gesteckt ... Übrigens, ich werde das alles im Augenblick beilegen: es wird ihr gerade jetzt wegen Mawrikij am Herzchen nagen ... es muß ja so sein ... und wissen Sie, bei Gott, sie tut mir sogar ein wenig leid! Bringe ich sie wieder mit Mawrikij zusammen, so wird sie von Stund an nur an Sie denken, Sie verhimmeln und ihn schelten, – ein Weiberherz! Nun, Sie lachen schon wieder? Es freut mich riesig, daß Sie so heiter geworden sind. Nun, wie – gehen wir? Ich fange sogleich von Mawrikij an, von denen aber ... den Toten ... wissen Sie, sollte man nicht jetzt lieber darüber schweigen? Sie wird es ja später doch erfahren.“
Plötzlich stand Lisa in der Tür.
„Was werde ich erfahren? Wer ist tot? Was sagten Sie von Mawrikij Nicolajewitsch?“
„Ah! Sie haben uns belauscht?“
„Was sagten Sie von Mawrikij Nicolajewitsch? Ist er tot?“
„Ah! so haben Sie doch nichts gehört! Beruhigen Sie sich, Mawrikij Nicolajewitsch lebt und ist gesund, wovon Sie sich schon im Augenblick werden überzeugen können, denn er steht hier unten, am Wege, am Gartenzaun ... und steht dort, glaube ich, die ganze Nacht, durchnäßt, im Mantel ... Ich fuhr an ihm vorüber, er hat mich gesehn.“
„Das ist nicht wahr. Sie sagten ... Wer ist getötet?“
„Ermordet ist nur meine Frau, ihr Bruder Lebädkin und die Aufwärterin,“ sagte Stawrogin mit fester Stimme.
Lisa zuckte zusammen und erbleichte unheimlich.
„Ein ganz sonderbarer Zufall, Lisaweta Nicolajewna, der dümmste Fall von einem Raubmord,“ trommelte sofort wieder Pjotr Stepanowitsch los – „ein Räuber, der den Brand benutzen wollte: der Dummkopf Lebädkin hatte allzu offen sein Geld gezeigt ... das benutzte dann Fedjka, ein entsprungener Zuchthäusler – Sie werden von ihm gehört haben ... Ich bin sofort hierher geeilt ... ich war wie von einem Stein getroffen, wie Sie sich denken können, und Stawrogin war denn auch so erschüttert, als ich ihm das Geschehene mitteilte. Wir berieten uns gerade: ob man es Ihnen jetzt gleich sagen sollte oder noch nicht?“
„Nicolai Wszewolodowitsch, sagt er die Wahrheit?“ brachte Lisa kaum hörbar hervor.
„Nein, er sagt die Unwahrheit.“
„Wie, die Unwahrheit?“ fuhr Pjotr Stepanowitsch erschrocken auf. „Was soll denn das wieder heißen?“
„Mein Gott, ich verliere den Verstand!“ schrie Lisa auf.
„Bedenken Sie doch, daß der Mensch ja wahnsinnig ist!“ suchte Pjotr Stepanowitsch alles zu überschreien, „denn immerhin, es ist doch nun mal seine Frau, die man erschlagen hat! Sehen Sie doch, wie bleich er ist ... Er war doch die ganze Nacht mit Ihnen zusammen, hat Sie nicht auf eine Minute verlassen, da kann er es doch nicht getan haben, wer wird denn ihn verdächtigen?!“
„Nicolai Wszewolodowitsch, sagen Sie mir wie vor Gott, ob Sie schuld sind oder nicht, und ich schwöre Ihnen, ich werde Ihrem Wort glauben, wie dem Worte Gottes, und bis ans Ende der Welt werde ich Ihnen folgen, oh, ich folge! Ich folge wie ein Hündchen ...“
„Was quälen Sie sie, warum, wozu, Sie phantastischer Kopf!“ rief Pjotr Stepanowitsch wütend. „Lisaweta Nicolajewna, hören Sie mich an, Wort für Wort: er ist unschuldig, im Gegenteil, er ist wie vernichtet, er ist krank und phantasiert, Sie sehen es doch! In nichts, in nichts ist er schuldig! Das haben Raubmörder getan, denen man vielleicht schon morgen auf der Spur sein wird! Das hat Fedjka, der Zuchthäusler, getan, und noch einige aus der Spigulinschen Fabrik, die ganze Stadt spricht schon davon, deshalb bin ich ...“
„Ist es so? Ist es so?“ Am ganzen Körper zitternd erwartete Lisa ihren Urteilsspruch.
„Ich habe nicht gemordet und ich war dagegen, aber ich wußte, daß man sie umbringen werde und habe nichts getan, um den Mord zu verhindern. Gehen Sie von mir, Lisa,“ murmelte Stawrogin und ging in den Saal.
Lisa bedeckte das Gesicht mit den Händen und ging hinaus aus dem Hause. Pjotr Stepanowitsch wollte ihr schon nachstürzen, kehrte aber sofort um und ging in den Saal zu Stawrogin.
„Also so sind Sie? So sind Sie? Also nichts fürchten Sie?“ stieß er, wie irrsinnig vor Wut, unzusammenhängend, mit Schaum vor dem Munde, hervor.
Stawrogin stand in der Mitte des Saales und erwiderte kein Wort. Er griff mit der linken Hand in sein Haar und lächelte blicklos. Pjotr Stepanowitsch riß ihn heftig am Ärmel.
„Jetzt sind Sie verloren! Was? Also darauf haben Sie es angelegt? Alle geben Sie preis! Und selbst gehen Sie ins Kloster oder zum Teufel! Aber ich werde Ihnen ja doch den Garaus machen, auch wenn Sie mich nicht fürchten sollten!“
„Ach, Sie sind es, der hier plappert?“ Stawrogin bemerkte ihn jetzt erst. Und plötzlich, wie erwachend, rief er: „Laufen Sie, laufen Sie ihr nach, befehlen Sie einen Wagen, verlassen Sie sie nicht ... Laufen Sie, laufen Sie doch! Bringen Sie sie nach Haus, damit es niemand weiß, und sie nicht dorthin geht ... zu den Leichen ... den Leichen ... Setzen Sie sie mit Gewalt in die Equipage ... Alexei Jegorytsch! Alexei Jegorytsch!“
„Still, schreien Sie nicht! Sie ist jetzt schon in Mawrikijs Armen ... Mawrikij wird sich nicht in Ihre Equipage setzen. Bleiben Sie! Das hier ist wichtiger, als die Equipage!“
Er riß wieder den Revolver hervor. Stawrogin sah ihn ernst an.
„Nun was, erschießen Sie mich,“ sagte er leise, beinahe versöhnlich.
„Pfui Teufel, welch eine Lüge der Mensch auf sich laden kann!“ Pjotr Stepanowitsch erzitterte förmlich. „Bei Gott, ja, man sollte Sie totschlagen! Wahrlich, sie mußte ja einfach auf Sie spucken! ... Was können Sie denn noch für eine tragende Barke sein, Sie alter, morscher, hölzerner Kahn, der nur noch zum Abbruch taugt! ... Nun, wenn Sie sich doch wenigstens aus Bosheit, aus Bosheit jetzt aufrafften! Ach! So ist Ihnen wohl schon alles gleich, wenn Sie bereits selber um eine Kugel in Ihre Stirn bitten?“
Stawrogin lächelte sonderbar.
„Wenn Sie nicht solch ein Narr wären, so würde ich jetzt vielleicht ‚ja‘ sagen ... Wenn Sie nur ein bißchen klüger wären ...“
„Gut, mag ich ein Narr sein, aber ich will nicht, daß Sie, meine wichtigere Hälfte, auch ein Narr sind! Verstehen Sie mich?“
Stawrogin verstand ihn, vielleicht konnte nur er allein ihn verstehen. War doch Schatoff erstaunt gewesen, als Stawrogin ihm gesagt hatte, daß in Pjotr Stepanowitsch Enthusiasmus sei.
„Gehen Sie jetzt zum Teufel, morgen werde ich vielleicht irgend was aus mir herausbringen. Kommen Sie morgen wieder.“
„Ja? Ja?“
„Was kann ich wissen! ... Gehen Sie zum Teufel, zum Teufel!“
Und er verließ den Saal.
„Wer weiß, vielleicht ist es auch besser so,“ murmelte Pjotr Stepanowitsch und steckte den Revolver wieder ein.
Er eilte hinaus, um Lisaweta Nicolajewna einzuholen. Sie war noch nicht weit gekommen: – ein paar Schritte vom Hause entfernt, erreichte er sie. Alexei Jegorytsch, der ihr im Frack und ohne Hut, in einem Abstande von einem Schritt, in ehrerbietiger Haltung folgte, suchte sie zurückzuhalten: er sprach auf sie ein und suchte ihr vergeblich klar zu machen, daß sie doch auf die Equipage warten müsse; der Alte war dabei dem Weinen nahe.
„Mach dich fort, der Herr wünscht Tee,“ damit schob Pjotr Stepanowitsch den Alten beiseite und legte Lisaweta Nicolajewnas Hand auf seinen Arm.
Sie zog die Hand nicht fort: offenbar war sie noch gar nicht bei voller Besinnung.
„Erstens müssen Sie nicht dahin, nicht am Park vorüber,“ begann Pjotr Stepanowitsch, „sondern hierher. Zweitens können Sie unmöglich zu Fuß gehen, denn bis zu Ihnen sind es gute drei Werst, und Sie sind nur in einem leichten Kleide. Wenn Sie nur ein wenig warten wollten. Ich bin in einer Droschke gekommen und die wartet noch auf mich. Ich werde Sie sofort hineinsetzen und dann so zurückbringen, daß niemand Sie sieht.“
„Wie gut Sie sind ...“ sagte Lisa freundlich.
„Aber ich bitte Sie, in einem solchen Fall würde doch jeder humane Mensch an meiner Stelle ebenso ... –“
Lisa sah ihn an und war verwundert.
„Ach, mein Gott, und ich dachte, daß immer noch der Alte ...“
„Hören Sie mal, es freut mich sehr, daß Sie es so ruhig auffassen, denn alles das ist doch ein fürchterliches Vorurteil. Wäre es also nicht das Vernünftigste, ich befehle dem Alten, sofort die Equipage anspannen zu lassen? Das dauert höchstens zehn Minuten, und wir gehen so lange auf die Treppe zurück und warten, wie?“
„Ich möchte zuerst ... wo sind die Ermordeten?“
„Natürlich! Das befürchtete ich ja! Nein, die lassen wir hübsch beiseite. Und das ist auch nichts für Sie!“
„Ich weiß, wo sie sind, ich kenne das Haus.“
„Nun, was, was wissen Sie? Ich bitte Sie, jetzt im Regen, im Nebel (da habe ich mir eine schöne Verpflichtung aufgeladen!) ... Hören Sie, Lisaweta Nicolajewna, entweder oder: Sie können mit mir auf die Droschke warten und gehen jetzt keinen Schritt weiter, oder aber, wenn Sie noch zwanzig Schritte weiter gehen, so erblickt uns Mawrikij Nicolajewitsch.“
„Mawrikij Nicolajewitsch! Wo? Wo?“
„Nun, wenn Sie zu ihm gehen wollen, so kann ich Sie meinethalben noch ein Stückchen begleiten und Ihnen zeigen, wo er steht. Ich selbst aber mache dann meinen ergebensten Diener: ich möchte jetzt nicht mit ihm sprechen.“
„Er wartet auf mich, mein Gott!“ Sie blieb plötzlich stehen und wurde über und über rot. –
„Nun, was soll das! Wenn er ein Mensch ohne Vorurteile ist! Wissen Sie, Lisaweta Nicolajewna, das ist ja alles nicht mehr meine Sache, – ich bin ja ganz unbeteiligt dabei, das wissen Sie selbst. Aber ich will doch Ihr Bestes ... Wenn es mit unserer ‚Barke‘ nun einmal nichts ist, wenn es sich herausgestellt hat, daß sie nur ein alter, verfaulter Kahn war, der nur noch zum Abbruch taugt ...“
„Ach, wunderbar!“ Lisa lachte hysterisch auf.
„Ja, wunderbar, aber dabei fließen Ihnen die Tränen über die Wangen. Da ist mehr Festigkeit nötig. Die Frau soll den Männern nicht nachstehen. In unserer Zeit, wenn die Frau ... pfui, zum Teufel!“ (Pjotr Stepanowitsch hätte beinahe ausgespuckt.) „Und die Hauptsache, nichts bedauern: vielleicht wird sich alles noch zum besten kehren. Mawrikij Nicolajewitsch ist ein Mensch ... mit einem Wort, ein gefühlvoller Mensch, wenn auch nicht gesprächig, was übrigens nichts auf sich hat, vorausgesetzt, daß er nur ein vorurteilsfreier Mensch ist ...“
„Wunderbar, wunderbar,“ lachte Lisa immer noch.
„Ach nun, zum Teufel ... Lisaweta Nicolajewna,“ sagte Pjotr Stepanowitsch plötzlich pikiert, „ich rede doch nur in Ihrem Interesse ... denn was geht das schließlich mich an? Ich war Ihnen gestern zu Diensten, habe getan, was Sie selbst wollten, und heute ... Nun sehen Sie, von hier sieht man schon Mawrikij Nicolajewitsch! Dort steht er und sieht uns nicht. Haben Sie ‚Polinka Sachs‘ gelesen, Lisaweta Nicolajewna?“ – „Was ist das?“
„Das ist eine Erzählung. Ich habe Sie als Student mal gelesen ... Da läßt ein Mann seine Frau auf der Villa wegen Untreue verhaften ...[53] Ah, nun, zum Teufel damit! Sie werden sehen, daß Mawrikij Nicolajewitsch Ihnen, noch bevor Sie zu Hause ankommen, einen Heiratsantrag macht. Er sieht uns noch immer nicht.“
„Ach, möge er uns auch nicht sehen!“ rief Lisa plötzlich in großer Angst. – „Gehen wir fort, fort! In den Wald, aufs Feld!“ Und sie lief zurück.
„Aber Lisaweta Nicolajewna, das ist doch so kleinmütig!“ rief Pjotr Stepanowitsch hinter ihr drein. „Und warum wollen Sie denn nicht, daß er Sie sieht? Im Gegenteil, blicken Sie ihm offen und stolz in die Augen ... Wenn Sie etwa deswegen ... ich meine, wegen der ... Jungfernschaft ... so ist das doch das größte Vorurteil von allen, ist doch eine solche Rückständigkeit ... Aber wohin gehen Sie denn, wohin? Teufel, da läuft sie nun ... Kehren wir doch lieber zu Stawrogin zurück! Nehmen wir meine Droschke! ... Wohin laufen Sie? Dort ist das Feld, und ... So! – da ist sie nun gefallen!“
Er blieb stehen. Lisa war wie ein Vogel davongeflogen, ohne zu wissen, wohin. Pjotr Stepanowitsch war schon auf fünfzig Schritt zurückgeblieben. Da stolperte sie über einen kleinen Erdhügel und fiel.
Im selben Augenblick hörte man einen kurzen Schrei: das war Mawrikij Nicolajewitsch, der sie jetzt plötzlich erblickt und fallen gesehen hatte, und im Augenblick schon quer über das Feld zu ihr lief.
Pjotr Stepanowitsch stand im Nu hinter dem Parktor und zog sich dann schleunigst zurück, um sich ohne Zeitverlust in seine Droschke zu setzen.
Mawrikij Nicolajewitsch aber stand schon, angstvoll erschrocken, neben Lisa, half ihr aufstehen und hielt, über sie gebeugt, ihre Hand in seinen Händen. Das Unglaubliche, Unmögliche, das in dieser Begegnung lag, erschütterte ihn so, daß ihm Tränen über das Gesicht rannen. Er hatte sie erblickt, wie sie, die er so andächtig verehrte, wie wahnsinnig über das Feld lief, und das zu dieser Stunde, bei solchem Wetter, im Kleide, im zarten Kleide von gestern, das jetzt zerdrückt und vom Fall beschmutzt an ihr herabhing ... Er konnte kein Wort hervorbringen, nahm hastig seinen Mantel ab und bedeckte mit zitternden Händen ihre Schultern. Plötzlich schrie er auf: er hatte gefühlt, wie sie mit ihren Lippen seine Hand berührte.
„Lisa!“ rief er aus, „ich verstehe nichts, aber stoßen Sie mich nicht von sich!“
„Oh, ja, gehen wir schnell von hier weg, verlassen Sie mich nicht!“ und sie zog ihn an der Hand mit sich fort.
„Mawrikij Nicolajewitsch,“ erschreckt senkte sie die Stimme, „dort tat ich die ganze Zeit sehr tapfer, aber hier fürchte ich den Tod. Ich werde sterben, ich werde bald sterben, aber ich fürchte mich zu sterben,“ flüsterte sie, und preßte krampfhaft seine Hand.
„Oh, wenn doch irgend jemand! ...“ er blickte sich in Verzweiflung um. „Wenn doch ein Vorüberfahrender! Ihre Füße werden naß, Sie ... werden den Verstand verlieren!“
„Tut nichts, tut nichts,“ beruhigte sie ihn, „mit Ihnen zusammen fürchte ich mich weniger, halten Sie mich an der Hand, führen Sie mich ... Wohin gehen wir jetzt? Nach Hause? Nein, ich will zuerst die Leichen sehn! Die Menschen sagen, daß man seine Frau ermordet hat, er aber sagt, er habe sie selbst ermordet; aber das ist doch nicht wahr, das ist doch nicht wahr? Ich möchte selbst die Ermordeten sehen ... die für mich ... ihretwegen hat er diese Nacht aufgehört, mich zu lieben ... Ich werde sie sehen und alles erfahren. Schnell, schnell, ich kenne dieses Haus ... es hat dort gebrannt ... Mawrikij Nicolajewitsch, mein Freund, verzeihen Sie mir Ehrlosen nicht! Warum mir verzeihen? – Warum weinen Sie? Geben Sie mir eine Ohrfeige und schlagen Sie mich tot hier auf dem Felde, wie einen Hund!“
„Niemand ist jetzt Ihr Richter,“ sagte Mawrikij Nicolajewitsch fest, „möge Gott Ihnen verzeihen, am wenigsten von allen aber bin ich Ihr Richter!“
Doch sonderbar wäre es, wollte man ihr Gespräch wiedergeben. Dabei gingen sie weiter, Hand in Hand, schnell und eilig, wie Halbwahnsinnige – gerade in der Richtung zur Brandstätte.
Mawrikij Nicolajewitsch hatte noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwo einen Wagen anzutreffen, aber ringsum blieb alles still und leer. Ein feiner, dünner Nebelregen verschleierte die ganze Landschaft. Jedes Licht und jede Farbe sog er auf und verwandelte Nähe und Ferne, Himmel und Erde unterschiedslos in eine einzige rauchige, bleierne Masse. Es war schon längst Tag und doch schien es noch nicht hell geworden zu sein. Und plötzlich tauchte aus diesem rauchigen, kalten Nebel eine Gestalt auf und kam den beiden entgegen, eine eigentümliche, seltsame Figur.
Ich glaube, ich hätte meinen Augen nicht getraut, wenn ich an Lisaweta Nicolajewnas Stelle gewesen wäre; sie aber, im Gegenteil, sie schrie freudig auf und erkannte den Menschen sofort: Es war Stepan Trophimowitsch.
Auf welche Weise er aus dem Hause gekommen war, wie er den Gedanken der Flucht, diese erklügelte Idee, verwirklicht hatte – davon später.
Er wird wohl schon an diesem Morgen Fieber gehabt haben, aber selbst die Krankheit, von der er übrigens selber vielleicht nichts gemerkt hat, vermochte ihn nicht zurückzuhalten. Tapfer stapfte er auf dem vom Regen aufgeweichten Wege darauf los. Offenbar hatte er bei seinem Unternehmen möglichst allein sein wollen, trotz seiner ganzen Lebensunerfahrenheit.
Angezogen war er reisemäßig, das heißt, er hatte einen Mantel an, der von einem breiten lackledernen Gurt zusammengehalten wurde. Die Beinkleider staken in hohen, glänzenden Stiefelschäften, in denen er noch nicht recht zu gehen verstand. Augenscheinlich war alles neu und erst in diesen Tagen angeschafft. Ein Hut mit breitem Rand, ein wollener, fest um den Hals geschlungener Schal, ein Stock in der rechten Hand und in der Linken ein kleiner, aber sehr fest vollgestopfter Reisesack, vollendeten sein Kostüm. In derselben rechten Hand hielt er dann noch einen aufgespannten Regenschirm. Diese drei Gegenstände zu schleppen, den Regenschirm, den Stock und den Handkoffer, war ihm schon in der ersten Stunde recht unbequem, in der zweiten aber bereits furchtbar schwer.
„Sind Sie das wirklich?“ rief Lisa, und betrachtete ihn mit einem traurigen Erstaunen, nachdem der erste Ausbruch ihrer unbewußten Freude vorüber war.
„Lise!“ fuhr Stepan Trophimowitsch auf. „Chère, chère, sind Sie es wirklich ... in diesem Nebel? Sehen Sie, das Morgenrot! Vous êtes malheureuse, n’est-ce pas?[191] Ich sehe, ich sehe schon, erzählen Sie nichts und fragen Sie auch mich nicht. Nous sommes tous malheureux, mais il faut les pardonner tous. Pardonnons, Lise,[192] und wir werden frei sein auf ewig. Um sich von der Welt zu lösen und vollständig frei zu werden – il faut pardonner, pardonner et pardonner!“[193]
„Aber warum knien Sie denn vor mir nieder?“
„Weil ich, indem ich von der Welt Abschied nehme, in Ihrem Bilde von meinem ganzen vergangenen Leben Abschied nehmen will!“ Er weinte und führte ihre beiden Hände an seine verweinten Augen. „Ich knie jetzt vor allem, was in meinem Leben schön war, ich küsse es und danke ihm! Jetzt habe ich mich in zwei Hälften geteilt: dort der Wahnsinnige, der vom Himmel träumte, vingt-deux ans![194] hier der niedergebeugte und verfrorene alte Erzieher ... chez ce marchand, s’il existe pourtant ce marchand[195] ... Aber wie Sie durchnäßt sind, Lise!“ rief er plötzlich, wieder aufstehend, denn er fühlte, daß auch seine Knie auf der feuchten Erde naß geworden waren. „Und wie ist das möglich, Sie in diesem Kleide? ... und zu Fuß, und auf freiem Felde ... Sie weinen? Vous êtes malheureuse? Ja richtig, ich habe doch etwas gehört ... Aber woher kommen Sie denn?“ verdoppelte er seine Fragen, mit tiefer Verwunderung Mawrikij Nicolajewitsch ansehend, „mais savez-vous l’heure qu’il est?“[196]
„Stepan Trophimowitsch, haben Sie dort etwas von Ermordeten gehört ... Ist es wahr? Ist es wahr?“
„Diese Menschen! Ich sah den Feuerschein ihrer Taten die ganze Nacht am Himmel. Sie konnten ja gar nicht anders enden!“ (Seine Augen flammten wieder auf.) „Ich laufe aus dem Dunst eines Fiebertraumes, laufe und suche Rußland, – existe-t-elle la Russie? Bah, c’est vous, cher capitaine![197] Niemals habe ich daran gezweifelt, daß ich Sie bei einem großen Ereignis treffen würde. ... Nehmen Sie aber wenigstens meinen Schirm! Und – warum denn gerade zu Fuß? Um Gottes willen, nehmen Sie doch wenigstens meinen Schirm, denn ich werde sowieso irgendwo ein Fuhrwerk mieten. Sehen Sie, ich bin darum zu Fuß, weil Stasie“ (das heißt: Nastassja) „es sonst durch die ganze Stadt geschrien hätte, daß ich fortfahre! So bin ich möglichst inkognito entschlüpft. Ich weiß nicht, in der Zeitung schreibt man jetzt von Mord und Totschlag auf den Landstraßen – aber es kann doch nicht sein, denke ich, daß mich Räuber überfallen? Chère Lise, sagten Sie nicht, man hätte jemand ermordet? Oh, mon Dieu,[198] wie sehen Sie aus?“
„Gehen wir, gehen wir!“ rief Lisa wieder hysterisch weinend, und zog Mawrikij Nicolajewitsch mit sich fort. „Warten Sie, Stepan Trophimowitsch,“ sie kehrte plötzlich zu ihm zurück, „warten Sie, lieber Armer, ich werde Sie segnen. Vielleicht wäre es besser, Sie zu binden, aber ich segne Sie lieber. Beten auch Sie für die ‚arme‘ Lisa – so, ein wenig, ohne sich zu sehr anzustrengen, ja? Mawrikij Nicolajewitsch, geben Sie diesem Kinde seinen Schirm wieder, geben Sie unbedingt, unbedingt! So ... Gehen wir, gehen wir!“
Sie langten vor dem verhängnisvollen Hause gerade in dem Augenblicke an, als die Volksmenge, die sich dort angesammelt hatte, davon sprach, wie vorteilhaft es für Stawrogin doch sei, daß man „seine Frau“ ermordet hatte. Einige waren sehr erregt. Andere hörten schweigend zu. Am lebhaftesten ging es wie gewöhnlich unter den Angetrunkenen her: Schreihälse, Leute aller Art standen in Gruppen zusammen und erörterten heftig gestikulierend das Geschehene. Besonders fiel mir wieder jener Kleinbürger auf, der Schmied, den man sonst als stillen Menschen kannte, der aber, wenn ihn etwas seelisch aus dem Gleichgewicht brachte, dann plötzlich aus Rand und Band geraten konnte.
Ich habe davon, was jetzt geschah, nicht alles gesehen: zu oft schob sich die Menge vor.
Zuerst erblickte ich Lisa, plötzlich mitten im dichtesten Haufen, und ich erstarrte vor Schreck. Mawrikij Nicolajewitsch sah ich dagegen nicht, wahrscheinlich war er im Gedränge von ihr abgekommen, vielleicht nur auf ein paar Schritte. Natürlich mußte Lisa, die sich wie eine Irrsinnige durch die Menge drängte, allen auffallen, alle erregen.
„Da ist die Stawroginsche!“ rief mit einemmal jemand.
„Sie morden nicht nur, sie wollen sich die Bescherung auch noch ansehen!“ rief ein anderer.
In diesem Augenblick sah ich, wie über ihrem Haupte eine Hand sich erhob und auf sie niederschlug.
Lisa stürzte zu Boden.
Hinter ihr ertönte ein wilder Schrei und Mawrikij Nicolajewitsch suchte sich mit aller Kraft zu ihr Bahn zu brechen und riß und stieß den Menschen, der ihm im Wege stand. Da wurde auch er schon von eben jenem Kleinbürger gepackt und zu Boden geworfen. Für einen Augenblick verschwamm alles im Gewühl. Einmal sah ich auch Lisa wieder: sie hatte sich erhoben, aber da traf sie schon ein zweiter, noch furchtbarerer Schlag. Ich konnte nichts mehr sehen. Da drängte aber die Menge schon zurück, es bildete sich ein leerer Kreis um die wie tot Daliegende: über sie gebeugt sah ich Mawrikij Nicolajewitsch, blutüberströmt, wimmernd vor Schmerz und verzweifelnd die Hände ringend. Ich weiß nicht mehr, was weiter geschah. Aber ich erinnere mich noch, wie ich plötzlich sah, daß man Lisa davontrug: man sagte, sie lebte noch.
Der Schmied und noch drei andere wurden verhaftet. Vor Gericht erklärten sie später, daß sie selbst nicht wüßten, wie es eigentlich geschehen war. Auch ich war als Zeuge geladen und auch ich konnte nichts anderes aussagen, als daß es sich meiner Meinung nach um eine jähe, blinde und gleichsam zufällige Tat der Menge gehandelt hatte, um eine fast unbeabsichtigte, ja fast sogar unbewußte Tat, bei der es Schuldige eigentlich nicht gab. Das ist auch jetzt noch meine Meinung.
An diesem Morgen ist Pjotr Stepanowitsch von sehr vielen gesehen worden, und sie alle sagen jetzt aus, er habe sich in einem ungewöhnlich angeregten Zustande befunden.
Um zwei Uhr nachmittags sprach er bei Gaganoff vor, der erst vor einem Tage von seinem Gut in die Stadt gekommen war und bei dem sich nun ein ganzer Schwarm von Gästen eingefunden hatte, die alle viel und eifrig über die Ereignisse sprachen. Dort hatte Pjotr Stepanowitsch dann noch weit mehr als die anderen gesprochen und schließlich auch erreicht, was er wollte. Vor allem sprach er über Julija Michailowna, ein Thema, das nach dem Vorgefallenen natürlich ungemein interessierte. Er erzählte von ihr, als ihr Vertrauter, der er kürzlich noch gewesen war, viele unerwartete Einzelheiten, und aus Versehen, selbstredend nur aus Versehen, teilte er einige ihrer Bemerkungen über einzelne allen bekannte Persönlichkeiten mit, womit er sofort die Eigenliebe mehrerer Anwesenden empfindlich traf. Es kam bei ihm heute alles so unklar und wirr heraus, ganz so wie bei einem nicht sehr schlauen Menschen, der sich von seinem ehrlichen Gewissen gezwungen sieht, so schnell wie möglich einen ganzen Berg angesammelter Mißverständnisse abzutragen, und der nun in seiner gradherzigen Ungewandtheit selbst nicht weiß, wo er anfangen und wo er enden soll. Ziemlich unvorsichtig, selbstverständlich nur unvorsichtig wirkte es auch, als er die Bemerkung fallen ließ, daß Julija Michailowna um das Ehegeheimnis Stawrogins gewußt und die ganze Intrige geleitet habe. In dieser Weise habe sie dann auch ihn, Pjotr Stepanowitsch, „hereingezogen“, weil er doch auch in diese arme Lisa verliebt war, und dabei habe sie ihn sogar so „gehandhabt“, daß er Lisa beinahe selbst im Wagen zu Stawrogin begleitet hätte.
„Ja, ja, meine Herren, Sie haben gut lachen, aber wenn ich nur gewußt hätte, wenn ich’s nur gewußt hätte, womit das alles enden würde!“ schloß er sein Gerede.
Auf verschiedene erregte Fragen nach Stawrogin erklärte er noch, und zwar mit unerschütterlicher Bestimmtheit, daß die ganze Katastrophe mit den Lebädkins bloß ein reiner Zufall wäre: schuld an ihr sei einzig und allein Lebädkin selbst, da er das erhaltene Geld offen in den Kneipen gezeigt hatte. Das setzte er ganz besonders gut auseinander.
Einer der Zuhörer bemerkte darauf, daß er sich vergeblich „verstelle“, daß er im Hause Julija Michailownas gegessen, getrunken und fast schon geschlafen habe, nun aber sie als erster verleumde – was doch wohl nicht gerade so schön sei, wie er zu glauben scheine.
Doch Pjotr Stepanowitsch verteidigte sich sofort:
„Ich habe nicht deswegen dort gegessen und getrunken, weil ich kein Geld für meine Kost ausgeben wollte, und kann nichts dafür, daß man mich immer eingeladen hat. Im übrigen erlauben Sie mir wohl, selbst zu beurteilen, wie viel Dankbarkeit ich dafür jemandem schuldig bin.“
Der Eindruck, den seine langen, krausen Reden machten, war im allgemeinen für ihn durchaus vorteilhaft. „Mag er auch nicht von weitem her sein,“ meinte man im allgemeinen, denn einige in dem Kreise hielten ihn in der Tat nur für einen unbedeutenden Studenten oder für nicht sehr viel mehr, „aber was kann er denn für Julija Michailownas Dummheiten? Im Gegenteil, jetzt stellt es sich ja heraus, daß er sie noch zurückgehalten hat ...“
Plötzlich, noch während er bei Gaganoff war, bald nach zwei Uhr, kam die Nachricht, daß Stawrogin, über den so viel geredet wurde, mit dem Mittagszuge nach Petersburg abgereist sei. Diese Kunde überraschte alle nicht wenig und erregte neue Dispute; viele runzelten die Stirn. Pjotr Stepanowitsch war so betroffen, daß, wie man erzählt, sein ganzes Gesicht sich veränderte und er sonderbar ausrief: „Wer hat ihn denn fortlassen können?“ Und er verließ sogleich die Gesellschaft. Aber man hat ihn an diesem Tage noch in drei oder vier anderen Häusern gesehen.
In der Dämmerstunde gelang es ihm endlich, wenn auch erst nach vieler Mühe, zu Julija Michailowna, die nichts mehr von ihm wissen wollte, vorzudringen. Von dieser ihrer Begegnung erfuhr ich erst drei Wochen später, und zwar von Julija Michailowna selbst, – es war kurz vor ihrer Abreise nach Petersburg: sie teilte mir allerdings nichts Näheres mit, sondern bemerkte nur zusammenschaudernd, er hätte sie damals „über alle Maßen in Erstaunen versetzt“. Ich nehme an, daß er ihr einfach gedroht hat, sie als Helfershelferin anzuzeigen, wenn es ihr einfiele, irgend etwas zu „sagen“. Die Notwendigkeit aber, sie einzuschüchtern, war mit seinen damaligen Absichten, die sie natürlich nicht kannte, eng verbunden, und erst später, nach fünf Tagen, erriet sie, warum er ihrem Schweigen noch nicht getraut und sich vor neuen Ausbrüchen ihres Unwillens gefürchtet hatte.
Es war gegen acht Uhr abends und schon ganz dunkel, als am Rande der Stadt, in einem kleinen, schiefen Häuschen, in dem der Fähnrich Erkel wohnte, die Unsrigen sich versammelten. Diese Zusammenkunft der „Fünf“ war von Pjotr Stepanowitsch selbst angesagt worden, er aber, der präsidieren sollte, verspätete sich unverzeihlich: die fünf warteten schon über eine Stunde auf ihn. Der junge Erkel war derselbe Fähnrich, der an jenem Abend bei Wirginski die ganze Zeit mit einem Bleistift in der Hand und einem Notizbuch vor sich stumm dagesessen hatte. Er war vor nicht langer Zeit bei uns eingetroffen, hatte sich in einer stillen Gasse am Rande der Stadt bei zwei alten Schwestern aus dem Bauernstande eingemietet und sollte schon bald wieder wegreisen. Bei ihm nun war es wohl am unauffälligsten, sich zu versammeln. Dieser sonderbare Junge zeichnete sich durch eine ganz außergewöhnliche Schweigsamkeit aus: er konnte zehn Abende in lustiger Gesellschaft und bei den ungewöhnlichsten Gesprächen zubringen, ohne selbst ein Wort zu sprechen, und bloß mit seinen großen Kinderaugen aufmerksam die Sprechenden beobachten und ihnen zuhören. Sein Gesicht war reizend und sogar durchaus nicht dumm. Zur „Fünf“ gehörte er zwar nicht, doch die anderen glaubten, er hätte irgendwelche besonderen Aufträge. Jetzt weiß man, daß er überhaupt keine Aufträge gehabt hat und vielleicht selbst nicht einmal seine Stellung zu den anderen begriff. Er richtete sich einfach in allen Dingen nach Pjotr Stepanowitsch, den er erst vor kurzem kennen gelernt hatte. Ich glaube, wenn er statt seiner irgendein Monstrum kennen gelernt hätte und von diesem unter irgendeinem sozial-romantischen Vorwande überredet worden wäre, eine Räuberbande zu gründen und zur Kraftprobe irgendeinen ersten Besten zu ermorden und zu bestehlen – er hätte es getan, er wäre hingegangen und hätte den ersten Besten ermordet und bestohlen. Er besaß noch irgendwo eine kranke Mutter, der er die Hälfte seines armseligen Gehaltes zuschickte, – wie muß die wohl dieses blonde Köpfchen ihres Einzigen geküßt, wie für ihn gezittert, wie für ihn gebetet haben! Ich erzähle so viel von ihm, weil er mir so leid tut.
Die Versammelten waren sehr erregt. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten sie doch betroffen gemacht, und ich glaube, ihnen war sogar recht bange geworden. Der simple, wenn auch systematisch vorbereitete Skandal, an dem sie bis jetzt so eifrig Anteil genommen, hatte sich plötzlich auf eine für sie ganz unerwartete Weise entladen. Der Brand, die Ermordung der Lebädkins, die Wut des Volkes auf Lisa und deren Tod – das waren lauter Überraschungen, die sie in ihrem Programm nicht vorgesehen hatten. Erregt warfen sie der sie lenkenden Hand Despotismus und Unaufrichtigkeit vor, und, während sie nun auf Pjotr Stepanowitsch warteten, redeten sie sich so in Hitze, daß sie zum Schluß beschlossen, endgültig eine kategorische Erklärung von ihm zu verlangen; sollte er aber auch diesmal eine Antwort umgehen wollen, so wollte man die „Fünf“ einfach auflösen und an ihrer Stelle einen neuen geheimen Verband zur „Propaganda der Idee“ gründen – jetzt aber von sich aus und auf wirklich gleichberechtigenden und demokratischen Grundsätzen. Liputin, Schigaleff und der Volkskenner unterstützten besonders diesen Gedanken. Lämschin schwieg, doch sah er einverstanden aus. Wirginski war noch unentschlossen und wollte erst noch Pjotr Stepanowitsch anhören. Und so kam denn der Beschluß zustande, nach dem man zuerst Pjotr Stepanowitsch noch einmal vernehmen sollte. Dieser aber kam noch immer nicht; eine solche Vernachlässigung trug entschieden nicht zur Beruhigung der Gemüter bei. Erkel schwieg natürlich und reichte bloß den Tee herum, den er persönlich von den beiden Schwestern in Gläsern auf einem Teebrett brachte, da er das Dienstmädchen nicht hereinlassen wollte und auch den Samowar nicht im Zimmer aufstellen ließ.
Endlich erschien Pjotr Stepanowitsch. Es war schon neun Uhr. Er trat mit schnellen Schritten an den runden Tisch vor dem Sofa, an dem die Gesellschaft Platz genommen hatte, behielt die Mütze in der Hand und für Tee dankte er. Er sah böse, streng und hochmütig aus. Offenbar hatte er den Gesichtern sofort angemerkt, daß man „rebellierte“.
„Bevor ich meinen Mund aufmache, bringen Sie Ihre Sachen vor. Scheinen ja so was zu beabsichtigen,“ bemerkte er mit einem bösen Spottlächeln, während seine Augen über die Physiognomien glitten.
Da begann Liputin „im Namen aller“ und erklärte mit einer Stimme, der man das Gekränktsein anhörte, daß man, wenn man so fortfahren wollte, um seinen eigenen Kopf spielte. Oh, nicht, daß sie sich fürchteten, nein, durchaus nicht, und sie seien sogar zu allem bereit, jedoch nur für die allgemeine Sache! (Bewegung und Zustimmung der anderen.) Darum soll man aber aufrichtig zu ihnen sein, damit sie im voraus Bescheid wüßten, denn „wohin soll das sonst führen?“ (wieder zustimmende Bewegung und ein paar dumpfe Kehllaute). So zu handeln sei aber erniedrigend und gefährlich ... Nicht, daß man sich fürchte, wie gesagt, aber wenn nur ein einziger handeln wolle und die anderen bloß gehorchen müßten, so könne zum Beispiel dieser eine lügen und die anderen fielen dann alle „wie die Tölpel herein“, (Ausrufe: ja, ja! Allgemeine Zustimmung.)
„Zum Teufel, was wollen Sie denn?“
„Was für eine Beziehung haben die Intrigen des Herrn Stawrogin zu der allgemeinen Sache?“ brauste Liputin auf. „Mag er da meinetwegen auf irgendeine geheimnisvolle Weise zur Zentrale gehören, – wenn nur diese phantastische Zentrale überhaupt existiert! – Das ist es, was wir wissen wollen! Und währenddessen wird ein Mord begangen, die Polizei aufgeweckt – und nach dem Faden kann man bis zum Knäuel gehen.“
„Sie werden mit diesem Stawrogin schon hereinfallen, und wir gleichfalls,“ fügte der Volkskenner hinzu.
„Und ganz unnütz für die allgemeine Sache,“ schloß Wirginski wehmütig.
„Welch ein Blödsinn! Dieser Mord ist ein Zufall, von Fedjka begangen, um zu rauben.“
„Hm! Ein merkwürdiges Zusammentreffen,“ meinte Liputin gewunden.
„Aber wenn Sie wollen, so sind gerade Sie daran schuld.“
„Wieso ich?“
„Ja, gerade Sie. Erstens haben Sie selbst an dieser Intrige teilgenommen, und zweitens, die Hauptsache, Ihnen war befohlen, Lebädkin fortzuschicken, das Geld hatten Sie schon erhalten – was aber taten Sie? Wenn Sie ihn fortgeschickt hätten, wäre nichts passiert.“
„Was? Aber waren denn Sie es nicht selbst, der die Idee gab, daß es nicht übel wäre, wenn man ihn das Gedicht vorlesen ließe?“
„Eine Idee ist kein Befehl. Der Befehl war: abschicken!“
„Befehl! Ein etwas sonderbarer Ausdruck ... Nein, im Gegenteil, Sie befahlen ja gerade, das Abschicken aufzuschieben.“
„Sie haben sich getäuscht und nichts als Dummheit und Eigenmächtigkeit gezeigt. Der Mord aber ist Fedjkas Sache, und der hat ihn aus keinem anderen Grunde begangen, als dem, zu rauben. Sie hören bloß, daß man so redet, und schon glauben Sie alles aufs Wort! Haben ja einfach Angst bekommen! Stawrogin ist nicht so dumm, und der Beweis – er ist um zwölf Uhr mittags nach einer Aussprache mit dem Vizegouverneur fortgefahren: wenn etwas derartiges gewesen wäre, so hätte man ihn nicht am hellichten Tage nach Petersburg reisen lassen!“
„Aber wir behaupten ja gar nicht, daß Herr Stawrogin selber ermordet hat!“ versetzte Liputin bissig und schon ohne Zurückhaltung. „Er hat sogar überhaupt nichts davon wissen können, ganz so wie ich; Sie aber wissen nur zu gut, daß ich von nichts wußte, wenn ich auch gleichzeitig selber wie ein Schaf in den Kessel kroch!“
„Wen beschuldigen Sie denn?“ fragte Pjotr Stepanowitsch und sah ihn finster an.
„Ja, eben dieselben, die es nötig haben, Städte in Brand zu stecken.“
„Das Dümmste ist dabei, daß Sie sich herauszureden suchen. Übrigens, wollen Sie nicht so freundlich sein, das durchzulesen und dann den anderen zu zeigen. Nur zur Kenntnisnahme.“ Mit diesen Worten zog er Lebädkins Brief an Lembke aus der Tasche und reichte ihn Liputin. Der las den Brief augenscheinlich erstaunt durch und reichte ihn dann nachdenklich dem nächsten. Der Brief machte schnell die Runde um den Tisch.
„Ist das aber auch wirklich Lebädkins Handschrift?“ erkundigte sich Schigaleff.
„Ja, es ist seine Handschrift,“ bestätigten Liputin und Tolkatschenko (der Volkskenner).
„Ich zeigte ihn nur zur Kenntnisnahme, und da ich wußte, daß Sie sich Lebädkins Tod so zu Herzen nehmen,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, indem er den Brief wieder zu sich steckte. „Auf diese Weise hat uns nun Fedjka vollkommen zufällig von einem sehr gefährlichen Menschen befreit. So kann einem manchmal der Zufall zustatten kommen! Lehrreich, nicht wahr?“
Die fünf tauschten schnell vielsagende Blicke aus.
„Jetzt aber, meine Herren, ist die Reihe an mir, zu fragen,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, und nahm eine steifere Haltung an. „Gestatten Sie mir, Sie zu fragen, aus welchem Grunde Sie ohne Erlaubnis die Stadt in Brand gesteckt haben?“
„Wa–as! Was heißt das? Wir die Stadt in Brand gesteckt? Der Kerl ist wohl krank!“ ertönten erregte Ausrufe in der Runde.
„Ich verstehe ja, Sie waren schon zu sehr in Schwung gekommen,“ fuhr Pjotr Stepanowitsch unbeirrt fort, „aber so etwas ist doch nicht mehr ein Skandälchen mit Julija Michailowna. Ich habe Sie, meine Herren, hierhergerufen, um Ihnen die Größe der Gefahr zu zeigen, einer Gefahr, die Sie sich so dumm auf den Hals geladen haben und die jetzt außer Ihnen noch so viele andere bedroht.“
„Erlauben Sie, wir wollten gerade Sie auf diesen Grad von Despotismus, mit dem man hinter dem Rücken der Mitglieder eine so ernste und zugleich so sonderbare Maßregel getroffen hat, aufmerksam machen,“ sagte fast unwillig der bis dahin schweigsame Wirginski.
„Sie leugnen also? Ich aber behaupte, daß Sie die Stadt in Brand gesteckt haben, Sie allein, meine Herren, und sonst niemand. Meine Herren, leugnen Sie es nicht, ich bin genau unterrichtet. Mit Ihrer eigenmächtigen Handlung haben Sie sogar die allgemeine Sache der Gefahr ausgesetzt. Sie sind hier nur ein einziger kleiner Knoten in einem riesigen Netz, und sind der Zentrale blinden Gehorsam schuldig. Währenddessen haben aber drei von Ihnen die Spigulinschen zur Brandstiftung überredet, ohne dazu auch nur die geringste Instruktion zu haben.“
„Welche drei? Wer das? Welche drei von uns?“
„Vorgestern haben Sie, Tolkatschenko, gegen vier Uhr nachts Fomka Sawjäloff in der Kneipe ‚Zum Vergißmeinnicht‘ zur Brandstiftung beredet.“
„Aber hören Sie mal!“ rief dieser aufspringend. „Ich habe ihm kaum ein Wort gesagt, ja, und selbst das ganz absichtslos, ganz einfach, nur so, weil man ihn mit den anderen am Morgen geprügelt hatte! Und ich ließ es gleich wieder bleiben, da ich sah, daß er doch zu betrunken war. Hätten Sie mich jetzt nicht daran erinnert, so würde ich es überhaupt ganz vergessen haben! Von diesem einen Worte konnte kein Brand entstehen!“
„Sie sind wie der Mann, der sich wundert, daß von einem einzigen kleinen Funken eine ganze Pulverfabrik in die Luft fliegt.“
„Ich habe es ihm in der Ecke und flüsternd ins Ohr gesagt ... Wie haben Sie das überhaupt erfahren können?“ fragte plötzlich Tolkatschenko, selbst ganz betroffen.
„Ich saß dort unterm Tisch. Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren, ich weiß jeden einzelnen Ihrer Schritte. Sie belieben hämisch zu lächeln, Herr Liputin? Ich weiß aber, zum Beispiel, daß Sie vorgestern um Mitternacht in Ihrem Schlafzimmer Ihre Frau gekniffen haben.“
Liputin blieb der Mund offen und er wurde blaß.
(Später stellte es sich heraus, daß Pjotr Stepanowitsch von dieser nächtlichen Heldentat Liputins durch dessen Magd Agafja, der er von Anfang an für Spionage Geld gezahlt hatte, unterrichtet worden war.)
„Dürfte ich eine Tatsache konstatieren?“ fragte plötzlich Schigaleff, sich vom Stuhl erhebend.
„Konstatieren Sie.“
Schigaleff setzte sich und sammelte seine Gedanken.
„Soweit ich verstanden habe, und man kann ja da gar nichts mißverstehen, haben Sie selbst in der ersten Zeit und später noch einmal äußerst beredt – wenn auch gar zu theoretisch – von Rußland ein Bild entworfen, nach dem es von einem endlosen Netz von Fünfergruppen bedeckt ist. Jede der tätigen Gruppen hat, indem sie Proselyten macht und sich ins Endlose verzweigt, die Aufgabe, mit systematisch sich ausbreitender Propaganda das Ansehen der Regierung und ihrer Vertreter zu untergraben, in den Dörfern Zweifel, Zynismus, Skandale, volle Glaubenslosigkeit um jeden Preis zu verbreiten, was dann alles die Sehnsucht nach einem besseren Zustande hervorrufen soll, und schließlich mit Brandstiftungen, als dem volkstümlichsten Mittel, das Land im vorgeschriebenen Moment, wenn’s nicht anders geht, selbst ins Verderben zu stürzen. – Sind das Ihre Worte, die buchstäblich zu behalten ich mich bemüht habe? Ist das Ihr Programm, das Sie in der Eigenschaft eines von dem Zentralkomitee Bevollmächtigten uns mitgeteilt haben? eines zentralen, aber für uns bis jetzt vollkommen unbekannten und nahezu phantastischen Komitees?“
„Allerdings, nur könnten Sie sich kürzer fassen.“
„Jeder hat das Recht, so zu sprechen, wie er spricht. Indem Sie uns zu verstehen geben, daß es solcher einzelnen Knotenpunkte eines großen Netzes, das ganz Rußland bedeckt, schon mehrere hundert gibt, und indem Sie die Voraussetzung entwickeln, daß, falls jede Gruppe ihre Sache erfolgreich macht, ganz Rußland zum festgesetzten Termin, auf das Signal ...“
„Ach, zum Teufel, auch ohne Sie hat man schon genug zu tun!“ fiel ihm Pjotr Stepanowitsch ungeduldig ins Wort und bewegte sich auf seinem Sessel.
„Gut, ich werde mich kürzer fassen und nur noch eine Frage stellen: wir haben doch schon mehrere Skandale hier gehabt, wir haben die Unzufriedenheit der Bevölkerung gesehen, wir waren anwesend und beteiligten uns bei dem Sturz der hiesigen Administration und, endlich, sahen wir mit eigenen Augen den Brand. Womit sind Sie nun unzufrieden? Ist das nicht Ihr Programm? Und wessen können Sie uns beschuldigen?“
„Der Eigenmächtigkeit!“ schrie Pjotr Stepanowitsch jähzornig auf. „Solange ich hier bin, haben Sie nicht das Recht, ohne meine Erlaubnis zu handeln. Basta! Jetzt ist die Anzeige bereits fertig und vielleicht morgen oder heute Nacht schon wird man Sie alle verhaften. Da haben Sie es jetzt! Ich weiß es genau.“
Nun blieben schon alle Münder offen.
„Man wird Sie nicht nur als Brandstifter verhaften, sondern als ‚Fünf‘! Dem Denunzianten ist das ganze Geheimnis des Netzes bekannt. Sehen Sie jetzt, was Sie da angerichtet haben!“
„Bestimmt Stawrogin!“ rief Liputin plötzlich.
„Wie ... warum Stawrogin?“ Pjotr Stepanowitsch stockte gleichsam. „Nein –“ er faßte sich sofort wieder „– es ist Schatoff! Ich nehme an, Sie wissen alle, daß Schatoff seinerzeit auch zu uns gehörte. Ich muß gestehen, daß ich, der ich ihn von Personen, denen er vertraute, habe beobachten lassen, zu meinem Erstaunen erfahren mußte, daß ihm sogar die ganze weitere Einrichtung des Netzes kein Geheimnis ist, und daß er ... mit einem Wort – alles weiß. Um sich nun von der Beschuldigung der früheren Teilnahme zu befreien, will er jetzt alle anzeigen. Bis gestern schwankte er vielleicht noch und ich schonte ihn. Jetzt aber haben Sie ihm mit dieser Brandstiftung den letzten Stoß versetzt: jetzt ist er erschüttert, aufgebracht, entschlossen. Morgen werden wir alle verhaftet ... als Brandstifter und politische Verbrecher.“
„Ist das wahr? ... Wie kann Schatoff das wissen? ...“
Die Aufregung war unbeschreiblich.
„Es ist vollkommen wahr. Ich habe nicht das Recht, Ihnen die Wege, auf denen ich alles erfahren habe, mitzuteilen. Nur eines kann ich für Sie tun: durch einen Menschen kann ich auf Schatoff so weit einwirken, daß er, ohne Verdacht zu schöpfen, die Denunziation noch aufschiebt, aber nur auf vierundzwanzig Stunden – länger geht es nicht. Mehr tun – kann ich nicht. Und so können Sie sich noch bis übermorgen früh sicher fühlen.“
Alle schwiegen.
„Ja – kann man ihn denn nicht zum Teufel schicken!“ schrie da als erster Tolkatschenko.
„Hätte man schon längst tun sollen!“ rief Lämschin und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Aber wie?“ brummte Liputin.
Pjotr Stepanowitsch griff sofort diese Frage auf und setzte seinen Plan auseinander. Der bestand darin, Schatoff zur Abgabe der versteckten Setzmaschine an den einsamen Ort zu locken, wo sie vergraben war, morgen bei Anbruch der Nacht, und dann – „dort schon das Nötige zu erledigen“. Pjotr Stepanowitsch erging sich in vielen wesentlichen Einzelheiten, die ich jetzt übergehe, und setzte noch einmal umständlich das uns schon bekannte Verhältnis Schatoffs zur Zentrale auseinander.
„Das ist schon so,“ bemerkte Liputin etwas unsicher, „aber nun wieder ... ein neuer Fall von derselben Art ... ob das nicht doch zu auffallend sein wird ...“
„Allerdings,“ bestätigte Pjotr Stepanowitsch, „aber auch das ist vorgesehen. Wir haben ein Mittel, den Verdacht vollständig abzulenken.“
Und mit der vorigen Ausführlichkeit erzählte er von Kirilloff, von dessen Absicht, sich zu erschießen, und daß er versprochen habe, mit dem Selbstmord bis zur bestimmten Zeit zu warten, und obendrein noch einen Brief, in dem er alles auf sich nahm, was man ihm in die Feder diktierte, zu hinterlassen.
„Seine feste Absicht, sich das Leben zu nehmen – sie ist philosophisch, doch meiner Meinung nach einfach verrückt –, wurde dort bekannt,“ fuhr Pjotr Stepanowitsch fort zu erklären. „Dort aber verliert man weder ein Haar noch ein Stäubchen umsonst, alles wird zum Nutzen der allgemeinen Sache verwandt. Da man den Nutzen, den er damit bringen konnte, sofort einsah und sich überzeugte, daß sein Vorsatz unerschütterlich war, so gab man ihm das Geld zur Rückreise nach Rußland (aus irgendeinem Grunde wollte er nur in Rußland sterben), gab ihm einen Auftrag, den zu erfüllen er auf sich nahm (was er auch getan hat), und außerdem verpflichtete man ihn zu dem besagten Versprechen, sich erst dann zu erschießen, wenn man ihm das Signal geben würde. Er versprach alles. Und nicht zu vergessen, daß er aus ganz besonderen Gründen der Sache angehört und selbst wünscht, ihr nützlich zu sein. Mehr darf ich Ihnen nicht mitteilen. Morgen, nach Schatoff, werde ich ihm den Brief diktieren, daß er Schatoff umgebracht hat. Das wird sehr glaublich erscheinen: sie waren beide Freunde, fuhren zusammen nach Amerika, dort haben sie sich entzweit, und das wird alles im Brief erklärt werden ... und ... und ich glaube, je nach den Umständen, wird man ihm vielleicht noch einiges diktieren können, zum Beispiel, was die Proklamationen betrifft, und vielleicht teilweise auch den Brand. Übrigens, darüber werde ich noch nachdenken. Beruhigen Sie sich, er hat keine Vorurteile: er unterschreibt alles.“
Trotzdem wurden einige Zweifel laut. Die Geschichte erschien doch zu phantastisch. Von Kirilloff hatten alle schon mehr oder weniger gehört. Liputin natürlich am meisten.
„Plötzlich kann er aber nachdenken und nicht mehr wollen,“ sagte Schigaleff, „denn so oder so, wie man’s auch nimmt, er ist doch nun einmal verrückt, also kann man da gar nicht sicher sein.“
„Seien Sie unbesorgt, er wird wollen,“ schnitt Pjotr Stepanowitsch kurz ab. „Nach jener Abmachung bin ich verpflichtet, ihn am Vorabend zu benachrichtigen, also heute noch. Ich würde vorschlagen, daß Liputin mit mir zu ihm geht und sich selbst überzeugt und Ihnen dann mitteilt – er kann ja von dort hierher zurückkehren –, ob ich die Wahrheit gesagt habe, oder nicht. Übrigens,“ brach er plötzlich ab, maßlos gereizt und hochmütig, als ob er diesen Leuten schon zuviel Ehre antat, wenn er sich in dieser Weise mit ihnen abgab, „übrigens, machen Sie, was Sie wollen. Wenn Sie sich nicht entschließen, so ist der Bund zerrissen – und zwar einzig wegen Ihres Ungehorsams und Verrats. So sind wir denn von diesem Augenblick an getrennt – ein jeder für sich. Doch vergessen Sie nicht, daß Sie sich in diesem Fall, außer der Schatoffschen Anzeige und deren Folgen, noch eine andere kleine Unannehmlichkeit zuziehen, die Ihnen bei der Gründung Ihrer Gruppe bestimmt und unmißverständlich erklärt wurde, wessen Sie sich wohl noch erinnern werden. Was mich betrifft, meine Herren, so fürchte ich Sie nicht gerade sonderlich ... Aber denken Sie nur nicht, daß ich mich mit Ihnen gar so eng verbunden fühle ... Übrigens, das ist ja gleichgültig.“
„Nein, wir entschließen uns,“ erklärte Lämschin.
„Einen anderen Ausweg gibt es nicht,“ murmelte Tolkatschenko, „und wenn Liputin uns das von Kirilloff bestätigt, so ...“
„Ich bin dagegen! Ich protestiere mit allem, was mir heilig ist, gegen einen solchen blutigen Entschluß!“ rief Wirginski, plötzlich aufstehend.
„Aber?“ fragte Pjotr Stepanowitsch.
„Was ‚aber‘?“
„Sie sagten ‚aber‘ ... und ich warte.“
„Ich glaube, ich sagte nicht ‚aber‘ ... Ich wollte nur sagen, daß, wenn man sich dazu entschließt, so ...“
„So?“
Wirginski verstummte.
„Ich denke, man kann sich über die eigene Lebensgefahr hinwegsetzen,“ sagte plötzlich Erkel, der jetzt zum erstenmal den Mund auftat, „– wenn das aber der allgemeinen Sache schaden kann, so, denke ich, darf man es nicht mehr wagen ... sich über die eigene Lebensgefahr hinwegzusetzen ...“
Er verwirrte sich und wurde rot. Wie beschäftigt auch ein jeder mit sich selbst war, sie blickten ihn doch alle erstaunt an – dermaßen unerwartet kam es, daß auch er einmal sprach.
„Ich bin für die allgemeine Sache,“ sagte plötzlich Wirginski leise.
Alle erhoben sich von den Plätzen. Es wurde beschlossen, einander am nächsten Tage um die Mittagszeit noch einmal zu benachrichtigen, ohne daß sich alle zu versammeln brauchten, und dann alles endgültig festzusetzen. Die Stelle, wo die Setzmaschine vergraben war, wurde mitgeteilt, und jedem seine Rolle und seine besondere Aufgabe eingeschärft. Darauf begaben sich Liputin und Pjotr Stepanowitsch, ohne Zeit zu verlieren, zu Kirilloff.
An Schatoffs Denunziation zweifelte niemand; aber auch daran, daß Pjotr Stepanowitsch mit ihnen wie mit Hampelmännern spielte, zweifelte niemand. Trotzdem wußten sie alle, daß sie am nächsten Tage vollzählig zum Stelldichein erscheinen würden, und sie wußten, daß Schatoffs Schicksal entschieden war. Sie hatten das Gefühl, wie Fliegen in das Spinngewebe einer großen, giftigen Spinne gefallen zu sein; sie waren alle erbost, aber sie zitterten vor Angst.
Pjotr Stepanowitsch hatte zweifellos sträflich unrecht an ihnen getan; es wäre alles viel harmonischer und leichter gewesen, wenn er sich nur ein wenig bemüht hätte, die Wirklichkeit zu verschönen. Anstatt die Tat in einem anständigen Licht zu zeigen, sie als eine altrömisch-staatsbürgerliche Heldentat oder etwas Ähnliches auszumalen, hatte er nur die plumpe Angst vor sie hingestellt und die Gefahr für die eigene Haut, was doch schon einfach unhöflich war. Natürlich: alles ist nur Kampf ums Dasein, und ein anderes Prinzip gibt es überhaupt nicht, das weiß doch ein jeder, aber schließlich ... immerhin ...
Doch Pjotr Stepanowitsch hatte keine Zeit, die alten Römer und ihre Tugenden heraufzubeschwören. Die Flucht Stawrogins hatte ihn für einen Augenblick vollständig aus der Fassung gebracht. Daß Stawrogin vor seiner Abfahrt den Vizegouverneur gesprochen habe, hatte er ihnen einfach vorgelogen: das war es ja gerade, daß er fortgefahren war, ohne auch nur einen Menschen zu sehen, selbst die eigene Mutter nicht! Und war es nicht tatsächlich rätselhaft, daß man ihn so ganz unbehelligt gelassen hatte? (Späterhin mußte die Stadtobrigkeit darüber besondere Rechenschaft geben.) Pjotr Stepanowitsch hatte sich den ganzen Tag überall nach Näherem erkundigt, jedoch nichts erfahren. Noch nie war er so beunruhigt, so erregt gewesen. Aber wie sollte er denn auch so einfach, so plötzlich auf Stawrogin verzichten können! Das war der Grund, warum er mit den „Unsrigen“ nicht so rücksichtsvoll umging. Dazu banden sie ihm noch die Hände: er wollte Stawrogin sofort nachfahren, und statt dessen mußte er hier bleiben, um vorher noch auf alle Fälle die fünf „unlösbar zusammenzubinden“. Sein Vorhaben mit Schatoff hielt ihn zurück. „Werde doch diese fünf nicht umsonst aus der Hand lassen, können mir noch sehr zustatten kommen.“ So ungefähr wird er wohl bei sich gedacht haben, denke ich mir.
Pjotr Stepanowitsch war wirklich fest überzeugt, daß Schatoff denunzieren werde. Alles, was er den „Unsrigen“ von der Anzeige gesagt hatte, war natürlich gelogen, denn nie hatte er eine solche bei Schatoff gesehen, noch ähnliches von seinen Spionen gehört; aber er war nun einmal überzeugt davon und konnte sich folglich nichts anderes denken. Er glaubte, Schatoff werde auf keinen Fall das jetzt Geschehene ruhig hinnehmen – den Tod Lisas, Marja Timofejewnas Ermordung – und sich gerade jetzt zur Denunziation entschließen. Wer kann es wissen, vielleicht hatte er auch einige Gründe, gerade das von Schatoff zu erwarten. Bekannt ist jetzt nur, daß er Schatoff persönlich haßte. Es hatte einmal einen Streit zwischen ihnen gegeben, Pjotr Stepanowitsch aber verzieh nie eine Beleidigung. Ich glaube sogar, daß dieses Persönliche der hauptsächlichste Beweggrund war.
Die Bürgersteige sind in unserer Stadt sehr schmal, doch Pjotr Stepanowitsch schritt gerade in der Mitte, somit den ganzen Fußweg mit seiner Person einnehmend, und ohne Liputin überhaupt zu beachten. Dieser mußte nun entweder einen Schritt hinter ihm herlaufen oder, um mit ihm sprechen zu können, auf der schmutzigen Fahrstraße neben ihm traben. Plötzlich erinnerte sich Pjotr Stepanowitsch, wie er selbst vor zwei Tagen so durch den Schmutz gelaufen war, um mit Stawrogin, der ganz so wie er jetzt mitten auf dem Bürgersteig ging, Schritt halten und sprechen zu können. Ihm fiel der ganze Weg zu Wirginski ein und eine grenzenlose Wut ergriff ihn jäh.
Doch auch Liputin verging der Atem vor Wut ob dieser beleidigenden Unhöflichkeit. Mochte Pjotr Stepanowitsch mit den „Unsrigen“ umgehen, wie er wollte, aber mit ihm? – mit ihm! Er, Liputin, wußte doch mehr von der ganzen Geschichte, als alle die anderen der „Fünf“, er stand der Sache doch am nächsten, war am intimsten eingeweiht und hatte doch bisher, wenn auch nur mittelbar, aber jedenfalls erfolgreich, bei allen diesen Anzettelungen mitgewirkt! Oh, er wußte, daß Pjotr Stepanowitsch ihn sogar schon jetzt vernichten konnte, wenn es ihm darauf ankam, sagen wir, in einem äußersten Fall. Aber er haßte ihn schon lange; und weit mehr noch, als wegen dieser Gefahr, haßte er ihn wegen seines anmaßend-hochmütigen Verhaltens. Und jetzt, wo man sich zu einer solchen Sache entschließen mußte, erboste er sich über diese Umgangsart mehr als alle die anderen zusammen. Doch ach, trotzdem wußte er, daß er morgen bestimmt als erster „wie ein Sklave“ zur Stelle sein und womöglich noch die anderen heranschleppen werde! Aber wenn er jetzt, noch vor morgen, diesen Pjotr Stepanowitsch auf irgendeine Weise hätte totschlagen können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, so hätte er es unbedingt getan.
In seine Empfindungen versunken, schwieg er und trottete hinter seinem Quälgeist her, der ihn ganz vergessen zu haben schien. Da blieb Pjotr Stepanowitsch plötzlich auf einer unserer belebtesten Straßen stehen und trat in ein Gasthaus.
„Wohin denn?“ rief erschrocken Liputin. „Das ist doch ein Gasthaus!“
„Ich will ein Beefsteak essen.“
„Ich bitte Sie! ... aber hier ist es doch allezeit vollgepfropft!“
„Macht nichts.“
„Aber ... wir verspäten uns! Es ist schon gleich zehn.“
„Zu dem da kann man nie zu spät kommen.“
„Aber ich komme dann doch zu spät! Die warten doch dort auf mich!“
„Na, mögen sie doch. Es wäre nur dumm von Ihnen, wenn Sie zu jenen noch zurückkehrten. Dank der Schererei mit Ihnen da habe ich heute noch nicht zu Mittag gespeist. Zu Kirilloff aber kommt man je später, desto besser.“
Pjotr Stepanowitsch wünschte in einem besonderen Zimmer zu speisen. Liputin setzte sich geärgert und gekränkt in einen Sessel und sah zu, wie er aß. Es verging eine gute halbe Stunde. Pjotr Stepanowitsch beeilte sich nicht, aß mit großem Appetit, klingelte und verlangte anderen Senf, darauf Bier und sprach die ganze Zeit über kein Wort. Er war tief nachdenklich – er konnte tatsächlich beides zugleich: mit Appetit essen und tief nachdenklich sein. Liputins Haß steigerte sich schließlich so weit, daß er nicht mehr fähig war, seine Blicke von ihm loszureißen: das war fast schon eine Art Nervenkrampf. Er begleitete jedes Stückchen Fleisch vom Teller bis zum Munde, und er haßte Pjotr Stepanowitsch sogar schon dafür, wie er den Mund aufmachte, wie er kaute, wie er die saftigeren Bissen sich schmecken ließ, ja er haßte schließlich das Beefsteak selbst. Zum Schluß begann alles sich vor seinen Augen zu drehen; dazu im Kopf ein leises Schwindelgefühl; heiß und kalt lief es ihm abwechselnd über den Rücken.
„Sie haben nichts zu tun, lesen Sie dies,“ sagte plötzlich Pjotr Stepanowitsch und warf ihm ein Blatt Papier zu.
Liputin näherte sich dem Licht. Das Papier war mit einer kleinen, unleserlichen Handschrift eng beschrieben und fast auf jeder Zeile korrigiert. Als er es durchgelesen, bemerkte er, daß Pjotr Stepanowitsch schon bezahlt hatte und bereits im Begriff war, fortzugehen. Auf der Straße reichte ihm Liputin das Papier zurück.
„Behalten Sie es,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, „werde Ihnen später sagen, wozu. Übrigens: wie finden Sie es?“
Liputin erbebte förmlich vor Wut.
„Ich finde ... eine solche Proklamation ... ist nichts weiter als eine einzige blödsinnige Lächerlichkeit ...“
Seine Wut brach durch; es war ihm, als werde er plötzlich hochgehoben und weggetragen.
„Wenn wir uns entschließen,“ sagte er, am ganzen Körper vibrierend, „solche Proklamationen zu verbreiten, so erreichen wir nur, daß man uns ob unserer Dummheit und Unkenntnis der wahren Verhältnisse einfach verachtet!“
„Hm! Ich denke anders,“ meinte Pjotr Stepanowitsch, fest weiterschreitend.
„Ich aber so. Sollten Sie das wirklich selbst verfaßt haben?“
„Das ist nicht Ihre Sache.“
„Ich glaube auch, daß das jämmerliche Gedicht ‚Die helle Persönlichkeit‘, diese erbärmlichste Reimerei, die es überhaupt geben kann, nie und nimmer von Herzen selbst verfaßt worden ist!“
„Das ist nicht wahr, das Gedicht ist gut.“
„Ich wundere mich auch darüber,“ fuhr Liputin zitternd und atemlos fort, „wie man uns überhaupt anempfehlen kann, so zu handeln, daß alles zusammenkracht. In Europa mag das zu wünschen, und für Europa mag’s auch das einzig Richtige sein, denn dort gibt es Proletariat, wir aber sind hier, meiner Meinung nach, bloß Liebhaber und tun nur groß.“
„Ich dachte, Sie wären Fourierist.“
„Bei Fourier ist das ganz anders, ist es gar nicht das.“
„Ich weiß, daß es Unsinn ist.“
„Nein, das ist es nicht bei Fourier ... Verzeihung, aber ich kann unmöglich glauben, daß im Mai der Aufstand beginnen werde!“
Liputin knöpfte sogar seinen Mantel auf, dermaßen heiß war ihm geworden.
„Na, genug davon. Jetzt aber, damit ich es nicht vergesse,“ Pjotr Stepanowitsch ging erstaunlich kaltblütig auf ein anderes Thema über, „dieses Blatt werden Sie eigenhändig setzen und drucken. Schatoffs Setzmaschine graben wir aus und morgen noch nehmen Sie sie zu sich. In möglichst kurzer Zeit setzen Sie und drucken Sie so viele Exemplare davon wie nur möglich, und dann werden wir sie den ganzen Winter über verbreiten. Die Mittel werden Ihnen angewiesen werden. So viele Exemplare wie nur möglich! Man wird sich von verschiedenen Stellen an Sie wenden.“
„Nein, erlauben Sie schon, ich übernehme nicht eine solche ... Ich lehne es ab.“
„Und werden es doch übernehmen. Ich handle nach der Instruktion der Zentrale und Sie müssen gehorchen.“
„Ich glaube aber, daß unsere ausländischen Zentren die russische Wirklichkeit vergessen und jede Verbindung mit ihr eingebüßt haben, und darum einfach phantasieren ... Ich glaube sogar, daß statt der vielen Hunderte von ‚Fünfer‘-Gruppen in Rußland wir allein die einzige sind, und ein Netz überhaupt nicht existiert!“ keuchte Liputin endlich hervor.
„Um so verächtlicher von Ihnen, daß Sie, ohne an die Sache zu glauben, ihr doch nachgelaufen sind ... und jetzt noch mir nachlaufen wie ein Hündchen.“
„Nein, ich laufe nicht nach. Wir haben das volle Recht, zurückzutreten und eine neue Gesellschaft zu gründen.“
„R–rrrüpel!“ donnerte plötzlich Pjotr Stepanowitsch drohend und mit blitzenden Augen.
Beide standen sich eine Zeitlang gegenüber. Dann wandte sich Pjotr Stepanowitsch und setzte selbstbewußt seinen Weg fort.
Wie ein Blitz zuckte es durch Liputins Kopf:
„Ich kehre um und gehe zurück. Wenn ich jetzt nicht umkehre, so werde ich nie mehr umkehren.“
So dachte er genau zehn Schritte lang, beim elften aber flammte in ihm ein neuer und tollkühner Gedanke auf: er kehrte nicht um und ging nicht zurück.
Sie näherten sich dem Filippoffschen Hause, doch noch bevor sie es erreichten, bogen sie in eine Quergasse ein, oder richtiger, in einen Fußweg auf dem abschüssigen Grabenrande am Zaun, an dem man sich halten mußte, um nicht auszugleiten. An der dunkelsten Ecke dieses alten schiefen Zaunes nahm Pjotr Stepanowitsch ein Brett heraus und kroch dann selbst schnell durch die Öffnung. Liputin wunderte sich, kroch aber trotzdem nach. Daran lehnten sie das Brett wieder so an, wie es vorher gestanden hatte. Das war derselbe geheime Gang, durch den Fedjka sich nachts zu Kirilloff stahl.
„Schatoff darf es nicht wissen, daß wir hier sind,“ flüsterte Pjotr Stepanowitsch in strengem Tone Liputin zu.
Kirilloff saß wie gewöhnlich um diese Zeit auf seinem harten Sofa beim Tee. Er stand nicht auf, um den Eintretenden entgegenzugehen, warf nur erschrocken den Oberkörper vor und sah ihnen erregt entgegen.
„Sie irren sich nicht,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, „ich komme deswegen ...“
„Heute?“
„Nein, nein, morgen ... ungefähr um dieselbe Zeit.“
Und Pjotr Stepanowitsch setzte sich schnell an den Tisch und betrachtete mit einiger Unruhe Kirilloff. Der hatte sich aber schon wieder beruhigt und sah wie gewöhnlich aus.
„Sehen Sie, diese da wollen es nicht glauben,“ Werchowenski wies mit dem Kopf auf Liputin. „Sie ärgern sich doch nicht darüber, daß ich ihn mitgebracht habe?“
„Heute nicht. Aber morgen will ich es allein.“
„Aber nicht früher, als bis ich gekommen bin, und dann in meiner Gegenwart –“
„Ich würde lieber nicht in Ihrer Gegenwart –“
„Sie erinnern sich doch noch, daß Sie versprachen, alles zu schreiben und zu unterzeichnen, was ich Ihnen diktiere?“
„Mir ist alles einerlei. Aber werden Sie jetzt lange bleiben?“
„Ich muß einen gewissen Menschen sprechen und ungefähr eine halbe Stunde bleiben, dann gehe ich, aber diese halbe Stunde bleibe ich noch.“
Kirilloff schwieg. Liputin hatte sich inzwischen etwas abseits, unter dem Bilde des Bischofs auf einen Stuhl gesetzt. Der vorige tollkühne Gedanke bemächtigte sich seiner mehr und mehr. Kirilloff bemerkte ihn an der dunklen Wand fast gar nicht. Liputin kannte die Theorie Kirilloffs schon von früher und hatte sie immer verlacht, jetzt aber schwieg er und sah sich finster im Zimmer um.
„Ich möchte ganz gern Tee trinken,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, „habe soeben ein Beefsteak gegessen und rechnete eigentlich darauf, bei Ihnen den Tee zu trinken.“
„Trinken Sie, wenn Sie mögen.“
„Früher boten Sie ihn selbst an,“ bemerkte Pjotr Stepanowitsch säuerlich.
„Das ist einerlei. Auch Liputin mag trinken.“
„Nein, danke, ich ... kann nicht.“
„Kann nicht oder will nicht?“ Pjotr Stepanowitsch drehte sich schnell zu ihm um.
„Ich werde bei ihm nicht noch anfangen Tee zu trinken,“ lehnte Liputin ausdrucksvoll ab.
Pjotr Stepanowitsch zog die Brauen zusammen.
„Das riecht nach Mystizismus. Der Teufel soll aus euch allen klug werden!“
Niemand antwortete ihm. Sie schwiegen wohl eine ganze Minute.
„Aber eines weiß ich,“ fügte er plötzlich schroff hinzu, „kein einziges Vorurteil kann auch nur einen von uns abhalten, seine Pflicht zu erfüllen.“
„Stawrogin ist fortgefahren?“ fragte Kirilloff.
„Das hat er gut gemacht.“
Pjotr Stepanowitschs Augen blitzten schon auf, doch er bezwang sich.
„Mir kann’s gleich sein, was Sie denken, wenn nur ein jeder sein Wort hält.“
„Ich werde mein Wort halten.“
„Übrigens, ich war immer überzeugt, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen würden, wie ein unabhängiger und fortgeschrittener Mensch.“
„Sie aber sind lächerlich.“
„Meinetwegen, es freut mich sehr, daß ich Sie erheitere. Es freut mich immer, wenn ich mit irgend etwas gefällig sein kann.“
„Sie wollen furchtbar gern, daß ich mich erschieße und fürchten doch, daß ich plötzlich nicht will.“
„Das heißt, sehen Sie mal, Sie haben ja selbst Ihren Plan mit unserer Tätigkeit verbunden. Da wir nun mit Ihrer Absicht gerechnet haben, so ist schon Verschiedenes unternommen worden, so daß Sie jetzt auf keine Weise mehr zurücktreten können.“
„Nur nichts von Pflicht.“
„Verstehe, verstehe, es ist Ihr eigener freier Wille. Nur, daß sich dieser Ihr freier Wille in Tat umsetzt.“
„Und ich werde alle Ihre Gemeinheiten auf mich nehmen müssen?“
„Hören Sie, Kirilloff, haben Sie vielleicht plötzlich Angst bekommen? Wenn Sie zurücktreten wollen, so sagen Sie es bitte gleich.“
„Ich habe keine Angst bekommen.“
„Ich meinte nur, weil Sie etwas viel fragen.“
„Sie fragen schon wieder?“
Kirilloff betrachtete ihn mit Verachtung.
„Nun, sehen Sie mal,“ fuhr Pjotr Stepanowitsch, der sich immer mehr ärgerte und beunruhigte, fort, doch ohne den richtigen Ton finden zu können, – „Sie wollen um der Einsamkeit willen, daß ich fortgehe, um sich sammeln zu können, doch all das sind gefährliche Anzeichen, für Sie, für Sie vor allen anderen. Sie wollen viel denken. Meiner Meinung nach wäre es besser, nicht zu denken, sondern es ohne dem zu tun. Nein, Sie – wirklich, Sie beunruhigen mich.“
„Mir ist nur das nicht recht, daß in jenem Augenblick solch ein Ekel bei mir sein wird, wie Sie.“
„Nun, das ist doch einerlei. Ich kann ja auch hinausgehen und so lange draußen auf der Treppe stehen. Wenn Sie aber sterben wollen und dabei so wenig gleichmütig sind, so – nun, ich meine, das ist alles sehr gefährlich. Ich werde also auf die Treppe gehen und Sie können meinetwegen denken, was Sie wollen: daß ich nichts von Ihnen verstehe, daß ich als Mensch unermeßlich tief unter Ihnen stehe ...“
„Nein, nicht unermeßlich. Sie haben Begabungen; aber Sie verstehen sehr vieles nicht, weil Sie ein niedriger Mensch sind.“
„Freut mich, freut mich. Wie gesagt, es freut mich sehr, Zerstreuung zu bieten ... in einer solchen Minute.“
„Sie begreifen nichts.“
„Das heißt, ich ... jedenfalls höre ich mit Hochachtung –“
„Sie können nichts. Sie können sogar jetzt nicht Ihre kleinliche Wut verstecken, obgleich es für Sie doch unvorteilhaft ist, sie zu zeigen. Sie werden mich ärgern und ich werde vielleicht plötzlich noch ein halbes Jahr wollen ...“
Pjotr Stepanowitsch sah nach der Uhr.
„Ich habe niemals etwas von Ihrer Theorie verstanden, aber ich weiß, daß Sie sie nicht für uns ausgedacht haben, folglich werden Sie es auch ohne uns tun. Auch weiß ich, daß nicht Sie die Idee verschlungen haben, sondern die Idee hat Sie verschlungen, also werden Sie es auch nicht aufschieben.“
„Wie? Mich hat die Idee verschlungen?“
„Ja.“
„Und nicht ich die Idee? Das ist gut gesagt. Sie haben einen kleinen Verstand. Nur necken Sie, ich aber bin stolz darauf.“
„Vorzüglich, sehr schön so. Gerade so muß es ja sein, daß Sie stolz darauf sind.“
„Genug, Sie haben ausgetrunken, gehen Sie jetzt.“
„Zum Teufel, da wird man wohl müssen,“ Pjotr Stepanowitsch erhob sich. „Aber immerhin ist es noch früh. Hören Sie, Kirilloff, bei der Mäßnitschicha treffe ich diesen Menschen, Sie wissen schon? Oder hat auch sie gelogen?“
„Werden ihn nicht treffen, denn er ist hier und nicht da.“
„Wie, hier! zum Teufel, wo?“
„Sitzt in der Küche, ißt und trinkt.“
„Wie wagt der Kerl! ...“ Pjotr Stepanowitsch wurde rot vor Zorn. „Er war verpflichtet zu warten ... Unsinn! Er hat ja weder Geld noch einen Paß!“
„Ich weiß nicht. Er ist gekommen, um sich zu verabschieden. Ist angekleidet und bereit, geht fort und kommt nicht wieder. Er sagte, daß Sie ein gemeiner Mensch sind und will nicht auf Ihr Geld warten.“
„A–ah! Er fürchtet, daß ich ... nun ja, ich kann ihn auch jetzt, wenn ... Wo ist er, in der Küche?“
Kirilloff öffnete eine Seitentür zu einem kleinen, dunklen Zimmer, aus dem drei Stufen in die Küche hinabführten. Von der Küche war, gleich bei der Tür, durch eine Bretterwand eine Kammer abgeteilt, in der gewöhnlich das Bett des Dienstmädchens stand. Hier saß nun in der Ecke unter den Heiligenbildern Fedjka vor einem unbedeckten Brettertisch, auf dem ein halbes Liter Schnaps, Brot auf einem Teller und in einer irdenen Schüssel ein kaltes Stück Rindfleisch und Kartoffeln standen. Er aß mit Genuß und schien schon halb betrunken zu sein, doch war er in kurzem Pelz und augenscheinlich zum Aufbruch bereit. Hinter der Bretterwand in der Küche summte schon der Samowar, doch der war nicht für Fedjka aufgestellt, sondern Fedjka selbst blies ihn jeden Abend mit seiner ganzen Lungenkraft für „Alexei Nylitsch“ an, „dieweil Sie daran überaus gewöhnt sind, nachts immerzu Tee zu trinken!“ Ich vermute stark, daß das Rindfleisch und die Kartoffeln, da kein Mädchen im Hause war, von Kirilloff selbst schon am Morgen für Fedjka gebraten worden waren.
„Was ist dir eingefallen?“ rief Pjotr Stepanowitsch und stürzte die Stufen hinunter. „Warum hast du nicht dort auf mich gewartet, wo man es dir befohlen hat?“
Und zornig schlug er mit der Faust auf den Brettertisch.
Fedjka nahm eine würdevollere Haltung an.
„Du, wart ein bißchen, Pjotr Stepanowitsch, wart ein bißchen,“ sagte er, fast mit stutzerhafter Deutlichkeit die Worte aussprechend, „du mußt als erste Pflicht verstehen, daß du hier auf edlen Besuch bei Herrn Kirilloff, Alexei Nylitsch, bist, bei dem du dessen Stiefel putzen kannst, denn er ist vor dir ein gebildeter Verstand, du aber bist nur ein – Pfui!“
Und er spie elegant zur Seite, daß der Speichel trocken wie ein Wurf zu Boden flog. Man sah ihm Hochmut, Entschlossenheit und ein gewisses, höchst gefährliches, trügerisch ruhiges Klugredenwollen an – bis zum ersten Ausbruch. Doch Pjotr Stepanowitsch hatte schon keinen Sinn mehr dafür, auf die Gefahr zu achten, und das vertrug sich schließlich auch nicht mit seiner Auffassung der Dinge. Und die Ereignisse und Mißerfolge dieses Tages hatten ihn zudem schon um jede Überlegung gebracht ... Liputin, der über den drei Stufen in der Tür stehen blieb, sah neugierig aus dem dunklen Zimmer in die Kammer hinab.
„Willst du, oder willst du nicht einen richtigen Paß haben und gutes Geld zur Fahrt, wohin man dir gesagt hat? Ja oder nein?“
„Siehst du, Pjotr Stepanowitsch, du hast mich von Anfang an betrogen, und darum bist du vor mir der reine Gauner, bist ganz wie eine verfluchte Hundelaus, – siehst du, dafür halt ich dich. Du hast mir für unschuldiges Blut großes Geld und das Blaue vom Himmel herunter versprochen, und für Herrn Stawrogin hast du geschworen, und was ist dahinter? Es kommt immer nur deine Gaunerei heraus! Ich, so wie ich bin, bin mit keinem Tropfen Blut daran schuld, nicht, daß da tausendfünfhundert, dir aber hat Herr Stawrogin neulich so um die Ohren gewischt, daß auch wir das schon wissen. Jetzt drohst du mir von neuem und versprichst mir Geld, aber wofür – darüber schweigst du. Ich aber denke so bei mir: du schickst mich nach Petersburg, um dich an Herrn Stawrogin, Nicolai Wszewolodowitsch, zu rächen und rechnest auf meine Leichtgläubigkeit. Und somit gehst du als der erste Mörder aus allem hervor. Und weißt du auch, was du mit allein diesem einen Punkte schon wert geworden bist, daß du an Gott selbst, den wahrhaftigen Schöpfer, wegen deiner Verderbnis nicht mehr glaubst? Das ist schon ebenso wie Heide sein, stehst also auf einer Stufe mit Tatar oder Mordwine. Herr Kirilloff, Alexei Nylitsch, der ein großer Philosoph ist, hat dir schon mehrmals den wahren Gott, den heiligen Schöpfer aller Dinge, erklärt, und desgleichen die ganze Schöpfung der Erde wie alle zukünftigen Schicksale und die Verwandlung aller Kreaturen und alles Gewürms aus dem Buch der Apokalypse. Du aber bist wie ein unverständiges Götzenbild und verharrst in Taubheit und Stummheit, und hast dazu auch den Offizier Erteleff gebracht, ganz wie der leibhaftige Bösewicht und Verführer, so da heißt Atheist ...“
„Ach du, besoffene Fratze! – Beraubt selbst Heiligenbilder und verkündet jetzt noch Gott!“
„Ja, siehst du, Pjotr Stepanowitsch, ich sage dir ganz aufrichtig, daß ich sie beraubt habe, aber ich habe bloß ein einziges Perlchen rausgenommen, und was kannst du wissen, vielleicht hat sich meine reuige Träne in demselben Augenblick im Schmelzofen des Allerhöchsten verwandelt für irgendein Unrecht, das mir geschehen ist, da ich doch nicht mal was habe, wo ich mein Haupt hinlegen kann. Weißt du auch aus den Büchern, daß einmal in alten Zeiten ein Kaufmann mit ganz genau so einem Tränenseufzer und Gebet wie ich aus dem Heiligenschein der heiligen Mutter Gottes eine Perle stibitzt und dann später kniefällig vor allem Volk das ganze Geld der Gottesmutter zu Füßen gelegt hat, und daß ihn da die heilige Fürsprecherin mit dem goldgestickten Tuch gesegnet hat, daselbst vor allem Volk, so daß denn schon damals ein Wunder daraus geschah und von der Obrigkeit anbefohlen wurde, alles buchstäblich in die Reichsbücher einzutragen. Du aber hast eine Maus hineingesteckt, also hast du Gott selber beschimpft. Und wenn du nicht mein angeborener Herr wärst, den ich, als ich noch ein Junge war, auf meinen Armen gewiegt habe, so würde ich dich jetzt, so wie du da bist, mit eins totschlagen, ohne hier anders vom Fleck zu gehen!“
Pjotr Stepanowitsch geriet in maßlosen Zorn.
„Sprich, hast du heute Stawrogin gesehen?“
„Das darfst du nicht wagen, daß du mich ausfragen tust. Herr Stawrogin steht in dieser Sache nur in Verwunderung vor dir da und hat sich nicht mal mit ’nem Wunsch dran beteiligt, was aber von einer Anordnung oder Geld, davon schon ganz zu schweigen. Du hast mich rundherum betrogen!“
„Das Geld bekommst du, und die zweitausend bekommst du auch, in Petersburg, am angegebenen Ort, alle auf einmal, und wirst noch mehr bekommen.“
„Du, mein Bester, du lügst nur wieder, und es ist mir fast lustig zu sehen, was für ein leichtgläubiger Verstand du bist. Herr Stawrogin steht vor dir wie auf einer hohen Treppe und du kläffst nur von unten wie ein dummes Hündchen, während er von oben auf dich auch nur zu spucken schon für eine große Ehre für dich halten würde.“
„Aber weißt du auch,“ rief Pjotr Stepanowitsch in rasender Wut, „daß ich dich, Schurke, nicht einen Schritt von hier lasse und dich sofort der Polizei übergebe!“
Fedjka sprang auf und seine Augen blitzten vor Jähzorn. Pjotr Stepanowitsch riß seinen Revolver hervor. Und nun kam es zu einem widerlichen kurzen Auftritt: noch bevor Pjotr Stepanowitsch zielen konnte, hatte Fedjka sich schon im Nu geduckt, gedreht und schlug ihn aus aller Kraft auf die Wange. Und schon im selben Augenblick klatschte der zweite furchtbare Schlag, dann der dritte, der vierte, immer auf die Wange. Pjotr Stepanowitsch stand wie duselig, seine Augen stierten, er murmelte etwas, und plötzlich stürzte er jäh zu Boden.
„Da habt ihr ihn, nehmt ihn jetzt!“ rief Fedjka mit einer triumphierenden Wendung, ergriff seine Mütze, zog schnell unter der Bank ein Bündel hervor und war verschwunden.
Pjotr Stepanowitsch lag röchelnd am Boden. Liputin dachte schon, er werde gleich sterben. Kirilloff lief schnell in die Küche.
„Mit Wasser muß man ihn!“ rief er.
Er schöpfte in Hast mit einem Blechgefäß Wasser aus dem Eimer, kam schnell zurück und goß es ihm über den Kopf. Pjotr Stepanowitsch bewegte sich, erhob den Kopf, setzte sich langsam auf und blickte unverständig vor sich hin.
„Nun, wie ist es?“ fragte Kirilloff.
Pjotr Stepanowitsch sah ihn unbeweglich, doch noch ohne ihn zu erkennen, an. Da bemerkte er aber Liputin, der aus der dunklen Tür hervorgetreten war, und lächelte sein altes gemeines Lächeln. Plötzlich griff er schnell nach seinem auf der Diele liegenden Revolver und sprang auf.
„Wenn es Ihnen morgen einfallen sollte, fortzulaufen ... wie der Schuft Stawrogin,“ schrie er in wildem Ausbruch, kreidebleich, Kirilloff an, die Worte stockend und unklar hervorstoßend, „so hänge ich Sie am anderen ... Ende der Welt ... wie eine Fliege auf ... zerdrücke Sie ... verstanden!“
Und er zielte mit dem erhobenen Revolver gerade auf Kirilloffs Stirn, – doch schon in derselben Sekunde besann er sich, riß seine Hand zurück, steckte den Revolver wieder in die Tasche und stürzte, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Hause. Liputin lief ihm nach. Sie krochen wieder durch den Zaun und gingen, wie sie gekommen waren, auf dem schrägen Grabenrande, sich an den Brettern haltend, bis zur Bogojawlenskstraße. Pjotr Stepanowitsch ging so schnell, daß Liputin ihm kaum nachkommen konnte. Am nächsten Kreuzweg blieb er plötzlich stehen.
„Nun?“ wandte er sich herausfordernd nach Liputin um.
Liputin erinnerte sich des Revolvers und zitterte noch von dem, was geschehen war; aber die Antwort fiel ihm plötzlich wie von selbst von den Lippen:
„Ich denke ... ich denke, daß man ‚bis nach Taschkent‘ keineswegs so sehnsüchtig darauf wartet, was ‚der Student‘ da anpreist.“
„Haben Sie gesehen, was Fedjka in der Küche trank?“
„Was er trank? Branntwein trank er.“
„Nun, so wissen Sie denn, daß er zum letzten Mal im Leben Branntwein getrunken hat. Ich empfehle, für fernere Erwägungen das zu behalten. Jetzt aber scheren Sie sich zum Teufel! Bis morgen sind Sie weiter nicht nötig ... Nur – denken Sie an mich! keine Dummheiten machen!“
Liputin jagte Hals über Kopf nach Haus.
Liputin hatte sich schon vor langer Zeit einen Paß auf einen fremden Namen besorgt. Es ist eigentlich eine sonderbare Vorstellung, daß dieser ordentliche kleine Mensch, dieser eigensinnige Familientyrann und vor allem Beamte (wenn er auch Fourierist war), daß dieser Kapitalist und Kuponschneider schon vor langer Zeit auf den phantastischen Gedanken hatte verfallen können, sich auf alle Fälle so einen Paß zu verschaffen, um sich mit ihm ins Ausland zu retten, wenn ... Er gab also doch die Möglichkeit dieses „Wenn“ zu, obschon er gewiß nicht hätte formulieren können, was er unter diesem „Wenn“ verstand ...
Jetzt aber hatte es sich plötzlich selbst formuliert, und noch dazu auf die allerunerwartetste Weise. Jener tollkühne Gedanke, mit dem er bei Kirilloff eingetreten war, nachdem er Pjotr Stepanowitschs „R–rrrüpel“ eingesteckt hatte, bestand darin, morgen noch, womöglich vor Sonnenaufgang, alles zu verlassen und sich ins Ausland in Sicherheit zu bringen! Wer nicht glauben will, daß so phantastische Dinge in unserer alltäglichen Wirklichkeit geschehen, der möge sich die Lebensgeschichten unserer gegenwärtigen Emigranten im Ausland einmal näher ansehen. Kein einziger von ihnen hat eine vernünftigere Flucht hinter sich. Immer war es die gleiche ungebändigte Herrschaft der Hirngespinste und nichts weiter.
Als Liputin zu Hause anlangte, war das erste, was er tat, daß er seinen Reisesack hervorholte und zu packen begann. Seine größte Sorge war das Geld, wie viel und wie er es retten konnte. Jawohl: „retten“, denn seiner Meinung nach durfte er nicht eine Stunde mehr säumen und mußte womöglich schon bei Sonnenaufgang unterwegs sein. Auch wußte er noch nicht recht, wo er am besten in den Zug steigen sollte; schließlich entschloß er sich, irgendwo auf der zweiten oder dritten Station einzusteigen, bis dorthin aber zu Fuß zu laufen. So plagte er sich denn mit seinem Reisesack herum, einen ganzen Wirbelsturm von Gedanken im Kopf, und – plötzlich warf er alles hin und sank mit einem tiefen Stöhnen auf seinen Diwan und streckte sich auf ihm aus.
Er fühlte deutlich, und plötzlich erkannte er ganz klar, daß er flüchten, nun ja, daß er wirklich flüchten werde, daß er aber die Frage, ob er vor oder nach Schatoff flüchten sollte, jetzt zu beantworten vollkommen außerstande war. Er empfand sich nur noch als einen willenlosen Körper, eine passive Masse, die schon von einer fremden unheimlichen Kraft gelenkt wurde, und er fühlte, daß er, obschon er einen Auslandspaß besaß und ohne weiteres „vor Schatoff“ flüchten konnte (nur deshalb hatte er sich doch so beeilt), – daß er trotzdem nicht „vor Schatoff“, sondern unbedingt erst „nach Schatoff“ flüchten werde, und daß es so schon beschlossen, unterschrieben und versiegelt war. In unerträglicher Qual, zitternd und sich über sich selbst wundernd, seufzend und vergehend vor Angst, erlebte er doch noch, ohne selbst recht zu wissen wie, auf dem Diwan liegend, den nächsten Morgen. Und dann erst erhielt er den entscheidenden Stoß, der seinem schwankenden Entschluß die endgültige Richtung gab. Es war schon elf Uhr, als er die Tür seines Zimmers aufschloß und hinaustrat. Und das erste, was er von den Seinigen erfuhr, war, daß der Räuber, Mörder und entsprungene Zuchthäusler Fedjka, der alle in Schrecken versetzt, Kirchen beraubt und Häuser in Brand gesteckt hatte, daß Fedjka, der berüchtigte Fedjka, den unsere Polizei schon lange verfolgte und immer noch nicht hatte finden können, früh morgens, sieben Werst von der Stadt, erschlagen gefunden worden war. Die ganze Stadt wußte es bereits. Liputin stürzte aus dem Hause, um Näheres darüber zu erfahren. Er hörte, daß man Fedjka, der allem Anscheine nach beraubt worden war, mit zerspaltenem Kopf gefunden, und daß die Polizei auf Grund einiger Anhaltspunkte den Spigulinschen Fomka, mit dem Fedjka bei Lebädkins zweifellos zusammen gemordet und angezündet hatte, für den Mörder hielt. Offenbar waren die beiden unterwegs in Streit geraten, wegen der von Fedjka bei Lebädkin angeblich geraubten und unterschlagenen großen Summe Geldes, die er mit Fomka, wie man annahm, noch nicht geteilt hatte ... Liputin lief noch zu dem Hause, in dem Pjotr Stepanowitsch wohnte, und erfuhr dort, daß der junge Herr, der zwar erst um ein Uhr nachts nach Hause gekommen sei, doch seelenruhig bis acht Uhr morgens in seinem Bett geschlafen habe. Augenscheinlich war also an dem plötzlichen Tode Fedjkas nichts Ungewöhnliches, zumal ja Banditen meistens ein solches Ende nehmen: aber das verhängnisvolle Übereinstimmen der Prophezeiung, daß Fedjka an diesem Abend „zum letztenmal Branntwein getrunken“ habe, mit der nackten Tatsache seines gewaltsamen Endes, war doch so seltsam und unheimlich, daß Liputin plötzlich aufhörte unschlüssig zu sein. Als er nach Hause zurückkam, stieß er mit einem Fußtritt den Reisesack unter den Diwan und am Abend war er der erste auf dem zum Stelldichein mit Schatoff angegebenen Platz, allerdings – mit dem Paß in der Tasche.
Die Katastrophe mit Lisa und der Tod Marja Timofejewnas hatten auf Schatoff einen erschütternden und niederdrückenden Eindruck gemacht. Als ich am Morgen mit ihm zusammentraf, erschien er mir ganz verstört. Später ging er zur Mordstätte, um die Leichen zu sehen, doch soviel ich weiß, ist er an diesem Tage weder vernommen worden, noch hat er unaufgefordert irgend etwas ausgesagt. Aber je mehr der Tag vorrückte, desto mehr quälte er sich. Es gab da einen Augenblick, in dem er schon aufstehen wollte, hingehen und – alles sagen. Was dieses „Alles“ war, das wußte er freilich selbst nicht genau. Beweise besaß er keine; er hatte nur seine dunklen Ahnungen, die lediglich zu seiner eigenen Überzeugung genügten. Er hätte schließlich bloß sich selbst angegeben als ehemaliges Mitglied eines geheimen Bundes. Doch auch dazu wäre er bereit gewesen, wenn er nur in seinem Sturz diese „Schurken“ – so lautete sein eigener Ausdruck – mitgerissen hätte!
Pjotr Stepanowitsch hatte diesen Ausbruch richtig vorausgesehen und genau gewußt, wieviel er wagte, wenn er sein furchtbares Vorhaben auch nur um einen Tag hinausschob. Aber dann hatte ihn doch wieder sein Selbstvertrauen und seine höhnische Verachtung für „diese Leutchen“ zu dem Aufschub bestimmt. Er würde mit diesem unschlauen Schatoff schon fertig werden, sagte er sich: er würde ihn einfach diesen ganzen Tag über bewachen lassen und, wenn es not tat, auch früher schon entscheidend eingreifen.
Einstweilen aber rettete Pjotr Stepanowitsch und die Seinen etwas vollkommen Unerwartetes, das niemand von ihnen hätte voraussehen können.
Gegen acht Uhr abends – gerade als die Unsrigen sich bei Erkel versammelt hatten, auf Pjotr Stepanowitsch warteten, sich ärgerten und aufregten – lag Schatoff mit Kopfschmerzen und in leichtem Fieber auf seinem Bett, in der Dunkelheit, ohne Licht. Er quälte sich, entschloß sich, aber konnte sich immer wieder nicht endgültig entschließen: fühlte vielmehr fluchend, daß das doch alles zu nichts führen werde.
Allmählich schlief er ein. Ihm träumte, daß er in seinem Bett mit Schnüren gebunden sei und sich nicht bewegen könne, indes durch das ganze Haus furchtbare Schläge hallten, Schläge an den Zaun, an die Hoftür, an die Wand des Flügels, in dem Kirilloff wohnte –, so daß das ganze Haus zitterte und in seinen Fugen krachte, während zugleich eine ferne, bekannte, aber ihn quälende Stimme klagend seinen Namen rief.
Plötzlich wachte er auf und erhob sich im Bett. Zu seiner Verwunderung dauerten die Schläge an die Hoftür immer noch fort, und wenn sie auch längst nicht mehr so überlaut und hallend waren, wie im Traum, so waren sie doch stark und heftig genug, und auch die sonderbare quälende Stimme fuhr fort, von Zeit zu Zeit ihn von der Pforte her zu rufen, nur jetzt nicht mehr klagend, sondern, im Gegenteil, ungeduldig und gereizt.
Dazwischen hörte er noch eine andere tiefe, brummige, aber ruhigere Stimme.
Er sprang erschrocken sofort auf, öffnete das Klappfenster und steckte den Kopf hinaus.
„Wer da?“ rief er hinunter.
„Wenn Sie Schatoff sind,“ klang in einem eigentümlich stolzen Ton von unten eine Frauenstimme zurück, „so haben Sie die Güte, offen und ehrlich zu sagen, ob Sie mich hereinlassen wollen oder nicht?“
Er hatte diese Stimme erkannt.
„Marie! ... Bist du es?“
„Ja, gewiß bin ich es, Marja Schatowa. Aber ich bin mit einer Droschke hier und kann nicht länger –“
„Sofort ... ich will nur das Licht ...“ Schatoff sprang eilig und aufgeregt zurück, begann mit zitternden Händen die Streichhölzer zu suchen, die sich aber, wie gewöhnlich in solchen Fällen, nicht finden ließen, warf dabei noch den Leuchter mit dem Licht um, und da von unten wieder die ungeduldige Stimme erklang, ließ er schließlich alles liegen und stürzte Hals über Kopf die steile Treppe hinunter, um die Hofpforte zu öffnen.
„Haben Sie die Güte, so lange diese Tasche zu halten, bis ich diesen Mann hier bezahle,“ empfing ihn unten Frau Marja Schatowa und reichte ihm eine ziemlich leichte Handtasche aus Segeltuch mit Blechbeschlag. Sie selbst aber wandte sich gereizt an den Droschkenkutscher.
„Sie verlangen viel zu viel. Wenn Sie mich hier eine ganze Stunde lang durch diese schmutzigen Straßen gefahren haben, so sind Sie daran schuld, denn folglich haben Sie nicht einmal gewußt, wo diese verdrehte Straße eigentlich ist. Bitte die dreißig Kopeken zu nehmen und mir zu glauben, daß Sie weiter nichts erhalten werden.“
„Ach, Fräuleinchen, Sie haben mich doch selbst zuerst in die Wosnessensksche Straße befohlen, und diese hier ist die Bogojawlensksche. Die Wosnessensksche war meilenweit: haben bloß meinen Wallach unnütz in Schweiß gebracht.“
„Wosnessensksche, Bogojawlensksche, – das müssen Sie als Einwohner besser wissen als ich, und zudem irren Sie sich: ich habe Ihnen ganz zuerst nur das Filippoffsche Haus genannt, und Sie behaupteten, Sie wüßten, wo das sei.“
„Hier, hier sind noch fünf Kopeken,“ damit zog Schatoff sein letztes Geldstück aus der Westentasche.
„Was soll das? Sie werden hier nichts bezahlen!“ fuhr Frau Schatowa auf, doch der Kutscher setzte schon seinen „Wallach“ in Bewegung, und Schatoff zog sie an der Hand durch die Pforte auf den Hof und führte sie in den finsteren Flur.
„Schneller, Marie, schneller ... das sind doch lauter Nebensachen und ... Wie du naß geworden bist! Vorsichtig, hier geht es hinauf – wie schade, daß ich das Licht nicht ... die Treppe ist steil, halt’ dich am Geländer ... Nun, hier, das ist meine Stube. Verzeih, daß ich kein Licht ... Ich werde sofort ...“
Er hob im Dunkeln den Leuchter vom Boden auf, doch die Streichholzschachtel konnte er noch immer nicht finden. Marja Schatowa stand solange mitten im Zimmer, schweigend und ohne sich zu bewegen.
„Gott sei Dank, endlich! Hier ist sie!“ rief er schließlich freudig und zündete das Licht an.
Marja Schatowa sah sich flüchtig im Zimmer um.
„Man hat mir zwar schon gesagt, daß Sie in einem entsetzlichen Zimmer wohnen, aber ich hätte doch nicht gedacht, daß es so wäre,“ sagte sie launisch und ging zum Bett. „Ach, ich bin müde!“ und sie sank kraftlos auf das harte Lager. „Bitte, legen Sie die Reisetasche hin und setzen Sie sich selbst auf einen Stuhl. Oder wie Sie wollen, nur zappeln Sie mir nicht so vor den Augen herum ... Ich bin nur auf kurze Zeit zu Ihnen gekommen, bis ich eine Arbeit gefunden habe, denn ich kenne hier niemanden und mein Geld ist zu Ende ... Wenn ich Ihnen aber lästig falle, so haben Sie die Güte und sagen Sie’s bitte gleich! Ich werde morgen irgend etwas von meinen Sachen verkaufen, um mir im Gasthaus ein Zimmer nehmen zu können ... Ach, nur müde bin ich jetzt!“
Schatoff erbebte am ganzen Körper.
„Wozu, Marie, das ist doch nicht nötig, nicht nötig, du brauchst nicht ins Gasthaus zu gehen! Was für ein Gasthaus überhaupt? Warum das, wozu?“ und flehend faltete er die Hände.
„Nun, wenn man ohne Gasthaus auskommen kann, meinetwegen – aber man muß trotzdem die Sache klarlegen. Sie erinnern sich wohl noch, Schatoff, daß wir in Genf zwei Wochen und einige Tage als Ehepaar gelebt haben, vor – nun sind es schon drei Jahre, daß wir auseinandergegangen sind, übrigens ohne besonderen Streit. Aber denken Sie nur nicht, daß ich gekommen bin, um irgendeine der früheren Dummheiten wieder zu beginnen! Ich bin nur zurückgekehrt, um mir eine Arbeit zu suchen, und wenn ich gerade in diese Stadt kam, nun, so geschah es, weil mir heute alles gleich ist. Ich bin vor allem nicht gekommen, um irgend etwas zu bereuen. Denken Sie nur das nicht!“
„Oh, Marie! Das ist doch alles unnötig, gar nicht nötig!“ stammelte Schatoff undeutlich.
„Nun, wenn das so ist, wenn Sie so weit gescheit sind, daß Sie das verstehen können, so will ich mir erlauben hinzuzufügen, daß ich, wenn ich jetzt zu Ihnen gekommen bin, es zum Teil auch deswegen getan habe, weil ich Sie für keinen – gemeinen Menschen halte, sondern vielleicht sogar für einen viel besseren, als die anderen – Schurken alle!“
Ihre Augen blitzten auf. Sie mußte wohl viel von irgendwelchen „Schurken“ erlitten haben!
„Ich meine das ganz im Ernst. Ich will mich durchaus nicht etwa über Sie lustig machen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie gut sind. Ich habe es offen gesagt und Schönrednerei kann ich nicht leiden, das wissen Sie. Doch was rede ich? Es ist ja alles Unsinn. Ich habe immer gehofft, daß Sie vernünftig genug sein würden, um nicht lästig zu werden ... Ach, genug, nur müde bin ich!“
Und sie sah ihn mit langem, gequältem, müdem Blick an. Schatoff stand vor ihr, fünf Schritte weit, und hörte scheu, aber gleichsam erneut, mit einem eigentümlichen Strahlen im Gesicht, was sie sagte. Dieser starke und rauhe Mensch, der immer wie mit gesträubtem Fell wirkte, wie ein Rühr-mich-nicht-an, dieser Mensch wurde plötzlich ganz weich und wie von innen erhellt. In seiner Seele erzitterte etwas ganz Unerwartetes, ganz Ungewöhnliches. Drei Jahre Trennung, drei Jahre zerrissene Ehe hatten in seinem Herzen nichts zerstört. Vielleicht hatte er an jedem Tage dieser drei Jahre an sie gedacht, an dieses teure Wesen, das einst zu ihm gesagt, daß es ihn „liebe“. Für Schatoff hatte das eine Welt bedeutet: für ihn, der sich nicht einmal zu träumen erlaubt hatte, daß ihm je irgendein Weib sagen könnte, es „liebe“ ihn. Er war keusch und schamhaft bis zur Wildheit, hielt sich für eine Mißgeburt, haßte sein Gesicht und seinen Charakter, und verglich sich mit irgendeinem Monstrum, das man eigentlich nur auf Jahrmärkten herumschleppen und zeigen konnte. Deshalb gab es für ihn nichts Heiligeres, als Wahrheit und Ehrlichkeit, und war er in seiner ganzen finsteren, stolzen, jähzornigen und schweigsamen Art seinen Überzeugungen bis zum Fanatismus ergeben! Und nun stand dieses einzige Wesen, das ihn zwei Wochen lang geliebt hatte – daran glaubte er immer, immer, – dieses Wesen, das er so maßlos hoch über sich stellte, obschon er alle ihre Verirrungen kannte und ruhig und nüchtern über sie urteilte: dieses Wesen, dem er alles, aber auch alles verzieh (das stand für ihn einfach außer Frage, ja eher kam es bei ihm noch umgekehrt heraus: daß er vor ihr ganz allein der Schuldige war), nun stand diese Frau, diese Marja Schatowa plötzlich wieder vor ihm, er sah sie wieder in seiner Wohnung ... es war fast unmöglich, das zu fassen! So überrascht war er, und es lag für ihn in diesem Ereignis so viel von etwas unsagbar Furchtbarem, und doch zu gleicher Zeit so viel Glück, daß er gar nicht recht zur Besinnung kommen konnte, vielleicht aber auch gar nicht wollte. Er ging und stand wie im Traum, und erst, als sie ihn mit diesem gequälten Blick ansah, da begriff er plötzlich, daß dieses einzige geliebte Geschöpf unsäglich gelitten haben mußte. Bei diesem Gedanken setzte sein Herzschlag aus. Voll Schmerz und Mitleid sah er sie an: in diesem müden Frauengesicht war der Glanz der ersten Jugend schon erloschen. Sie war gewiß immer noch schön – in seinen Augen immer noch wie früher eine Schönheit. (In Wirklichkeit war sie fünfundzwanzig Jahre alt, ziemlich stark gebaut, über mittelgroß – größer als Schatoff –, mit braunem, prachtvollem Haar, schmalem, bleichem Gesicht und großen dunklen Augen, in denen jetzt ein fiebriger Glanz lag.) Aber die leichtsinnige, naive und gutmütige frühere Energie, die ihr großer Zauber gewesen war, hatte sich in diesen drei Jahren in mürrische Reizbarkeit, Enttäuschung und fast in Zynismus verwandelt, in einen Zynismus, an den sie sich freilich noch nicht gewöhnt zu haben schien und der sie selbst sogar quälen mochte. Doch Schatoff sah vor allem, daß sie krank war. Und trotz all seiner Angst vor ihr, trat er plötzlich zu ihr und erfaßte ihre beiden Hände:
„Marie ... weißt du ... du bist vielleicht sehr müde, um Gottes willen, sei nicht böse ... Wenn du einwilligen wolltest, zum Beispiel, ein wenig Tee zu trinken, wie? Tee erfrischt doch sehr, nicht? Wenn du nur wolltest –?“
„Was ist hier zu wollen? Natürlich will ich! was Sie noch immer noch für ein Kind sind! Wenn Sie Tee haben, so geben Sie ihn. Wie eng es bei Ihnen ist! Wie kalt es hier ist!“
„Oh, ich werde sofort Holz ... ja, Holz ... Holz habe ich!“ Schatoff ging hin und her, „– Holz – ja, aber ... das heißt ... übrigens auch Tee, sofort!“ Und plötzlich, wie nach einem harten Entschluß, schlug er mit der Hand und ergriff seine Mütze.
„Wohin gehen Sie denn? Also haben Sie keinen Tee?“
„Gleich, sofort, sofort wird alles da sein ... ich ...“
Er nahm seinen Revolver vom Bücherbrett.
„Ich werde schnell diesen Revolver verkaufen ... oder versetzen ...“
„Was für Dummheiten, und wie lange das dauern wird! Nehmen Sie hier mein Geld, wenn Sie nichts haben, hier sind achtzig Kopeken, glaub ich, – alles, was ich besitze. Bei Ihnen ist es ja wie in einer Irrenanstalt.“
„Nicht nötig, nicht nötig, dein Geld, ich werde sofort, im Augenblick ... ich werde ohne Revolver ...“
Und er lief geraden Wegs zu Kirilloff. Das war etwa zwei Stunden vor Pjotr Stepanowitschs und Liputins Besuch bei diesem. Schatoff und Kirilloff sahen sich, obwohl sie auf demselben Hof wohnten, fast nie, und auch wenn sie sich zufällig einmal trafen, so grüßten sie sich weder, noch sprachen sie ein Wort miteinander: sie hatten zu lange in Amerika nebeneinander „auf dem Fußboden gelegen“.
„Kirilloff, Sie haben immer Tee: können Sie mir Tee und einen Samowar geben?“
Kirilloff, der in seinem Zimmer wieder auf und ab ging (gewöhnlich die ganze Nacht aus einer Ecke in die andere), blieb plötzlich stehen und sah aufmerksam Schatoff an, jedoch ohne besondere Verwunderung, obgleich dieser ganz unerwartet hereingestürzt war.
„Tee ist da. Zucker auch. Ein Samowar auch. Aber der Samowar ist nicht nötig, der Tee ist heiß. Setzen Sie sich und trinken Sie einfach.“
„Kirilloff, wir haben beide in Amerika gelegen ... Meine Frau ist zu mir gekommen ... Ich ... Geben Sie mir Tee ... und ich brauche auch den Samowar.“
„Wenn die Frau, so brauchen Sie den Samowar. Aber den Samowar später. Ich habe zwei. Jetzt nehmen Sie die Teekanne vom Tisch. Heiß, ganz heiß. Nehmen Sie alles, nehmen Sie Zucker, den ganzen. Brot ... Brot ist viel da, nehmen Sie alles Brot. Habe auch Kalbsbraten. Geld einen Rubel.“
„Gib mir, Freund, ich gebe es dir morgen wieder! Ach, Kirilloff!“
„Das ist die Frau, die von der Schweiz? Das ist gut. Und das, daß Sie zu mir gekommen sind, ist auch gut.“
„Kirilloff!“ rief Schatoff, der die Teekanne in den Arm nahm und in die Hände Zucker und Brot: „Kirilloff! Wenn Sie ... wenn Sie sich doch von Ihren schrecklichen Phantasien lossagen und Ihren atheistischen Wahnsinn lassen könnten ... was würden Sie dann für ein Mensch sein, Kirilloff!“
„Ich sehe, Sie lieben Ihre Frau nach der Schweiz. Das ist gut, falls nach der Schweiz. Wenn Sie noch Tee brauchen, kommen Sie wieder. Kommen Sie die ganze Nacht, ich schlafe nicht. Der Samowar wird heiß sein. Nehmen Sie den Rubel, hier. Gehen Sie zur Frau, ich werde bleiben und werde an Sie und Ihre Frau denken.“
Marja Schatowa schien mit der Schnelligkeit, mit der Schatoff alles besorgt hatte, zufrieden zu sein und machte sich hastig an den Tee. Doch trank sie nur eine halbe Tasse, und aß nur ein kleines Stückchen vom Brot. Für den von Kirilloff angebotenen Kalbsbraten dankte sie mit gereizter Launenhaftigkeit.
„Du bist krank, Marie, das ist alles so krankhaft an dir ...“ bemerkte Schatoff schüchtern; scheu bemüht, ihr zu dienen.
„Natürlich bin ich krank; bitte, setzen Sie sich. Wo haben Sie den Tee hergenommen, da Sie keinen hatten?“
Schatoff erzählte kurz von Kirilloff. Sie hatte von diesem schon einiges gehört.
„Ich weiß, daß er verrückt ist; bitte, von was anderem; als ob es nicht genug Toren gäbe! So waren Sie in Amerika? Ich habe davon gehört, Sie haben von dort geschrieben.“
„Ja, ich ... habe nach Paris geschrieben.“
„Genug, und bitte von was anderem. Sie sind aus Überzeugung Slawophile?“
„Ich ... das heißt, nicht daß ich gerade ... Infolge der Unmöglichkeit, Russe zu sein, bin ich Slawophile geworden,“ sagte er, gezwungen lächelnd, mit der Schwerfälligkeit eines Menschen, der zur unrechten Zeit und nur mit genauer Not einen Witz zustande bringt.
„Sie sind nicht Russe?“
„Nein, ich bin nicht Russe.“
„Nun, das sind alles Dummheiten. Setzen Sie sich doch endlich, ich bitte Sie. Was laufen Sie immer hin und her? Sie denken, ich phantasiere? Vielleicht werde ich auch phantasieren. Sie sagen, es gibt hier nur Sie und ihn im Hause?“
„Ja, nur wir zwei ... und unten wohnte ...“
„Und alles solche Kluge! Wer wohnte unten? Sie sagten ‚unten‘?“
„Jetzt nicht mehr ... –“
„Was, ‚jetzt nicht mehr‘? Ich will es wissen.“
„Ich wollte nur sagen, daß jetzt nur wir zwei hier wohnen, unten aber wohnten früher Lebädkins ...“
„Das sind die, die man heute Nacht ermordet hat?“ fuhr sie plötzlich auf. „Ich hörte davon. Wie ich ankam, hörte ich davon. Und dann hat es gebrannt?“
„Ja, Marie, ja, und vielleicht begehe ich eine furchtbare Erbärmlichkeit in diesem Augenblick, wenn ich diese Schurken ungestraft lasse ...“
Er war aufgestanden und schritt wie ein Verzweifelnder mit erhobenen Armen durch das Zimmer.
Aber Marie verstand ihn nicht ganz. Sie war zu zerstreut. Sie fragte mehr, als daß sie zuhörte.
„Ja, schöne Sachen spielen sich hier bei euch ab. Ach, wie das alles gemein ist! Was für Schurken sie alle sind! Aber so setzen Sie sich doch, ich bitte Sie, endlich einmal! – oh, wie Sie mich reizen!“
Und erschöpft senkte sie den Kopf auf das Kissen.
„Marie, ich werde ja nicht ... Du legst dich vielleicht ein wenig hin, Marie?“
Sie antwortete nicht und schloß nur übermüdet die Augen. Sie schlief fast sofort ein. Ihr bleiches Gesicht sah in diesem Augenblick wie das einer Toten aus. Schatoff sah sich im Zimmer um, setzte das Licht fester in den Leuchter, sah noch einmal unruhig auf ihr Antlitz, preßte fest die Hände vor sich zusammen und ging dann leise auf den Fußspitzen aus dem Zimmer in den Treppenflur. Dort stellte er sich mit dem Gesicht in eine Ecke, stützte die Stirn an die Wand und stand so zehn Minuten lang reglos. Er hätte wohl noch länger so gestanden, doch plötzlich vernahm er unten auf der Treppe leise, vorsichtige Schritte.
Jemand kam die Treppe herauf.
Schatoff erinnerte sich, daß er die Hofpforte zu schließen vergessen hatte.
„Wer da?“ fragte er verhalten.
Der Unbekannte stieg langsam höher, ohne zu antworten. Als er oben angelangt war, blieb er stehen. Ihn zu erkennen war in der Dunkelheit unmöglich. Plötzlich hörte man die vorsichtige Frage:
„Iwan Schatoff?“
Schatoff nannte seinen Namen und streckte schnell den Arm aus, um dem Fremden den Weg zu verlegen; dieser aber griff nach seiner Hand und – in derselben Sekunde fuhr Schatoff zusammen, als hätte er ein Reptil berührt.
„Warten Sie hier,“ flüsterte er schnell, „kommen Sie nicht herein, ich kann Sie jetzt nicht empfangen. Meine Frau ist angekommen. Ich bringe das Licht her.“
Als er mit dem Licht zurückkehrte, sah er einen jungen Fähnrich vor sich stehen, dessen Namen er nicht kannte, dessen Gesicht er aber schon einmal irgendwo gesehen haben mußte.
„Erkel,“ stellte sich der Jüngling vor. „Sie haben mich bei Wirginski gesehen.“
„Ich erinnere mich; Sie saßen und schrieben. Hören Sie,“ brauste Schatoff plötzlich auf, wild und wütend auf den Jungen zuschreitend, wenn er auch die Stimme immer noch dämpfte. „Sie haben beim Händedruck ein Zeichen gemacht. Wissen Sie, daß ich auf alle diese Zeichen einfach spucke! Ich erkenne sie nicht an ... will sie nicht ... Ich könnte Sie gleich die Treppe hinunter werfen, wissen Sie das auch ...!“
„Nein, das weiß ich gar nicht, und ich verstehe auch gar nicht, warum Sie sich so ärgern,“ sagte der Gast ganz ungekränkt und fast gutmütig. „Ich soll Ihnen nur etwas mitteilen, und darum bin ich gleich heute gekommen, um nicht unnütz Zeit zu verlieren. Sie haben eine Druckmaschine, die nicht Ihnen gehört und über deren Verbleib Sie Rechenschaft zu geben verpflichtet sind, wie Sie wohl selbst wissen werden. Man hat mich nun beauftragt, von Ihnen zu verlangen, diese Druckmaschine morgen um Punkt sieben Uhr abends Liputin zu übergeben. Und außerdem hat man mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß man weiter nichts mehr von Ihnen verlangen wird.“
„Nichts mehr? Hat man das ausdrücklich –?“
„Nicht das geringste. Ihre Bitte wird erfüllt und Sie sind von jetzt ab für immer ausgeschlossen. Dieses Ihnen mitzuteilen, hat man mich, wie gesagt, beauftragt.“
„Wer hat Sie beauftragt?“
„Die, die mir das Zeichen mitteilten.“
„Kommen Sie aus dem Auslande?“
„Das ... das kann Ihnen, glaube ich, gleichgültig sein.“
„Eh, zum Teufel! Aber warum sind Sie nicht früher gekommen, wenn Sie beauftragt waren?“
„Ich folgte den Instruktionen und ich war nicht allein.“
„Verstehe, verstehe schon, Sie waren nicht allein. Eh ... Teufel! Aber warum ist denn Liputin nicht selbst gekommen?“
Der Fähnrich überhörte die Frage.
„So werde ich denn morgen um sechs zu Ihnen kommen und wir gehen dann zu Fuß – dorthin. Außer uns dreien wird niemand da sein.“
„Werchowenski auch nicht?“
„Nein. Werchowenski fährt morgen vormittag mit dem Elfuhrzuge fort.“
„Dachte ich es mir doch!“ murmelte Schatoff knirschend und schlug sich mit der Faust aufs Bein. „Er zieht los, die Kanaille!“
Er dachte einen Augenblick erregt nach. Erkel sah ihn aufmerksam an, schwieg und wartete.
„Wie wollen Sie denn die ganze Druckerpresse wegschaffen? So etwas kann man doch nicht einfach ausgraben und in der Hand forttragen.“
„Das ist auch gar nicht nötig. Sie zeigen uns nur die Stelle und wir überzeugen uns, ob sie wirklich dort vergraben ist. Wir wissen doch nur im allgemeinen, wo der Ort ist, aber nicht genau, an welcher Stelle. Haben Sie sonst jemandem die Stelle gezeigt?“
Schatoff sah ihn an.
„Und Sie, Sie, solch ein Knabe, – solch ein dummer kleiner Knabe, – auch Sie sind mit dem Kopf in diese Falle gekrochen, wie ein richtiges Schaf? Aber was! – die brauchen ja gerade solchen Saft! Nun, gehen Sie! E–eeh! dieser Schuft! dieser! – Er hat euch alle betrogen und nun macht er sich selbst aus dem Staube!“
Erkel sah ihn klar und ruhig an, aber als verstehe er ihn nicht ganz.
„Werchowenski geflohen! Also richtig geflohen!“ knirschte Schatoff voll Ingrimm.
„Aber er ist ja noch hier, er ist ja noch gar nicht fortgefahren. Er wird erst morgen fortfahren,“ bemerkte Erkel weich und begütigend. „Ich forderte ihn ausdrücklich auf, als Zeuge bei der Übergabe zugegen zu sein; an ihn ging auch meine ganze Instruktion,“ plauderte er als junger unerfahrener Knabe aus. „Aber er willigte leider nicht ein, und dabei sagte er dann, daß er in diesen Tagen fortfahren müsse.“
Schatoff blickte noch einmal mitleidig auf den naiven armen Jungen und schlug dann mit der Hand, als wollte er sagen: „Lohnt es sich denn überhaupt, daß man sie bedauert?“
„Gut, ich komme,“ sagte er plötzlich kurz, „aber gehen Sie jetzt, marsch!“
„Also ich werde Sie morgen um Punkt sechs abholen,“ sagte Erkel nochmals, grüßte dann höflich und stieg, ohne sich zu beeilen, die Treppe hinunter.
„Kleiner Dummkopf!“ konnte sich Schatoff nicht enthalten, ihm nachzurufen.
„Wie?“ fragte der andere schon von unten zurück.
„Nichts, gehen Sie.“
„Ich dachte, Sie sagten noch etwas.“
Erkel war nur insofern ein „Dummkopf“, als der Hauptverstand in seinem Kopfe fehlte, eben der, auf den es ankommt, sozusagen der Kopf im Kopfe; doch von dem kleinerem dem untergeordneten Verstande hatte er eine ganze Menge, sogar so viel, daß dieser schon an Schlauheit grenzte. Fanatisch, kindlich der „allgemeinen Sache“ ergeben, im Grunde aber nur Pjotr Werchowenski, hatte Erkel den Auftrag nach der Instruktion ausgeführt, die ihm bei der Verteilung der Rollen erteilt worden war. Pjotr Stepanowitsch hatte sich nämlich an jenem Abend, nachdem er ihm die Rolle des Abgesandten zugewiesen, noch die Zeit genommen, ungefähr zehn Minuten mit ihm unbelauscht zu sprechen. Sie waren zu dem Zweck zur Seite getreten. Erkels ganzer Ehrgeiz ging dahin, der „allgemeinen Sache“ zu dienen, und um ihretwillen ordnete er sich blind jedem fremden Willen unter. Da nun aber solche Jünglinge, wie er, sich das Einer-Sache-dienen immer nur in Verbindung mit einer bestimmten Person vorstellen können, die ihrer Meinung nach die Idee dieser Sache repräsentiert, so richtete sich sein Wille schließlich ganz nach dem Pjotr Stepanowitschs. Erkel, der gefühlvolle, freundliche und gute Erkel, war vielleicht der kälteste und gefühlloseste unter den Mördern, mit denen Werchowenski Schatoff umstellt hatte. Ohne jeglichen persönlichen Haß, aber auch ohne mit der Wimper zu zucken, hätte er an dessen Ermordung teilgenommen.
Es war ihm unter anderem anbefohlen worden, bei der Überbringung seiner Botschaft an Schatoff die Umgebung desselben gut zu mustern: als ihn nun Schatoff auf der Treppe empfing und ihm in der Aufregung mitteilte – wahrscheinlich ganz unwillkürlich –, daß seine Frau zurückgekehrt sei, da war Erkels instinktive Schlauheit groß genug, um ihm sofort zu sagen, daß er hier nicht die geringste Neugier weiter zeigen dürfe, während er gleichzeitig blitzschnell begriff, von welcher ungeheuren Bedeutung die Rückkehr dieser Frau für das Gelingen oder Nichtgelingen ihres Vorhabens sein konnte ...
Mit dem letzteren sollte er nur zu recht haben: Marja Ignatjewnas Rückkehr rettete geradezu die „Schurken“, da sie Schatoff von jenen gefährlichen Gedanken ablenkte, und half ihnen noch, sich seiner zu „entledigen“ ... Diese plötzliche Ankunft seiner Frau regte ihn maßlos auf, warf seine Gedanken in ganz neue Gleise und ließ ihn für sich selbst jede Vorsicht vergessen. Ja, gerade der Gedanke an seine eigene Gefahr kam ihm jetzt, wo er mit so ganz anderem beschäftigt war, am allerwenigsten in den Sinn. Im Gegenteil, die Nachricht, daß Werchowenski am nächsten Tage fliehen werde, beruhigte ihn in der Beziehung vollständig. Und an der Richtigkeit dieser Nachricht zweifelte er um so weniger, als sie andererseits seinen Verdacht vollkommen bestätigte.
Nachdem er in das Zimmer zurückgekehrt war, setzte er sich still in eine Ecke, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. Bittere Gedanken quälten ihn ...
Und plötzlich hob er den Kopf, stand auf und ging auf den Fußspitzen zum Bett, um sie zu sehen.
„Herrgott! Sie wird doch morgen bestimmt erkranken, es hat ja jetzt schon angefangen! Sie hat sich natürlich auf der Reise erkältet. Wie sollte sie auch nicht! – ist sie doch gar nicht mehr an unser rauhes Klima gewöhnt! Und dann die Waggons, dazu noch die dritte Klasse, und draußen Sturm und Regen. Dabei hat sie nur so ein leichtes Mäntelchen an! Und sie sollte ich nun verlassen, so allein hier lassen, ohne jede Hilfe? Und ihr Reisetäschchen, wie leicht und klein das ist, wiegt ja keine zehn Pfund! Die Arme, wie erschöpft sie ist, wie viel sie ertragen hat! Sie ist stolz, darum klagt sie nicht! Aber erbittert, erbittert ist sie! Kommt noch die Krankheit hinzu – selbst ein Engel ist in der Krankheit gereizt! Wie trocken und heiß jetzt ihre Stirn sein muß, was für Schatten unter den Augen liegen und ... und wie schön dieses ovale Gesicht ist und dieses herrliche Haar, wie ...“
Aber er wandte schnell die Augen von ihr, ging eilig in seine Ecke zurück, wie erschrocken schon bei dem bloßen Gedanken, in ihr etwas anderes zu sehen, als ein unglückliches, gequältes Wesen, dem er helfen mußte.
„Was sind das hier für Hoffnungen! Oh, wie niedrig, wie gemein der Mensch doch ist!“
Er setzte sich wieder, vergrub wieder das Gesicht in den Händen und begann zu denken, ließ Erinnerungen an sich vorüberziehen ... und wieder träumte er von Hoffnungen.
„Ach, müde bin ich, müde!“ fiel ihm ihr Ausruf, ihre schwache kranke Stimme ein. „Herrgott! wie sollte ich sie denn jetzt verlassen – achtzig Kopeken ihr ganzes Geld! Gleich hielt sie ihr Beutelchen hin, wie klein, wie alt es war! ... Ist hergekommen, um zu arbeiten, zu verdienen, eine Stelle zu suchen – was weiß sie denn von Stellen, was weiß sie denn von Rußland! Das ist doch alles wie bei störrischen kleinen Kindchen, alles eigene Phantasie, alles frei erdacht; und nun ärgert sie sich, die Arme, warum Rußland nicht ihren ausländischen Illusionen gleicht! Oh, ihr Unglücklichen, oh, ihr Unschuldigen! ... Aber hier ist es wirklich kalt ...“
Und er erinnerte sich plötzlich, daß sie über Kälte geklagt und er ihr versprochen hatte, einzuheizen.
„Holz ist hier, das könnte ich hereinholen, aber wenn sie dabei aufwacht? Es wird schon gehen! Aber wie wird es nun mit dem Kalbsbraten? Sie wird aufwachen und dann vielleicht doch essen wollen ... Nun, das später! Kirilloff schläft die ganze Nacht nicht. Aber womit könnte ich sie nur zudecken, sie schläft so fest! Und sie wird es bestimmt kalt haben, bestimmt kalt!“
Er trat noch einmal leise zu ihr: der Kleiderrock hatte sich ein wenig verschoben und ihr Bein war fast bis zum Knie unbedeckt. Schatoff sah erschrocken weg, zog dann schnell seinen warmen Mantel aus und breitete ihn, bemüht, nichts zu sehen, über die entblößte Stelle. Er selbst blieb in einem dünnen alten Rock.
Das vorsichtige Anheizen des Ofens, das leise Herumgehen auf den Fußspitzen, das Betrachten der Schlafenden, das Denken in der Ecke – all das nahm viel Zeit in Anspruch. Es vergingen zwei, drei Stunden. Inzwischen waren Werchowenski und Liputin auf dem Schleichwege zu Kirilloff gekommen und hatten ihn auf demselben Wege schon wieder verlassen. Endlich schlummerte auch Schatoff in seiner Ecke ein. Da stöhnte sie plötzlich: sie erwachte und rief ihn. Er sprang wie ein Verbrecher auf.
„Marie! Ich war eingeschlafen ... sei nicht bös, Marie. Ach, wie gemein ich bin, Marie!“
Sie hatte sich ein wenig erhoben, sah sich verschlafen und erstaunt um, als ob sie noch gar nicht recht begriff, wo sie sich befand, doch plötzlich fuhr sie unwillig, zornig auf.
„Ich habe Ihr Bett eingenommen, ich bin vor Müdigkeit einfach so eingeschlafen ... Warum haben Sie das zugelassen? Warum haben Sie mich nicht sofort aufgeweckt? Wie haben Sie gewagt zu denken, daß ich Ihnen zur Last fallen will?“
„Wie hätte ich dich denn aufwecken können, Marie?“
„Es war Ihre Pflicht, mich aufzuwecken! Für Sie ist hier kein zweites Bett und ich habe Ihr Bett eingenommen. Sie hätten mich nicht in diese falsche Situation bringen sollen. Oder glauben Sie, daß ich gekommen bin, um Ihre Wohltaten auszunutzen? Sie werden sich sofort auf Ihr Bett legen, – und ich lege mich in der Ecke auf ein paar Stühle ...“
„Marie, ich habe hier gar nicht so viel Stühle und es ist auch nichts da, was ich unterbreiten könnte!“
„Nun, dann einfach auf die Diele. Sie müßten ja sonst selbst auf der Diele schlafen. Ich will mich auf die Diele legen, sofort, sofort!“
Sie erhob sich und wollte einen Schritt vorwärts treten, doch plötzlich nahm ein unerträglicher krampfartiger Schmerz ihr alle Kraft und alle Entschlossenheit und sie sank laut aufstöhnend aufs Bett zurück. Schatoff lief erschrocken zu ihr, und Marie, die ihr Gesicht im Kissen verbarg, ergriff seine Hand und preßte und bog seine Hand wie im Krampf in ihren Händen.
So verging eine ganze Minute.
„Marie, Liebling, hier ist ein Doktor Frenzel, ich kenne ihn, sogar sehr gut ... Ich werde zu ihm laufen, wie?“
„Unsinn!“
„Warum Unsinn? Sage, Marie, was tut dir denn weh? ... Sonst könnte man auch einen heißen Umschlag machen ... vielleicht auf den Magen, zum Beispiel ... Das verstehe ich auch ohne Doktor ... Oder ein Senfpflaster ...“
„Was?“ fragte sie verwundert und sah ihn, den Kopf leicht erhebend, erschrocken an.
„Das heißt, was denn, Marie?“ fragte Schatoff, der sie nicht verstand. „Was fragst du? O Gott, ich rede vielleicht wirklich Unsinn! Marie, vergib, aber ich kann nichts verstehen ...“
„Ach, lassen Sie mich, das geht Sie auch gar nichts an ... das zu verstehen ... Wäre ja auch nur komisch!“ und sie lachte bitter auf. „Erzählen Sie mir irgend etwas. Gehen Sie im Zimmer herum und sprechen Sie. Stehen Sie nicht bei mir und sehen Sie mich nicht an, darum bitte ich Sie ganz besonders – schon zum fünfhundertstenmal!“
Schatoff begann auf und ab zu gehen, sah zu Boden und strengte sich mit aller Gewalt an, nicht zu ihr hinzusehen.
„Hier – sei nicht böse, Marie, ich flehe dich an –, hier unten ist Kalbsbraten, nicht weit, und Tee ... Du hast vorhin so wenig gegessen ...“
Sie winkte eigensinnig und geärgert mit der Hand ab.
Schatoff biß sich in Verzweiflung auf die Lippe.
„Hören Sie, ich habe die Absicht, hier in der Stadt eine Buchbinderei zu eröffnen. Mit Teilhabern. Da Sie hier leben und die Verhältnisse kennen, so sagen Sie mir, was Sie dazu meinen: wird es sich lohnen oder nicht?“
„Ach, Marie, bei uns liest man doch keine Bücher. Und es gibt ja auch gar keine! Wie soll er sich denn da Bücher einbinden lassen?“
„Der hiesige Leser, der hiesige Einwohner überhaupt, Marie.“
„So sprechen Sie doch verständlich! Denn was heißt das: ‚er‘! – wer aber dieser ‚er‘ ist – ist mir unbekannt. Sie kennen die Grammatik nicht mehr.“
„Das war doch im Geiste der Sprache ... Marie,“ murmelte Schatoff.
„Ach, gehen Sie mir mit Ihrem Geist! Habe das satt. Warum würde denn der hiesige Leser oder Einwohner nicht einbinden lassen?“
„Weil, ein Buch lesen und ein Buch einbinden lassen – zwei ganz verschiedene Zeiten der Entwicklung sind, und zwar zwei riesig große. Zuerst lernt er allmählich das Lesen, in Jahrhunderten natürlich, aber zerreißt und vernachlässigt das Buch, da er es noch nicht für eine ernste Sache hält. Ein Buch aber einbinden lassen, heißt schon das Buch achten, bedeutet, daß er nicht nur das Lesen lieben gelernt hat, sondern auch als eine große Sache anerkennt. Bis zu dieser Periode ist Rußland noch nicht gekommen. Europa bindet schon lange ein.“
„Das ist, wenn auch pedantisch ausgedrückt, doch nicht dumm gedacht und erinnert mich an die Zeit von vor drei Jahren. Sie konnten zuweilen ganz geistreich sein, vor drei Jahren.“
Sie sagte das ebenso gereizt, wie alle ihre früheren eigensinnigen Phrasen.
„Marie, Marie,“ wandte sich Schatoff gerührt zu ihr, „oh, Marie! Wenn du wüßtest, was alles in diesen drei Jahren vergangen und verschwunden ist! Ich hörte, daß du mich später verachtet haben sollst, weil ich meine Überzeugungen geändert habe! Aber was habe ich denn fortgeworfen? Doch nur die Feinde des lebendigen Lebens, veraltete Liberale, die sich vor persönlicher Unabhängigkeit fürchten, die Lakaien der Gedanken, Feinde der Persönlichkeit und Freiheit, die altersschwachen Anpreiser des Toten und der stinkenden Verwesung! Was steht denn hinter ihnen? – doch nur Greisenhaftigkeit, die goldene Mittelmäßigkeit, spießerhafteste, erbärmlichste Unbegabtheit, neidische Gleichheit, Gleichheit ohne persönliche Würde, eine Gleichheit, wie ein Lakai sie begreift, oder höchstens wie ein Franzose von dreiundneunzig sie begriff ... Doch die Hauptsache: überall sind Schurken, Schurken und Schurken!“
„Ja, Schurken gibt es viele,“ sagte sie kurz.
Sie lag ausgestreckt auf dem Bett, ein wenig auf der Seite, reglos, als fürchte sie, sich zu bewegen, den Kopf auf dem Kissen zurückgebogen, und sah mit müdem, doch heißem Blick auf die Zimmerdecke. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen trocken und heiß.
„Du stimmst mir bei, Marie, du stimmst mir bei?“ rief Schatoff aus.
Sie wollte den Kopf schütteln zum Zeichen der Verneinung, doch plötzlich wurde sie wieder von einem Krampf erfaßt. Wieder verbarg sie das Gesicht in dem Kissen und wieder preßte sie mit aller Kraft die Hand Schatoffs, der, außer sich vor Angst, zu ihr gestürzt war.
„Marie, Marie! Aber das ist vielleicht etwas furchtbar Ernstes, Marie!“
„Schweigen Sie ... Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!“ rief sie fast jähzornig und drehte den Kopf auf dem Kissen, daß nun wieder ihr Gesicht zu sehen war. „Wagen Sie es nicht, mich mit Ihrem Mitleid anzusehen! Gehen Sie im Zimmer herum und sprechen Sie, sprechen Sie!“
Schatoff ging wieder auf und ab und gab sich verzweifelte Mühe, nur von Gleichgültigem zu sprechen.
„Womit beschäftigen Sie sich hier?“ fragte sie, mit gereizter Ungeduld ihn unterbrechend.
„Ich arbeite bei einem Kaufmann im Kontor. Wenn ich wollte, Marie, könnte ich hier ganz gutes Geld verdienen.“
„Desto besser für Sie ...“
„Ach, denk nur nicht, Marie, ich ... ich habe das nur so gesagt ...“
„Und was tun Sie denn sonst noch? Was predigen Sie denn jetzt? Sie können doch nicht anders, als predigen. Das gehört schon einmal zu Ihrem Charakter!“
„Ich predige Gott, Marie.“
„An den Sie selbst nicht glauben. Diese Idee habe ich nie begreifen können.“
„Lassen wir das, Marie, davon können wir später sprechen.“
„Was war diese Marja Timofejewna hier?“
„Davon wollen wir auch später sprechen, Marie.“
„Wagen Sie es nicht, mir solche Bemerkungen zu machen! Ist es wahr, daß ihr Tod ein Verbrechen ... dieser Menschen ist?“
„Zweifellos,“ preßte Schatoff durch die Zähne hervor.
Marie erhob plötzlich den Kopf und rief krankhaft erregt:
„Wagen Sie es nie mehr, mir davon zu sprechen, nie mehr, nie mehr!“
Und wieder fiel sie zurück, wieder übermannt von einem krampfartigen Schmerz. Das war schon der dritte Anfall. Ihr Gestöhn wurde lauter – laut bis zum Geschrei.
„O Sie unerträglicher Mensch! O Sie entsetzlicher Mensch!“ Sie warf sich hin und her, sie stieß erbarmungslos Schatoff fort, der am Bett stand und sich über sie beugte.
„Marie, ich werde alles tun, was du willst ... ich werde gehen ... sprechen ...“
„Ja, sehen Sie denn wirklich nicht, was begonnen hat!“
„Was hat begonnen, Marie?“
„Ach, wie soll ich es wissen! Weiß ich denn etwas davon? ... Oh, verfl...! Oh ... im voraus sei schon alles verflucht!“
„Marie, wenn du nur sagen wolltest, was begonnen hat ... denn sonst ... wie soll ich denn sonst etwas verstehen?“
„Sie sind ein abstrakter Schwätzer ... Oh ... alles ... alles sei verflucht!“
„Marie! Marie!“
Er begann schon ernstlich zu befürchten, daß sie wahnsinnig geworden sei.
Da richtete sie sich plötzlich halb auf und sah ihn mit furchtbarer, krankhafter, ihr Gesicht entstellender Wut an:
„Ja, sehen Sie denn noch immer nicht, daß ich mich in Geburtswehen quäle? Mag es im voraus verflucht sein, dieses Kind!“
„Marie,“ rief Schatoff, der jetzt endlich begriff, um was es sich handelte. „Marie ... Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Er besann sich sofort, und plötzlich ergriff er in energischer Entschlossenheit seine Mütze.
„Wußte ich es denn, als ich hier eintrat? Wäre ich denn sonst zu Ihnen gekommen? Man sagte mir: erst nach zehn Tagen! Aber wohin gehen Sie denn, wohin wollen Sie, unterstehen Sie sich nicht!“ ...
„Nach der Hebamme! Ich verkaufe den Revolver: ganz zuerst muß jetzt Geld –!“
„Wagen Sie es nicht, unterstehen Sie sich nicht, nach der Hebamme zu gehen, einfach ein Weib, irgendeine Alte, ich habe noch achtzig Kopeken im Geldbeutel ... Bauernweiber gebären doch ohne fremde Hilfe ... Und krepiere ich, um so besser ...“
„Das Weib schaffe ich zur Stelle, eine Alte gleichfalls. Nur wie ... wie soll ich, Herrgott, wie soll ich dich so allein lassen, Marie?“
Doch er sagte sich, daß es immerhin besser war, sie jetzt allein zu lassen, als später ohne Hilfe zu sein, und er eilte wie gehetzt die Treppe hinunter.
Ganz zuerst lief er zu Kirilloff. Es war schon gegen ein Uhr nachts. Kirilloff stand mitten im Zimmer.
„Kirilloff, meine Frau gebiert!“
„Das heißt, wie?“
„Sie gebiert, sie gebiert ein Kind!“
„Sie ... täuschen sich auch nicht?“
„O nein, nein, sie hat schon Krämpfe! ... Sie braucht ein Weib, irgendeine Alte, unbedingt, sofort ... Kann man sie bekommen? Sie hatten hier doch immer viele alte Weiber ...“
„Sehr schade, daß ich nicht zu gebären verstehe,“ sagte Kirilloff ernst und nachdenklich, „das heißt, nicht ich gebären, aber so zu machen, daß ich nicht zu gebären verstehe ... oder ... Nein, das verstehe ich schon nicht zu sagen.“
„Sie wollen wohl sagen, daß Sie bei der Geburt nicht zu helfen verstehen? Aber davon spreche ich ja nicht! Eine Alte, ein altes Weib, ich bitte Sie um ein altes Weib, eine Krankenwärterin, Pflegerin, Aufwärterin!“
„Die Alte wird da sein, nur vielleicht nicht gleich. Wenn Sie wollen, werde ich anstatt ...“
„Unmöglich! – ich laufe jetzt zur Wirginskaja, zur Hebamme ...“
„Gemeines Frauenzimmer.“
„Ja, Kirilloff, ja, aber sie ist die beste! O ja, das wird alles ohne Ehrfurcht, ohne Freude, mürrisch, mit Geschimpf und Gotteslästerungen geschehen – bei einem so großen, heiligen Geheimnis, wie es die Geburt eines neuen Menschen ist! ... Oh, und sie – sie verflucht das Kind schon jetzt! ...“
„Wenn Sie wollen, ich ...“
„Nein, nein, aber während ich laufe (oh, ich werde die Wirginskaja schon heranschleppen!) währenddem könnten Sie von Zeit zu Zeit zu meiner Treppe gehen und vorsichtig hinaufhorchen, doch unterstehen Sie sich nicht, hineinzugehen, Sie würden sie erschrecken, hören Sie, daß Sie nicht hineingehen, horchen Sie bloß so – auf alle Fälle! Nur wenn etwas Äußerstes geschehen sollte – gehen Sie hinein!“
„Verstehe. Geld noch einen Rubel. Hier. Ich wollte morgen ein Huhn, jetzt will ich nicht. Laufen Sie schnell, laufen Sie so schnell Sie können. Der Samowar ist die ganze Nacht.“
Kirilloff ahnte nichts von den Absichten gegen Schatoff. Auch früher war ihm die Gefahr unbekannt gewesen, die Schatoff drohte. Er hatte nur gehört, daß Schatoff alte Abrechnungen mit „diesen Leuten“ habe, doch wußte er nichts Näheres darüber, obschon er selbst durch gewisse Instruktionen aus dem Auslande (übrigens waren es nur ganz unverfängliche) mit dem „Fall Schatoff“ gewissermaßen verknüpft war. Doch in der letzten Zeit hatte er alles abgelehnt, hatte sich von allem zurückgezogen, besonders was die „allgemeine Sache“ irgendwie anging, und sich ganz seinem kontemplativen Leben hingegeben. Pjotr Werchowenski, der auf der Sitzung doch eigentlich nur deshalb Liputin aufgefordert hatte, mitzukommen, um ihn zu überzeugen, daß Kirilloff den „Fall Schatoff“ tatsächlich auf sich nehmen werde, hatte im Gespräch mit Kirilloff kein Wort über Schatoff verloren, ja, ihn nicht einmal erwähnt: offenbar mit Absicht, da er nicht sicher war, ob Kirilloff nicht alles ablehnen würde, wenn er erfuhr, daß Schatoff als Opfer mit hineingezogen werden sollte. So hatte er denn diesen Teil der ganzen Angelegenheit auf den folgenden Tag verschoben, wenn die Tat bereits geschehen und alles schon „einerlei“ war. Liputin war es allerdings aufgefallen, daß Pjotr Stepanowitsch gerade über Schatoff kein Wort sagte, doch war er andererseits selbst zu aufgeregt gewesen, um ihn darauf aufmerksam zu machen.
Schatoff lief so schnell er nur konnte zu Wirginskis, fluchend über die Entfernung, die ihm heute endlos erschien.
An dem Hause mußte er lange klopfen: alles schlief natürlich. Doch Schatoff schlug rücksichtslos und mit aller Kraft an die Fensterläden. Der Hofhund schlug an, riß an seiner Kette und heulte und bellte, daß sämtliche Hunde der Umgegend gleichfalls anschlugen.
„Wer klopft? Was wünschen Sie?“ ertönte endlich an einem Fenster die weiche Stimme Wirginskis, deren Sanftheit in so gar keinem Verhältnis zu der Störung stand.
Der Fensterladen wurde geöffnet und gleich darauf auch das Klappfenster.
„Wer ist da? Wer ist der Schuft?“ kreischte wütend die Stimme der alten Jungfer, Wirginskis Schwägerin, deren Ton schon mehr als im Verhältnis zu der „Beleidigung“ stand.
„Ich bin Schatoff, meine Frau ist zu mir zurückgekehrt und wird gleich gebären ...“
„So mag sie doch, scheren Sie sich zum Kuckuck!“
„Ich bin nach Arina Prochorowna gekommen, ohne Arina Prochorowna gehe ich nicht fort!“
„Sie kann doch nicht zu jedem gehen! In der Nacht ist eine andere Praxis ... Scheren Sie sich zur Makschejewa, und daß Sie sich nicht unterstehen, noch weiterzulärmen!“ rief zornknatternd die Weiberstimme.
Doch Schatoff hörte gleichzeitig, wie Wirginski sie zu beschwichtigen und zu unterbrechen suchte. Die alte Jungfer aber ließ ihn einfach nicht zu Wort kommen und verteidigte ihren Platz am Fenster.
„Ich gehe nicht fort!“ schrie Schatoff wieder.
„Warten Sie, warten Sie!“ rief Wirginski und es gelang ihm endlich, die alte Jungfer zu verdrängen. „Ich bitte Sie, Schatoff, warten Sie noch fünf Minuten, ich werde Arina Prochorowna wecken, nur bitte klopfen Sie nicht mehr und schreien Sie bitte nicht ... Oh, wie ist das schrecklich!“
Nach fünf endlosen Minuten erschien dann schließlich Arina Prochorowna.
„Ihre Frau ist zu Ihnen gekommen?“ ertönte ihre Stimme durch das Klappfenster, und zwar, zu Schatoffs nicht geringer Verwunderung, diesmal durchaus nicht geärgert, sondern höchstens befehlend wie gewöhnlich – aber anders verstand Arina Prochorowna überhaupt nicht zu sprechen.
„Ja, meine Frau – und sie bekommt ein Kind.“
„Marja Ignatjewna?“
„Ja, Marja Ignatjewna. Natürlich, Marja Ignatjewna!“
Ein Schweigen entstand. Schatoff wartete. Hinter dem Fenster hörte er flüstern.
„Ist sie schon vor langer Zeit angekommen?“ fragte Frau Wirginskaja wieder.
„Heute abend, um acht. Bitte schnell, wenn Sie können!“
Wieder wurde im Hause geflüstert, wieder schienen sie sich zu beraten.
„Hören Sie, irren Sie sich nicht? Hat sie selbst Sie zu mir geschickt?“
„Nein, sie hat mich nicht geschickt, sie will nur ein Weib haben, ein einfaches Weib, um mich nicht mit Ausgaben zu belasten, aber seien Sie unbesorgt, ich werde alles bezahlen.“
„Gut, ich komme, ob Sie zahlen oder nicht. Ich habe stets die selbständigen Anschauungen Marja Ignatjewnas zu schätzen gewußt, wenn sie sich auch meiner vielleicht nicht mehr erinnert. Haben Sie die notwendigsten Sachen?“
„Ich habe nichts, aber es wird alles, alles gleich zur Stelle sein! ... Also Sie kommen?“
Damit lief Schatoff auch schon fort: diesmal zu Lämschin.
„Es gibt doch in diesen Leuten noch Großmut!“ dachte er auf dem Wege. „Die Überzeugungen und der Mensch, – das sind, glaube ich, in vielem zwei ganz verschiedene Dinge. Ich habe ihnen vielleicht in manchem Unrecht getan! ... Alle Menschen sind schuldig, alle sind schuldig und ... wenn doch alle das einsehen würden! ...“
Bei Lämschin brauchte er nicht lange zu klopfen: es wurde überraschend schnell geöffnet. Lämschin war aber auch schon beim ersten Schlag aus dem Bett gesprungen und steckte – mit bloßen Füßen, nur im Hemd – im Nu den Kopf zum Luftfenster hinaus, ungeachtet dessen, daß er sich so einen Schnupfen zu holen riskierte; er aber war sonst sehr vorsichtig und stets um seine Gesundheit besorgt. Doch diese Scharfhörigkeit und Eile hatten einen besonderen Grund: Lämschin hatte nämlich nach der Sitzung bei Erkel überhaupt nicht einschlafen können und den ganzen Abend und die halbe Nacht nur so gezittert vor Aufregung. Ihm schwante die ganze Zeit, daß sogleich gewisse ungebetene und unerwünschte Gäste bei ihm erscheinen würden. Denn ihn, Lämschin, quälte am meisten die Nachricht von Schatoffs Denunziation. Und nun plötzlich, wie absichtlich, wurde so furchtbar laut und befehlend an sein Fenster geklopft! ...
Als er Schatoff erblickte, erschrak er so, daß er sofort das Fenster zuschlug und ins Bett zurücklief. Schatoff aber begann wütend zu rufen und zu klopfen.
„Wie dürfen Sie so schreien und klopfen mitten in der Nacht?“ rief das Jüdchen drohend und doch fast vergehend vor Angst, – und auch das erst nach ganzen zwei Minuten der Unentschlossenheit und erst nachdem er sich überzeugt hatte, daß Schatoff ganz allein gekommen war.
„Hier haben Sie Ihren Revolver, nehmen Sie ihn zurück und geben Sie mir fünfzehn Rubel.“
„Was soll das heißen, sind Sie besoffen? Das ist Raubmord! Und ich erkälte mich nur. Warten Sie, ich nehme ein Plaid um.“
„Geben Sie sofort fünfzehn Rubel. Wenn nicht, so werde ich bis zum Morgen klopfen und schreien. Ich schlage Ihnen das Fenster ein!“
„Aber ich werde die Polizei rufen und man nimmt Sie in Arrest!“
„Ah, und bin ich denn stumm? Als ob ich nicht auch die Polizei rufen kann? Wer hat die wohl mehr zu fürchten, Sie oder ich?“
„Und Sie können so häßliche Absichten haben ... Ich weiß, worauf Sie anspielen ... Warten Sie, warten Sie um Gottes willen, klopfen Sie nicht mehr! Erbarmen Sie sich, wer hat denn Geld in der Nacht? Wozu brauchen Sie überhaupt Geld, wenn Sie nicht betrunken sind?“
„Meine Frau ist zu mir gekommen. Ich habe Ihnen zehn Rubel abgelassen, habe kein Mal geschossen, – nehmen Sie den Revolver, nehmen Sie ihn sofort!“
Lämschin streckte mechanisch seine Hand aus dem Fenster und nahm den Revolver entgegen: einen Augenblick wartete er, dann aber steckte er plötzlich den Kopf hinaus und lispelte mit steifer Zunge, ohne selbst zu begreifen, was er tat, und mit einem Schauer im Rücken:
„Sie lügen, zu Ihnen ist gar keine Frau gekommen ... Das ... das ... Sie wollen einfach irgendwohin fliehen!“
„Sie Kalb, wohin soll ich denn fliehen? Euer Pjotr Werchowenski flieht, aber nicht ich. Ich war soeben bei der Wirginskaja und sie war sofort bereit, zu mir zu kommen. Entschließen Sie sich! Meine Frau quält sich, ich brauche Geld, geben Sie das Geld!“
Ein ganzes Feuerwerk von Gedanken sprühte sogleich im findigen Kopfe Lämschins auf. Alles nahm in seinen Augen plötzlich eine andere Wendung, aber die Angst ließ ihn immer noch nicht klar überlegen.
„Ja aber, wie ist denn das ... Sie leben doch nicht mit Ihrer Frau?“
„Für solche Fragen schlage ich Ihnen den Schädel ein!“
„Ach, mein Gott, verzeihen Sie, ich begreife, ich war nur so bestürzt ... Aber ich verstehe, verstehe. Aber ... aber wird denn Arina Prochorowna wirklich kommen? Sie sagten, daß sie schon gegangen sei? Wissen Sie, das ist doch gar nicht wahr. Sehen Sie, sehen Sie, sehen Sie, wie Sie die Unwahrheit sagen, auf jedem Schritt!“
„Sie ist jetzt bestimmt schon bei meiner Frau ... Halten Sie mich nicht auf, ich bin nicht schuld daran, daß Sie dumm sind.“
„Das ist nicht wahr, ich bin gar nicht dumm. Verzeihen Sie, aber ich kann auf keine Weise ...“
Und er wollte schon, ganz aus der Fassung gebracht, zum drittenmal das Luftfenster schließen. Doch Schatoff brüllte derart auf, daß der Kleine sofort wieder den Kopf zum Fenster hinaussteckte.
„Aber das ist doch schon einfach eine ... eine Beschlagnahme der Persönlichkeit! Was wollen Sie denn von mir, nun, was, was denn, formulieren Sie es doch! Und beachten Sie, beachten Sie, mitten in solch einer Nacht!“
„Fünfzehn Rubel verlange ich, Schafskopf!“
„Aber ich, ich will den Revolver vielleicht gar nicht zurücknehmen! Sie haben gar nicht das Recht, so was zu verlangen. Sie haben das Ding gekauft – damit ist alles fertig, und Sie haben nicht das Recht! ... Solch eine Summe habe ich überhaupt nicht in der Nacht! Wo soll ich solch eine Summe hernehmen in der Nacht?“
„Du hast immer Geld bei dir; ich habe dir zehn Rubel abgelassen, aber du bist ja ein bekannter Judenlümmel!“
„Kommen Sie übermorgen, – hören Sie, übermorgen früh, punkt zwölf Uhr, und ich gebe Ihnen alles, alles, ist’s recht?“
Schatoff schlug wieder unbändig an den Fensterrahmen.
„Zehn Rubel her, und morgen früh fünf!“
„Nein, übermorgen früh fünf, aber morgen kann ich bei Gott nicht. Kommen Sie lieber gar nich! Kommen Sie lieber gar nich!“
„Zehn Rubel, sag ich; o Schuft!“
„Aber warum schimpfen Sie denn so? Warten Sie, ich muß doch erst Licht machen! Sie haben den Kitt von den Scheiben losgeschlagen ... Wer schimpft denn so in der Nacht? Hier!“ und er reichte einen Schein aus dem Fenster.
Schatoff ergriff ihn, – es war ein Fünfrubelschein.
„Das sind ja nur fünf!“
„Bei Gott, ich kann nicht, und wenn Sie mich erstechen, ich kann nicht, übermorgen kann ich alles, aber jetzt kann ich gar nichts.“
„Ich gehe nicht früher fort!“ schrie Schatoff.
„Nu, nehmen Sie noch das, nu, hier ist noch, sehen Sie, hier ist noch, aber mehr gebe ich nich. Schreien Sie sich meinetwegen die Kehle kaputt, ich geb nich mehr, was Sie da auch nich machen – geb nich mehr, geb nich, geb nich!“
Er war außer sich, in Verzweiflung, in Schweiß. Die beiden Geldscheine, die er noch gab, waren nur Einrubelscheine. Im ganzen hatte Schatoff sieben Rubel bekommen.
„Daß dich der Teufel hole, ich komme morgen. Und ich haue dich, Lämschin, wenn du die acht Rubel nicht bereit hast!“
„Und morgen bin ich einfach nich zu Haus, Dummkopf!“ dachte Lämschin blitzschnell.
„Warten Sie, warten Sie, Herr Schatoff!“ rief er ihm plötzlich nach. „Warten Sie, kommen Sie zurück! – Sagen Sie, bitte, ist es wirklich wahr, was Sie gesagt haben, daß Ihre Frau zurückgekommen ist?“
„Esel!“ sagte Schatoff ausspuckend und lief so schnell er konnte nach Hause.
Arina Prochorowna wußte nichts von dem in der Sitzung gefaßten Beschluß. Wirginski, der ganz schwach nach Hause gekommen war, hatte ihr in seiner Aufregung zwar einiges mitgeteilt, alles jedoch noch nicht zu sagen gewagt. Im Grunde war es nur die Nachricht von Schatoffs bevorstehender Denunziation, die sie erfahren hatte. Wirginski fügte wohl noch hinzu, daß er an diese Nachricht selber nicht ganz glaube, doch Arina Prochorowna war nichtsdestoweniger heftig erschrocken. Aus diesem Grunde entschloß sie sich sofort, als Schatoff sie zu seiner Frau rief, trotz ihrer Müdigkeit (sie hatte in der Nacht vorher auch schon entbunden) zu ihm zu gehen. Sie hatte schon längst, wie sie sagte, diesen Schatoff für fähig gehalten, „eine bürgerliche Gemeinheit zu begehen“, und glaubte darum an eine Anzeige von seiner Seite weit eher als ihr Mann. Als sie aber hörte, daß Marja Ignatjewna zurückgekehrt war, da schöpfte sie sofort neue Hoffnung: Schatoffs Angst, der verzweifelte Ton seiner Bitte ließen sie eine gewisse „Umwandlung in den Gefühlen des Verräters“ ahnen. Ein Mensch, dachte sie, der sich entschlossen hat, sich selbst zu verderben, nur um andere auszuliefern, würde anders aussehen und anders sprechen. Jedenfalls entschloß sich Arina Prochorowna sofort, alles mit eigenen Augen zu untersuchen. Und auf Wirginski wirkte der Entschluß seiner Frau unendlich beruhigend – als ob man ihm „fünf Pud“ von der Seele genommen hätte! Auch in ihm stieg eine neue Hoffnung auf: das Aussehen Schatoffs schien ihm im höchsten Grade Werchowenskis Verdacht zunichte zu machen.
Schatoff hatte sich nicht getäuscht: als er zurückkam, fand er Arina Prochorowna schon in seinem Zimmer. Sie war erst vor ein paar Minuten eingetroffen, hatte den unten an der Treppe Wacht haltenden Kirilloff mit Verachtung weggejagt und sich schnell und so gut das möglich war, mit Marie verständigt. Angetroffen hatte sie ihre Patientin „in der gemeinsten Verfassung“, das heißt, böse, gereizt und „im allerdümmsten Kleinmut“ – aber schon nach wenigen Worten hatte sie Maries sämtliche Einwendungen besiegt.
„Was jammern Sie da, daß Sie keine teure Hebamme haben wollen?“ sagte sie gerade in dem Augenblick, als Schatoff eintrat, „der reinste Blödsinn, verdrehte Gedanken, die von Ihrem unnormalen Zustande kommen. Mit Hilfe irgendeines alten Bauernweibes hätten Sie fünfzig Chancen, schlecht zu enden, jawohl, und dann gibt es schon mehr Scherereien und Ausgaben, als wenn Sie eine teure nehmen. Und woher wissen Sie überhaupt, daß ich teuer bin? Sie können später bezahlen, von Ihnen werde ich nicht mehr verlangen als recht ist, und ich garantiere für eine gute Entbindung: bei mir werden Sie schon nicht sterben, das ist bei mir noch nie vorgekommen. Und das Kind – das kann ich Ihnen morgen noch in einer Anstalt unterbringen, und später geben wir es ins Dorf zur Erziehung, womit die Sache dann abgetan ist. Sie aber werden schnell gesund, machen sich an eine vernünftige Arbeit und ‚entschädigen‘ dann meinetwegen Schatoff für das Zimmer und die Ausgaben, die durchaus nicht so groß sein werden ...“
„Ach, nicht das ... Ich habe nicht das Recht, ihn zu belästigen ...“
„Sehr rationell und bürgerlich gedacht, aber, wie gesagt, Schatoff wird fast überhaupt keine Auslagen haben, glauben Sie mir, – wenn er sich nur aus einem phantastischen Herrn in einen Menschen mit vernünftigen Ideen verwandeln wollte! Vor allem sollte man ihn keine Dummheiten machen, nicht gleich lostrommeln und mit herausgestreckter Zunge durch die Stadt rennen lassen! Er hat jetzt hier zu bleiben! Wenn man ihn nicht mit Gewalt festhält, so schleppt er uns bis zum Morgen womöglich noch sämtliche Ärzte zusammen: er hat doch bei mir alle Hunde zum Kläffen gebracht! Ärzte brauchen wir nicht, ich habe schon gesagt, daß ich für alles garantiere. Ein altes Weib kann man meinetwegen noch zur Bedienung annehmen, das kostet auch weiter nicht viel. Übrigens kann er sich auch selbst nützlich machen, er braucht doch nicht nur zu Dummheiten fähig zu sein. Er hat doch Arme und Beine, kann also in die Apotheke laufen, ohne dabei irgendwie Ihre Gefühle mit ‚Wohltaten‘ zu verletzen. Was Teufel ‚Wohltaten‘! Hat er Sie denn nicht selbst in diese Lage gebracht? Er hat Sie doch damals zum Bruch mit dieser Familie getrieben, in der Sie Lehrerin waren, mit dem selbstsüchtigen Ziel, Sie dann heiraten zu können!? Wir haben doch davon gehört ... Übrigens kam er doch selbst angelaufen und hat bei uns geschrien und getobt wie ein Verrückter. Ich binde mich wahrhaftig niemandem auf und bin nur um Ihretwillen gekommen, aus Prinzip, weil wir unter uns zur Solidarität verpflichtet sind. Das habe ich ihm übrigens auch gesagt. Wenn ich aber nach Ihrer Meinung hier überflüssig bin, dann sagen Sie es nur und – leben Sie wohl! Daß bloß kein Unglück geschieht, was so leicht zu verhüten wäre.“ Und sie erhob sich sogar schon von ihrem Stuhl.
Marie war aber so hilflos, litt dermaßen und – um die Wahrheit zu sagen – fürchtete sich so maßlos vor dem, was ihr bevorstand, daß sie es jetzt selbst nicht mehr wagte, die Wirginskaja von sich zu lassen. Dafür aber war ihr diese Frau plötzlich geradezu verhaßt: die sprach da von ganz anderem, nur nicht von dem, was in Maries Seele vorging! Doch die Möglichkeit, in den Händen einer ungeschickten Hebamme zu sterben, besiegte den Widerwillen. Zu Schatoff jedoch wurde sie von nun an noch herrischer, noch unnachsichtiger: schließlich verbot sie ihm nicht nur, sie anzusehen, sondern er durfte nicht einmal mit dem Gesicht zu ihr gewandt stehen. Dabei wurden ihre Schmerzen immer stärker und ihre Flüche und selbst Schimpfworte immer sinnloser.
„Ach, was da! wir schicken ihn einfach hinaus,“ schnitt Arina Prochorowna kurz ab. „Mit seinem Gesicht erschreckt er Sie nur: bleich ist er wie ein Toter! Was haben denn Sie zu fürchten, Sie komischer Mensch? Das ist mir mal eine Komödie!“
Schatoff antwortete nicht: er hatte sich vorgenommen, um nicht unnütz zu reizen, einfach nichts zu erwidern.
„Ach, habe ich dumme Väter in solchen Fällen gesehen! Die verlieren nun mal immer den Verstand. Aber die haben dann doch wenigstens ...“
„Hören Sie auf, oder gehen Sie, damit ich endlich sterbe! Kein Wort mehr! Ich will nicht, will nicht!“ keuchte Marie in Qualen.
„Da kann man ja überhaupt nichts mehr sprechen! Ich sehe nur, daß Sie die Vernunft verloren haben. Doch zur Sache: sagen Sie, haben Sie schon etwas vorbereitet? Antworten Sie, Schatoff, denn sie hat jetzt keinen Sinn dafür.“
„Sagen Sie, bitte, was denn eigentlich nötig ist.“
„Also nichts vorbereitet.“
Sie zählte ihm das unbedingt Nötige auf, wirklich nur das Notwendigste.
Einiges fand sich auch bei Schatoff. Marie zog einen kleinen Schlüssel hervor und reichte ihn ihm, damit er in ihrer Reisetasche suche. Da aber seine Hände zitterten, so dauerte es etwas länger, bis er das ihm unbekannte Schloß aufgemacht hatte, worüber Marie wieder außer sich geriet, doch als nun Arina Prochorowna ihm helfen und schneller öffnen wollte, da erlaubte sie wieder unter keiner Bedingung, daß diese ihre Tasche anrühre, und bestand mit kindischem Geschrei und Weinen darauf, daß nur Schatoff allein sie öffne.
Nach anderen Sachen mußte er zu Kirilloff gehen. Kaum aber war er aus dem Zimmer, da rief ihn Marie auch schon wie rasend wieder zurück und beruhigte sich erst, nachdem Schatoff sofort wieder von der Treppe zurückgelaufen kam und ihr dann auseinandersetzte, daß er nur auf eine Minute und auch nur nach dem Notwendigsten fortgehen und sofort wieder da sein werde.
„Na, Sie zu befriedigen ist aber schwer,“ meinte Arina Prochorowna lachend, „bald muß man mit dem Gesicht zur Wand stehen und darf sich nicht mal umkehren, bald ist es wieder so nicht recht; und wenn man Ihretwegen auf einen Augenblick fortgehen muß, fangen Sie zu weinen an. Na, nun regen Sie sich aber nicht so auf, reiben Sie sich nicht die verweinten Augen, – ich lache doch nur.“
„Er darf sich nicht unterstehen, überhaupt etwas zu denken!“
„Tatata, wenn er nicht wie ein Bock in Sie verliebt wäre, würde er doch nicht die Hunde der ganzen Stadt zum Heulen bringen und wie verrückt durch die Straßen rennen! Bei mir hat er fast den Fensterrahmen herausgeschlagen.“
Schatoff traf Kirilloff immer noch im Zimmer auf- und abgehend an, aber er war so zerstreut und mit sich beschäftigt, daß er die Ankunft von Schatoffs Frau einfach vergessen hatte, Schatoff selber jetzt zwar anhörte, doch ihn zuerst gar nicht verstand.
„Ach ja,“ erinnerte er sich dann plötzlich, und es war, als risse er sich nur mit großer Anstrengung und nur auf einen Augenblick von irgendeinem ihn beherrschenden Gedanken los, „ja ... die Frau ... Frau oder altes Weib? Warten Sie: und Frau, und altes Weib? Ich weiß schon. Ich war da. Die Alte wird kommen, nur nicht gleich. Nehmen Sie das Kissen. Was noch? Ja ... Warten Sie, kommt es bei Ihnen auch vor, Schatoff, daß Sie Minuten ewiger Harmonie haben?“
„Wissen Sie, Kirilloff, das geht nicht so weiter! Sie müssen sich wieder angewöhnen, in der Nacht zu schlafen.“
Jetzt erst erwachte Kirilloff und – sonderbar: er sprach mit einemmal viel zusammenhängender und richtiger, als er sonst zu tun pflegte; wahrscheinlich hatte er alles das schon lange in Gedanken formuliert und vielleicht sogar aufgeschrieben:
„Es gibt Sekunden, es sind im ganzen nur fünf oder sechs auf einmal, und plötzlich fühlen Sie die Gegenwart der ewigen Harmonie; einer vollkommen erreichten. Das ist nichts Irdisches; ich rede nicht davon, ob es himmlisch ist, sondern daß ein Mensch in irdischer Gestalt das nicht aushalten kann. Man muß sich physisch verändern oder sterben. Das ist ein klares und unbestreitbares Gefühl. Als ob man plötzlich die ganze Natur fühlt und plötzlich sagt: ja, es ist richtig. Gott hat, als er die Welt schuf, am Abend jedes Schöpfungstages gesagt: ‚Ja, es ist richtig, es ist gut.‘ Das ... das ist nicht ein Ergriffensein, sondern nur so, – Freude. Man verzeiht auch nichts, denn es gibt nichts mehr, was zu verzeihen wäre. Es ist nicht, daß man liebt, oh, – das hier ist höher als Liebe! Das Furchtbarste ist, daß es so schrecklich klar ist und eine solche Freude. Wenn es mehr als fünf Sekunden wäre, so würde die Seele es nicht aushalten und müßte vergehen. In diesen fünf Sekunden durchlebe ich das Leben und würde für sie mein ganzes Leben hingeben, denn sie sind das wert. Um zehn Sekunden zu ertragen, muß man sich physisch verändern. Ich denke, der Mensch muß aufhören, zu gebären. Wozu Kinder, wozu Entwicklung, wenn das Ziel erreicht ist? Im Evangelium ist gesagt, daß man nach der Auferstehung nicht mehr gebären, sondern wie Engel Gottes sein wird. Ein Fingerzeig. Ihre Frau gebiert?“
„Kirilloff, haben Sie das oft?“
„In drei Tagen einmal, in einer Woche einmal.“
„Haben Sie nicht die Fallsucht?“
„Dann werden Sie sie bekommen. Nehmen Sie sich in acht, Kirilloff, ich habe gehört, daß die Fallsucht gerade so beginnen soll. Mir hat ein Epileptiker Wort für Wort so wie Sie den Zustand vor dem Anfall geschildert: fünf Sekunden gab auch er an, und auch er sagte, daß man mehr nicht ertragen könne. Denken Sie an Mohammeds Krug, der nicht Zeit hatte, überzufließen, während der Prophet auf seinem Pferde das Paradies umflog. Der Krug – das sind dieselben fünf Sekunden; das erinnert zu sehr an Ihre Harmonie, und Mohammed war bekanntlich Epileptiker. Nehmen Sie sich in acht, Kirilloff, vor der Fallsucht!“
„Die kommt zu spät,“ sagte Kirilloff mit stillem Lächeln.
Die Nacht verging. Schatoff wurde fortgeschickt, gescholten, zurückgerufen und wieder gescholten. Maries Angst um ihr Leben erreichte den höchsten Grad: sie schrie, daß sie leben wolle, „unbedingt, unbedingt!“ und „nicht sterben! nicht sterben!“ Wäre Arina Prochorowna nicht bei ihr gewesen, so hätte es schlimm werden können; doch allmählich bekam sie die nervöse Patientin vollkommen in ihre Hand, bis diese schließlich wie ein Kind jedem einzelnen ihrer Worte gehorchte. Arina Prochorowna faßte sie – ihr erprobtes Mittel – mit Strenge an, sparte sich, wie gewöhnlich, jede Freundlichkeit, tat aber sonst meisterhaft ihre Pflicht.
Der Tag brach an.
Arina Prochorowna fiel es plötzlich ein, zu erzählen, daß Schatoff im Augenblick vorher auf den Treppenflur hinausgegangen sei, um zu Gott zu beten, und sie lachte darüber. Marie begann gleichfalls zu lachen, hart und höhnisch, als ob ihr von diesem Lachen leichter würde.
Schließlich wurde Schatoff ganz hinausgeschickt. Ein kalter, feuchter Morgen brach an. Er stützte wieder die Stirn an die Flurwand, und stand so, wie er vorhin gestanden hatte, als Erkel zu ihm gekommen war. Er zitterte am ganzen Körper und fürchtete sich zu denken, aber sein Denken heftete sich an alles vor seinem Geist Erscheinende, wie es im Traum zu geschehen pflegt. Die Gedanken zogen ihn immer wieder mit sich fort, rissen aber dabei selbst fortwährend ab, wie mürbe Fäden.
Aus dem Zimmer drang schon nicht mehr Gestöhn: das waren vielmehr entsetzliche, rein tierische Schreie, unerträgliche, unmögliche. Er wollte sich die Ohren zuhalten, doch konnte er es nicht und sank auf die Knie, unbewußt, immer nur das eine Wort stammelnd: „Marie, Marie, Marie!“
Und dann plötzlich hörte er einen neuen Schrei, der ihm durch Mark und Bein fuhr und ihn aufspringen machte – den schwachen, zitternden Schrei eines Kindes. ... Er bekreuzte sich und stürzte ins Zimmer. In Arina Prochorownas Händen wimmerte und bewegte sich mit winzigen Händchen und Füßchen ein rotes, runzliges, kleines Wesen, das bis zur Kläglichkeit hilflos war, das aber schrie und sich kund tat, ganz als hätte es gleichfalls ein großes Recht auf das Leben ...
Marie lag wie ohnmächtig in den Kissen: nach einer Minute erst schlug sie die Augen auf und sah sonderbar, ganz sonderbar Schatoff an: das war ein ganz neuer Blick – was für einer, das konnte er noch nicht verstehen, aber noch nie vorher hatte er einen ähnlichen Blick an ihr bemerkt.
„Ein Knabe? ein Knabe?“ fragte sie mit leiser, schwacher Stimme Arina Prochorowna.
„Ein Bengel!“ rief die zurück, die gerade das Kleine einwickelte.
Als sie das Kindchen eingepackt hatte und sich nun anschickte, es zwischen zwei Kissen quer aufs Bett zu legen, gab sie es auf einen Augenblick Schatoff, damit er es halte. Marie, die das bemerkt hatte, winkte ihn heimlich heran, als ob sie sich vor Arina Prochorowna fürchtete. Er verstand sie sofort und trat mit dem kleinen Wesen zu ihr, damit sie es sehen konnte.
„Wie ... nett er ist ...“ flüsterte sie lächelnd, mit schwacher Stimme.
Arina Prochorowna bemerkte zufällig Schatoffs Gesichtsausdruck und brach in heiteres Lachen aus: „Was der aber für ein Gesicht macht! So etwas habe ich noch nie gesehn!“
„Lachen Sie nur, Arina Prochorowna ... Das ist eine große Freude ...“ sagte Schatoff mit einfältig seligem Gesichtsausdruck: nach den paar Worten, die Marie über das Kind gesagt hatte, war er geradezu erstrahlt.
„Ach, was ist denn das für eine große Freude!“ lachte Arina Prochorowna, die geschäftig im Zimmer hin und her ging.
„Das Geheimnis, daß es ein neues Wesen auf der Welt gibt; das große und unerklärliche Geheimnis, Arina Prochorowna – wie schade, daß Sie das nicht verstehen!“
Schatoff sprach wirr, wie benommen und verzückt. Als ob irgend etwas in seinem Kopfe hin und her wogte und sich von selbst, ohne seinen Willen, aus seiner Seele ergoß.
„Es waren zwei, und plötzlich ist ein dritter Mensch, ein neuer Geist, ein ganzer, in sich vollendeter, wie ihn Menschenhand nimmer erschaffen kann; ein neuer Gedanke und eine neue Liebe ... sogar unheimlich ... Und es gibt nichts Höheres auf der Welt!“
„Der redet was zusammen! Das ist doch einfach die Weiterentwicklung des Organismus und nichts anderes, nichts von Geheimnissen,“ sagte Arina Prochorowna wieder mit aufrichtig heiterem Lachen. „So wäre ja jede Fliege ein Geheimnis. Nur sehen Sie: überflüssige Menschen sollten lieber nicht geboren werden. Schmiedet erst alles so um, daß sie nicht mehr überflüssig sind, dann könnt ihr sie gebären. Denn sonst – da muß man ihn nun übermorgen in die Findelanstalt schleppen ... Übrigens, so muß es auch sein.“
„Niemals werde ich ihn von mir fort in eine Anstalt geben!“ sagte Schatoff, den Blick zu Boden gesenkt, mit fester Stimme.
„Sie adoptieren ihn?“
„Er ist mein Sohn.“
„Natürlich, er heißt Schatoff, nach dem Gesetz ist er ein Schatoff, und Sie haben keine Ursache, sich als Wohltäter des Menschengeschlechts aufzuspielen. Ohne Phrasen geht’s ja nicht. Nun, nun, schon gut, nur noch eines, meine Herrschaften,“ schloß sie endlich, sich bereits ankleidend, „ich muß nämlich jetzt gehen. Ich werde am Vormittag wiederkommen und auch am Abend, falls es nötig sein sollte; jetzt aber muß ich, da hier alles so glücklich überstanden ist, zu meinen anderen Patientinnen, die warten schon lange auf mich. Sie haben dort irgendwo eine Alte ... Aber Alte hin, Alte her, deshalb können auch Sie sich immer noch nützlich machen. Daß Sie sie mir nicht allein lassen! – setzen Sie sich als liebes Männchen an ihr Bett – Marja Ignatjewna wird Sie, glaub’ ich, jetzt nicht mehr fortjagen ... nun, nun, ich scherze ja nur ...“
Bei der Pforte, die Schatoff für sie aufschloß, sagte sie noch zu ihm:
„Sie haben mich für mein ganzes Leben erheitert! Geld nehme ich von Ihnen nicht, werd’ noch im Schlaf lachen müssen. Komischeres als Sie in dieser Nacht, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehn.“
Sie ging vollkommen zufrieden fort. Nach Schatoffs Aussehen und allen seinen Worten war es für sie klar wie das Sonnenlicht, daß dieser Mensch „sich jetzt in die Rolle des Vaters einfühlen wird und der letzte Lappen ist“, – ans Denunzieren also überhaupt nicht denken werde. So eilte sie denn, obgleich die Wohnung einer Patientin am Wege lag, zuerst nach Haus, um diese Beobachtungen ihrem Mann zur Beruhigung mitzuteilen.
„Marie, sie hat dir gesagt, daß du nicht gleich schlafen sollst, wenn das auch, fürchte ich, sehr schwer ist ...“ begann Schatoff schüchtern. „Ich werde mich hier ans Fenster setzen und auf dich acht geben, nicht?“
Und er setzte sich hinter dem Diwan ans Fenster, doch so, daß sie ihn auf keine Weise sehen konnte. Aber es verging nicht eine Minute, da rief sie ihn schon wieder und bat gereizt, ihr das Kissen zurechtzurücken. Er versuchte es vorsichtig. Sie sah böse zur Wand.
„Nicht so, ach, nicht so ... Was für ungeschickte Hände!“
Schatoff bemühte sich, es besser zu machen.
„Beugen Sie sich zu mir,“ sagte sie plötzlich und gab sich die größte Mühe, ihn nicht anzusehen.
Er zuckte erschrocken zusammen, doch beugte er sich gehorsam zu ihr nieder.
„Noch ... nicht so ... näher,“ und plötzlich umschlang ihr linker Arm ungestüm seinen Hals und er fühlte ihren starken, feuchten Kuß auf seiner Stirn.
„Marie!“
Ihre Lippen bebten, sie bezwang sich sichtlich, doch plötzlich richtete sie sich halb auf und sagte mit blitzenden Augen:
„Nicolai Stawrogin ist ein Lump!“
Und kraftlos, als ob ihr plötzlich alle Stützen entzogen worden wären, fiel sie, hysterisch aufschluchzend, mit dem Gesicht auf das Kissen und drückte fest, fest Schatoffs Hand in ihren glühenden Händen.
Von diesem Augenblick an ließ sie ihn nicht mehr von sich, und wollte „unbedingt, unbedingt“, daß er an ihrem Bett sitzen blieb. Sprechen konnte sie nur wenig, aber sie sah ihn an und lächelte ihm zu wie eine Glückselige. Sie schien plötzlich ganz unklug, eine ganze Törin geworden zu sein. Alles war jetzt gleichsam verwandelt. Schatoff weinte bald wie ein kleiner Knabe, bald sprach er Gott weiß wovon, sprach wild, wie benommen, begeistert; er küßte ihre Hände, und sie hörte ihm wie berauscht zu, vielleicht ohne zu verstehen, was er sprach, streichelte liebkosend mit ihrer geschwächten Hand sein Haar und schien sich an ihm nicht satt sehen zu können. Er erzählte ihr von Kirilloff, erzählte davon, daß sie beide jetzt „von neuem und auf ewig“ zu leben beginnen würden, sprach von Gott und davon, daß alle Menschen gut seien ... Und in der Begeisterung holten sie dann wieder das Kindchen hervor, um es von neuem zu betrachten.
„Marie,“ rief er, als er das Kindchen in den Armen hielt, „nun hat das ein Ende, das mit den alten Quälereien und der ganzen veralteten Schmach! Wollen wir uns jetzt auf den neuen Weg durcharbeiten, wir drei zusammen, ja, ja! ... Ach so: wie werden wir ihn denn nennen, Marie?“
„Ihn? Wie wir ihn nennen werden?“ fragte sie verwundert, und plötzlich drückte sich in ihrem Gesicht ein unsagbarer Schmerz aus.
Sie erhob die Hände, blickte Schatoff vorwurfsvoll an und warf sich dann aufschluchzend mit dem Gesicht auf das Kissen.
„Marie, was hast du?“ rief er maßlos erschrocken.
„Und Sie konnten ... konnten ... Oh, Sie Undankbarer!“
„Marie vergib, Marie ... Ich habe ja nur gefragt, wie wir ihn nennen sollen. Ich weiß nicht ...“
„Iwan! Iwan!“ rief sie, ihr glühendes, tränenüberströmtes Gesicht wieder erhebend. „Haben Sie denn wirklich an irgendeinen anderen furchtbaren Namen denken können!?“
„Marie, um Gottes willen, beruhige dich! Oh, wie du nervös bist!“
„Eine neue Kränkung, daß Sie das den Nerven zuschreiben! Ich könnte wetten; wenn ich gesagt hätte, ihn ... mit jenem anderen schrecklichen Namen zu nennen, so wären Sie sofort einverstanden gewesen, hätten es nicht einmal bemerkt! Oh, ihr Undankbaren, ihr Niedrigen, alle, alle!“
Nach einer Minute versöhnten sie sich natürlich wieder. Schatoff beredete sie schließlich, einzuschlafen. Sie tat es denn auch, doch gab sie seine Hand auch jetzt noch nicht frei, wachte oft auf und blickte ihn an, ganz als hätte sie gefürchtet, er könnte fortgegangen sein, bis sie dann von neuem einschlief.
Kirilloff schickte die Alte, um zu „gratulieren“, und sandte zugleich heißen Tee, heiße, selbstgebratene Koteletts und Bouillon mit Weißbrot für „Marja Ignatjewna“. Die Kranke trank gierig die Bouillon aus und zwang auch Schatoff, von den Koteletts zu essen, worauf die Alte das Kind von neuem einwickelte.
Die Zeit verging. Schatoff schlief endlich gleichfalls ein, mit dem Kopf auf ihr Kissen gebeugt, todmüde. So fand sie Arina Prochorowna, die richtig ihr Wort hielt und wiederkam. Lachend weckte sie die beiden auf, sprach mit Marie über das Nötige, besah das Kindchen und verbot Schatoff wieder strengstens, die Kranke zu verlassen. Darauf ging sie, nach einem Witz über das „Ehepaar“, in dem etwas Verachtung und Hochmut lag, ebenso befriedigt fort, wie am Morgen.
Es war schon dunkel, als Schatoff erwachte. Er zündete schnell das Licht an und lief nach der Alten. Gerade als er aus dem Zimmer trat, hörte er unten auf der Treppe die leisen, vorsichtigen Schritte eines Menschen, der herauf stieg. Er blieb erschrocken stehen. Es war Erkel.
„Nicht weiter!“ flüsterte ihm Schatoff zu, erfaßte hastig seine Hand und zog ihn mit sich nach unten zur Hofpforte. „Warten Sie hier, ich komme gleich, ich hatte Sie ganz und gar vergessen!“
Er beeilte sich dermaßen, daß er nicht mal zu Kirilloff ging, sondern nur die Alte herausrief. Marie geriet in Verzweiflung darüber, daß er „auch nur daran denken“ konnte, sie allein zu lassen!
„Dafür ist es der allerletzte Schritt!“ rief er begeistert. „Dann kommt der neue Weg, und niemals, niemals mehr werden wir an den alten Schrecken zurückdenken!“
Es gelang ihm schließlich, sie irgendwie zu beruhigen. Er versprach ausdrücklich, um neun Uhr wieder zurück zu sein. Darauf küßte er sie fest, küßte das Kindchen und lief dann schnell nach unten zu Erkel.
Sie begaben sich nach Skworeschniki in den Stawroginschen Park, wo Schatoff vor anderthalb Jahren an einer einsamen Stelle am Rande des Parkes, dort, wo schon der alte Kiefernwald begann, die ihm anvertraute Druckmaschine vergraben hatte. Es war ein wilder, abgelegener Ort, der weit vom Herrenhause lag. Von der Bogojawlenskschen Straße war er ungefähr eine Stunde entfernt.
„Sollen wir denn den ganzen Weg zu Fuß gehen? Ich nehme eine Droschke.“
„Ich möchte Sie sehr bitten, keine Droschke zu nehmen,“ entgegnete Erkel. „Der Droschkenkutscher wäre sonst auch ein Zeuge.“
„Zum Henker! ... Nun, einerlei, nur beenden, beenden!“
Sie gingen sehr schnell.
„Erkel, Sie kleiner Knabe!“ rief Schatoff plötzlich und blieb stehen, „sind Sie in Ihrem Leben schon einmal glücklich gewesen?“
„Sie sind jetzt wohl sehr glücklich?“ fragte Erkel neugierig.
Wirginski beeilte sich im Laufe des Tages, zu allen „Unsrigen“ zu laufen, um ihnen mitzuteilen, daß Schatoff „bestimmt nicht denunzieren werde“, da jetzt seine Frau zu ihm zurückgekehrt und er Vater geworden sei, und daß man, „da man doch das Menschenherz kennt“, unmöglich irgendeine Gefahr von seiner Seite zu befürchten habe. Aber außer Erkel und Lämschin traf Wirginski zu seiner Verwunderung niemand zu Hause.
Erkel hörte ihn schweigend an und sah ihm klar in die Augen. Auf die Frage aber: „Werden Sie um sechs Uhr zu ihm gehen?“ antwortete er mit dem ungetrübtesten Lächeln, daß er „ganz selbstverständlich“ zu ihm gehen werde.
Lämschin lag, augenscheinlich wirklich krank, zu Bett und hatte sogar die Decke um den Kopf gewickelt. Als Wirginski eintrat, erschrak er entsetzlich, und als Wirginski zu sprechen begann, fing er zur Antwort plötzlich an wie verrückt unter der Decke mit Händen und Füßen abzuwinken, was wohl so viel bedeuten sollte, wie: man solle ihn doch nur ums Himmels willen damit verschonen! Wirginskis Ausführungen über Schatoff ließen ihn aber doch aufhorchen. Die Nachricht, daß Wirginski von den anderen niemanden angetroffen hatte, regte den Kleinen aus irgendeinem Grunde furchtbar auf, doch beunruhigte auch er wiederum Wirginski mit der Mitteilung von Fedjkas Tod (Liputin hatte ihm diese Neuigkeit gebracht), den er hastig und zusammenhanglos erzählte. Auf die Frage aber, die Wirginski an ihn stellte: „Soll man nun hingehen oder soll man nicht hingehen?“ begann er wieder mit Händen und Füßen unter der Decke abzuwinken, wobei er diesmal flehentlich hervorstieß, er sei ja doch „bloß eine Nebenperson! Weiß nichts, gar nichts!“ Und zum Schluß: „Lassen Sie mich in Ru–u–uh!“
Bedrückt und erregt kehrte Wirginski wieder heim. Was ihn am meisten bedrückte, war vielleicht, daß er seine Sorgen vor seiner Familie verbergen mußte. Er hatte sich so daran gewöhnt, seiner Frau alles mitzuteilen, daß er Geheimnisse kaum mehr ertragen konnte, und wenn jetzt nicht plötzlich ein neuer Gedanke, ein gewisser friedenstiftender Plan in ihm aufgetaucht wäre, so hätte er sich wohl auch wie Lämschin vor Seelenangst zu Bett legen müssen. Aber dieser neue Plan stärkte ihn allmählich und zum Schluß glaubte er sogar so fest an die Möglichkeit, ihn verwirklichen zu können, daß er der Dämmerung fast mit Ungeduld entgegensah und schon früher als verabredet zum Treffpunkt aufbrach.
Es war das ein sehr finsterer Ort am Rande des Parkes von Skworeschniki. Ich bin später hingegangen, um mir die Stelle genau anzusehen: wie muß es ihnen dort unheimlich gewesen sein, an jenem rauhen, dunklen Herbstabend ...
Es war so dunkel unter den Bäumen, daß man auf zwei Schritte den anderen nicht mehr sehen konnte, doch Pjotr Stepanowitsch, Liputin und später auch Erkel brachten Laternen mit. Ich weiß nicht, von wem und zu welchem Zweck hier irgendeinmal vor langer Zeit aus großen unbehauenen Steinen eine Grotte erbaut worden war. Der Tisch und die Bänke waren jetzt schon längst verfault und auseinander gefallen. Ungefähr zweihundert Schritte rechts von dieser Grotte endete der dritte Teich des Parks. Diese drei Teiche zogen sich, vom Herrenhause an, über eine Werst weit einer hinter dem anderen durch den ganzen Park. Es war schwer anzunehmen, daß man irgendein Geräusch, Geschrei oder selbst einen Schuß im Stawroginschen Herrenhause hören würde. Da Nicolai Wszewolodowitsch am Tage vorher fortgefahren und Alexei Jegorowitsch wieder in die Stadtwohnung zurückgekehrt war, so durften im Herrenhause nicht mehr als fünf oder sechs Dienstboten verblieben sein, lauter mehr oder weniger sozusagen invalide Leute. Jedenfalls konnte man annehmen, wenigstens mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit, daß selbst in dem Falle, daß jemand von ihnen Schreie hörte, er sich doch nicht von der warmen Ofenbank erheben würde.
Zwanzig Minuten nach sechs hatten sich schon alle – außer Erkel, der mit Schatoff kommen sollte – an der bezeichneten Stelle eingefunden. Pjotr Stepanowitsch kam diesmal nicht zu spät: er erschien zusammen mit Tolkatschenko, der finster und besorgt aussah und dessen ganze vorgespiegelte, frech-prahlerische Entschlossenheit verschwunden war. Tolkatschenko verließ Pjotr Stepanowitsch heute fast nicht auf einen Schritt, war ihm plötzlich, wie es schien, unermeßlich zugetan und flüsterte ihm jeden Augenblick geschäftig irgend etwas zu; dieser antwortete ihm meist überhaupt nicht oder brummte geärgert nur ein paar Worte, um ihn loszuwerden.
Schigaleff und Wirginski waren sogar ein wenig früher eingetroffen als Pjotr Stepanowitsch. Als er erschien, traten sie sofort ein wenig zur Seite, in tiefem und offenbar absichtlichem Schweigen. Pjotr Stepanowitsch erhob die Laterne und betrachtete sie ungeniert mit beleidigender Aufmerksamkeit. „Die wollen wieder reden,“ zuckte es ihm durch den Kopf.
„Lämschin ist nicht gekommen?“ fragte er Wirginski. „Wer hat es gesagt, daß er krank ist?“
„Ich bin hier,“ meldete sich Lämschin, plötzlich hinter einem Baum hervortretend.
Er war in einem warmen Paletot und dazu noch in ein großes Plaid fest eingewickelt, so daß man ihn sogar mit der Laterne nur schwer in dieser Umhüllung erkennen konnte.
„Also fehlt nur noch Liputin?“
Da trat Liputin schweigend aus der Grotte. Pjotr Stepanowitsch erhob wieder die Laterne.
„Warum haben Sie sich dorthin verkrochen, warum kamen Sie nicht gleich heraus?“
„Ich nehme an, daß wir alle das Recht der Freiheit bewahren ... unserer Bewegungen ...“ erwiderte Liputin, wahrscheinlich, ohne selbst recht zu wissen, was er eigentlich sagen wollte.
„Meine Herren!“ Pjotr Stepanowitsch erhob die Stimme – gab somit zum erstenmal den Flüsterton auf, was einen gewissen Eindruck machte: „Sie verstehen, hoffe ich, daß wir hier nichts mehr breitzutreten brauchen. Gestern ist alles gesagt und durchgekaut worden, klar und bestimmt. Aber vielleicht will doch noch jemand, wie ich nach dem Ausdruck der Gesichter vermute, irgend etwas sagen? In dem Fall bitte ich, sich zu beeilen! Hol’s der Teufel, wir haben wenig Zeit und Erkel kann ihn jeden Augenblick bringen ...“
„Er wird ihn unbedingt mitbringen,“ bemerkte aus einem unbekannten Grunde Tolkatschenko.
„Wenn ich mich nicht irre, so muß er zuerst die Druckmaschine abliefern?“ erkundigte sich Liputin, wiederum gleichsam, als ob er selbst nicht wußte, wozu er das eigentlich fragte.
„Selbstverständlich, wozu denn Sachen verlieren!“ Pjotr Stepanowitsch erhob wieder die Laterne und beleuchtete Liputins Gesicht. „Aber wir sind doch gestern übereingekommen, daß man sie nicht wortwörtlich in Empfang zu nehmen braucht. Er soll Ihnen nur die Stelle zeigen, wo sie hier vergraben ist, später können wir sie dann selbst herausgraben. Ich weiß, daß sie hier irgendwo zehn Schritt von irgendeiner Ecke der Grotte liegt ... Aber zum Teufel, Liputin, wie haben Sie das nur vergessen können!? Es war doch abgemacht, daß Sie ihn allein treffen und wir erst später hervortreten ... Sonderbar, daß Sie noch fragen, – oder taten Sie es bloß so?“
Liputin schwieg mit finsterem Gesicht.
Alle schwiegen. Der Wind schaukelte die Wipfel der alten Kiefern.
„Ich hoffe, meine Herren, daß ein jeder seine Pflicht tun wird,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, der die Geduld verlor, sichtlich gereizt.
„Ich weiß, daß Schatoffs Frau zu ihm zurückgekehrt ist und heute Nacht ein Kind geboren hat,“ begann plötzlich Wirginski aufgeregt, gestikulierend und sich so überstürzend, daß er kaum die Worte hervorzubringen vermochte. „Und da man doch das Menschenherz kennt ... können wir sicher sein, daß er jetzt nicht denunzieren wird ... er ist jetzt glücklich ... Ich war heute schon bei allen, fand aber niemanden zu Hause ... Ich meine, daß jetzt vielleicht nichts mehr zu befürchten ist ... –“
Er brach ab vor Atemlosigkeit.
„Wenn Sie, Herr Wirginski, plötzlich glücklich geworden wären,“ – Pjotr Stepanowitsch trat auf ihn zu, „würden Sie dann etwas aufschieben, was Sie sich vorgenommen haben, nicht eine Anzeige, davon kann hier natürlich nicht die Rede sein, – aber irgendeine gewagte, bürgerliche Tat, die Sie schon vor Ihrem Glück beschlossen haben und die auszuführen Sie für Ihre Pflicht und Schuldigkeit halten, trotz der Gefahr für Sie und der Möglichkeit, Ihr Glück zu verlieren?“
„Nein, ich würde es nicht aufschieben! Auf keinen Fall würde ich es aufschieben!“ beteuerte Wirginski mit einem ganz eigentümlich tölpelhaften Übereifer und wieder ganz in Bewegung.
„Sie würden lieber wieder unglücklich sein wollen, als die Tat nicht ausführen – und sich für einen Lump halten, nicht wahr?“
„Ja, ja ... Ich würde sogar ganz im Gegenteil ... würde sogar ein ganzer Lump sein wollen ... Das heißt, nein ... nicht so ... durchaus nicht ein Lump, sondern ... ich wollte sagen: im Gegenteil, lieber vollkommen unglücklich, als ein Lump ...“
„Nun, so merken Sie sich, daß Schatoff diese Anzeige für seine bürgerliche Heldentat hält, für eine Tat, die er seiner höchsten Überzeugung schuldig ist. Und der Beweis: daß er doch auch sich selbst damit in Gefahr begibt und der Regierung ausliefert, obschon man ihm für die Anzeige natürlich manches verzeihen wird. So einer wird sein Vorhaben schon nie aufgeben. Den kann kein Glück besiegen: schon am nächsten Tage würde er sich besinnen, sich Vorwürfe machen, hingehen und es tun. Außerdem kann ich kein besonderes Glück darin erblicken, daß die Frau nach drei Jahren zu ihm zurückgekehrt ist, um Stawrogins Kind zu gebären.“
„Aber es hat doch noch niemand seine Anzeige gesehen,“ sagte Schigaleff plötzlich und eindringlich.
„Die Anzeige habe ich gesehen,“ rief Pjotr Stepanowitsch, „sie ist fertig, und dieses müßige Gerede ist furchtbar dumm, meine Herren!“
„Ich aber,“ fuhr plötzlich Wirginski auf, „ich protestiere ... ich protestiere aus aller Kraft ... Ich will ... Hören Sie, was ich will: ich will, daß wir, wenn er kommt, ihm alle entgegengehen und ihn alle fragen: wenn es wahr ist, so soll er bereuen, und wenn er sein Ehrenwort gibt, so soll man ihn wieder freilassen. Auf jeden Fall aber – Verhör, und das Urteil nach dem Verhör! Und nicht, daß wir uns alle verstecken und ihn dann überfallen.“
„Auf ein Ehrenwort die ganze allgemeine Sache setzen! – das ist schon die Höhe aller Dummheit! Hol’s der Teufel, wie das dumm ist!! Und was ist das für eine Rolle, die Sie im Augenblick der Gefahr spielen?“
„Ich protestiere, ich protestiere, ich protestiere,“ wiederholte Wirginski immer wieder.
„Jedenfalls schreien Sie nicht so, wir können sonst das Signal nicht hören. Schatoff, meine Herren ... (Teufel noch eins, wie das jetzt dumm ist!) Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Schatoff Slawophile ist, das heißt so viel, wie einer der dümmsten Menschen ... Aber übrigens, zum Teufel, das ist schließlich gleichgültig! Sie bringen mich nur aus dem Konzept! ... Schatoff, meine Herren, war ein verbitterter Mensch, und da er immerhin noch zum Verband gehörte, ob er es wollte oder nicht, so hoffte ich bis zum letzten Augenblick, daß die allgemeine Sache sich seiner noch einmal werde bedienen können – und zwar gerade als eines verbitterten Menschen. Ich habe ihn gehegt und geschont, trotz der ausdrücklichsten Instruktionen ... Ich habe ihn noch hundertmal mehr geschont, als er es wert war! Er aber endete damit, daß er seine Anzeige verfaßte, und nun – hol’s der Teufel, das ist ja zum Anspucken! ... Im übrigen soll es jetzt nur jemand von Ihnen zu versuchen wagen, sich noch zurückzuziehen! Kein einziger von Ihnen hat das Recht, die gemeinsame Sache zu verlassen! Sie können ihn meinetwegen noch alle vorher abküssen, wenn Sie durchaus wollen, aber die allgemeine Sache auf ein Ehrenwort hin aufs Spiel zu setzen, dazu haben Sie nicht das Recht! So können nur Schweine handeln, oder solche, die von der Regierung bestochen sind!“
„Wer ist denn hier von der Regierung bestochen?“ warf Liputin dazwischen.
„Sie vielleicht. Es wäre schon besser, wenn Sie ganz den Mund hielten, Liputin. Sie sprechen ja nur so, nur aus Angewohnheit. Bestochen, meine Herren, sind alle diejenigen, die im Augenblick der Gefahr feig werden. Aus Angst findet sich immer ein Rüpel, der in der letzten Minute hinläuft und losschreit: ‚Ach, verzeihen Sie mir, und ich werde alle ausliefern!‘ Aber wissen Sie auch, meine Herren, daß man Sie jetzt für keine einzige Anzeige mehr begnadigen wird? Wenn man vielleicht auch Milderungsgründe zulassen würde – nach Sibirien ginge es doch mit jedem von Ihnen! Abgesehen davon, daß Sie auch einem gewissen anderen Richtschwert nicht entgehen würden. Dieses andere Schwert aber ist etwas schärfer, als das der Regierung.“
Pjotr Stepanowitsch war so wütend, daß er viel Überflüssiges sagte. Da trat Schigaleff fest drei Schritte auf ihn zu.
„Seit dem gestrigen Abend habe ich die Sache bedacht,“ begann er überzeugt und methodisch wie immer. (Ich glaube, selbst wenn die Erde sich in diesem Augenblick unter ihm aufgetan hätte, auch dann würde er weder den Ton, noch einen Ausdruck seiner Auseinandersetzung geändert haben.) „Und nachdem ich die Sache bedacht, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß der beabsichtigte Mord nicht nur ein Verlust der kostbaren Zeit ist, die zu etwas weit Wesentlicherem und Näherliegendem verwandt werden könnte, sondern außerdem jenes verhängnisvolle Abweichen von der geraden Straße darstellt, das der Sache immer am meisten geschadet und ihren Erfolg auf Jahrzehnte hinausgeschoben hat, indem es die Sache dem Einfluß leichtsinniger und vornehmlich politischer Menschen, statt reinen Sozialisten unterstellt hat. Ich bin einzig zu dem Zweck hergekommen, um gegen das beabsichtigte Vorhaben offen zu protestieren und dann – mich von diesem Augenblick an, den Sie, ich weiß nicht warum, den Augenblick der Gefahr nannten, zurückzuziehen. Ich gehe fort – doch nicht aus Furcht vor der Gefahr oder aus besonderen Gefühlen zu Schatoff, den ‚abzuküssen‘ ich absolut keine Lust habe, sondern einzig, weil diese Sache vom Anfang bis zum Ende buchstäblich meinem Programm widerspricht. Eine Denunziation haben Sie von mir nicht zu fürchten. Sie können ruhig sein – ich werde Sie nicht anzeigen.“
Und damit wandte er sich und ging.
„Teufel, er geht ihnen entgegen und wird Schatoff warnen!“ rief Pjotr Stepanowitsch und riß seinen Revolver hervor.
Man hörte das Knacken des Hahnes.
„Sie können überzeugt sein,“ wandte sich Schigaleff ruhig wieder zurück, „daß ich, wenn ich Schatoff unterwegs treffen sollte, ihn vielleicht noch grüßen werde, ihn warnen aber, das ist nicht meine Sache!“
„Aber wissen Sie auch, mein Herr Fourier, daß Ihnen das teuer zu stehen kommen kann?“
„Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich kein Fourier bin. Dadurch, daß Sie mich mit diesem süßlichen, apathischen Abstrahisten verwechseln, beweisen Sie nur, daß Sie mein Manuskript, wenn es auch in Ihren Händen gewesen ist, überhaupt nicht verstanden haben. In betreff Ihrer Rache aber sage ich Ihnen nur, daß Sie ganz umsonst den Hahn gespannt haben, in diesem Augenblick ist das für Sie durchaus unvorteilhaft. Wenn Sie mir aber für morgen oder übermorgen drohen, so brächte Ihnen die Ausführung, außer unnützer Mühe, doch keinen Gewinn: mich würden Sie zwar erschießen, früher oder später aber würden Sie doch zu meinem System kommen. Leben Sie wohl.“
In diesem Augenblick ertönte ungefähr zweihundert Schritte weit aus dem Park, von der Seite des Teiches her, ein heller Pfiff. Liputin antwortete, wie verabredet, sofort gleichfalls mit einem Pfiff – er hatte sich zu diesem Zweck am Morgen eine Kinderpfeife aus gebranntem Ton für eine Kopeke auf dem Markt erstanden, da er sich auf seinen ziemlich zahnlosen Mund nicht ganz verlassen konnte.
Erkel hatte Schatoff schon vorher mitgeteilt, daß er mit Liputin einen Pfiff austauschen werde.
„Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde abseits von ihnen vorübergehen und sie werden mich gar nicht bemerken,“ sagte Schigaleff in eindringlichem Flüsterton.
Und er ging ohne Hast und ohne den Schritt zu beschleunigen, tatsächlich durch den dunklen Park nach Haus.
Heute ist es bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt, wie diese schreckliche Tat geschah. Zuerst trat Liputin Erkel und Schatoff ein paar Schritte von der Grotte entgegen. Schatoff grüßte ihn nicht und gab ihm auch nicht die Hand, sondern sagte sofort eilig und laut:
„Wo ist denn hier die Anhöhe? Haben Sie nicht noch eine Laterne? Fürchten Sie sich nicht, hier ist so gut wie kein Mensch in der Nähe, wir könnten selbst mit Kanonen schießen, in Skworeschniki würde es doch niemand hören. Das ist übrigens hier, genau hier, genau auf dieser Stelle ...“
Und er stieß mit dem Fuß auf die Erde – es war gerade zehn Schritt von der hinteren Ecke der Grotte zum Walde hin. In diesem Augenblick stürzte sich, hinter einem Baum hervorlaufend, Tolkatschenko auf ihn, während Erkel ihn hinterrücks an den Ellenbogen packte und Liputin sich von vorne auf ihn warf. Die drei schlugen ihn sofort zu Boden und drückten ihn an die Erde. Da erst lief Pjotr Stepanowitsch mit dem Revolver herbei. Man sagt, Schatoff habe gerade noch Zeit gehabt, seinen Kopf zu ihm zu wenden und ihn zu erkennen. Drei Laternen erhellten die Szene. Schatoff stieß plötzlich einen kurzen und verzweifelten Schrei aus; doch man ließ ihm keine Zeit zum Schreien: Pjotr Stepanowitsch setzte ihm genau und sicher den Revolver mitten auf die Stirn, fest und senkrecht, und – drückte den Hahn ab. Der Schuß war, glaube ich, nicht sehr laut, wenigstens hat ihn in Skworeschniki niemand gehört. Gehört hat ihn natürlich Schigaleff, der erst einige dreißig Schritte gegangen war – gehört hatte er auch den Schrei, doch hat er sich nach seiner eigenen Aussage weder umgewandt, noch war er stehen geblieben. Der Tod trat fast augenblicklich ein. Die volle Geistesgegenwart – doch Kaltblütigkeit wohl kaum – behielt nur Pjotr Stepanowitsch. Er hockte sich hin und durchsuchte eilig, doch mit fester Hand, die Taschen des Toten. Geld fand sich nicht in ihnen (Marja Ignatjewnas Beutelchen war unter ihrem Kissen geblieben); nur ein paar nichtssagende Zettelchen zog er hervor: einen Kontorzettel, ein Notizblatt mit dem Titel irgendeines Buches und eine alte ausländische Gasthausrechnung, die sich weiß Gott auf welche Weise zwei Jahre in Schatoffs Tasche erhalten hatte. Die Papiere steckte Pjotr Stepanowitsch zu sich, und als er plötzlich bemerkte, daß alle die Leiche umstanden, sie ansahen und nichts taten, begann er wütend und unhöflich zu schimpfen und sie anzutreiben. Tolkatschenko und Erkel liefen sogleich, sich nun wieder besinnend, in die Grotte und brachten zwei Steine, jeder an zwanzig Pfund schwer, die sie schon am Morgen vorbereitet, das heißt, fest mit Schnüren umbunden hatten. Da man verabredet hatte, die Leiche in den nächsten, den dritten Teich zu versenken, so mußten ihr diese Steine an den Hals und die Beine gebunden werden. Pjotr Stepanowitsch band sie an: Erkel und Tolkatschenko reichten sie ihm nur hin. Erkel gab ihm seinen Stein zuerst, und während Pjotr Stepanowitsch ihn murrend und schimpfend an die Füße der Leiche band, hielt Tolkatschenko seinen schweren Stein diese ganze ziemlich lange Zeit über senkrecht an den Schnüren in der Luft, wobei er sich stark und fast wie ehrerbietig mit dem ganzen Oberkörper nach vorne beugte, um ihn ohne Zeitverlust sofort hinreichen zu können, und verfiel kein einziges Mal darauf, die schwere Last inzwischen auf die Erde zu stellen. Als dann endlich beide Steine angebunden waren und Pjotr Stepanowitsch sich erhob, um zunächst seinen Blick prüfend über die Gesichter der Anwesenden zu führen – da geschah plötzlich etwas ganz Sonderbares, etwas, das niemand erwartet hatte und das alle nicht wenig in Erstaunen setzte.
Wie schon erwähnt, standen fast alle und taten nichts. Wirginski war, als die anderen sich auf Schatoff gestürzt hatten, wohl auch hinzugelaufen, doch hatte er weder geholfen, ihn zu halten, noch ihn überhaupt angerührt. Lämschin aber war erst nach dem Schuß unter den anderen aufgetaucht. Während der ganzen, vielleicht zehn Minuten währenden Untersuchung der Taschen und Anbindung der Steine hatten sie dann alle gleichsam einen Teil ihres Bewußtseins verloren. Sie standen um Pjotr Stepanowitsch herum und empfanden, statt Unruhe oder Erregung, zunächst nur so etwas wie Verwunderung. Liputin stand ganz vorn neben der Leiche. Wirginski, der sich hinter ihn gestellt hatte, sah über Liputins Schulter mit einer sonderbaren und gewissermaßen nebensächlichen Neugier auf die Leiche; ja er hob sich sogar auf die Fußspitzen, um besser sehen zu können. Lämschin aber versteckte sich hinter Wirginski und blickte nur zuweilen furchtsam hinter diesem hervor, worauf er sich dann sofort wieder versteckte. Als nun die Steine angebunden waren und Pjotr Stepanowitsch sich erhob, begann Wirginski auf einmal zu zittern, und plötzlich – warf er die Arme hoch und rief traurig mit lauter Stimme:
„Das ist doch nicht das! nicht das! Nein, das ist doch gar nicht das!“
Er hätte vielleicht noch etwas hinzugefügt zu seinem verspäteten Ausruf, aber Lämschin ließ ihm keine Zeit dazu: plötzlich packte er ihn hinterrücks und quetschte ihn mit aller Gewalt und schrie dabei ein ganz unmögliches Geschrei. Es gibt Augenblicke eines starken Schreckens, in denen der Mensch plötzlich wie nicht mit seiner eigenen Stimme aufschreit, sondern mit einer, die man nie an ihm gehört hat und deren Vorhandensein in ihm man nie für möglich gehalten hätte, und das kann manchmal sogar recht unheimlich sein. Lämschin schrie nicht mit einer menschlichen, sondern mit einer gleichsam tierischen Stimme. Dabei preßte er Wirginski krampfhaft von hinten zusammen, schrie ohne Unterlaß, schrie ohne Atem zu schöpfen, schrie immer ein und denselben Ton, während ihm die Augen fast hervorquollen und der Mund unheimlich weit aufgerissen blieb; mit den Beinen aber strampelte er so zitterschnell, als ob er mit ihnen einen Trommelwirbel auf der Erde schlagen wollte. Wirginski erschrak dermaßen, daß er selbst sofort wie ein Wahnsinniger losschrie und sich in einer so grimmigen Wut, wie man sie von Wirginski nie im Leben erwartet hätte, aus Lämschins Krallen zu befreien suchte, auf ihn, den er nur schwer fassen konnte, mit den Fäusten nach hinten losschlug, ihn kniff und kratzte. Endlich gelang es Erkel, Lämschin von ihm loszureißen. Doch kaum war Wirginski entsetzt gleich auf zehn Schritt von ihm fortgelaufen, da stürzte sich Lämschin, der nun Pjotr Stepanowitsch erblickte, plötzlich mit neuem Geschrei auf diesen, stolperte jedoch über die vor seinen Füßen liegende Leiche und riß Pjotr Stepanowitsch im Fall mit sich zu Boden. Er umkrallte ihn aber so fest und drückte seinen Kopf so krampfhaft an dessen Brust, daß weder Pjotr Stepanowitsch selbst, noch Tolkatschenko, noch Liputin ihn im ersten Augenblick losreißen konnten. Pjotr Stepanowitsch schrie, schimpfte, schlug ihn mit den Fäusten auf den Kopf, bis es ihm endlich gelang, sich irgendwie zu befreien; im Augenblick riß er seinen Revolver hervor – doch Lämschin, den die anderen an den Armen hielten, fuhr fort zu schreien, trotz des auf ihn zielenden Revolvers, er schrie, schrie wie besessen! Bis schließlich Erkel, der schnell sein Taschentuch zusammengerollt hatte, ihm dieses gewandt in den aufgesperrten Mund steckte, so daß der Schrei dann ganz von selbst plötzlich abbrach. Tolkatschenko band ihm sofort mit einem Stück der übrig gebliebenen Schnur die Hände auf dem Rücken zusammen.
„Das ist sehr sonderbar,“ sagte Pjotr Stepanowitsch und betrachtete in beunruhigter Verwunderung den Verrückten.
Er war sichtlich betroffen.
„Ich hatte ihn ganz anders eingeschätzt,“ fügte er nachdenklich hinzu.
Vorläufig übergab man ihn Erkel, denn man mußte sich mit der Fortschaffung der Leiche beeilen: es war so viel geschrien worden, daß es doch jemand gehört haben konnte. Tolkatschenko und Pjotr Stepanowitsch nahmen die Laternen und hoben den Kopf des Toten, Liputin und Wirginski faßten ihn an den Füßen, und so wurde er dann getragen. Mit den beiden Steinen war die Last sehr schwer, die Entfernung aber betrug über zweihundert Schritte. Der Stärkste von ihnen war Tolkatschenko. Er gab wohl den Rat, gleichmäßig zu gehen, doch niemand hörte auf ihn, und so ging man denn, wie es gerade kam. Pjotr Stepanowitsch ging rechts und trug, ganz niedergebeugt, auf seiner Schulter den Kopf des Toten, wobei er noch mit der linken Hand den Stein von unten hielt. Da Tolkatschenko während der ganzen ersten Hälfte des Weges nicht darauf verfiel, den Stein gleichfalls zu stützen, so schrie ihn Pjotr Stepanowitsch schließlich fluchend an. Der Schrei war kurz und seltsam in der Stille: schweigend trugen sie weiter, bis plötzlich, schon dicht am Teich, wieder Wirginski, der unter der Last ganz gebeugt ging und wie erschöpft von ihrer Schwere, mit derselben lauten und weinenden Stimme ausrief:
„Das ist nicht das, nein, nein, das ist gar nicht das!“
Die Stelle, wo dieser dritte, ziemlich große Teich aufhört, zu dem man den Toten trug, war die einsamste und abgelegenste des ganzen Parks. Der Teich ist dort am Ufer vergrast. Sie stellten die Laternen nieder, schwenkten die Leiche hin und her und warfen sie ins Wasser. Ein dumpf-hohler Laut erscholl und klang lange nach. Pjotr Stepanowitsch erhob die Laterne und alle reckten neugierig die Hälse, um zu sehen, wie der Körper versank, aber es war schon nichts mehr zu sehen: die Leiche mit den beiden Steinen war sogleich versunken. Die dicken Wellenringe, die sich über die Fläche des Teiches ausbreiteten, vergingen schnell. Die Tat war vollbracht.
„Meine Herren,“ wandte sich Pjotr Stepanowitsch an alle, „jetzt gehen wir auseinander. Zweifellos müssen Sie nunmehr jenen Stolz empfinden, der mit der Erfüllung einer freien Pflicht verknüpft ist. Sollten Sie vielleicht bedauerlicherweise für solche Gefühle zu erregt sein, so werden Sie sie zweifellos morgen empfinden, wenn es schon eine Schande wäre, sie nicht zu empfinden. Die unverzeihliche Erregung Lämschins will ich als eine Art Fieberdelirium auffassen, zumal er ja tatsächlich seit dem Morgen krank sein soll. Ihnen aber, Wirginski, wird schon der erste Augenblick freien Nachdenkens beweisen, daß man im Interesse der allgemeinen Sache unmöglich auf ein Ehrenwort eingehen konnte, sondern einzig und allein so handeln mußte, wie wir es getan haben. Die Zukunft wird Ihnen zeigen, daß Schatoffs Anzeige schon fertig war. Ich bin bereit, auch Ihre Ausrufe zu vergessen. Eine Gefahr für uns ist nicht vorhanden. Es wird niemandem einfallen, irgendeinen von Ihnen zu verdächtigen, vorausgesetzt natürlich, daß Sie sich zu benehmen wissen. So hängt denn die Hauptsache ganz von Ihnen ab und von Ihrer Überzeugung, richtig gehandelt zu haben, – eine Überzeugung, die, wie ich hoffe, sich schon morgen in Ihnen befestigen wird. Darum haben Sie sich ja auch – unter anderem – zu einer geschlossenen Organisation, zu einer freien Gesellschaft Gleichdenkender zusammengetan, um für die allgemeine Sache im gegebenen Moment die Energie miteinander zu teilen, und, wenn es nötig ist, einer den anderen zu beobachten und immer auf dem Posten zu sein. Jeder von Ihnen ist zu einer höheren Rechenschaft verpflichtet. Sie sind berufen, ein altersschwaches und im Stillstand langsam zu stinken anfangendes Reich zu erneuern. Das sollen Sie stets zu Ihrer Aufmunterung vor Augen haben! Ihre ganze Aufgabe besteht vorläufig nur darin, darauf hinzuwirken, daß alles zusammenstürzt: das Reich wie seine Moral. Übrigbleiben werden nur wir, die wir uns schon dazu vorausbestimmt und vorbereitet haben, die Macht in unsere Hände zu nehmen. Die Klugen ziehen wir zu uns herüber, und auf den Dummen reiten wir. Im übrigen muß man die Generation neu erziehen, um sie der Freiheit würdig zu machen. Noch viele Tausend Schatoffs stehen uns bevor. Wir organisieren uns, um die ganze Richtung in die Hand zu bekommen, da wäre es dumm, alles, was müßig daliegt und das Maul aufsperrt, nicht mitzunehmen. Ich begebe mich jetzt sofort zu Kirilloff und zum Morgen hin werde ich von ihm besagtes Dokument erhalten, in dem er vor dem Tode alles auf sich nimmt. Nichts kann wahrscheinlicher sein, als diese Kombination. Erstens stand er mit Schatoff auf feindschaftlichem Fuße: sie haben zusammen in Amerika gelebt, also haben sie Zeit gehabt, sich zu überwerfen. Man weiß, daß Schatoff seine Überzeugungen geändert hat; folglich ist ihre Feindschaft wegen dieser Überzeugungen entstanden. Hinzu käme noch die Furcht vor einer Denunziation. Das wird auch alles so geschrieben werden. Zum Schluß wird noch erwähnt, daß Fedjka in Kirilloffs Wohnung geschlafen hat. Das alles wird jeden Verdacht von Ihnen entfernen, denn es wird die Schafsköpfe in eine ganz andere Richtung treiben. Morgen, meine Herren, werden wir uns nicht sehen: ich muß auf ganz kurze Zeit in den nächsten Kreis fahren. Aber übermorgen werden Sie meine Mitteilungen erhalten. Ich würde Ihnen eigentlich raten, morgen zu Hause zu bleiben. Jetzt aber gehen wir alle je zwei zusammen auf verschiedenen Wegen zurück. Sie, Tolkatschenko, bitte ich, sich Lämschins anzunehmen und ihn nach Hause zu bringen. Sie können ihm alles auseinandersetzen und vor allen Dingen erklären, daß er mit seinem Kleinmut in erster Linie sich selbst schadet. Ihrem Schwager, Schigaleff, Herr Wirginski, ganz wie auch Ihnen, will ich nicht mißtrauen. Er wird nicht denunzieren. Es bleibt nur seine Handlung zu bedauern. Übrigens hat er ja noch nicht gesagt, daß er aus dem Verbande austreten will. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen. Doch jetzt schnell, meine Herren; wenn jene auch Schafsköpfe sind, so kann doch Vorsicht immerhin nicht schaden ...“
Wirginski ging mit Erkel in die Stadt zurück. Letzterer trat noch, bevor er Lämschin Tolkatschenko überließ, mit diesem zu Pjotr Stepanowitsch und sagte, daß Lämschin sich besonnen habe, bereue, um Verzeihung bitte und sogar selbst nicht mehr wisse, was eigentlich vorhin mit ihm geschehen war. Pjotr Stepanowitsch ging allein fort: er wählte den längsten Weg, an der anderen Seite der Teiche, am Rande des Parkes entlang. Zu seiner Verwunderung holte ihn, als er schon die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, plötzlich Liputin atemlos ein.
„Pjotr Stepanowitsch, aber Lämschin wird doch denunzieren!“
„Nein, er wird zur Besinnung kommen und sich sagen, daß er dann als erster nach Sibirien ginge. Jetzt wird niemand mehr denunzieren. Auch Sie nicht.“
„Aber Sie?“
„Zweifellos werde ich Sie alle verschwinden lassen, sobald Sie sich nur einfallen ließen, etwas verraten zu wollen, und das wissen Sie. Aber Sie werden nicht denunzieren. Sind Sie mir deshalb zwei Werst nachgelaufen?“
„Pjotr Stepanowitsch, Pjotr Stepanowitsch, aber wir werden uns doch vielleicht nie mehr sehen!“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sagen Sie mir nur eines!“
„Nun, was denn? Übrigens wünsche ich, daß Sie sich packen.“
„Nur eine Antwort, aber daß sie auch richtig ist: sind wir die einzige ‚Fünf‘ in der Welt, oder ist es wahr, daß es einige Hundert solcher ‚Fünfer‘-Gruppen gibt? Ich frage im höheren Sinne, Pjotr Stepanowitsch!“
„Das sehe ich Ihrer Verfassung an. Aber wissen Sie auch, daß Sie noch weit gefährlicher sind, als Lämschin?“
„Ich weiß, ich weiß, aber – die Antwort, Ihre Antwort!“
„Sie dummer Mensch! Jetzt könnte es Ihnen, denke ich, doch schon ganz gleichgültig sein, ob es eine oder tausend sind.“
„Also eine! Ich wußte es ja!“ rief Liputin. „Ich habe es ja die ganze Zeit gewußt, daß es nur eine ist, bis jetzt, die ganze Zeit ...“
Und ohne eine andere Antwort abzuwarten, kehrte er um und verschwand schnell in der Dunkelheit.
Pjotr Stepanowitsch wurde ein wenig nachdenklich.
„Nein, keiner wird denunzieren,“ murmelte er dann überzeugt vor sich hin, „aber die ‚Fünf‘ muß eine Gruppe bleiben und gehorchen, oder ich werde sie ... Es ist doch ein Lumpenzeug, wirklich, dieses Volk!“
Werchowenski ging zuerst zu sich nach Hause und packte, ohne sich im geringsten zu beeilen, seinen Reisekoffer. Um sechs Uhr morgens ging der Schnellzug ab. Den „Unsrigen“ hatte er zwar gesagt, er werde nur auf kurze Zeit in die nächste Kreisstadt fahren, aber, wie es sich später herausstellen sollte, hatte er doch ganz andere Absichten. Als er mit dem Einpacken fertig war, bezahlte er seine Wirtin, die von ihm schon früher von seiner Abreise benachrichtigt worden war, und fuhr dann mit einer Droschke zu Erkel, der nicht weit vom Bahnhof wohnte. Und dann erst, nach ein Uhr nachts, begab er sich zu Kirilloff und benutzte wieder den geheimen Gang durch den Zaun.
Pjotr Stepanowitschs Stimmung war furchtbar. Außer verschiedenen anderen, für ihn sehr wichtigen Unannehmlichkeiten (er hatte noch immer nichts über Stawrogin erfahren können) soll er noch im Laufe des Tages von irgendwoher (am wahrscheinlichsten wohl aus Petersburg) eine geheime Mitteilung erhalten haben, nach der ihm schon in nächster Zeit eine gewisse Gefahr drohte.
Natürlich erzählt man sich jetzt bei uns viele Geschichten und Einzelheiten über diese ganze Zeit, doch wieviel mag davon wahr sein? Das Nähere werden wohl nur die wissen, die sich von Amts wegen mit der ganzen Angelegenheit haben beschäftigen müssen. Ich für mein Teil nehme denn auch nur nach meinen eigenen Erwägungen an, daß Pjotr Stepanowitsch außer in unserer Stadt noch andere Verbindungen hat haben können, und in dem Fall ist es allerdings sehr leicht möglich, daß man ihm jetzt auf der Spur war. Ja, ich bin sogar trotz des zynischen und schrecklichen Zweifels selbst in Liputin fest überzeugt, daß Pjotr Stepanowitsch noch zwei, drei andere „Fünfer“-Gruppen gegründet hatte, und daß er in allen größeren Städten, wenn auch vielleicht nicht durchweg „Fünfer“-Gruppen hatte, so doch geheime Verbindungen und Beziehungen zu allen möglichen Menschen unterhielt. Nicht später als drei Tage nach seiner Abreise erhielt unsere Stadtobrigkeit aus Petersburg denn auch tatsächlich den Befehl, ihn zu verhaften: für welche Vergehen, ob für die bei uns begangenen oder andere – das weiß ich nicht. Dieser Befehl traf hier gerade noch zur richtigen Zeit ein, um den unheimlichen Eindruck und die Angst verstärken zu helfen, die plötzlich unsere immer noch so leichtsinnige Gesellschaft samt Polizei und Verwaltung ergriffen hatte, als mit einem Male die geheimnisvolle und schwerwiegende Ermordung des Studenten Schatoff, sowie die rätselhaften Umstände, von denen sie begleitet war, bekannt wurden. Aber der Befehl selbst kam zu spät: Pjotr Stepanowitsch war schon unter fremdem Namen in Petersburg, von wo aus er dann schnell über die Grenze entwischte. – Doch ich greife vor.
Als Werchowenski bei Kirilloff eintrat, sah er böse und zanksüchtig aus: es war, als ob er Kirilloff außer der Hauptsache noch ganz persönlich etwas antun, sich an ihm für irgend etwas noch ganz besonders rächen wollte.
Kirilloff war über sein Erscheinen gleichsam erfreut; man sah, daß er schon furchtbar lange und in krankhafter Ungeduld auf ihn gewartet hatte. Sein Gesicht war bleicher als gewöhnlich, der Blick der dunklen Augen schwer und unbeweglich.
„Ich dachte, Sie kommen nicht,“ sagte er schwer von der Sofaecke aus, in der er übrigens sitzen blieb, statt seinem Gast entgegenzugehen.
Pjotr Stepanowitsch blieb vor ihm stehen und musterte zunächst, bevor er ein Wort sprach, prüfend Kirilloffs Gesicht.
„Also alles in Ordnung und wir treten von unserem Vorhaben nicht zurück, das ist brav!“ sagte er mit beleidigend gönnerhaftem Lächeln. „Nun, und daß ich etwas spät gekommen bin,“ fügte er mit gemeiner Scherzhaftigkeit hinzu, „darüber hätten Sie sich doch nicht zu beklagen: habe Ihnen doch somit drei Stunden geschenkt.“
„Ich will von Ihnen gar keine überflüssigen Stunden geschenkt haben, und du kannst mir überhaupt nichts schenken ... Dummkopf!“
„Was?“ Pjotr Stepanowitsch fuhr schon auf, beherrschte sich aber sofort. „Das ist mir mal eine Empfindlichkeit! Ach so, wir sind wohl erzürnt?“ fragte er scharf, mit demselben beleidigenden Hochmut. „In so einem Augenblick ist Ruhe mehr am Platz. Am besten wäre es aber, sich für Kolumbus zu halten, und auf mich wie auf eine Maus, die einen überhaupt nicht beleidigen kann, herabzusehen. Das habe ich schon gestern anempfohlen.“
„Ich will nicht auf dich wie auf eine Maus sehen.“
„Was soll das, ein Kompliment? ... Hm, auch der Tee ist kalt – also alles drunter und drüber. Nein, das ist mir zu unzuverlässig. Ah! aber was sehe ich denn dort auf dem Fensterbrett?“ (er ging hin). „Wahrhaftig – ein Huhn mit Reis! ... Warum haben Sie mir das bis jetzt noch nicht angeboten? Wir befanden uns also in einer Gemütsverfassung, die sogar ein Huhn ...“
„Ich habe gegessen, und das ist nicht Ihre Sache. Schweigen Sie!“
„Oh, natürlich, und zudem ist das an sich ja auch ganz gleichgültig. Bloß mir ist es jetzt nicht gleichgültig: denken Sie sich, ich habe heute so gut wie gar nicht zu Mittag gespeist und darum, wenn jetzt dieses Huhn, wie ich annehme, nicht mehr nötig ist, – wie?“
„Essen Sie, wenn Sie können.“
„Ei, danke, und dann nachher noch Tee.“
Er setzte sich im Nu an den Tisch, am anderen Ende des Sofas, und machte sich mit ungewöhnlicher Gier ans Essen; doch gleichzeitig beobachtete er jeden Augenblick sein Opfer. Kirilloff sah ihm mit bösem Widerwillen regungslos zu, wie außerstande, seinen Blick von ihm loszureißen.
„Einstweilen,“ – Pjotr Stepanowitsch sah plötzlich auf, fuhr aber fort zu essen – „wie wird es denn damit? Also, wir treten nicht zurück, wie? Und der Zettel?“
„Ich habe in dieser Nacht festgestellt, daß es mir einerlei ist. Werde schreiben. Die Proklamationen?“
„Ja, auch die Proklamationen. Übrigens, ich werde Ihnen diktieren. Ihnen ist es doch ganz gleich. Könnte denn der Inhalt Sie in diesen Minuten wirklich noch beunruhigen?“
„Das geht dich nichts an.“
„Natürlich nicht. Übrigens ... im ganzen nur ein paar Zeilen: daß Sie mit Schatoff die Proklamationen verbreitet haben, unter anderem, mit Hilfe Fedjkas, der sich hier in Ihrer Wohnung verborgen hat. Dieser letzte Punkt über Fedjka und die Wohnung ist sehr wichtig, sogar der allerwichtigste. Sehen Sie, ich bin ganz aufrichtig zu Ihnen.“
„Schatoff? Warum mit Schatoff? Auf keinen Fall schreibe ich von Schatoff.“
„Das fehlte noch, was macht Ihnen denn das aus? Schaden können Sie ihm ja doch nicht mehr.“
„Seine Frau ist zu ihm gekommen. Sie wachte auf und schickte zu mir fragen, wo er ist?“
„Sie hat zu Ihnen geschickt, um zu erfahren, wo er ist? Hm ... das ist nicht ... Dann könnte sie ja wieder schicken ... Hören Sie, niemand darf erfahren, daß ich hier bin ...“
Pjotr Stepanowitsch wurde unruhig.
„Sie wird nicht erfahren, schläft wieder. Bei ihr ist eine Frau, Arina Wirginskaja.“
„Schön, schön, und ... wird es auch nicht hören, denke ich? Wissen Sie, wäre es nicht besser, die Flurtür zu verriegeln?“
„Wird nichts hören. Und wenn Schatoff kommt, verstecke ich Sie ins andere Zimmer.“
„Schatoff wird nicht kommen; und Sie werden schreiben, daß Sie sich mit ihm wegen Verrat und Denunziation überworfen haben ... heute Abend ... und die Ursache seines Todes sind.“
„Er ist tot!“ stieß Kirilloff aufspringend hervor.
„Heute um acht Uhr abends, oder richtiger, gestern um acht Uhr abends, denn jetzt ist es schon ein Uhr.“
„Du hast ihn ermordet! ... Und ich habe das gestern vorausgewußt!“
„Wäre auch was gewesen, das nicht vorauszusehen! Hier, sehen Sie, mit diesem Revolver!“ (Er zog seinen Revolver aus der Tasche, anscheinend nur um ihn zu zeigen, doch steckte er ihn nicht wieder zurück, sondern behielt ihn in der rechten Hand, wie in Bereitschaft.) „Sie sind doch ein sonderbarer Mensch, Kirilloff, Sie wußten ja schon längst, daß es mit diesem dummen Menschen gerade ein solches Ende nehmen mußte. Was ist denn hier noch vorauszusehen? Ich habe es Ihnen schon mehrmals förmlich in den Mund gelegt. Schatoff bereitete eine Anzeige vor: ich beobachtete ihn; man konnte ihn auf keine Weise so lassen. Ja, und auch Sie hatten doch den Auftrag, auf ihn aufzupassen: Sie haben mir doch selbst noch vor drei Wochen ...“
„Schweig! Das hast du ihn dafür, daß er dir in Genf ins Gesicht gespuckt hat!“
„Auch dafür, und auch noch für anderes. Für vieles andere; übrigens ohne jede Bosheit meinerseits. Warum da aufspringen? Wozu Posen annehmen? Oho! Also so sind wir! ...“
Er sprang auf und erhob seinen Revolver. Kirilloff hatte nämlich seinen Revolver, der schon seit dem Morgen geladen war, vom Fensterbrett genommen. Pjotr Stepanowitsch stellte sich in Positur und zielte auf Kirilloff. Der lachte böse auf.
„Gesteh nur, Schurke, du hast deinen Revolver bloß darum genommen, daß ich dich erschieße ... Aber ich werde dich nicht erschießen ... obgleich ... obgleich ...“
Und wieder erhob er seinen Revolver und zielte auf Pjotr Stepanowitsch, wie außerstande, auf das Vergnügen zu verzichten: sich vorzustellen, wie das wäre, wenn er Pjotr Stepanowitsch jetzt mit einem Schuß niederstrecken würde. Pjotr Stepanowitsch wartete immer noch in Positur, wartete bis zum letzten Augenblick, wartete mit gespanntem Hahn, wobei er doch riskierte, selbst eine Kugel in die Stirn zu bekommen: von diesem „Maniak“, wie er Kirilloff kurzweg nannte, war das zu erwarten. Aber der „Maniak“ ließ schließlich die Hand sinken, atemlos und zitternd und unfähig zu sprechen.
„Sie haben gespielt, nun und genug jetzt.“ Pjotr Stepanowitsch senkte gleichfalls seinen Revolver. „Ich wußte es ja, daß Sie spielten. Nur, wissen Sie, Sie wagten doch viel: ich hätte abdrücken können.“
Und er setzte sich ziemlich ruhig wieder auf das Sofa und goß sich – übrigens doch mit ein wenig zitternder Hand – Tee ein. Kirilloff legte den Revolver auf den Tisch und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Ich werde nicht schreiben, daß ich Schatoff getötet habe, und ... ich werde jetzt überhaupt nichts schreiben. Es wird keinen Zettel geben!“
„Nicht?“
„Nein.“
„Welch eine Gemeinheit und was für eine Dummheit!“ Pjotr Stepanowitsch wurde vor Wut ganz fahl im Gesicht. „Aber ich habe ja schon so etwas geahnt. Wissen Sie auch, daß ich mich nicht überrumpeln lasse! Aber, – wie Sie wollen! Wenn ich Sie mit Gewalt zwingen könnte, so würde ich es tun. Sie sind übrigens ein Schurke,“ er verlor immer mehr seine Selbstbeherrschung, „Sie haben sich damals von uns Geld geliehen und uns dafür Langes und Breites versprochen ... Nur werde ich Sie doch nicht ganz ohne Resultat verlassen, werde wenigstens sehen, wie Sie sich jetzt selbst die Kugel durch den Kopf jagen.“
„Ich will, daß du sofort gleich hinausgehst.“ Kirilloff blieb entschlossen vor ihm stehen.
„Nein, das tue ich auf keinen Fall,“ lehnte Pjotr Stepanowitsch ab und ergriff wieder seinen Revolver. „Jetzt kann Ihnen ja aus Wut und Bosheit einfallen, alles aufzuschieben und morgen noch hinzugehen und zu denunzieren, um wieder Geld zu erhalten: dafür wird doch gut gezahlt. Hol’ Sie der Teufel, solche Leutchen wie Sie sind zu allem fähig! Nur beunruhigen Sie sich nicht, ich habe alles vorgesehen: ich werde nicht vorher fortgehen, als bis ich Ihnen mit diesem Revolver gleichfalls den Schädel geöffnet habe, wie dem Schufte Schatoff. Wenn Sie selbst zu feige werden und es aufschieben wollen! Hol’ Sie der Teufel!“
„Du willst wohl unbedingt auch mein Blut sehen?“
„Nicht aus Bosheit will ich es. Begreifen Sie doch, daß es mir persönlich ganz gleichgültig ist. Ich will es nur, um für unsere Sache ruhig sein zu können. Daß man sich auf einen Menschen nicht verlassen kann, sehen Sie doch selbst. Ich verstehe nichts davon, was Sie da ... – ich meine, warum Sie sich umbringen wollen. Nicht ich habe diese Phantasie für Sie ausgedacht, sondern Sie selbst, und mitgeteilt haben Sie Ihre Ideen zuerst nicht mir, sondern den anderen ausländischen Gliedern. Und vergessen Sie nicht, daß niemand es aus Ihnen herausgezogen hat, es kannte Sie ja auch niemand, sondern Sie selbst sind gekommen und haben Ihre Gedanken mitgeteilt – aus Sentimentalität wahrscheinlich. Wer ist aber jetzt daran schuld, wenn damals daraufhin ein Plan für gewisse Taten hier in der Stadt entworfen wurde, und die Hauptsache: mit Ihrer Einwilligung und auf Ihren Vorschlag hin (vergessen Sie das nicht: auf Ihren Vorschlag hin!). Schon deshalb denke ich, daß Sie die Sache jetzt nicht mehr im Stiche lassen dürfen. Sie haben sich so benommen, daß Sie schon zu viel wissen. Wenn Sie nun Furcht bekommen haben und morgen hingehen, um zu denunzieren, wird das für uns dann vorteilhaft sein, oder nicht, was meinen Sie? Nein, Sie haben sich verpflichtet, Sie haben Ihr Wort gegeben, haben Geld genommen. Das können Sie alles unmöglich leugnen ...“
Pjotr Stepanowitsch ereiferte sich mächtig, aber Kirilloff hörte ihm schon längst nicht mehr zu, sondern schritt wieder in Gedanken versunken auf und ab.
„Schatoff tut mir leid,“ sagte er endlich und blieb wieder vor Pjotr Stepanowitsch stehen.
„Aber mir tut er ja auch lei... –“
„Schweig, Schurke!“ brüllte Kirilloff wild auf und machte eine furchtbare und unzweideutige Bewegung. „Ich schlage dich tot!“
„Nun, nun, nun, schon gut, ich habe gelogen, ich gebe selber zu, es tut mir um ihn nicht ein bißchen leid; nun, schon gut!“ Pjotr Stepanowitsch war ängstlich aufgesprungen und hielt den Arm wie zum Schutz erhoben.
Kirilloff wandte sich plötzlich still von ihm ab und begann von neuem durch das Zimmer zu schreiten.
„Ich werde es nicht aufschieben, gerade jetzt will ich mich umbringen: alle sind solche Schurken!“
„Nun, das ist doch ein Gedanke! Selbstverständlich sind alle Schurken, und da es einen anständigen Menschen auf der Welt anekelt, so ...“
„Dummkopf, ich bin ganz eben so ein Schurke wie du, wie alle, aber kein anständiger. Ein anständiger ist noch niemals nirgends gewesen.“
„Na, endlich also erraten! Haben Sie denn wirklich bis jetzt noch nicht begriffen, Kirilloff, Sie mit Ihrem Verstande, daß alle ein und dieselben sind, daß es weder bessere noch schlechtere Menschen gibt, sondern nur klügere und dümmere, und daß, wenn alle Schurken sind (was nebenbei bemerkt Unsinn ist), es folglich einen Nichtschurken auch gar nicht geben kann?“
„Ah! Und du lachst wirklich nicht?“ fragte ihn Kirilloff mit einer gewissen Verwunderung. „Du sprichst mit Eifer und einfach ... Haben denn auch solche wie du Überzeugungen?“
„Kirilloff, ich habe nie verstehen können, warum Sie sich töten wollen. Ich weiß nur, daß Sie es aus Überzeugung ... aus fester Überzeugung wollen. Aber wenn Sie das Bedürfnis fühlen, sich, wie man sagt, mitzuteilen, so stehe ich zu Ihrer Verfügung ... Nur muß man die Zeit im Auge behalten ...“
„Wieviel ist die Uhr?“
„Oho, punkt zwei,“ sagte Pjotr Stepanowitsch mit einem Blick auf seine Uhr, und er zündete sich eine Zigarette an.
„Ich glaube, ich werde doch noch mit ihm fertig,“ dachte er bei sich.
„Ich habe dir nichts zu sagen,“ brummte Kirilloff.
„Ich erinnere mich noch, daß da irgend etwas von Gott dabei war ... Sie haben es mir doch einmal erklärt, oder sogar zweimal ... Wenn Sie sich erschießen, so werden Sie Gott, so war es doch, wenn ich mich nicht täusche?“
„Ja, ich werde Gott.“
Pjotr Stepanowitsch lächelte nicht einmal, er wartete; Kirilloff blickte ihn fein an.
„Sie sind ein politischer Betrüger und Intrigant, Sie wollen mich auf die Philosophie hinüberleiten und in Begeisterung bringen, und eine Versöhnung mit mir machen, um den Ärger zu vertreiben, und wenn ich mich versöhne, dann den Brief erbitten, daß ich Schatoff getötet habe.“
Pjotr Stepanowitsch antwortete fast mit natürlicher Offenherzigkeit.
„Nun, mag ich das auch gedacht haben. Nur – ist Ihnen denn das in diesen letzten Augenblicken nicht ganz gleichgültig, Kirilloff? Worüber zanken wir uns überhaupt, sagen Sie doch bitte selbst: Sie sind solch ein Mensch, und ich bin wieder solch ein Mensch, nun, und was liegt denn daran? Und beide noch dazu ...“
„Schurken.“
„Gut, meinetwegen auch Schurken. Sie wissen doch, daß das nur Worte sind.“
„Ich habe mein ganzes Leben nicht gewollt, daß es nur Worte sind. Ich habe auch nur deswegen gelebt, weil ich das immer nicht wollte. Ich will auch jetzt jeden Tag, daß es nicht nur Worte sind.“
„Nun ja, ein jeder sucht, wo er es besser hätte. Ein Fisch ... das heißt, jeder sucht seinen Komfort ... in seiner Art; und das ist alles. Außerordentlich lange schon bekannt.“
„Komfort, sagst du?“
„Nun, lohnt es sich denn, sich um Worte zu streiten?“
„Nein, du hast das gut gesagt: meinetwegen – Komfort. Gott ist unentbehrlich und darum muß er sein.“
„Nun, und wunderbar.“
„Aber ich weiß, daß es ihn nicht gibt und nicht geben kann.“
„Das ist schon richtiger.“
„Begreifst du denn wirklich nicht, daß ein Mensch mit zwei solchen Gedanken nicht leben bleiben darf?“
„Begreifst du denn wirklich nicht, daß man sich nur allein deswegen erschießen kann? Du kannst es nicht begreifen, daß solch ein Mensch sein kann, ein einziger Mensch von allen euren tausend Millionen, einer, der nicht will und nicht erträgt.“
„Ich verstehe nur, daß Sie, wie’s scheint, schwanken ... Das aber ist höchst gemein.“
„Auch Stawrogin ist von der Idee verschlungen,“ sagte Kirilloff, die Bemerkung überhörend, und schritt finster durch das Zimmer.
„Wie?“ Pjotr Stepanowitsch spitzte die Ohren, „von was für einer Idee? Hat er Ihnen selbst irgend etwas gesagt?“
„Nein, ich habe selbst erraten: Stawrogin, wenn er glaubt, so glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, daß er nicht glaubt.“
„Nun, Stawrogin hat noch etwas anderes, etwas Gescheiteres als das ...“ brummte Pjotr Stepanowitsch ärgerlich, während er unruhig die neue Wendung des Gespräches verfolgte und den bleichen Kirilloff beobachtete.
„Zum Teufel, er wird sich nicht erschießen,“ dachte Pjotr Stepanowitsch. „Habe es ja immer vorausgefühlt, das war bei ihm nur eine Gehirnspirale, die ganze Idee, und weiter nichts. Solch ein Lumpenpack, diese Kerls, wahrhaftig!“
„Du bist der letzte, der bei mir ist: ich würde nicht böse mit dir auseinandergehen wollen,“ sagte plötzlich Kirilloff.
Pjotr Stepanowitsch antwortete nicht sofort. „Weiß der Teufel, was das nun wieder bedeutet!“ dachte er.
„Glauben Sie mir, Kirilloff, daß ich nie etwas gegen Sie persönlich gehabt habe und immer ...“
„Du bist ein Schurke und bist ein falscher Verstand. Aber ich bin ganz dasselbe wie du und erschieße mich, du aber bleibst lebendig.“
„Sie wollen wohl sagen, daß ich so niedrig sei, daß ich am Leben bleiben will.“
Er war noch nicht ganz sicher, ob es vorteilhaft oder unvorteilhaft war, ein solches Gespräch jetzt weiterzuführen, und entschloß sich daher, sich „den Umständen anzupassen“. Doch der Ton der Überlegenheit und die unverhohlene Verachtung, die Kirilloff immer für ihn hatte, reizten und ärgerten ihn aus irgendeinem Grunde diesmal noch viel mehr, als sonst, – vielleicht deshalb, weil Kirilloff, der schon in ungefähr einer Stunde sterben mußte (das behielt Pjotr Stepanowitsch trotz allem fest im Auge) für ihn bereits nur noch ein halber Mensch war, also jemand, dem man auf keine Weise mehr erlauben durfte, auch noch stolz und hochmütig zu sein.
„Sie wollen, wie’s scheint, damit vor mir großtun, daß Sie sich erschießen werden?“
„Ich habe mich immer gewundert, daß alle leben bleiben,“ sagte Kirilloff, der auch diese Bemerkung wieder überhörte.
„Hm! nehmen wir an, daß das eine Idee ist, aber ...“
„Du Affe, du stimmst zu, um mich zu besiegen. Schweig, du kannst nichts verstehen. Wenn es Gott nicht gibt, so bin ich Gott.“
„Sehen Sie, diesen Punkt habe ich bei Ihnen nie begreifen können: warum sind Sie dann Gott?“
„Wenn es Gott gibt, so ist aller Wille sein, und aus Seinem Willen kann ich nicht. Wenn nicht, so ist aller Wille mein und ich bin verpflichtet, Eigenwillen zu bezeugen.“
„Eigenwillen? Und warum verpflichtet?“
„Darum, weil aller Wille mein geworden ist. Wird denn wirklich kein einziger auf dem ganzen Planeten, nachdem er mit Gott ein Ende gemacht hat und nur an seinen Eigenwillen glaubt, es wagen, Eigenwillen zu beweisen, Eigenwillen gerade im Hauptpunkte? Das ist so, wie wenn ein Armer eine Erbschaft bekommt und erschrickt und nicht wagt, zum Geldsack zu gehen, weil er sich für nicht stark genug hält, zu besitzen. Ich will Eigenwillen beweisen. Und wenn auch nur ich, ein einzelner, aber ich tue es.“
„Tun Sie’s nur!“
„Ich bin verpflichtet, mich zu erschießen, weil der vollste, höchste Punkt meines Eigenwillens ist – mich selbst zu töten.“
„Aber Sie sind doch nicht der einzige, der sich selbst tötet; es gibt viele Selbstmörder.“
„Mit einer Ursache – ja. Aber ganz ohne alle Ursache und nur für Eigenwillen – ich allein.“
„Wird sich nicht erschießen,“ zuckte es wieder durch Pjotr Stepanowitschs Gedanken.
„Wissen Sie was,“ bemerkte er geärgert, „ich würde an Ihrer Stelle, um Eigenwillen zu offenbaren, erst irgendeinen anderen, aber nicht mich selbst, umbringen. Könnten sich damit noch nützlich machen. Ich werde Ihnen sagen wen, wenn Sie nicht erschrecken. Dann brauchen Sie sich meinetwegen heute auch noch nicht zu erschießen. Man könnte sich besprechen.“
„Einen anderen töten würde gleich der allerniedrigste Punkt meines Eigenwillens sein, und hierin bist du ganz enthalten. Ich bin nicht du: ich will den höchsten Punkt und töte mich.“
„Glücklich mit eigenem Verstande darauf verfallen,“ brummte Pjotr Stepanowitsch boshaft.
„Ich bin verpflichtet, den Unglauben zu verkünden,“ sprach Kirilloff weiter, durch das Zimmer schreitend. „Für mich ist nichts höher, als die Idee – daß es Gott nicht gibt. Die ganze Geschichte der Menschheit spricht für mich. Der Mensch hat nichts anderes getan, als Gott sich ausdenken, um leben zu können, ohne sich totzuschlagen. Darin besteht die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Ich allein in der ganzen Weltgeschichte habe zum erstenmal Gott mir nicht ausdenken wollen. Mag man das für immer erfahren.“
„Wird sich nicht erschießen,“ dachte Pjotr Stepanowitsch wieder beunruhigt.
„Wer soll es denn erfahren?“ versuchte er ihn zu hetzen. „Hier sind nur Sie und ich! Liputin etwa?“
„Alle sollen es erfahren; alle werden es erfahren ... Es gibt nichts in der Welt, was nicht einmal offenbar wird. Das hat Er gesagt.“
Und er wies in fieberhaftem Entzücken auf das Bild des Heilandes, vor dem das Lämpchen brannte. Pjotr Stepanowitsch wurde endgültig wütend.
„An den also glauben Sie immer noch? Haben auch das Lämpchen angezündet! Tun Sie das vielleicht auch ‚auf alle Fälle‘?“
Der andere schwieg.
„Wissen Sie, meiner Meinung nach glauben Sie womöglich noch mehr als ein Pope.“
„An wen? An Ihn? Höre,“ Kirilloff blieb stehen und sah mit starrem, wie verzücktem Blick vor sich hin. „Höre eine große Idee: es war auf der Erde ein Tag und in der Mitte der Erde standen drei Kreuze. Einer am Kreuz glaubte so, daß er dem anderen sagte: ‚Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.‘ Der Tag verging, beide starben, gingen hin und fanden weder Paradies noch Auferstehung. Die Worte bewahrheiteten sich nicht. Höre: dieser Mensch war der höchste auf der ganzen Welt, war das, wozu sie lebt. Der ganze Planet, mit allem, was auf ihm ist, ist ohne diesen Menschen – nur ein Wahnsinn. Es war weder vor Ihm, noch nach Ihm einer seinesgleichen, niemals, sogar bis zum Wunder. Das ist eben das Wunder, daß keiner vor ihm war noch nach ihm sein wird, niemals. Aber wenn dem so ist, wenn die Gesetze der Natur auch Diesen nicht verschont haben, sogar ihr eigenes Wunder nicht verschont haben und auch Ihn zwangen, mitten in Lüge zu leben und für Lüge zu sterben, so ist folglich der ganze Planet Lüge und beruht nur auf Lüge und dummem Spott. Folglich sind die Gesetze selbst des Planeten – Lüge und des Teufels Bühnenstück. Wozu dann leben, antworte, wenn du ein Mensch bist?“
„Das ist die Kehrseite. Mir scheint, Sie haben hier zwei verschiedene Ursachen vermischt; das ist aber sehr unzuverlässig. Doch erlauben Sie, wenn Sie nun Gott sind? Wenn die Lüge zu Ende ist und Sie erraten haben, daß die ganze Lüge nur daher kam, daß es den früheren Gott gab?“
„Endlich hast du es verstanden!“ rief Kirilloff begeistert. „Also kann man es doch verstehen, wenn sogar so einer wie du es verstanden hat! Verstehst du jetzt, daß die ganze Errettung für alle ist – allen diesen Gedanken zu beweisen. Wer aber wird ihn beweisen? Ich! Ich verstehe nicht, wie bis jetzt ein Atheist wissen konnte, daß es Gott nicht gibt, und sich doch nicht sofort selbst tötete? Erkennen, daß es Gott nicht gibt und nicht im selben Augenblick mit eins erkennen, daß man dadurch selbst Gott geworden ist – ist eine Ungereimtheit, denn anderenfalls würde man sich unbedingt selbst töten. Wenn du erkenntest – so bist du Zar, und du brauchst dich nicht mehr selbst zu töten, sondern wirst in der allergrößten Herrlichkeit leben. Aber einer, der erste, der das erkennt, der muß sich unbedingt selbst töten, denn wer wird sonst beginnen und beweisen? Also töte ich mich selbst, unfehlbar, um zu beginnen und zu beweisen. Ich bin erst noch gezwungenermaßen Gott und bin unglücklich, denn ich bin verpflichtet, Eigenwillen zu bezeugen. Alle sind unglücklich, denn alle fürchten sich, Eigenwillen zu zeigen. Eben deshalb ist der Mensch bis jetzt so unglücklich und arm gewesen, weil er sich fürchtete, den Hauptpunkt, den Kern des Eigenwillens durchzusetzen, und weil er nur so drumherum, am Rande ein wenig Eigenwillen oder Mutwillen trieb wie ein Schuljunge. Ich bin schrecklich unglücklich, denn ich habe schreckliche Angst. Die Angst ist der Fluch des Menschen ... Aber ich werde Eigenwillen offenbaren, ich bin verpflichtet, fest daran zu glauben, daß ich nicht glaube. Ich werde beginnen und werde beenden, und werde das Tor öffnen. Und retten. Nur dieses allein wird alle Menschen retten und schon in der nächsten Generation physisch verändern. Denn in der jetzigen körperlichen Form kann, so viel ich glaube, der Mensch ohne den früheren Gott nicht sein. Ich habe drei Jahre das Attribut meiner Gottheit gesucht und habe es schließlich gefunden: das Attribut meiner Gottheit ist – Eigenwille! Das ist alles, womit ich im Hauptpunkt meine Nichtunterwürfigkeit beweisen kann und meine neue furchtbare Freiheit. Denn sie ist maßlos furchtbar. Ich töte mich, um meine Nichtunterwürfigkeit zu beweisen und meine neue furchtbare Freiheit.“
Sein Gesicht war unnatürlich bleich, sein Blick unerträglich schwer. Er war wie im Fieber. Pjotr Stepanowitsch fürchtete schon, er werde sogleich hinfallen.
„Gib die Feder!“ rief Kirilloff plötzlich ganz unerwartet in entschiedener Verzückung – „diktiere, ich unterschreibe alles. Auch, daß ich Schatoff getötet, unterschreibe ich. Diktiere, solange es mir lachhaft ist! Ich fürchte die Gedanken der anmaßenden Sklaven nicht! Du wirst selbst sehen, daß alles Geheimnisvolle offenbar werden wird. Du aber wirst zerdrückt werden ... Ich aber glaube! Ich glaube!“
Pjotr Stepanowitsch schnellte empor, gab ihm im Nu das Tintenfaß und ein Blatt Papier und begann sofort zu diktieren, um den günstigen Augenblick nicht zu verpassen, zitternd für das Gelingen.
„Ich, Alexei Kirilloff, erkläre ...“
„Wart! So will ich nicht! Erkläre wem?“
Kirilloff bebte wie im Fieber. Diese Erklärung und irgendein besonderer plötzlicher Gedanke in bezug auf diese Erklärung hatten ihn, wie es schien, ganz und gar verschlungen, als ob sie ein Ausweg wäre, auf den sich, wenn auch nur auf einen Augenblick, sein müdgequälter Geist stürzte.
„Erkläre wem? Will wissen wem?“
„Ach, niemandem, allen, dem ersten, der es liest! Wozu das bestimmen? Der ganzen Welt!“
„Der ganzen Welt? Bravo! Und daß keine Reue nötig ist! Ich will nicht bereuen. Und ich will auch nicht an die Obrigkeit!“
„Aber nein doch, das ist ja auch gar nicht nötig, zum Teufel mit der Obrigkeit! Aber so schreiben Sie doch, wenn Sie ernstlich! ...“ schrie Pjotr Stepanowitsch in hysterischer Nervosität ihn an.
„Wart! Ich will erst eine Fratze mit herausgestreckter Zunge malen.“
„Ach was, Unsinn! Teufel, das kann man auch ohne Malerei ausdrücken, einfach mit dem Ton.“
„Mit dem Ton? Das ist gut. Ja, mit dem Ton, mit dem Ton! Diktier mir mit dem Ton!“
„Ich, Alexei Kirilloff,“ diktierte fest und befehlend Pjotr Stepanowitsch, über die Schulter Kirilloffs gebeugt und jeden Buchstaben, den dieser mit seiner zitternden Hand schrieb, mit den Augen verfolgend, „– ich, Kirilloff, erkläre, daß ich heute, am ...sten Oktober, am Abend um acht Uhr, den Studenten Schatoff im Park getötet habe und zwar für Verrat und Anzeige der Proklamationen, sowie Fedjkas, der bei uns beiden im Filippoffschen Hause zehn Tage gewohnt und genächtigt hat. Ich erschieße mich aber heute mit einem Revolver nicht deswegen, weil ich bereue und euch fürchte, sondern weil ich schon im Auslande die Absicht hatte, mir das Leben zu nehmen.“
„Und das ist alles?“ fragte erstaunt und unwillig Kirilloff.
„Kein Wort mehr!“ sagte Pjotr Stepanowitsch, mit der Hand abwinkend, und suchte ihm das Papier zu entreißen.
„Wart!“ rief Kirilloff und legte fest seine Hand auf das Blatt. „Wart, Unsinn! Will noch sagen, mit wem ich erschlagen habe. Warum Fedjka? Und die Brandstiftung? Ich will alles und will sie noch ausschimpfen mit dem Ton, mit dem Ton!“
„Genug, Kirilloff, ich versichere Ihnen, das ist vollkommen genug!“ flehte Pjotr Stepanowitsch geradezu, denn er zitterte vor Angst, daß Kirilloff das Papier vielleicht wieder zerreißen werde. „Damit die es glauben, muß es so dunkel wie möglich sein, nur mit Andeutungen, gerade so! Man muß nur ein Eckchen der Wahrheit zeigen, nur soviel, um sie irrezuführen. Die werden sich schon selbst weit mehr vorlügen, als wir es könnten, und sich selbst werden sie natürlich mehr glauben als uns – und das ist doch gerade das Beste, das Allerbeste! Geben Sie her, es ist wundervoll so. Geben Sie! Geben Sie!“
Und er bemühte sich immer noch, ihm das Papier zu entwenden, es ihm unter der Hand wegzuziehen. Kirilloff hatte die Augen weit aufgerissen, hörte wohl auch zu und schien sogar begreifen zu wollen, doch hatte er wahrscheinlich schon aufgehört, zu verstehen.
„Teufel!“ entfuhr es plötzlich wütend Pjotr Stepanowitsch. „Er hat ja noch gar nicht unterschrieben! Was starren Sie denn so, unterschreiben Sie doch!“
„Ich will ausschimpfen ...“ murmelte Kirilloff, nahm aber doch gehorsam die Feder und schrieb seinen Namen. „Ich will ausschimpfen ...“
„Schreiben Sie meinetwegen: Vive la république,[199] und damit dann genug.“
„Bravo!“ schrie, brüllte fast Kirilloff vor Entzücken auf. „Vive la république démocratique, sociale et universelle ou la mort! ... Nein, nein, nicht so. Liberté, egalité, fraternité ou la mort.[200] Das ist noch besser, noch besser,“ und er schrieb es mit sichtlichem Hochgenuß unter seinen Namenszug.
„Genug jetzt, wirklich genug!“ wiederholte Pjotr Stepanowitsch.
„Wart, noch ein ... Ich, weißt du, ich werde noch einmal auf französisch unterschreiben: ‚de Kirilloff, gentil-homme russe et citoyen du monde.‘[201] Hahahahaha!“ lachte er auf. „Nein, nein, nein, wart, habe es noch besser gefunden, am allerbesten, Heureka! – ‚gentil-homme-séminariste russe et citoyen du monde civilisé!‘[202] Das ist am allerbesten ...“ – – – und er sprang jäh auf, ergriff plötzlich mit einer schnellen Bewegung seinen Revolver, stürzte in das andere Zimmer und schlug die Tür fest hinter sich zu.
Pjotr Stepanowitsch stand einen Augenblick nachdenklich da und sah gespannt auf die geschlossene Tür.
„Wenn sofort – dann ist es möglich, daß er abdrückt, fängt er aber an zu denken – dann wird nichts geschehen.“
Vorläufig nahm er das Blatt in die Hand, setzte sich wieder und sah das Geschriebene noch einmal durch. Die Abfassung gefiel ihm wieder ungemein.
„Was fehlt uns jetzt! Es ist ja weiter nichts nötig, wie sie für eine Zeitlang ganz aus der Fassung zu bringen und abzulenken. Park? In der Stadt gibt es keinen Park. Aber sie werden schon mit ihrem eigenen Verstande auf Skworeschniki verfallen. Bis sie aber darauf verfallen, vergeht Zeit, bis sie suchen – wieder Zeit, und finden sie die Leiche – so ist hier nur die Wahrheit geschrieben worden, folglich muß auch alles andere richtig sein, auch das von Fedjka. Was aber bedeutet Fedjka? Fedjka – das ist der Brand, Fedjka, das sind Lebädkins: folglich ist alles aus dem Filippoffschen Hause gekommen, sie aber haben nichts davon gesehen, haben nichts durchschauen können, – und gerade das wird sie schon vollends verwirren! Auf die Unsrigen aber werden sie überhaupt nicht verfallen. Es waren also Schatoff und Kirilloff und Fedjka und Lebädkin; warum sie aber einander totgeschlagen haben – das ist dann für die Leute noch so eine kleine Frage zum Zeitvertreib. Zum Teufel, wo bleibt denn der Schuß! ...“
Pjotr Stepanowitsch hatte die ganze Zeit, wenn er auch las und sich über die Abfassung freute, doch gleichzeitig jeden Augenblick mit quälender Unruhe gehorcht und – plötzlich wurde er wütend. Erregt zog er die Uhr hervor: es war schon sehr spät; und Kirilloff mochte vor bereits zehn Minuten hinausgegangen sein ... Er ergriff das Licht und ging zur Tür des Nebenzimmers. An der Tür sah er plötzlich und kam es ihm zu Bewußtsein, daß auch das Licht schon heruntergebrannt war und vielleicht nach zwanzig Minuten auslöschen werde, daß ein anderes aber nicht vorhanden war. Vorsichtig umfaßte er mit der Hand die Klinke und horchte. Kein einziger Laut drang aus dem anderen Zimmer. Plötzlich öffnete er die Tür und erhob das Licht: da brüllte etwas auf und stürzte auf ihn zu. Hastig schlug er die Tür zu und stemmte sich mit aller Kraft gegen sie, aber schon war alles verstummt – und wieder Totenstille.
Lange stand er so in seiner Unentschlossenheit mit dem Licht in der Hand. In dem kurzen Augenblick, nach dem Öffnen der Tür, hatte er nur sehr wenig sehen können, aber er erinnerte sich doch des Gesichts Kirilloffs, der am anderen Ende des Zimmers am Fenster gestanden hatte, und der tierischen Wut, mit der er zur Tür gestürzt war. Plötzlich regte sich etwas im Nebenzimmer.
Pjotr Stepanowitsch stellte schnell das Licht auf den Tisch, ergriff seinen Revolver und sprang auf den Fußspitzen zur Seite in die entgegengesetzte Ecke, so daß er, falls Kirilloff die Tür öffnete und auf den Tisch zuschritt, noch vor Kirilloff zielen und abdrücken konnte.
Aber es blieb wieder alles ruhig.
Daß Kirilloff jetzt noch den Selbstmord begehen werde, daran glaubte Pjotr Stepanowitsch schon gar nicht mehr.
„Er stand offenbar und dachte,“ ging es ihm blitzartig durch den Kopf. „Dazu noch ein dunkles, unheimliches Zimmer ... Er brüllte auf und stürzte zur Tür – hier sind zwei Möglichkeiten: entweder störte ich ihn gerade in dem Augenblick, als er den Hahn abdrücken wollte, oder ... oder er stand und überlegte, wie er mich töten könnte. Ja, das wird’s gewesen sein, er überlegte ... Er weiß, daß ich nicht vorher fortgehe, als bis er tot ist, daß ich ihn töten werde, wenn er selbst dazu zu feige ist – also muß er mich zuerst töten, damit nicht ich ihn töte ... Und wieder, wieder bleibt dort alles still! ... Einfach gruselig: plötzlich macht er die Tür auf ... Die Schweinerei ist ja bloß, daß er an Gott noch mehr glaubt als ein Pope ... Wird sich nicht erschießen, um keinen Preis! Oh ... Solche, wie er, die mit ‚eigenem Verstande so weit kommen‘, vermehren sich ja jetzt ungeheuer. Lumpenpack! Teufel, das Licht, das Licht! In einer Viertelstunde ist es ausgebrannt, spätestens ... Muß Schluß machen, muß unbedingt, was es auch koste, Schluß machen ... Was, – totschlagen kann man ihn ja jetzt ... Nach diesem Papier kann niemand denken, daß ich ihn erschossen habe. Man kann ihn schon so auf die Diele legen und zurechtbiegen, mit abgeschossenem Revolver in der Hand, daß man unbedingt glauben muß, er selbst ... Teufel, aber wie ihn nur erschießen? Wenn ich aufmache, wird er sich wieder auf mich stürzen und noch vor mir abdrücken. Teufel, nein, er wird natürlich nicht treffen ... Immerhin ...“
So quälte er sich hin und her und ward immer unruhiger infolge der unumgänglichen Notwendigkeit der Tat einerseits und der eigenen Unentschlossenheit andererseits. Schließlich nahm er wieder den Leuchter und trat wieder leise zur Tür, wobei er den Revolver hob und den Hahn spannte, dann mit der linken Hand, in der er das Licht hielt, die Klinke zu öffnen versuchte – aber es gelang nicht: das Schloß kreischte nur und öffnete sich nicht. „Er wird sofort auf mich schießen!“ dachte Pjotr Stepanowitsch, riß die Tür auf und erhob Licht und Revolver ... Doch kein Schuß ertönte ... Auch kein Schrei ... Im Zimmer war kein Mensch.
Er fuhr zusammen. Einen anderen Ausgang hatte das Zimmer nicht, aus ihm zu entfliehen war unmöglich. Er hob das Licht noch höher und blickte noch aufmerksamer hinein: nein, kein Mensch. Halblaut rief er einmal Kirilloff und dann zum zweitenmal lauter, aber niemand antwortete.
„Sollte er aus dem Fenster gesprungen sein?“
Tatsächlich war das Luftfenster offen.
„Unsinn, durchs Luftfenster kann er doch nicht durch.“ Pjotr Stepanowitsch ging durch das ganze Zimmer zum Fenster. „Unmöglich konnte er hier durch!“ Plötzlich wandte er sich blitzschnell um und etwas Ungewöhnliches erschütterte ihn.
An der Wand, die dem Fenster gegenüber lag, stand links von der Tür ein Schrank. An der linken Seite dieses Schrankes aber, in der Ecke zwischen der anderen Wand und dem Schrank, stand Kirilloff und stand furchtbar sonderbar, – unbeweglich, stramm, die Hände militärisch an den Nähten, den Kopf erhoben und mit dem Rücken fest an die Wand gepreßt ... Allem Anscheine nach wollte er sich verstecken, aber das war wiederum nicht glaubhaft. Pjotr Stepanowitsch stand ein wenig schräg zu der Ecke und sah nur die hervortretenden Teile der Gestalt. Er konnte sich aber noch nicht entschließen, weiter nach links zu gehen und das Rätsel zu lösen. Sein Herz schlug laut. Und plötzlich erfaßte ihn eine rasende Wut: er riß sich von der Stelle, schrie auf und stürzte trampelnd zu der furchtbaren Stelle.
Doch wie er unmittelbar vor ihm stand, blieb er wie angewurzelt stehen, noch mehr von Entsetzen betäubt. Vor allem frappierte es ihn, daß die Gestalt sich trotz seines Schreies und wütenden Anlaufs nicht einmal bewegte, nicht einmal zuckte, auch nicht mit einem einzigen Gliede – ganz, als ob sie versteint oder aus Wachs gewesen wäre. Die Blässe des Gesichts war unnatürlich, die schwarzen Augen waren unbeweglich und sahen auf irgendeinen Punkt im leeren Raum. Pjotr Stepanowitsch führte das Licht von oben nach unten und wieder nach oben und sah aufmerksam dieses Gesicht an. Und plötzlich gewahrte er, daß Kirilloff, wenn er auch geradeaus in die Luft blickte, ihn doch seitlich sah und womöglich noch beobachtete. Da kam ihm der Gedanke, das Licht „diesem Schurken“ an das Gesicht zu legen, es anzubrennen, um zu sehen, was er dann tun werde. Plötzlich aber schien es ihm, daß Kirilloffs Kinn sich bewege und über die Lippen ein Spottlächeln flimmere – ganz als ob jener seinen Gedanken erraten hätte. Er erbebte und außer sich vor Wut packte er Kirilloff an der Schulter.
Da geschah aber etwas dermaßen Unglaubliches, und geschah so schnell, daß Pjotr Stepanowitsch sich später in seiner Erinnerung selbst nicht mehr zurechtfand. Kaum hatte er Kirilloff berührt, als dieser plötzlich seinen Kopf fallen ließ und ihm mit dem Kopf das Licht aus der Hand schlug. Der Leuchter fiel mit lautem Gepolter zu Boden, und das Licht erlosch. Im selben Augenblick noch fühlte er einen furchtbaren Schmerz im kleinen Finger seiner linken Hand. Er schrie auf, und später wußte er nur noch, daß er, außer sich, Kirilloff, der seinen Finger nicht aus den Zähnen ließ, dreimal mit dem Revolver auf den Kopf geschlagen hatte. Doch es gelang ihm endlich, den Finger herauszureißen. Und er stürzte fort, hinaus, so schnell er in der Dunkelheit nur konnte, aus dem Zimmer, aus der Wohnung. Ihm nach aber drangen die furchtbaren Schreie:
„Sofort, sofort, sofort, sofort!“
Wohl mehr als zehnmal. Aber Werchowenski lief immer noch weiter, weiter, durch die Dunkelheit, suchte schon im Flur die Ausgangstür, als plötzlich ein lauter Schuß erschallte. Da erst blieb er stehen, im Flur, in der Dunkelheit, und überlegte wohl fünf Minuten lang. Endlich kehrte er wieder um und ging in die Wohnung zurück. Zuerst mußte Licht geschafft werden. Dazu brauchte er nur den aus der Hand geschlagenen Leuchter auf dem Boden aufzusuchen, rechts vom Schrank; aber womit dann den Lichtstumpf anzünden? Er selbst hatte nichts bei sich. Eine dunkle Erinnerung zog ihm durch den Kopf: es war ihm, als hätte er am Abend vorher, als er in die Küche zu Fedjka gestürzt war, in der Ecke auf dem Küchenbrett flüchtig eine große rote Streichholzschachtel bemerkt. Tastend ging er also zuerst nach links, zur Küchentür, fand sie schließlich und stieg dann die drei Stufen hinunter. Richtig: auf dem Brett, gerade an der Stelle, an die er sich erinnert hatte, fand er in der Dunkelheit eine große, noch nicht geöffnete Streichholzschachtel. Ohne anzuzünden, kehrte er eilig zurück und erst beim Schrank, auf derselben Stelle, wo er vorhin gestanden hatte, als er den ihn beißenden Kirilloff mit dem Revolver auf den Kopf schlug, fiel ihm plötzlich sein gebissener Finger ein, und in derselben Sekunde fühlte er auch einen fast unerträglichen Schmerz in ihm. Er biß die Zähne zusammen, zündete mit genauer Not noch den kleinen Lichtstumpf an und dann erst sah er sich um: nicht weit von dem Fenster, dessen Luftfenster offen war, lag, mit den Füßen zu jener Ecke des Zimmers, die Leiche Kirilloffs. Er hatte sich in die rechte Schläfe geschossen und oben an der linken Seite des Kopfes hatte die Kugel wieder den Schädel durchschlagen. Blut und Hirnspritzer sah man auf der Diele. Der Revolver war in der Hand des Selbstmörders geblieben. Der Tod mußte sofort eingetreten sein. Nachdem Pjotr Stepanowitsch alles genau betrachtet hatte, erhob er sich wieder und ging auf den Fußspitzen aus dem Zimmer, schloß hinter sich die Tür, stellte das Licht auf den Tisch vor dem Sofa, dachte ein wenig nach und beschloß dann, es nicht auszulöschen, da durch dieses Licht im Leuchter doch kein Brand entstehen konnte. Er blickte noch einmal auf das Dokument und lächelte mechanisch. Darauf verließ er, ich weiß nicht warum, immer noch leise auf den Fußspitzen gehend, endgültig langsam das Haus. Wieder kroch er durch Fedjkas geheimen Gang und schloß ihn hinter sich sorgfältig mit dem Brett.
Zehn Minuten vor sechs gingen Pjotr Stepanowitsch und Erkel auf dem Bahnhof längs des diesmal ziemlich langen Zuges auf und ab. Pjotr Stepanowitsch fuhr fort und Erkel begleitete ihn. Das Gepäck war schon aufgegeben, der Reisesack lag auf dem ausgesuchten Platz in einem Waggon der zweiten Klasse. Das erste Glockenzeichen war schon ertönt und man wartete auf das zweite. Pjotr Stepanowitsch sah sich wie gewöhnlich neugierig nach allen Seiten um, und betrachtete die Einsteigenden. Nähere Bekannte aber waren nicht zu sehen. Allem Anschein nach wollte Erkel in diesen letzten Minuten noch von etwas Wichtigerem sprechen – wenn er auch vielleicht selbst nicht wußte, wovon eigentlich; aber er wagte nicht anzufangen. Es schien ihm sogar, daß er Pjotr Stepanowitsch lästig fiel und daß dieser mit Ungeduld auf das zweite Glockenzeichen wartete.
„Sie sehen so offen alle Menschen an,“ bemerkte er etwas schüchtern, als wollte er warnen.
„Warum soll ich denn nicht? Noch darf ich mich nicht verstecken. Ist noch zu früh. Beunruhigen Sie sich nicht. Nur eines fürchte ich, daß der Teufel mir den Liputin an den Hals schickt, der könnte es riechen und herlaufen!“
„Pjotr Stepanowitsch, die sind nicht zuverlässig,“ sagte Erkel endlich schüchtern.
„Liputin?“
„Alle, Pjotr Stepanowitsch.“
„Unsinn, jetzt sind sie durch das Gestrige gebunden. Kein einziger wird verraten. Wer wird sich denn selbst ins Unglück stürzen, wenn er nicht den Verstand verloren hat?“
„Aber die haben doch den Verstand verloren!“
Dieser Gedanke war wohl auch Pjotr Stepanowitsch schon durch den Kopf gegangen. Darum ärgerte ihn diese Bemerkung Erkels noch mehr.
„Sind Sie nicht auch schon feige geworden, Erkel? Ich verließ mich auf Sie eigentlich mehr, als auf die anderen zusammen. Jetzt weiß ich, was jeder von ihnen wert ist. Teilen Sie ihnen alles heute noch mündlich mit. Ich vertraue sie Ihnen an. Gehen Sie schon am Morgen zu allen. Meine schriftliche Instruktion können Sie ihnen morgen oder übermorgen vorlesen, wenn sie versammelt sind und fähig, sie zu verstehen ... Glauben Sie mir, die haben furchtbare Angst und werden jetzt weich wie Wachs sein ... Aber die Hauptsache, werden Sie nur nicht melancholisch ...“
„Ach, Pjotr Stepanowitsch, es wäre wirklich besser, wenn Sie nicht verreisten!“
„Aber ich verreise doch nur auf ein paar Tage: ich bin ja im Augenblick wieder zurück.“
„Pjotr Stepanowitsch,“ sagte Erkel schüchtern, „und selbst wenn Sie auch nach Petersburg reisen sollten ... Ich verstehe doch, ich weiß doch, daß Sie nur das für die allgemeine Sache Notwendige tun.“
„Von Ihnen habe ich auch nicht weniger als volles Verständnis erwartet, Erkel. Wenn Sie erraten haben, daß ich nach Petersburg fahre, so werden Sie auch verstehen, daß ich ihnen gestern, in jenem Augenblick, nicht gleich sagen konnte, daß ich in der Tat so weit reise. Ich hätte sie nur unnütz erschreckt. Sie haben ja selbst gesehen, wie sie da alle waren. Aber Sie verstehen doch, daß ich es für die große und wichtige Sache tun muß, für unsere allgemeine Sache, und nicht etwa, um mich persönlich in Sicherheit zu bringen, wie vielleicht irgendein Liputin annimmt.“
„Ich verstehe es ohne weiteres, Pjotr Stepanowitsch, und selbst wenn Sie ins Ausland fahren sollten, ich verstehe es doch, ich weiß, daß Sie Ihre Person nicht so aufs Spiel setzen dürfen, denn Sie sind alles, wir aber sind nichts. Oh, ich verstehe schon, Pjotr Stepanowitsch.“
Die Stimme des armen Knaben bebte sogar.
„Ich danke Ihnen, Erkel ... Au, Sie haben meinen kranken Finger berührt.“ (Erkel hatte ihm recht fest die Hand drücken wollen und dabei nicht an die Verletzung gedacht; der kranke Finger war kunstvoll mit schwarzem Taffett verbunden.) „Aber ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich in Petersburg bloß ein wenig schnuppern will, bleibe dort im ganzen vielleicht vierundzwanzig Stunden – und dann sofort wieder hierher. Zuerst werde ich mich hier auf dem Lande bei Gaganoff niederlassen, Sie verstehen doch – der Leute wegen. Wenn aber die Unsrigen irgendeine Gefahr wittern sollten, so werde ich als erster diese Gefahr mit ihnen teilen. Sollte ich aber etwas länger in Petersburg bleiben müssen, so teile ich es Ihnen sofort mit ... auf dem bekannten Wege, und Sie sagen es dann den anderen.“
Das zweite Glockenzeichen ertönte.
„Ah, also noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Wissen Sie, ich würde es nicht wünschen, daß diese Gruppe hier auseinanderfällt. Das heißt nicht, daß mir so sehr viel daran läge; nein; brauchen sich um mich weiter keine Sorgen zu machen: solcher Knötchen des großen Netzes habe ich ja genug und brauche nicht um eine einzige so sehr zu bangen. Aber eine Gruppe mehr ist immerhin eine Gruppe mehr und als solche nicht zu verachten. Übrigens, um Sie mache ich mir keine Sorgen, wenn ich Sie auch fast allein mit diesen Mißgeburten hier zurücklasse: beunruhigen Sie sich nicht, die werden nicht denunzieren, werden es gar nicht wagen ... – A–ah, und auch Sie heute?“ rief er plötzlich mit ganz anderer, heiterer Stimme einem sehr jungen Menschen zu, der freundlich auf ihn zutrat, um ihn zu begrüßen. „Sie fahren also auch mit dem Schnellzug? Wohin denn? Zur Mama?“
Die Mutter des jungen Menschen war eine schwerreiche Gutsbesitzerin des Nachbargouvernements, und der junge Mann, der weitläufig mit Julija Michailowna verwandt war, hatte als Gast zwei Wochen in unserer Stadt verbracht.
„Nein, ich fahre weiter, nach K... Acht Stunden Eisenbahnfahrt stehen mir bevor. Und Sie nach Petersburg?“ fragte der junge Mann frohgemut.
„Warum nehmen Sie so aufs blaue hin an, daß ich nach Petersburg fahre?“ fragte Pjotr Stepanowitsch noch fröhlicher und sah ihm lachend offen ins Gesicht.
Der junge Mensch drohte ihm mit dem Finger der behandschuhten Rechten.
„Na, wenn Sie’s erraten haben,“ raunte ihm plötzlich Pjotr Stepanowitsch mit gedämpfter Stimme geheimnisvoll zu, „ich reise mit Briefen von Julija Michailowna und muß dort drei, vier Persönlichkeiten aufsuchen, und was für welche noch dazu! – na, Sie ahnen wohl schon. Übrigens könnte sie meinethalben allesamt der Teufel holen, unter uns gesagt. Eine verflixte Aufgabe!“
„Aber sagen Sie doch bitte, was fürchtet sie denn plötzlich so?“ flüsterte nun auch der junge Mensch. „Sie hat sogar mich gestern nicht empfangen wollen. Meiner Meinung nach hat sie doch gar keinen Grund, für ihren Mann etwas Unangenehmes zu erwarten. Im Gegenteil, er ist doch noch so anständig auf dem Brandplatze hingefallen, hat ja förmlich, wie man zu sagen pflegt, sein Leben aufs Spiel gesetzt.“
„Nun, natürlich doch,“ lachte Pjotr Stepanowitsch noch lustiger. „Ja, sehen Sie, sie fürchtet aber, daß man von hier aus schon geschrieben haben könnte ... das heißt, daß gewisse Leute ... Mit einem Wort, hier ist vor allem Stawrogin, oder richtiger Graf K... Ach, nun kurz: hier steckt noch eine ganze Geschichte hinter der Geschichte – ich werde Ihnen vielleicht einiges unterwegs erzählen – soviel mir die Ritterlichkeit zu erzählen erlaubt ... Mein Verwandter, Fähnrich Erkel, aus der Kreisstadt.“
Der junge Mensch blickte flüchtig auf Erkel und berührte den Hut. Erkel grüßte militärisch.
„Ach, wissen Sie, Werchowenski, acht Stunden im Eisenbahnwagen ist ein furchtbares Los. Mit uns fährt noch in der ersten Klasse Oberst Berestoff, ein urkomischer Kauz, mein Gutsnachbar: verheiratet mit einer Garina – née de Garine.[203] Ist auch sonst in jeder Beziehung tadellos. Und wissen Sie, dabei hat er sogar Ideen. Hier hat er sich nur zwei Tage aufgehalten. Ein leidenschaftlicher Kartenspieler, nebenbei; spielt mit Vorliebe Jeralásch[54], sollte man da nicht ein Spielchen machen? Den vierten habe ich auch schon gefunden: Pripuchloff, ein Kaufmann aus dem T.schen, Millionär, aber, wissen Sie, ein richtiger Millionär, versichere Ihnen ... Ich mache Sie bekannt, eine urgemütliche Haut, und lachen werden wir! ...“
„Oh, Jeralásch spiele ich mit dem größten Vergnügen, und besonders noch auf der Reise, aber ich fahre in der zweiten Klasse.“
„Ach was, das ist doch ... auf keinen Fall, Sie setzen sich einfach zu uns. Ich werde sofort dem Zugführer sagen, daß Ihre Sachen in die erste Klasse zu bringen sind. Er gehorcht mir aufs Wort. Was haben Sie, einen sac de voyage?[204] ein Plaid?“
„Famos, gehen wir!“
Und Pjotr Stepanowitsch nahm selbst seinen Reisesack, Plaid und Buch und siedelte sofort mit der größten Bereitwilligkeit in die erste Klasse über. Erkel half ihm, die Sachen zu tragen. Da ertönte auch schon das dritte Glockenzeichen.
„Nun, Erkel,“ sagte Pjotr Stepanowitsch eilig und reichte ihm mit sichtlich anderweitig gefesseltem Interesse zum Abschied noch die Hand aus dem Fenster, „ich werde also mit ihnen Karten spielen.“
„Aber wozu mir das noch erklären, Pjotr Stepanowitsch, ich verstehe ja schon, ich verstehe doch alles, Pjotr Stepanowitsch.“
„Na, also dann auf glückliches ...“ und auf den Anruf des jungen Menschen, der ihn mit den Partnern bekannt machen wollte, wandte er sich plötzlich vom Fenster zurück.
Erkel sah seinen Pjotr Stepanowitsch nicht wieder.
Traurig kehrte er nach Haus zurück. Nicht, daß es ihn beängstigt hätte, daß Pjotr Stepanowitsch sie so plötzlich verließ, aber ... aber er hatte sich so schnell von ihm fortgewandt, als dieser junge Zierbengel ihn rief und ... er hätte doch etwas anderes sagen können, als diese nicht zu Ende gesprochene Abschiedsredensart: „na, also dann auf glückliches“ oder ... oder wenn er doch wenigstens die Hand fester gedrückt hätte!
Gerade dieses letzte tat ihm am meisten weh. Und schon begann noch etwas anderes an seinem armen Herzchen zu nagen, etwas, das er selbst noch gar nicht begriff, das aber mit dem vergangenen Abend in Verbindung stand ...
Ich bin überzeugt, daß Stepan Trophimowitsch furchtbare Angst hatte, als die für sein wahnsinniges Vorhaben bestimmte Zeit näher und näher rückte. Ich bin überzeugt, daß er unter dieser Angst sehr gelitten hat, besonders in der Nacht vor seinem Aufbruch, in jener furchtbaren Nacht. Nastassja erinnerte sich nachher, daß er sich spät zu Bett gelegt, dann aber fest geschlafen hatte. Doch das letztere will nicht allzuviel besagen, denn auch zum Tode Verurteilte sollen in der letzten Nacht sogar sehr fest schlafen.
Wenn Stepan Trophimowitsch auch erst nach Sonnenaufgang loswanderte, also zu einer Zeit, in der ein nervöser Mensch sich immer ermutigt fühlt (der Major, der Verwandte Wirginskis, hörte ja sogar auf, an Gott zu glauben, sobald die Nacht vorüber war), so bin ich doch überzeugt, daß er sich vorher nie ohne Grauen hat vorstellen können, wie er sich allein und in einer solchen Lage auf der großen Landstraße befinden werde. Es wird aber wahrscheinlich etwas Tollkühnes in seinen Gedanken gewesen sein, das ihm zunächst die ganze Größe der schrecklichen Empfindung des plötzlichen Alleinseins milderte, nachdem er „Stasie“ und seinen zwanzigjährigen warmen Platz verlassen hatte. Doch gleichviel: auch wenn er alle Schrecken, die ihn erwarteten, klar und deutlich vorausgesehen hätte, – er wäre dennoch auf die große Landstraße hinausgegangen und hätte den Weg fortgesetzt! Hierin lag etwas Stolzes, etwas, das ihn trotz allem begeisterte. Oh, er hätte ja auf Warwara Petrownas herrliche Bedingungen eingehen und bei ihr bleiben können „comme un[205] gewöhnlicher Schmarotzer!“ Er aber nahm die Gnade nicht an und blieb nicht bei ihr. Und siehe, jetzt geht er selbst von ihr und verläßt sie und erhebt „die Fahne der großen Idee“, um für diese auf der großen Landstraße zu sterben! Gerade so und nicht anders mußte er das empfinden; gerade so mußte seine Handlungsweise ihm selbst erscheinen.
Mehr als einmal habe ich mir die Frage gestellt: warum ging er denn gerade zu Fuß fort, buchstäblich zu Fuß? Warum mietete er denn nicht wenigstens einen Wagen, wenn er schon mit der Eisenbahn nicht fahren wollte? Zuerst habe ich sie mir mit seiner fünfzigjährigen Lebensunerfahrenheit beantwortet, schließlich aber mit einer phantastischen Ideenverirrung unter dem Einfluß eines starken Gefühls erklärt. Es schien mir, daß ihm der Gedanke an Postkutsche und Pferde (selbst wenn sie Schellen und Glöckchen haben sollten) doch viel zu banal und prosaisch vorkommen mußte. Dagegen war Pilgerschaft, wenn auch mit dem Regenschirm in der Hand, viel schöner, viel liebend-rächender. Heute freilich, nachdem alles vorüber ist, nehme ich an, daß es sich im wesentlichen weit einfacher zugetragen hat. Er fürchtete sich wohl einfach, Pferde zu mieten, denn erstens hätte Warwara Petrowna das erfahren und ihn mit Gewalt zurückgehalten, er aber würde sich selbstverständlich ergeben haben, und dann – fahre wohl auf ewig, große, heilige Idee! Und zweitens: wenn man schon Pferde und einen Wagen nahm, mußte man doch wissen, wohin die Reise eigentlich gehen sollte? Das aber war sein größtes Leid in diesem Augenblick: einen bestimmten Ort wählen und nennen, wäre ihm geradezu unmöglich gewesen. Sobald er sich für irgendeinen bestimmten Ort entschloß, mußte ihm sein ganzes Unternehmen sofort in seinen eigenen Augen dumm und unmöglich erscheinen – das witterte er nur zu gut. Warum sollte es denn gerade diese Stadt sein? Warum nicht eine andere? Und was soll er denn dort tun? Ce marchand[206] suchen? Aber welchen marchand? Das war die allerschrecklichste Frage! Im Grunde gab es für ihn nichts Furchtbareres als ce marchand, den zu suchen er sich so Hals über Kopf vorgenommen hatte, und den zu finden er im Grunde selbstverständlich am allermeisten fürchtete. Nein, da war der weite Weg schon besser. Einfach drauf loswandern, wandern, wandern und an nichts denken, so lange wie nur möglich an nichts denken! Der weite Weg: das war etwas Langes-Langes-Weites, dessen Ende man gar nicht sah – ganz wie ein Menschenleben, ganz wie ein Menschentraum ... Im weiten Wege lag eine Idee. In der Postkutsche aber – was war denn da für eine Idee? Da war es zu Ende mit der Idee. Also: Vive la grande route[207] – und dann wie Gott will!
Nach dem plötzlichen und unerwarteten Zusammentreffen mit Lisa ging er in tiefem Selbstvergessen weiter.
Der große Landweg führte in einer Entfernung von einer halben Werst an Skworeschniki vorüber, und – sonderbar – er bemerkte es zuerst gar nicht, daß er ihn betreten hatte. Klar zu denken oder auch nur die Dinge mit Bewußtsein zu sehen, war für ihn in diesem Augenblick unerträglich. Der feine Regen hörte bald auf, bald fing er wieder an; aber er bemerkte auch den Regen nicht. Und ebensowenig bemerkte er, daß er die Reisetasche sich über die Schulter geworfen hatte und daß ihm dadurch das Gehen bedeutend leichter wurde. Und schließlich hatte er so ungefähr eine ganze Werst oder anderthalb zurückgelegt, als er plötzlich stehen blieb und sich umsah. Der alte, schwarze, von Wagenspuren durchfurchte Weg mit seinen gepflanzten Weiden zog sich wie ein endloses Band vor ihm hin; rechts lag die leere Fläche längst abgeernteter Getreidefelder; links Gestrüpp und weiterhin ein Wäldchen. Und in der Ferne, weit, die kaum wahrnehmbare, schräg weggleitende Linie des Eisenbahndammes und auf ihm das Rauchwölkchen irgendeines Zuges, von dem aber kein Laut zu hören war. Eine gewisse Verzagtheit überkam Stepan Trophimowitsch, aber nur auf einen Augenblick. Er seufzte – grundlos, stellte dann seine Reisetasche neben eine Weide und setzte sich, um sich auszuruhen. Beim Niedersetzen fühlte er, daß ihn fröstelte, und er wickelte sich in sein Plaid; bei der Gelegenheit bemerkte er auch den Regen, und er spannte den Schirm über sich auf. So saß er ziemlich lange, schob zuweilen die Lippen hin und her und hielt krampfhaft den Schirmstiel umklammert. Verschiedene Bilder zogen in fieberhaftem Reigen an ihm vorüber, eines immer schnell das andere aus seinem Bewußtsein verdrängend. „Lise, Lise,“ dachte er, „und mit ihr ce Maurice ... Sonderbare Menschen ... Aber was war das eigentlich für ein Brand und worüber sprachen sie doch, u–und ... und wer ist denn ermordet worden? Ich glaube, Stasie hat noch nichts gemerkt und wartet noch mit dem Kaffee auf mich ... Im Kartenspiel? Habe ich denn Menschen im Kartenspiel verspielt? Hm! bei uns in Rußland, zur Zeit der sogenannten Leibeigenschaft ... Ach, Gott, aber Fedjka?“
Er fuhr auf vor Schreck und blickte sich angstvoll um.
„Wenn dieser Fedjka jetzt hier irgendwo hinter einem Strauch sitzt? Man sagt doch, er habe hier eine ganze Räuberbande an der großen Landstraße? O Gott, ich werde dann ... Ich werde ihm dann die ganze Wahrheit sagen, daß ich schuldig bin ... und daß ich zehn Jahre um ihn gelitten habe, – viel mehr, als er dort bei den Soldaten, und ... und ich gebe ihm mein Portemonnaie. Hm! j’ai en tout quarante roubles, il prendra les roubles et il me tuera tout de même.“[208]
Vor Angst klappte er, ich weiß nicht warum, den Schirm wieder zusammen und legte ihn neben sich. Weit auf der Landstraße, zur Stadt hin, bemerkte er plötzlich ein Gefährt: unruhig sah er ihm entgegen und versuchte zu unterscheiden, was es war.
„Grace à Dieu,[209] es ist ein Wagen und – er fährt Schritt ... das kann nicht gefährlich sein. Diese hiesigen verhungerten Pferdchen ... Ich habe schon immer gesagt, daß die Rasse ... Übrigens nein, das war Pjotr Iljitsch, der im Klub immer von der Rasse gesprochen hat. Er hat im Spiel mit mir verloren ... oder nein, die Partie blieb remis ... et puis,[210] – aber was ist denn da hinten ... es scheint ... ein Weib sitzt auf dem Wagen. Ein Weib und ein Mann – cela commence à être rassurant.[211] Das Weib sitzt hinten und der Mann vorn, – c’est très rassurant. Hinten am Wagen ist eine Kuh an den Hörnern angebunden, c’est rassurant au plus haut degré[212] ...“
Der Wagen kam immer näher: es war ein fester, guter Bauernwagen. Das Weib saß auf einem vollgestopften Sack, der Mann vorn auf dem Wagenrand, so daß seine Beine zu der Wegseite, auf der Stepan Trophimowitsch saß, überm Rade herabbaumelten. Hinter dem Wagen trottete tatsächlich eine rote Kuh, die mit einem Strick um die Hörner an den Wagen gebunden war. Der Mann und das Weib starrten mit aufgerissenen Augen auf Stepan Trophimowitsch, und dieser genau so auf sie. So zogen sie an ihm vorüber. Doch als er sie schon gute zwanzig Schritt hatte weiterfahren lassen, erhob er sich plötzlich eilig und lief ihnen nach, um sie einzuholen. In der Nachbarschaft des Wagens schien es ihm natürlicherweise bedeutend sicherer zu sein. Doch kaum hatte er sie erreicht, da hatte er alles schon wieder vergessen und sich bereits von neuem in seine Gedanken und Vorstellungen versenkt. Er ging einfach nebenher und merkte gar nicht, daß er für den Mann und das Weib mittlerweile das rätselhafteste und interessanteste Objekt abgab, das man je auf der großen Landstraße antreffen konnte.
„Sie, was sind Sie denn, von welchen Leuten denn eigentlich, wenn es nicht verboten is zu fragen?“ fragte endlich das Weib, das nicht länger an sich halten konnte, als Stepan Trophimowitsch in der Zerstreutheit plötzlich auch sie ansah.
Sie war vielleicht siebenundzwanzig Jahre alt, rundlich, mit dunklen Augenbrauen, roten Wangen und freundlich lächelnden roten Lippen, zwischen denen gleichmäßige weiße Zähne glänzten.
„Sie ... Sie wenden sich an mich?“ stotterte Stepan Trophimowitsch mit bekümmerter Verwunderung.
„Muß wohl einer von den Kaufmännern sein,“ meinte der Mann mit Überlegenheit.
Der war ein stämmiger Bauer von ungefähr vierzig Jahren, mit einem breiten, nicht dummen Gesicht und großem blonden Bart.
„Nein, ich bin nicht gerade von den Kaufleuten, ich ... ich ... moi c’est autre chose,“[213] verteidigte sich, so gut es ging, Stepan Trophimowitsch und blieb auf alle Fälle ein wenig zurück, so daß er jetzt neben der Kuh ging.
„Muß wohl einer von den Herrschaften sein,“ schätzte der Mann, als er die nicht russischen Worte vernommen hatte, und zog die Leine, um sein Pferd ein wenig aufzumuntern.
„Ja, ich mein’ auch, das sieht man doch, denn es ist doch ganz, als ob der Herr auf ’n Spaziergang gehen!“ meinte wieder das muntere Weib.
„Das ... das fragten Sie mich?“
„Die Ausländer, die hier fahren, die gehen meistens da in die Eisenbahn, die dort hinten auf Schienen läuft, und Ihre Stiefel sind auch gar nich so wie hiesige ...“
„Stiefel sind militärisch,“ bemerkte selbstzufrieden und bedeutsam der Mann.
„Nein, nicht gerade, daß ich Militär ... ich ...“
„Was das doch für ein neugieriges Weibchen ist,“ dachte Stepan Trophimowitsch ärgerlich, „und wie sie mich betrachten ... mais enfin[214] ... Mit einem Wort, es ist sonderbar, daß ich mir vor ihnen geradezu irgendwie schuldig vorkomme, und ich bin doch durchaus nicht schuldig vor ihnen!“
Das Weibchen neigte sich vor und flüsterte mit dem Mann.
„Wenn der Herr es nich für ungut nehmen will, so können wir Sie ja mitnehmen, wenn es man bloß angenehm ist.“
Stepan Trophimowitsch wachte plötzlich gleichsam auf.
„Ja, ja, meine Freunde, ich bin mit dem größten Vergnügen dabei, denn ich habe mich schon sehr müde gelaufen, nur – wie komme ich denn dort hinauf?“
„Wie sonderbar,“ dachte er bei sich, „daß ich so lange neben dieser Kuh gegangen bin und es mir nicht in den Kopf gekommen ist, sie schon früher zu bitten, mich in den Wagen aufzunehmen ... Dieses ‚reale Leben‘ hat doch etwas überaus Charakteristisches!“
Der Mann hielt aber das Pferdchen deshalb noch nicht an.
„Ja, wohin will er denn?“ erkundigte er sich mit einigem Mißtrauen.
Stepan Trophimowitsch begriff nicht sofort.
„Wohl nach Hatoff, mein’ ich?“
„Zu Hatoff? Nein, nicht gerade, daß ich zu Hatoff ... Und ich bin auch nicht ganz bekannt mit ihm ... aber ich habe schon von ihm gehört ...“
„Nee, das Dorf Hatowo, ’n Dorf, neun gute Werst von hier.“
„Ein Dorf? C’est charmant,[215] ja, ja, ich glaube auch schon davon gehört zu haben ...“
Stepan Trophimowitsch ging immer noch, denn man machte noch nicht Miene, ihn aufzunehmen. Da kam ihm plötzlich ein genialer Einfall.
„Sie glauben vielleicht, daß ich ... Ich habe einen Paß, ich bin – Professor, das heißt, wenn Sie wollen, Lehrer ... aber Oberlehrer. Ich bin Oberlehrer. Oui, c’est comme ça qu’on peut le traduire.[216] Ich würde mich sehr gern in den Wagen setzen und ich werde ... ich werde Ihnen dafür einen Liter Branntwein kaufen.“
„Ein halber Rubel von Sie, Herr, der Weg ist schwer.“
„Und sonstig würde es man gar nich für uns angehen,“ meinte auch das Weibchen.
„Ein halber Rubel? Nun gut, ein halber Rubel. C’est encore mieux, j’ai en tout quarante roubles, mais ...“[217]
Der Mann hielt endlich das Pferdchen an und Stepan Trophimowitsch wurde mit vereinten Kräften in den Wagen gezogen und neben das Weib auf den Sack gesetzt. Der Wirbelsturm von Gedanken verließ ihn auch jetzt nicht. Zuweilen fühlte er selbst, daß er irgendwie ganz besonders zerstreut war und gar nicht an das dachte, woran er eigentlich denken sollte, und wunderte sich darüber. Diese Erkenntnis bedrückte ihn schwer in manchen Augenblicken und kränkte ihn sogar.
„Das ... was ist denn das da hinten eigentlich – eine Kuh?“ fragte er plötzlich das Weib.
„Ach du mein! hat denn der Herr noch keine Kuh gesehn?“ fragte das Weib lachend zurück.
„In der Stadt gekauft,“ bemerkte der Mann. „All unser Vieh ist im vergangenen Frühjahr krepiert. Pest. In unserer Gegend sind rundherum alle um die Ecke gegangen, kaum die Hälfte frißt noch weiter. Nichts zu machen. Schrei, wieviel du willst, es krepiert dir doch.“
„Ja, das kommt bei uns vor in Rußland ... und überhaupt wir Russen ... nun, ja, es kommt vor,“ meinte Stepan Trophimowitsch.
„Wenn Sie nu Lehrer sind, was suchen Sie dann in Hatoff? Oder geht’s noch weiter?“
„Ich ... das heißt, nicht gerade, daß ich irgendwohin weiter wollte ... C’est à dire,[218] ich will zu einem Kaufmann.“
„Ah, so! Dann wird’s wohl nach Spassowo sein?“
„Ja, ja, nach Spassowo, nach Spassowo. Übrigens ist das einerlei.“
„Wenn Sie nu nach Spassowo zu Fuß gehen wollten, ach du mein! – in Ihren Stiefelchen brauchten Sie dazu eine ganze Woche!“ Das Weibchen lachte.
„Ja, ja, aber das ist ganz gleichgültig, mes amis,[219] ganz gleichgültig,“ brach Stepan Trophimowitsch ungeduldig ab.
„Schrecklich neugieriges Volk. Das Weib spricht übrigens besser als er, und überhaupt habe ich bemerkt, daß seit der Aufhebung der Leibeigenschaft der Stil sich ein wenig verändert hat ... Was geht es sie übrigens an, ob ich nach Spassowo fahre oder nicht nach Spassowo? Ich bezahle ihnen doch die Reise, was drängen sie sich da so auf?“
„Wenn man nach Spassoff will, so muß man noch mit’n Dampfschiff fahren,“ bemerkte der Mann.
„Ja, das muß er,“ griff das Weib sofort auf, „denn mit Pferden längs dem Ufer hat er dreißig Werst Umweg zu machen.“
„Vierzig,“ verbesserte der Mann.
„Und morgen grad um zwei Uhr kriegen Sie den Dampfer in Ustjewo fest!“ triumphierte das Weibchen.
Stepan Trophimowitsch schwieg aber hartnäckig. Da verstummten denn allmählich auch der Mann und das Weibchen. Der Mann zog hin und wieder mit aufmunterndem Zuruf die Leine an und das Weibchen machte von Zeit zu Zeit kurze Bemerkungen, auf die der Mann irgend etwas antwortete. Stepan Trophimowitsch schlummerte allmählich ein. Er war furchtbar erstaunt, als ihn plötzlich das Weibchen aufweckte und lachend sagte, daß sie schon angekommen seien, und er sich auf einmal in einem Dorf vor der Treppe eines dreifenstrigen Bauernhauses sah.
„Eingeschlafen, Herr?“
„Was ist das? Was?! Wo–o bin ich denn? Ach! Nun ... Nun, einerlei ...“ Stepan Trophimowitsch seufzte tief auf und kletterte dann aus dem Wagen.
Er sah sich traurig um; sonderbar und ganz furchtbar fremdartig erschien ihm plötzlich das Aussehen eines Dorfes.
„Ach, den halben Rubel, den habe ich ganz vergessen!“ wandte er sich mit einer völlig unbegründeten Hast zu dem Manne.
Augenscheinlich bangte ihm schon vor der Trennung von den beiden.
„Kann man in der Stube abmachen, wenn man erst eingetreten ist,“ forderte ihn der Mann auf.
„Hier ist es gut!“ versuchte das Weibchen ihn zu ermutigen.
Stepan Trophimowitsch trat auf die wackelige Holztreppe.
„Ja, wie ist denn das nur möglich,“ flüsterte er in tiefer und erschrockener Verständnislosigkeit vor sich hin und trat in das Bauernhaus. „Elle l’a voulu,“[220] stach es ihm plötzlich ins Herz.
Und wieder vergaß er alles, vergaß selbst das, daß er ins Haus getreten war.
Es war ein helles und ziemlich sauberes Bauernhaus mit drei Fenstern und zwei Zimmern, doch nicht eine Herberge, sondern nur so ein Haus, in dem vorüberfahrende Bekannte abstiegen. Stepan Trophimowitsch ging ohne die geringste Verwirrung in die Gastecke des ersten Zimmers, vergaß zu grüßen, setzte sich und verfiel in Gedanken. Das angenehme Gefühl der Wärme nach dreistündiger feuchter Kälte ergoß sich ungemein wohlig über seinen Körper. Sogar die Frostschauer, die ihm kurz und plötzlich über den Rücken liefen, – wie das bei allen sehr nervösen Menschen vor einer Influenza zu sein pflegt, wenn sie plötzlich aus der Kälte in die Wärme kommen, waren ihm mit einem Male ganz eigentümlich angenehm. Er erhob den Kopf, und siehe da – der leckere Duft von heißen Pfannkuchen, die die Bäuerin im Ofen briet, reizte seinen Geruchssinn. Mit einem kindlichen Lächeln auf den Lippen erhob er sich und trat vorsichtig zum Weibe.
„Was ist denn das? Das sind doch Pfannkuchen, nicht wahr?“ fragte er sie. „Mais c’est charmant!“[221]
„Wollen der Herr vielleicht welche?“ bot ihm das Weib sogleich höflich an.
„Natürlich will ich, selbstverständlich will ich, und ... ich würde Sie auch noch um etwas Tee bitten.“
„Ach, das Samowarchen aufsetzen? Ach, aber gern, gnädiger Herr!“
Und auf einem großen Teller mit dickem blauen Muster erschienen sogleich die Pfannkuchen, wie nur die Bauern allein sie zu bereiten verstehen, halb aus Weizenmehl, ganz dünn und mit heißer, frischer Butter übergossen – die herrlichsten Pfannkuchen der Welt. Stepan Trophimowitsch kostete mit Hochgenuß.
„Wie schön sie sind, die Pfannkuchen, und wieviel Butter! Und wenn man jetzt noch un doigt d’eau de vie[222] ...“
„Will der Herr nicht vielleicht ein Schnäpschen dazu?“
„Das ist’s, das ist’s ja gerade, ein wenig nur, un tout petit rien[223] ...“
„Für fünf Kopeken?“
„Für fünf – für fünf – für fünf, un tout petit rien,“ bestätigte Stepan Trophimowitsch kopfnickend mit seligem Lächeln.
Bittet man einen einfachen Russen, etwas für einen zu tun, so wird er gern zu allem bereit sein, was in seinen Kräften steht; bittet man ihn aber, ein Schnäpschen für einen zu besorgen, so verwandelt sich die freundliche Bereitwilligkeit sofort in einen geschäftigen, freudigen Diensteifer, ja fast in verwandtschaftliche Fürsorge. Und wenn auch derjenige, der das Schnäpschen besorgt, genau weiß, daß man den Schnaps ganz allein trinken wird und er nicht einen Tropfen davon erhält, so scheint er doch gleichsam einen Teil des Genusses, den man beim Trinken haben wird, im voraus mitzuempfinden ... In kaum drei Minuten (die Schenke war nur ein paar Schritte vom Hause entfernt) stand vor Stepan Trophimowitsch eine Flasche und ein großes grünliches Schnapsglas.
„Und das alles ist für mich?“ fragte er höchst verwundert. „Ich habe immer Schnaps in meinem Weinschrank gehabt, aber ich habe nie gewußt, daß man soviel für nur fünf Kopeken bekommt.“
Er goß das Glas bis zum Rande voll, erhob sich und schritt mit einer gewissen Feierlichkeit durch die ganze Stube zu der anderen Ecke, wo seine Reisegefährtin saß, – das nette Weibchen, das ihm unterwegs mit den vielen Fragen so lästig geworden war. Das Weibchen wurde verlegen und sträubte sich, zu trinken, doch nachdem sie alles gesagt hatte, was der Anstand in solchen Fällen verlangt, erhob sie sich, nahm das Glas und trank ehrerbietig in drei Schlückchen (wie Frauen zu trinken pflegen) den Branntwein aus, worauf sie, das Gesicht zu einem schrecklichen Schmerzensausdruck ob des scharfen Weines verziehend, das Glas mit einer höflichen Verbeugung Stepan Trophimowitsch zurückreichte. Er erwiderte die Verbeugung würdevoll und kehrte mit geradezu stolzer Miene an seinen Tisch zurück.
Es war das alles von ihm aus auf Grund einer plötzlichen Eingebung geschehen: noch eine Sekunde vorher hatte er nicht gewußt, daß er hingehen und dem Weibchen das Glas Branntwein anbieten werde.
„Ich verstehe es tadellos, tadellos, mit dem Volk umzugehen, und das habe ich ihnen immer gesagt,“ dachte er selbstzufrieden, als er sich den Rest des Branntweins eingoß, der ihn, wenn auch kein volles Glas übriggeblieben war, doch belebend erwärmte und ihm sogar ein wenig zu Kopf stieg.
„Je suis malade tout à fait, mais ce n’est pas trop mauvais d’être malade.“[224]
„Wünschen Sie nicht eines davon zu kaufen?“ ertönte plötzlich eine leise Frauenstimme neben ihm.
Er sah auf und erblickte zu seiner Verwunderung eine Dame vor sich – une dame et elle en avait l’air[225] – eine Dame von mehr als dreißig Jahren, die sehr bescheiden aussah, städtisch gekleidet war und ein großes graues Tuch um die Schultern trug. In ihrem Gesicht lag etwas sehr Angenehmes, das Stepan Trophimowitsch sofort ungemein gefiel. Sie war erst vor ein paar Minuten ins Haus zurückgekehrt. Ihre Sachen lagen noch auf der Bank neben Stepan Trophimowitsch: unter anderem eine Ledertasche, die er – dessen erinnerte er sich plötzlich – bei seinem Eintritt neugierig betrachtet hatte, und ein nicht sehr großer Sack aus Wachstuch. Aus eben diesem Sack hatte sie jetzt zwei hübsch gebundene kleine Bücher genommen, die sie Stepan Trophimowitsch hinhielt.
„Eh ... mais je crois que c’est l’Evangile ...[226] Aber mit dem größten Vergnügen ... Ah, ich verstehe ... Vous êtes ce qu’on appelle une[227] Bibelverkäuferin? Ich habe, glaub ich, vor nicht allzu langer Zeit so etwas gelesen ... Fünfzig Kopeken?“
„Fünfunddreißig Kopeken,“ antwortete die Bibelfrau.
„Mit dem größten Vergnügen. Je n’ai rien contre l’Evangile, et ...[228] Ich habe es schon lange wieder einmal lesen wollen ...“
Und im selben Augenblick kam es ihm zu Bewußtsein, daß er wohl seit dreißig Jahren keine Bibel mehr in der Hand gehabt hatte und sich überhaupt nur noch einiger Stellen erinnerte, die er vor ungefähr sieben Jahren in Renans „Vie de Jésus“[229] gelesen. Da er kein Kleingeld hatte, zog er seine vier Zehnrubelscheine hervor – alles, was er besaß. Die Wirtin erbot sich, ihm einen Schein auszuwechseln, und da erst bemerkte er, daß sich inzwischen ziemlich viel Volk im Zimmer versammelt hatte, das ihn wahrscheinlich schon lange beobachtete, jedenfalls aber über ihn sprach. Doch auch über den Brand wurde gesprochen, von dem der Besitzer des Wagens und der roten Kuh alles mögliche berichtete, da er in der Stadt gewesen war und mehr wußte, als die anderen. Man sprach auch von den Spigulinschen und darüber, daß man „absichtlich angezündet“ hätte.
„Mit mir hat er kein Wort über den Brand gesprochen, als er mich herfuhr, sondern nur über anderes,“ dachte Stepan Trophimowitsch flüchtig.
„Väterchen, Stepan Trophimowitsch, gnädiger Herr! Sind Sie es denn wirklich, den ich sehe? Ach Gott, das hätte ich aber wirklich schon gar nicht erwartet! ... Haben mich wohl nicht erkannt?“ rief plötzlich ein ältlicher Mann, der mit seinem glattrasierten Gesicht wie ein alter, altmodischer Hofsknecht aussah und einen langen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen trug. Stepan Trophimowitsch erschrak, als er seinen Namen rufen hörte.
„Verzeihen Sie,“ murmelte er, „aber ich kann mich Ihrer nicht mehr ganz deutlich erinnern ...“
„Haben mich vergessen, ach ja! Ich bin doch Anissim, Anissim Iwanoff. Ich diente beim seligen Herrn Gaganoff, und habe Euch, gnädiger Herr, mehr wie hundertmal mit Warwara Petrowna bei der seligen Awdotja Ssergejewna gesehn. Awdotja Ssergejewna aber hat mich mit Bücherchen nach Skworeschniki geschickt, ja, und zweimal habe ich Euch, gnädiger Herr, auch von ihr Petersburger Bonbons, oder wie sie da heißen, die Konfektchen, gebracht ...“
„Ach doch, ich erinnere mich, Anissim,“ sagte Stepan Trophimowitsch lächelnd. „Und du lebst jetzt hier?“
„Ich lebe bei Spassoff, im W–schen Kloster, in der Ansiedlung, bei Marfa Ssergejewna, bei der Schwester von unserer seligen Awdotja Ssergejewna, vielleicht erinnert sich der gnädige Herr noch, die sich das Bein brachen, als sie unterwegs aus dem Wagen sprangen – fuhren zum Ball. Jetzt leben sie allein beim Kloster und ich bin dortselbst bei ihr. Heute aber wollte ich, wie der Herr sehen, ins Gouvernement, um die Meinigen mal zu besuchen ...“
„Nun ja, nun ja.“
„Ach, hab ich mich was gefreut, als ich den gnädigen Herrn sah, waren immer so gnädig zu mir,“ sagte Anissim mit gerührtem Lächeln. „Aber wohin fährt denn der gnädige Herr, und noch so ganz allein? ... Sind doch sonstig, glaub ich, nie so allein ausgefahren?“
Stepan Trophimowitsch sah ihn erschrocken an.
„Fährt der gnädige Herr nicht vielleicht gerade zu uns, nach Spassoff?“
„Ja ... ja, ich fahre nach Spassoff. Il me semble que tout le monde va à Spassoff ...“[230]
„Ach, und vielleicht gar zu Fjodor Matwejewitsch selber? Ach, wird der sich aber freuen! Hat doch immer den gnädigen Herrn so geliebt und spricht auch jetzt oft vom gnädigen Herrn ...“
„Ja, ja, auch zu Fjodor Matwejewitsch.“
„Das muß wohl sein. Das muß wohl sein. Hier die Männer, die wundern sich, sagen, daß man den gnädigen Herrn zu Fuß unterwegs ganz allein getroffen hat. Aber was! Dummes Volk bleibt doch immer dummes Volk!“
„Ich ... Ich ... Weißt du, Anissim, ich habe gewettet, wie die Engländer das zuweilen machen, daß ich zu Fuß so und so viele Werst gehen könne, und da bin ich nun ...“
Schweiß trat ihm an den Schläfen und auf der Stirn hervor.
„Muß wohl sein, muß wohl sein ...“ meinte ohrenspitzend Anissim und hörte mit wahrhaft unbarmherziger Neugier zu. Aber Stepan Trophimowitsch hielt dem nicht stand. Er verwirrte sich so, daß er schon aufstehen wollte, um aus dem Hause zu laufen. Da wurde aber der Samowar gebracht, und im selben Augenblick kehrte auch die Bibelfrau zurück. Wie ein Mensch, der sich an seinen Retter wendet, so bat Stepan Trophimowitsch jetzt schnell die Bibelfrau, mit ihm Tee zu trinken. Da trat Anissim zurück und ging bald darauf aus dem Zimmer.
Unter dem Volk hatte sich tatsächlich schon die Frage erhoben: Was ist das für ein Mensch? War zu Fuß auf der Landstraße, sagt, er sei Lehrer, gekleidet ist er wie ein Ausländer und sprechen tut er wie ein kleines Kind, und mitunter antwortet er ganz so, als ob er fortgelaufen sei, und dabei hat er noch Geld! Kurz, es dauerte nicht lange und man begann zu erwägen, ob man nicht die Polizei benachrichtigen solle: „da es bei alledem in der Stadt auch nicht ganz ruhig ist.“ Da kam Anissim gerade zur rechten Zeit in den Flur und beruhigte schnell die Gemüter. Er verkündete dem ganzen Publikum, daß Stepan Trophimowitsch nicht so was, wie ein Lehrer, sondern „selber ein großer Gelehrter“ sei, der sich mit allen Wissenschaften beschäftigt, und früher sei er selber hiesiger Gutsbesitzer gewesen, lebe nun aber schon seit zweiundzwanzig Jahren im Hause der Generalin Stawrogina an Stelle des seligen Herrn, und in der ganzen Stadt sei er hoch angesehen und alle Menschen achteten ihn sehr. Im Adelsklub habe er oft an einem einzigen Abend an die tausend Rubel verspielt und dem Titel nach sei er „Rat“, was ebensoviel besagen wolle wie ein Oberstleutnant, also nur etwas weniger als ein voller Oberst. Und was das Geld anbeträfe, so könne man das, weil es doch die Generalin Stawrogin sei, gar nicht abzählen, usw., usw.
„Mais c’est une dame et très comme il faut,“[231] dachte inzwischen Stepan Trophimowitsch und seufzte wie erlöst nach dem Anissimschen Angriff auf. Mit angenehmer Neugier betrachtete er seine neue Nachbarin, die übrigens den Tee von der Untertasse trank und den Zucker vom Stückchen dazu biß. „Ce petit morceau de sucre ce n’est rien ...[232] Es ist etwas Edles und Unabhängiges und gleichzeitig – Stilles in ihr. Le comme il faut tout pur,[233] nur ein wenig wie von einer anderen Art.“
Bald erfuhr er von ihr, daß sie Ssofja Matwejewna Ulitina hieß und eigentlich in K. wohnte, wo sie eine verwitwete Schwester unter den Bäuerinnen hatte. Auch sie war Witwe, da ihr Mann bei Sebastopol gefallen war.
„Aber Sie sind noch so jung, vous n’avez pas trente ans.“[234]
„Vierunddreißig,“ sagte Ssofja Matwejewna lächelnd.
„Wie, Sie sprechen auch französisch?“
„Ein wenig nur: ich habe nachher in einem adligen Hause vier Jahre gelebt und da habe ich von den Kindern etwas gelernt.“
Sie erzählte ferner, daß sie nach dem Tode ihres Mannes zunächst in Sebastopol als barmherzige Schwester geblieben sei, darauf habe sie verschiedene Stellen gehabt und jetzt gehe sie und verkaufe Bibeln.
„Mais, mon Dieu,[235] waren Sie es vielleicht, mit der eine sonderbare, sogar sehr sonderbare Geschichte bei uns passierte?“
Sie wurde rot: sie war es tatsächlich gewesen.
„Ces vauriens, ces malheureux!“[236] ... begann Stepan Trophimowitsch mit einer Stimme, die vor Unwillen bebte: diese widerliche Erinnerung preßte ihm qualvoll das Herz zusammen und er verlor sich darob wieder in Gedanken.
„Ach, sie ist schon fortgegangen,“ dachte er erstaunt, als er plötzlich bemerkte, daß sie nicht mehr neben ihm saß. „Sie geht ziemlich oft fort und scheint ja mit irgend etwas sehr beschäftigt zu sein; ich glaube, sie ist sogar aufgeregt ... Bah, je deviens égoïste!“[237]
Als er nach einiger Zeit aufsah, erblickte er wieder Anissim, diesmal aber mit einer geradezu bedrohlichen Gefolgschaft: das halbe Zimmer war von Bauern eingenommen, die alle Stepan Trophimowitsch nach Spassoff fahren wollten. Außer Anissim standen noch da: der Besitzer des Hauses, ferner der Mann, der ihn hergefahren hatte, sodann mehrere andere Männer – wie es sich herausstellte, lauter Fuhrleute – und ein kleiner halbbetrunkener Mensch, der am allermeisten sprach, wie ein Tagelöhner gekleidet war, doch mit seinem rasierten Gesicht wie ein heruntergekommener Kleinbürger aussah. Und alle die zankten sich seinetwegen, zankten sich um den armen Stepan Trophimowitsch! Der Besitzer der Kuh versicherte in einem fort, daß im Wagen längs dem Ufer mindestens „vierzig Werst Umweg“ zu machen seien, und daß man unbedingt mit dem Dampfer fahren müsse. Der halbbetrunkene Kleinbürger dagegen und der Hauswirt widersprachen eifrig:
„Darum daß wenn du, mein Bruderherz, Seiner Hochwohlgeboren auch sagst, daß es über’n See wohl näher is, so is das wie’s is, aber der Dampfer kommt doch nich!“
„Wird kommen, er wird sicher kommen, noch ’ne ganze Woche wird er kommen!“ beteuerte Anissim aufgeregt.
„Schön, er kommt, das is wie’s is, aber er kommt doch nie nich akkurat, und jetzt is doch die Zeit schon spät, und da kommt’s vor, daß man ihn in Ustjewo runde drei Tage nich sieht!“ schimpfte der Halbbetrunkene.
„Morgen wird er sicher kommen, morgen um zwei Uhr, und in Spassoff kommt dann der gnädige Herr gerade noch zum Abend an!“ rief Anissim.
„Mais qu’est-ce qu’il a cet homme?“[238] fragte Stepan Trophimowitsch, der nicht wußte, um was es sich handelte, sich schon das Schlimmste dachte und zitternd sein Schicksal erwartete.
Da drängten sich schließlich die Fuhrleute immer näher und boten sich an: bis Ustjewo verlangte jeder von ihnen drei Rubel. Die anderen schrien, drei Rubel seien wirklich nicht zu viel, da man den ganzen Sommer hindurch von hier bis Ustjewo für diesen Preis gefahren habe.
„Aber ... hier ist es ja auch gut ... Ich will gar nicht fort,“ stammelte Stepan Trophimowitsch abwehrend.
„Hier ist’s gut, gnädiger Herr, das ist schon wahr, aber bei uns in Spassoff ist es noch weit besser, und was wird Fjodor Matwejewitsch über den Besuch sich freuen!“ ...
„Mon Dieu, mes amis,[239] das kommt mir alles so unerwartet ...“
Endlich kehrte zum Glück auch Ssofja Matwejewna zurück. Sie setzte sich aber traurig und wie zerschlagen auf die Bank.
„So komme ich denn schon nicht mehr nach Spassoff!“ sagte sie niedergeschlagen zur Wirtin.
„Wie, auch Sie wollen nach Spassoff?“ fragte Stepan Trophimowitsch plötzlich belebt.
Es stellte sich heraus, daß eine Gutsbesitzerin, Nadeschda Jegorowna Swetlizyna, der Bibelfrau gestern gesagt hatte, sie solle sie in Hatoff erwarten, da sie dort durchfahren und sie dann nach Spassoff mitnehmen werde. Nun aber traf diese Nadeschda Jegorowna noch immer nicht ein.
„Was soll ich jetzt tun?“ fragte Ssofja Matwejewna ängstlich.
„Mais, ma chère et nouvelle amie,[240] ich kann Sie doch gleichfalls, ganz wie diese Gutsbesitzerin, mitnehmen! ... in dieses, wie heißt es doch, in dieses Dorf, wohin ich fahre und den Fuhrmann schon angenommen habe! – nun, und morgen sind wir dann beide in Spassoff ...“
„Ja, fahren Sie denn auch nach Spassoff?“
„Mais que faire, et je suis enchanté![241] Und ich würde Sie mit dem größten Vergnügen hinbringen. Sehen Sie, die wollen es doch alle, daß ich hinfahre, und ich habe ja auch bereits einen ... Wen von euch habe ich denn nun engagiert?“ fragte Stepan Trophimowitsch lebhaft die Bauern, plötzlich sehr damit einverstanden, nach Spassoff zu fahren.
Eine Viertelstunde später saßen sie bereits in dem verdeckten Wagen: er ungemein angeregt und vollkommen zufrieden, sie mit ihrem Wachstuchsack und einem dankbaren Lächeln neben ihm. Anissim lief rund um den Wagen und bemühte sich wie für Geld.
„Glückliche Reise, gnädiger Herr, habe mich so gefreut über das Wiedersehen!“
„Adieu, adieu, leb wohl, mein Freund, leb wohl, adieu.“
„Der gnädige Herr wird nun auch Fjodor Matwejewitsch wiedersehen ...“
„Ja, mein Freund, ja ... auch Fjodor Pawlowitsch ... nur Adieu.“
„Sehen Sie, mein Freund – Sie erlauben mir doch, mich Ihren Freund zu nennen, n’est-ce pas?“[242] begann Stepan Trophimowitsch eilig, gleich nachdem sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte. „Sehen Sie, ich ... J’aime le peuple, c’est indispensable, mais il me semble que je ne l’avais jamais vu de près. Stasie ... cela va sans dire qu’elle est aussi du peuple ... mais le vrai peuple,[243] das heißt, das wirkliche, das auf der weiten Landstraße ist, das, glaube ich, bekümmert sich um weiter nichts in der Welt, als um dieses eine: wohin ich eigentlich fahre ... Doch übergehen wir die Kränkungen. Ich glaube, ich spreche heute etwas durcheinander, aber das kommt wohl nur, denke ich, von der Eile ...“
„Ich fürchte, Sie sind nicht ganz wohl,“ bemerkte Ssofja Matwejewna, die ihn prüfend, wenn auch ehrerbietig ansah.
„Nein, nein, man muß sich nur ein wenig fester einwickeln, und überhaupt ... der Wind ist etwas frisch, etwas zu frisch, aber ... vergessen wir das. Ja, die Hauptsache ... ich wollte eigentlich gar nicht das sagen. Chère et incomparable amie,[244] ich glaube, daß ich fast glücklich bin, und schuld daran – sind Sie! Mir tut das Glück nicht gut, denn dann vergebe ich gewöhnlich sofort allen meinen Feinden ...“
„Das ist aber doch sehr gut.“
„Nicht immer, chère innocente. L’Evangile ... Voyez-vous, désormais nous le prêcherons ensemble[245] und ich werde mit Freuden Ihre netten Büchlein da verkaufen. Ja, ich fühle, daß das sogar eine Idee ist, quelque chose de très nouveau dans ce genre.[246] Das Volk ist religiös, c’est admis,[247] aber es kennt noch nicht das Evangelium. Ich werde es ihm erklären ... In mündlicher Auslegung kann man leichter die Fehler dieses bemerkenswerten Buches korrigieren ... Dieses Buch ... – ich bin bereit, mich mit außerordentlicher Hochachtung zu diesem Buche zu verhalten. Ich werde auch auf der großen Landstraße nützlich sein können. Ich bin immer nützlich gewesen, ich habe ihnen das immer gesagt et à cette chère ingrate aussi[248] ... Oh, vergeben wir, vergeben wir, lassen Sie uns vor allem vergeben, und allen allen vergeben und immer vergeben. Und hoffen wir, daß man auch uns vergeben wird. Ja, denn alle, jeder einzelne ist vor dem anderen schuldig. Alle sind schuldig! ...“
„Das haben Sie, glaub ich, sehr schön gesagt.“
„Ja, ja ... Ich fühle, daß ich sehr gut spreche. Ich werde sehr schön zu ihnen reden, aber ... aber ... was wollte ich denn eigentlich sagen? Ich komme immer ab und vergesse ... Ja – würden Sie mir erlauben, mich nicht mehr von Ihnen zu trennen? Ich fühle, daß Ihr Blick und ... ich wundere mich sogar über Ihre Art und Weise. Sie sind gütig, Sie sprechen nur nicht ganz comme il faut[113] und gießen den Tee in die Untertasse ... und dazu dieses schreckliche Zuckerstückchen ... aber sonst ... – in Ihnen ist etwas Wunderbares, und ich sehe in Ihren Zügen ... Oh, erröten Sie nicht und fürchten Sie mich nicht als Mann! Chère et incomparable, pour moi une femme c’est tout![249] Ich kann nicht, kann überhaupt nicht anders leben, als neben einer Frau, aber eben nur neben ihr ... Das heißt, ich meine, ich wollte sagen ... Oh, ich glaube, ich habe mich da entsetzlich versprochen ... Nur kann ich mich nicht mehr darauf besinnen, was ich eigentlich sagen wollte. Oh, selig ist der, dem Gott immer eine Frau schickt und ... ich, ich glaube sogar, daß ich in einer gewissen Begeisterung bin. Auch in der großen Landstraße liegt eine höhere Idee! Ja, das – das war es ja, was ich von dem Gedanken sagen wollte! – jetzt ist es mir wieder eingefallen, vorhin hatte ich es ganz vergessen. Aber warum hat man uns fortgeschickt, in diesen Wagen gedrängt? Dort war es doch sehr schön, hier aber – cela devient trop froid. A propos, j’ai en tout quarante roubles et voilà cet argent,[250] nehmen Sie es, nehmen Sie es, ich verstehe nichts davon ... ich verliere es, man wird es mir stehlen, und ... Ich glaube, ich würde ganz gern ein wenig schlafen ... es dreht sich da irgend etwas in meinem Kopf. Ja, so, es dreht sich, dreht sich, dreht sich. Oh, wie Sie gut sind, womit decken Sie mich denn zu?“
„Sie haben bestimmt eine gehörige Erkältung weg! Ich habe Sie mit meiner Decke zugedeckt, aber das Geld würde ich ...“
„Oh, um Gottes willen, n’en parlons plus, parce que cela me fait mal,[251] oh, wie gut Sie sind!“
Er hörte seltsam plötzlich auf zu sprechen und verfiel ungewöhnlich schnell in fieberhaften Schlaf.
Der Landweg, auf dem sie siebzehn Werst bis Ustjewo zurückzulegen hatten, war recht uneben und der Wagen auch nicht gerade sehr elastisch. Stepan Trophimowitsch wachte von den Stößen oft auf, erhob sich dann schnell von dem kleinen Kissen, das Ssofja Matwejewna ihm unter den Kopf geschoben hatte, erfaßte erschrocken ihre Hand und fragte ängstlich: „Sind Sie da?“ ganz, als ob er gefürchtet hatte, sie könnte weggehen und ihn allein lassen. Einmal sagte er, daß er im Traum einen offenen Rachen mit scharfen Zähnen gesehen habe, und daß ihm das sehr unangenehm gewesen sei. Ssofja Matwejewna machte sich schon nicht wenig Sorgen um ihn.
Der Fuhrmann brachte sie zu einem großen Bauernhause, das vier Fenster zur Straße und auf dem Hof noch verschiedene Wohngebäude hatte. Stepan Trophimowitsch, der gerade in dem Augenblick der Ankunft aufwachte, stieg schnell aus und ging sofort ins zweite, das größte und beste Zimmer. Sein verschlafenes Gesicht nahm einen ungemein geschäftigen Ausdruck an. Er erklärte der Wirtin, einem großen, vierzigjährigen, sehr brünetten Weibe, das auf der Oberlippe fast einen Schnurrbart hatte, er wünsche das ganze Zimmer für sich allein und „daß Sie mir keinen Menschen hier herein lassen, schließen Sie die Türen zu, parce que nous avons à parler. Oui, j’ai beaucoup à vous dire, chère amie.[252] – Ich bezahle Ihnen alles, ich bezahle, bezahle!“ rief er, der Wirtin erregt abwinkend.
Er sprach rasch, aber doch wie mit schwerer Zunge.
Die Bäuerin hörte ihn unfreundlich an, und zum Zeichen des Einverständnisses schwieg sie nur; darin lag aber schon gleichsam etwas Drohendes. Stepan Trophimowitsch bemerkte davon natürlich nichts und verlangte eilig – er beeilte sich entsetzlich –, sie solle nur schnell aus dem Zimmer gehen und ihm sofort das Essen bringen – „und keine Zeit vertrödeln!“ fügte er hinzu.
Da aber hielt die Bäuerin mit dem Schnurrbart nicht mehr an sich:
„Herr, das ist hier kein Gasthaus, wir haben kein Essen für die Reisenden. Krebse kann ich Ihnen noch kochen oder einen Samowar aufstellen, aber weiter auch nichts. Frischen Fisch wird’s erst morgen geben.“
Doch Stepan Trophimowitsch ertrug keinen Einwand und rief fuchtelnd in zorniger Ungeduld: „Bezahle, bezahle alles, nur schneller, schneller!“ Endlich kamen sie dahin überein, daß eine Fischsuppe gekocht und ein Huhn gebraten werden sollte. Die Bäuerin sagte zwar, daß ein Huhn im ganzen Dorf nicht zu haben sei, einstweilen aber wollte sie doch versuchen, eines aufzutreiben, wenn sie es auch mit einer Miene versprach, als ob sie damit eine ungeheure Gefälligkeit erweise.
Kaum war sie aus dem Zimmer, als Stepan Trophimowitsch sich schnell auf den Diwan setzte und Ssofja Matwejewna zwang, sich neben ihn zu setzen. Es war, für eine Bauernstube, ein recht eigentümlich möbliertes großes Zimmer. Außer einem gepolsterten Sofa standen noch zwei alte Lehnstühle darin, und an den Wänden, die mit alten gelben, zerrissenen Tapeten beklebt waren, hingen schauderhafte mythologische Öldruckbilder. Nur eine Ecke war noch Bauernstube: mit einer langen Reihe von Heiligenbildern, teils auf Holz, teils in dreiteiligen Metallschränkchen. In einer anderen Ecke stand hinter einer niedrigen Scheidewand ein Bett. Kurz, das Zimmer machte mit seiner halb städtischen, halb bäurischen Einrichtung einen unschönen Eindruck. Doch Stepan Trophimowitsch sah das alles überhaupt nicht, ja er warf überhaupt nicht einmal einen Blick durch das Fenster auf den großen See, der kaum dreißig Schritte vom Hause begann.
„Endlich sind wir allein! Wir werden niemanden hereinlassen! Ich will Ihnen alles, alles, von Anfang an erzählen.“
Doch Ssofja Matwejewna fiel ihm in nicht geringer Unruhe ins Wort:
„Wissen Sie auch, Stepan Trophimowitsch ...“
„Comment, vous savez déjà mon nom?“[253] fragte er, freudig lächelnd ...
„Ich hörte vorhin, wie Anissim Iwanowitsch Sie anredete, als Sie mit ihm sprachen. Aber ich möchte es wagen, Sie meinerseits auf etwas aufmerksam zu machen ...“
Und sie flüsterte ihm, ängstlich nach der geschlossenen Tür blickend, zu, daß es hier im Dorf ein wahrer Jammer sei: die Bauern seien zwar von Hause aus Fischer, lebten aber mehr davon, daß sie im Sommer von den Reisenden, die hier auf das Dampfschiff warteten, so viel Geld verlangten, wie ihnen gerade einfiel. Das Dorf liege nicht an der großen Landstraße, sondern abseits, und man komme nur deswegen hierher, weil der Dampfer hier anlege, wenn aber nur etwas schlechteres Wetter sei, so komme er überhaupt nicht, und dann sammelten sich hier sehr viele Reisende an: jetzt zum Beispiel sei schon das ganze Dorf besetzt, und darauf warteten die Hauswirte nur, denn dann könnten sie für alles das Dreifache verlangen, der Mann aber dieser Bäuerin mit dem Schnurrbart sei sehr stolz und hochmütig, denn er sei der reichste Mann im Dorf, ein einziges seiner Netze koste allein schon an die tausend Rubel usw. usw.
Stepan Trophimowitsch blickte geradezu vorwurfsvoll in das ungewöhnlich belebte Gesicht Ssofja Matwejewnas und machte mehrmals den Versuch, sie zu unterbrechen. Sie aber ließ sich nicht aufhalten und bekräftigte das Gesagte noch mit der Erzählung ihrer Erfahrungen, die sie im letzten Sommer auf der Durchreise mit einer adligen Dame hier gemacht hatte, – Erfahrungen, an die auch nur zurückzudenken für sie schon furchtbar war.
„Und nun haben Sie, Stepan Trophimowitsch, dieses Zimmer für sich ganz allein verlangt ... Ich sage es ja nur, um zu warnen ... Dort im anderen Zimmer sind schon viele Reisende, ein älterer Mann und ein jüngerer Mann und noch eine Frau mit Kindern, und bis morgen zwei Uhr wird das ganze Haus bis zum Dach voll sein, da das Dampfschiff morgen bestimmt kommen wird, weil es jetzt schon zwei Tage nicht mehr gekommen ist. Und so werden denn die Leute für das besondere Zimmer und dafür, daß Sie das Essen bestellt haben, so viel von Ihnen verlangen, daß es selbst in den Hauptstädten unerhört wäre ...“
Er aber litt, litt inzwischen aufrichtig.
„Assez, mon enfant, ich flehe Sie an, nous avons notre argent et après – et après le bon Dieu.[254] Es wundert mich nur, daß Sie mit Ihren hohen Auffassungen ... Assez, assez, vous me tourmentez,“[255] rief er nervös. „Vor uns liegt unsere ganze Zukunft, und Sie ... Sie wollen mir Angst machen vor der Zukunft ...“
Und er begann nun, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen, wobei er zu Anfang dermaßen schnell sprach, daß es schwer war, zu folgen. Die Geschichte war sehr lang. Man brachte schon die Fischsuppe, brachte das Huhn, brachte endlich auch den Samowar, er aber sprach immer noch ... Es kam zwar alles ein wenig seltsam, wie eine Fieberphantasie, heraus, aber – er war ja auch tatsächlich krank. Das war eine plötzliche krampfhafte Anspannung seiner Verstandeskräfte, die in kurzer Zeit – das sah Ssofja Matwejewna schon bekümmert voraus – unfehlbar ins Gegenteil umschlagen mußte.
Er begann mit seiner Kindheit, also mit der Zeit, als er noch „mit frischer Brust über grüne Wiesen lief“. Erst nach einer Stunde hatte er sich bis zu seinen beiden Ehen durchgearbeitet und dann begann die Erzählung des Berliner Lebens. Ich wage aber nicht, darüber zu spotten. Es lag für ihn tatsächlich etwas „Höheres“ darin, oder um einen Ausdruck unserer Zeit zu gebrauchen: eine Art Kampf ums Dasein. Er sah jetzt diejenige Frau vor sich, die er schon für sein zukünftiges Leben erwählt hatte, und er beeilte sich, sie in seine ganze Vergangenheit einzuweihen. Seine Genialität sollte für sie kein Geheimnis mehr bleiben ... Es ist wahrscheinlich, daß er Ssofja Matwejewnas Wert und Bedeutung vor sich selbst stark vergrößerte, aber das hatte weiter nichts auf sich, denn sie war jetzt schon seine Erwählte. Er konnte nun einmal nicht ohne Freundin auskommen auf der Welt ... Was machte es ihm da aus, daß er ihrem Gesicht ansah, wie wenig sie ihn verstand ...
„Ce n’est rien, nous attendrons,[256] und vorläufig wird sie mit dem Vorgefühl begreifen können ...,“ meinte er bei sich.
„Mein Freund, ich brauche ja von Ihnen einzig und allein Ihr Herz!“ rief er ihr, seine Erzählung unterbrechend, begeistert zu, „und jetzt dieser liebe, berückende Blick, mit dem Sie mir in die Augen sehen! Oh, erröten Sie nicht! Ich habe Ihnen doch schon gesagt ...“
Am schleierhaftesten aber erschien die Geschichte der armen Ssofja Matwejewna, als er eine ordentliche Rede über das Thema hielt: „wie ihn niemand je hat verstehen können“ und wie „bei uns in Rußland die Talente umkommen“. „Das war alles viel zu klug für mich,“ sagte sie uns später melancholisch. Sie hörte ihm dabei mit sichtlichem Mitgefühl zu, wobei sie die Augen nur ein wenig weiter aufriß. Als sich aber Stepan Trophimowitsch auf den Humor warf und die geistreichsten Witzchen über unsere „Führenden und Herrschenden“ lossprühen ließ, da verließ sie alles und jedes Verständnis und nur aus Mitgefühl mit dem Kranken versuchte sie noch zuweilen ein Lächeln zustande zu bringen, um wenigstens ein wenig auf seine Heiterkeit einzugehen, doch es gelang ihr so schlecht, daß Stepan Trophimowitsch schließlich selber ganz verwirrt davon abließ und mit noch größerer Wut und Bitterkeit auf die „Nihilisten“ und „neuen Menschen“ überging. Da aber wurde es ihr angst und bange zumut, und sie atmete erst wieder auf – leider nur viel zu früh –, als der eigentliche Roman begann. Eine Frau bleibt immer Frau und wenn sie auch Nonne ist: so lächelte sie denn, schüttelte mißbilligend den Kopf und errötete mit gesenkten Augen, wodurch sie Stepan Trophimowitsch dermaßen in Ekstase brachte, daß er noch vieles hinzudichtete. Warwara Petrowna erschien in seiner Erzählung als wunderschöne Brünette – „die Petersburg und noch viele europäische Hauptstädte entzückt hat“ – deren Mann „bei Sebastopol gefallen“ war und das einzig darum, weil er sich ihrer Liebe nicht für würdig und sich für verpflichtet gehalten hatte, sie demjenigen, den sie in Wirklichkeit liebte, das heißt also Stepan Trophimowitsch, abzutreten ...
„Oh, werden Sie nicht verlegen, meine Stille, meine Christin!“ rief er Ssofja Matwejewna zu, als er fast schon selbst daran glaubte, was er erzählte. „Das war etwas Höheres, etwas so Zartes, daß wir uns beide das ganze Leben lang nicht ausgesprochen haben!“
Als Grund einer solchen Lage der Dinge erschien darauf im weiteren Verlaufe der Erzählung eine schöne Blondine (wenn man darunter nicht Darja Pawlowna verstehen soll, so weiß ich wirklich nicht, wen Stepan Trophimowitsch damit gemeint haben könnte). Diese Blondine verdankte alles, was sie besaß, der Brünetten, die sie erzogen hatte und deren weitläufige Verwandte sie war. Die Brünette aber bemerkte bald die Liebe der Blonden zu Stepan Trophimowitsch und zog sich in sich selbst zurück. Die Blonde aber bemerkte gleichfalls die Liebe der Brünetten zu Stepan Trophimowitsch und zog sich auch in sich selbst zurück. Und so schwiegen sie denn alle drei, alle drei in sich selbst zurückgezogen, alle drei nichts als verkörperter Edelmut, und das währte dann zwanzig Jahre lang ...
„Oh, was war das doch für eine Liebe, was war das doch für eine Leidenschaft!“ rief er in aufrichtigster Begeisterung aufschluchzend aus. „Ich sah die volle Blüte ihrer Schönheit“ (der Brünetten), „sah sie mit wundem Herzen täglich an mir vorüberziehen, sie, die das stolze Haupt neigte, als schäme sie sich ihrer Schönheit!“ Einmal sagte er statt ihrer Schönheit: „ihrer Fülle“. Schließlich behauptete er, er sei jetzt erst aus diesem zwanzigjährigen Traume erwacht. – „Vingt ans![72] Und nun plötzlich auf der großen Landstraße ...“ Darauf folgte dann zum Schluß – wahrscheinlich in einem Augenblick noch größerer Benommenheit – die Erklärung dessen, was die heutige zufällige und doch so entscheidende Begegnung mit Ssofja Matwejewna für ihn wie für sie bedeutete.
Ssofja Matwejewna erhob sich in schrecklichster Verlegenheit vom Sofa. Und als er gar noch den Versuch machte, vor ihr auf die Knie zu fallen, da begann sie vor Schreck zu weinen.
Die Dämmerstunde neigte sich schon dem Abend zu: beide hatten sie bereits etliche Stunden in dem verschlossenen Zimmer verbracht ...
„Ach nein, lassen Sie mich jetzt schon lieber in das andere Zimmer,“ flüsterte sie erregt, „denn was werden sonst die Leute denken!“
Endlich gelang es ihr, sich frei zu machen; er aber versprach ihr folgsam, sich sofort ins Bett zu legen. Beim Abschied klagte er, daß er starke Kopfschmerzen habe. Ssofja Matwejewna hatte ihre Sachen im vorderen Zimmer gelassen, wo sie mit den anderen zusammen zu übernachten beabsichtigte; doch es sollte anders kommen.
In der Nacht geschah es nämlich, daß sich bei Stepan Trophimowitsch die mir und all seinen Freunden so wohlbekannte Cholerine einstellte, wie gewöhnlich nach nervösen Aufregungen. Die arme Ssofja Matwejewna kam also die ganze Nacht nicht zum schlafen. Da sie bei der Wartung des Kranken häufig durch das vordere Familienzimmer aus dem Hause gehen mußte, so störte sie die Schlafenden, die bald aufwachten und ungehalten wurden. Und als Ssofja Matwejewna zum Morgen hin gar den Samowar aufstellen wollte, da begannen sie auch noch zu schimpfen.
Stepan Trophimowitsch war so lange, wie die Cholerine andauerte, halb bewußtlos: zuweilen schien es ihm wie durch einen Nebel, daß man den Samowar aufstellte, daß man ihm ein Himbeergetränk zu trinken gab, daß man ihm mit irgend etwas den Magen und die Brust wärmte. Dabei fühlte er die ganze Zeit und empfand es jeden Augenblick, daß „Sie“ bei ihm war und für ihn sorgte, daß „Sie“ es war, die da kam und ging, die ihn zudeckte und wärmte! Um drei Uhr morgens wurde ihm ein wenig besser: er setzte sich auf, ließ die Beine über den Bettrand baumeln, und plötzlich, ohne sich dabei etwas zu denken, fiel er vor ihr auf die Knie. Dieser zweite Kniefall war nicht mehr so harmlos wie der erste: er fiel ihr einfach zu Füßen und küßte „den Saum ihres Kleides“ ...
„Um Gottes willen, ich bin das doch gar nicht wert,“ stammelte die Arme erschrocken und bemühte sich vergeblich, ihn wieder auf das Bett zu heben.
„Meine Retterin,“ hauchte er andächtig und faltete wie im Gebet die Hände. „Vous êtes noble comme une marquise![257] Ich – ich bin ein Nichtswürdiger! Oh, ich bin mein ganzes Leben lang ehrlos gewesen ...“
„Ach, beruhigen Sie sich doch, bitte!“ flehte Ssofja Matwejewna.
„Ich habe Ihnen vorhin alles vorgelogen, aus Ruhmsucht, zur Verschönerung, aus Eitelkeit, – alles, alles, bis aufs letzte Wort! Ich Nichtswürdiger, ich Nichtswürdiger!“
So ging denn der Anfall von Cholerine in einen Anfall hysterischer Selbstbeschuldigung über. (Ich habe ja schon früher von diesen Anfällen, bei Gelegenheit der Reuebriefe an Warwara Petrowna, gesprochen.) Plötzlich erinnerte er sich jetzt Lisas und der Begegnung mit ihr am Morgen.
„Das war so furchtbar,“ sagte er, „da war bestimmt ein Unglück geschehen, ich aber habe in meinem Egoismus nicht einmal gefragt, und nun weiß ich auch nichts! Ich habe nur an mich gedacht! Aber was war denn mit ihr geschehen, wissen Sie es nicht, was da geschehen ist?“ flehte er wieder Ssofja Matwejewna an.
Gleich darauf schwor er, daß er nicht „untreu“ werden könne und zu „Ihr“ – d. h. zu Warwara Petrowna – zurückkehren müsse.
„Wir werden jeden Tag zu ihrer Treppe gehen“ (das hieß nun wieder er mit Ssofja Matwejewna zusammen) „und wenn sie sich in ihre Equipage setzt, um ihre Morgenspazierfahrt zu machen, so werden wir still zusehen ... Oh, ich will, daß sie mich auch auf die andere Wange schlägt: mit Begeisterung will ich es! Ich werde ihr auch meine andere Wange hinhalten, comme dans votre livre![258] Jetzt habe ich ... ja, jetzt erst habe ich verstanden, was das heißt, seine andere Wange ... hinhalten. Ich habe das früher niemals verstehen können!“
Für Ssofja Matwejewna waren das die zwei furchtbarsten Tage ihres Lebens: noch heute denkt sie nicht anders als mit Schrecken an sie zurück. Stepan Trophimowitsch erkrankte so ernstlich, daß er am nächsten Tage unmöglich mit dem Dampfschiff, das diesmal pünktlich um zwei Uhr ankam, nach Spassoff weiterfahren konnte, sie aber wagte es nicht, ihn allein zu lassen, und so blieb sie denn in Ustjewo bei ihm. Nach ihren Worten soll er sich sogar sehr darüber gefreut haben, daß das Dampfschiff endlich fortgefahren war:
„Nun und wunderschön, so ist es sehr gut, sehr gut,“ murmelte er aus dem Bett heraus, „ich fürchtete schon die ganze Zeit, daß wir fortfahren müssen. Hier aber ist es sehr schön, hier ist es am besten ... Sie werden mich doch nicht verlassen? O nein, Sie verlassen mich nie mehr!“
Einstweilen war es aber „hier“ durchaus nicht so schön. Er wollte jedoch nichts von ihren Unannehmlichkeiten wissen. In seinem Kopf war jetzt nur Platz für eine Menge Phantasien. An seine Krankheit dachte er überhaupt nicht, denn er hielt sie ja nur für eine schnell vorübergehende Erkältung, und sprach die ganze Zeit davon, wie sie beide, wenn er erst wieder gesund sei, „diese kleinen Bücher“ verkaufen würden. Und plötzlich bat er sie, ihm aus dem Evangelium vorzulesen.
„Ich habe es lange nicht mehr gelesen ... im Original. Aber, nicht wahr, es könnte mich doch jemand beim Kauf eines dieser kleinen Bücher dies oder jenes fragen, und dann könnte ich mich irren ... Man muß sich doch immerhin etwas vorbereiten ...“
Sie setzte sich an sein Bett und schlug das Buch auf.
„Sie lesen vorzüglich,“ unterbrach er sie schon nach der ersten Zeile. „Ich sehe schon, ich sehe, daß ich mich nicht getäuscht habe!“ fügte er unklar, aber begeistert hinzu.
Und überhaupt war er die ganze Zeit in einem ununterbrochen begeisterten Zustande.
Sie begann ihm die Bergpredigt vorzulesen.
„Assez, assez, mon enfant,[259] genug ... Glauben Sie wirklich, daß das noch immer nicht genug ist?“
Und kraftlos schloß er die Augen. Er war sehr schwach, doch verlor er noch nicht die Besinnung. Da erhob sich denn Ssofja Matwejewna, da sie glaubte, daß er schlafen wolle. Aber siehe da – er war sofort wieder wach und hielt sie zurück.
„Mein Freund, ich habe mein Lebelang gelogen. Selbst dann, wenn ich die Wahrheit sprach. Ich habe nie um der Wahrheit willen gesprochen, sondern immer nur für mich, das habe ich auch früher schon gewußt, aber jetzt erst sehe ich es so recht ein ... Oh, wo sind diese Freunde, die ich mit meiner Freundschaft zeitlebens beleidigt habe?! Und sie alle, alle! Savez-vous,[260] ich glaube, ich lüge auch jetzt! Bestimmt lüge ich auch jetzt! Die Hauptsache ist, daß ich mir selbst glaube, wenn ich lüge! Am allerschwersten ist es im Leben, zu leben und nicht zu lügen ... und ... und den eigenen Lügen nicht zu glauben, ja, ja, gerade das! Aber warten Sie, das kommt alles später ... Wir werden zusammen, zusammen ...“ fügte er plötzlich enthusiastisch hinzu.
„Stepan Trophimowitsch,“ begann Ssofja Matwejewna zaghaft, „sollte man nicht in die Stadt nach einem Arzt schicken?“
Er war maßlos erstaunt.
„Warum? Est-ce que je suis si malade? Mais rien de sérieux.[261] Und wozu andere Menschen? Dann wird man es noch erfahren, daß ich hier bin, und – was wird dann sein? Nein, nein, keine fremden Menschen ... wir beide, wir beide!“
„Wissen Sie,“ sagte er nach kurzem Schweigen, „lesen Sie mir noch etwas vor, so, schlagen Sie auf gut Glück das Buch auf und lesen Sie das, worauf Ihr Blick zuerst fällt.“
Ssofja Matwejewna schlug das Buch auf und las.
„Wo es sich von selbst aufschlägt, wo es sich von selbst aufschlägt,“ wiederholte er.
„‚Und dem Engel ... –‘“
„Was ist das? Woraus? Woraus ist das?“
„Das ist aus der Apokalypse.“
„Oh, je m’en souviens, oui, l’Apocalipse. Lisez, lisez.[262] Ich wollte über unsere Zukunft etwas hören, darum ließ ich Sie so eine Stelle auf gut Glück lesen, ich will wissen, was Sie da gefunden haben. Lesen Sie weiter, vom Engel, vom Engel ...“
„‚Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe: Das sagt Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt, und bedarf nichts; und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß.‘“
„Das ... und das steht in Ihrem Buch!“ rief er erregt, mit glänzenden Augen, und erhob sich vom Kissen, „diese wundervolle Stelle habe ich nie gekannt! Hören Sie: eher kalt, kalt, als lau, nur lau! Oh, ich werde ihnen das auslegen! Nur verlassen Sie mich nicht, lassen Sie mich nicht allein! Wir werden es ihnen beweisen, wir werden es auslegen!“
„Aber ich werde Sie ja nicht verlassen, Stepan Trophimowitsch, beruhigen Sie sich, ich werde Sie nie verlassen!“ sagte sie und erfaßte seine Hand, die sie mit Tränen in den Augen an ihre Brust drückte. („Er tat mir schon gar zu leid in diesem Augenblick,“ erzählte sie uns später.)
Seine Lippen begannen zu zucken wie im Krampf.
„Aber, Stepan Trophimowitsch, soll man nicht doch jemanden von den Ihrigen benachrichtigen lassen, oder vielleicht auch – Ihre Bekannten?“
Da aber erschrak er dermaßen, daß sie ganz unglücklich darüber war, ihn noch einmal daran erinnert zu haben. Zitternd und bebend flehte er sie an, „nur um Gottes willen niemanden zu benachrichtigen, noch sonst etwas zu tun!“ Und er nahm ihr das Wort ab und beschwor sie: „Niemanden, niemanden! Wir allein, nur wir beide allein, et nous partirons ensemble.“[263]
Schlimm war es auch, daß sich die Hauswirte beunruhigten, ungehalten wurden und der armen Ssofja Matwejewna auf den Hals rückten. Sie bezahlte ihnen und zeigte ihnen Geld: damit beruhigte sie sie für einige Zeit; aber der Wirt wollte die Legitimationspapiere Stepan Trophimowitschs sehen. Der Kranke wies mit hochmütigem Lächeln auf seinen kleinen Reisekoffer, in dem Ssofja Matwejewna denn auch einen alten Ausweis fand. Bald aber verlangte der Bauer, daß man den Kranken fortschaffen solle, denn er könne schließlich sterben und was gäbe das dann für Scherereien. Ssofja Matwejewna sprach auch mit ihm über den Arzt, doch es stellte sich heraus, daß, wenn man ihn aus der Stadt holen wollte, die Kosten unerschwinglich wären. Und so kehrte sie denn niedergeschlagen zu ihrem Kranken zurück, der allmählich schwächer und schwächer wurde.
„Jetzt lesen Sie mir noch eine Stelle vor ... von den Schweinen,“ sagte er plötzlich.
„Wovon?“ fragte Ssofja Matwejewna entsetzt.
„Von den Schweinen ... das ist auch hier ... ces cochons[264] ... ich erinnere mich, die Teufel fuhren in die Schweine und die Schweine stürzten sich in den See und kamen alle um. Lesen Sie mir das unbedingt vor: ich werde Ihnen nachher sagen, wozu ... Ich will es wortwörtlich hören, wortwörtlich ...“
Ssofja Matwejewna kannte die Bibel gut und fand sofort jene Stelle aus Lukas, Kapitel 8, 32–37, die ich der Erzählung all dieser Ereignisse vorgeschrieben habe. Ich bringe sie hier noch einmal:
„‚Es war aber daselbst eine große Herde Säue an der Weide auf dem Berge. Und sie baten ihn, daß er ihnen erlaubte, in dieselben zu fahren. Und er erlaubte ihnen.
Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen, und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich vom Abhange in den See, und ersoffen.
Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündigten’s in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen sie hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesu, und fanden den Menschen, von welchem die Teufel ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und sie erschraken.
Und die es gesehen hatten, verkündigten’s ihnen, wie der Besessene war gesund worden.‘“
„Mein Freund,“ sagte Stepan Trophimowitsch in großer Erregung, „savez-vous, diese wundervolle und ... ungewöhnliche Stelle ist mir mein ganzes Leben lang ein Stein des Anstoßes gewesen ... dans ce livre[265] ... so daß ich diese Stelle noch aus der Kindheit – behalten habe. Jetzt aber ist mir ein neuer Gedanke gekommen, une comparaison.[266] Ich habe jetzt furchtbar viele Gedanken: Sehen Sie, das ist genau so wie unser Rußland. Diese Teufel und Dämonen, die aus dem Besessenen in die Schweine fahren – das sind alle schlechten Säfte, alle Miasmen, aller Schmutz, alle Teufel und Beelzebuben, die sich in unserem lieben Kranken, in unserem Rußland angesammelt haben, schon seit vielen, vielen Jahrhunderten! Oui, cette Russie, que j’aimais toujours.[267] Aber ein großer Gedanke und ein mächtiger Wille werden es aus der Höhe segnen, ganz wie diesen wahnsinnigen Besessenen, und alle diese Unreinlichkeit, diese ganze Gemeinheit, die sich auf der Oberfläche angesammelt hat und langsam angefault ist ... sie werden noch selbst darum bitten, in die Schweine fahren zu dürfen! Ja, und sie sind ja vielleicht schon hineingefahren! Das sind wir, wir und jene und Petruscha ... et les autres avec lui,[268] und ich vielleicht der erste an der Spitze, und wir werden uns, wir Wahnsinnigen und Besessenen, vom Fels in das Meer stürzen und alle ertrinken, und dorthin gehören wir auch, dahin müssen wir, denn nur dazu allein taugen wir noch! Aber der Kranke selbst wird wieder gesunden und wird sich ‚zu Füßen Jesu‘ setzen ... und alle werden ihn mit Verwunderung schauen ... Meine Liebe, vous comprendrez après, jetzt aber regt mich das sehr auf ... Vous comprendrez après ... Nous comprendrons ensemble.“[269]
Er begann zu phantasieren und schließlich verlor er das Bewußtsein. So verging der ganze folgende Tag. Ssofja Matwejewna saß an seinem Bett und weinte, schlief schon die dritte Nacht nicht und vermied es nach Möglichkeit, den Wirtsleuten unter die Augen zu kommen, denn sie ahnte schon, daß diese irgend etwas beabsichtigten. Am nächsten Morgen wachte Stepan Trophimowitsch auf, erkannte sie wieder und streckte ihr die Hand entgegen. Sie bekreuzte sich mit neuer Hoffnung. Er aber wollte plötzlich aus dem Fenster sehen.
„Tiens, un lac,“[270] sagte er, „ach Gott, und ich habe ihn noch gar nicht gesehen ...“
In diesem Augenblick rollte eine Equipage vor das Haus und in den Zimmern wurde es lebendig.
Es war Warwara Petrowna in eigener Person, die mit einem Viererzug in ihrer größten Equipage mit zwei Dienern und Darja Pawlowna angefahren kam. Das Wunder erklärte sich sehr einfach: der neugierige Anissim war in der Stadt gleich am anderen Tage in das Haus Warwara Petrownas gegangen und hatte dort den Dienstboten erzählt, daß er Stepan Trophimowitsch allein in einem Dorf angetroffen habe, und daß der gnädige Herr von dort nach Ustjewo weitergefahren sei, und zwar in Begleitung einer gewissen Ssofja Matwejewna. Da nun Warwara Petrowna sich über die Flucht ihres Freundes sehr aufgeregt und überall nach ihm zu fragen und zu forschen befohlen hatte, so war ihr sogleich gemeldet worden, was Anissim erzählt hatte. Selbstredend mußte Anissim nun unverzüglich vor der Herrin erscheinen und alles nochmals erzählen, und nachdem sie ihn aufmerksam angehört hatte – besonders die Schilderung der Abfahrt in einem Wagen mit irgendeiner Ssofja Matwejewna –, da ward noch im selben Augenblick die Equipage bestellt. Auf frischer Spur ging’s dem Flüchtling nach. Von seiner Krankheit wußte sie natürlich noch nichts.
Ihre strenge und befehlende Stimme machte selbst den Wirtsleuten bange. Sie ließ hier nur halten, um sich zu erkundigen, wann Stepan Trophimowitsch nach Spassoff weitergefahren sei. Als sie nun erfuhr, daß er noch da war und krank zu Bett lag, da stieg sie sofort aus und trat erregt in das Haus.
„Nun, wo ist er denn hier?“ fragte sie. „Ah, das bist du!“ rief sie plötzlich, als sie Ssofja Matwejewna, die gerade in diesem Augenblick aus dem Krankenzimmer trat, in der Tür erblickte. „Ich sehe es schon deinem schamlosen Gesichte an, daß du es bist. Hinaus, Schändliche! Daß mir sofort keine Spur mehr von ihr im Hause bleibe! Jagt sie hinaus, – geh! oder ich lasse dich auf ewig ins Gefängnis stecken! Bewacht sie mir solange in einem anderen Hause. Sie hat ja schon einmal im Gefängnis gesessen, kann also wieder hinein. Und du,“ wandte sie sich befehlend an den Hauswirt, „daß du mir nicht wagst, jemanden hereinzulassen, solange ich hier bin! Ich bin die Generalin Stawrogina und nehme das ganze Haus für mich in Beschlag. Du aber, meine Beste, du wirst mir noch Rede stehen!“
Die bekannte Stimme wirkte erschütternd auf Stepan Trophimowitsch. Er begann zu zittern. Aber da trat sie schon ins Zimmer, trat an sein Bett. Ihre Augen blitzten. Sie stieß mit dem Fuß einen Stuhl heran, setzte sich, lehnte sich steif zurück und rief Dascha unwillig zu:
„Geh vorläufig hinaus! Kannst solange bei den Wirtsleuten bleiben! Was ist das plötzlich für eine Neugier? Und die Tür zieh hinter dir etwas fester zu!“
Eine ganze Weile fixierte sie stumm, mit einem seltsamen Raubtierblick sein erschrockenes Gesicht.
„Nun, wie geht es Ihnen, Stepan Trophimowitsch? Wie war denn der Spaziergang?“ fragte sie plötzlich mit grimmiger Ironie.
„Chère,“ stotterte Stepan Trophimowitsch wie benommen, „ich habe die russische Wirklichkeit kennen gelernt ... Et je prêcherai l’Evangile ...“[271]
„Oh, Sie schamloser, undankbarer Mensch!“ rief sie zornig aus, die Hände erhebend. „Ist es Ihnen noch nicht genug, daß Sie mich so bloßstellen und mit irgendeiner ... Oh, Sie alter, schamloser Wüstling!“
„Chère ...“
Seine Stimme versagte und er konnte nichts mehr hervorbringen, er sah sie vor Entsetzen nur mit weit offenen Augen an.
„Was ist das für eine?“
„C’est un ange ... C’était plus qu’un ange pour moi,[272] sie hat die ganze Nacht ... Oh, schreien Sie nicht, erschrecken Sie sie nicht, chère, chère ...“
Warwara Petrowna sprang plötzlich polternd vom Stuhl auf; angstvoll rief sie: „Wasser, Wasser!“
Stepan Trophimowitsch kam allerdings schon wieder zu sich, aber sie zitterte immer noch vor Schreck und blickte bleich in sein entstelltes Gesicht: jetzt erst begriff sie, wie ernst sein Zustand war.
„Darja,“ flüsterte sie schnell der hereinstürzenden Darja Pawlowna zu, „sofort nach dem Arzt, nach Doktor Salzfisch! Schicke sofort Jegorytsch, er soll hier Pferde mieten und in der Stadt einen anderen Wagen nehmen. Daß er mit Salzfisch noch vor dem Abend hier ist!“
Dascha ging schnell hinaus, um den Befehl auszuführen. Stepan Trophimowitsch sah Warwara Petrowna immer noch mit demselben erschrockenen Blick aus weit offenen Augen an. Seine weiß gewordenen Lippen bebten.
„Warte, Stepan Trophimowitsch, warte, Täubchen, nur einen Augenblick,“ redete sie ihm wie einem kleinen Kinde zu. „So warte doch, wart doch, sieh, Darja wird gleich zurückkommen und ... Ach, mein Gott, Wirtin, Wirtin, so komm doch du wenigstens, Mütterchen!“
Und in ihrer Ungeduld lief sie selbst nach der Bäuerin.
„Sofort, sofort jene wieder zurückbringen! Bring sie mir sofort zurück, zurück!“
Zum Glück war Ssofja Matwejewna mit ihren Sachen kaum aus dem Hause gegangen, so daß man sie schon nach ein paar Schritten einholte. Sie wurde zurückgebracht. Sie war aber so erschrocken, daß ihre Hände und Knie zitterten. Warwara Petrowna ergriff ihre Hand, wie ein Geier ein Küken, und zog sie eilig zu Stepan Trophimowitsch.
„Hier, hier haben Sie sie! Ich habe sie doch nicht aufgefressen! Sie dachten wohl schon, daß ich sie einfach verschlungen habe?“
Stepan Trophimowitsch ergriff Warwara Petrownas Hand und drückte sie an seine Augen, und plötzlich schluchzte er auf, schmerzhaft, krampfartig.
„Beruhige dich, beruhige dich doch, mein Täubchen, beruhige dich, Väterchen ... Nun ... Ach, mein Gott, aber so beru–hi–gen Sie sich doch!“ rief sie außer sich. „Oh, mein Peiniger, mein ewiger, ewiger Peiniger!“
„Meine Liebe,“ brachte Stepan Trophimowitsch endlich, zu Ssofja Matwejewna gewandt, hervor, „bleiben Sie, meine Liebe, dort – im anderen Zimmer ... ich will hier noch etwas sagen ...“
Ssofja Matwejewna beeilte sich sofort, hinauszugehen.
„Chérie ... chérie ...“ – er rang nach Atem.
„Sprechen Sie noch nicht, Stepan Trophimowitsch, warten Sie noch ein wenig, bis Sie sich erholt haben. Hier ist Wasser. Aber so war–ten Sie doch noch!“
Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Stepan Trophimowitsch hielt krampfhaft ihre Hand fest. Sie ließ ihn noch lange nicht sprechen. Da zog er ihre Hand an die Lippen und bedeckte sie immer wieder mit Küssen. Sie biß die Zähne zusammen und blickte irgendwohin in einen Winkel.
„Je vous aimais!“[273] entrang es sich ihm endlich. Noch nie hatte sie von ihm ein solches Wort gehört, und so gesprochen.
„Hm!“ war ihre Antwort.
„Je vous aimais toute ma vie ... vingt ans!“[274]
Sie schwieg immer noch – zwei, drei Minuten lang.
„Als aber Dascha in Aussicht stand, da erschien er parfümiert –“ stieß sie plötzlich unheimlich flüsternd hervor. Stepan Trophimowitsch erstarrte nur so.
„... Mit einer neuen Krawatte ...“
Wieder Schweigen – ungefähr zwei Minuten lang.
„Und die Zigarre, entsinnen Sie sich?“
„Mein Freund,“ stammelte er, von Schrecken erfaßt.
„Die Zigarre, am Abend, am Fenster ... der Mond schien ... nach den Stunden im Park ... in Skworeschniki? Entsinnst du dich, entsinnst du dich!“ und sie sprang auf, ergriff sein Kissen an beiden Ecken und schüttelte es mitsamt seinem Kopf. „Entsinnst du dich noch, du leerer, leerer, ehrloser, kleinmütiger, ewig, ewig leerer Mensch!“ zischte sie nahezu in ihrem ingrimmigen Geflüster, um nicht zu schreien. Dann ließ sie ihn fahren und fiel zurück auf den Stuhl, das Gesicht mit den Händen bedeckt. „Genug!“ sagte sie kurz, sich steif aufrichtend. „Zwanzig Jahre sind vergangen, die bringt man nicht zurück; dumm war auch ich.“
„Je vous aimais,“ – er legte beschwörend seine Hände zusammen.
„Was sagst du mir immer aimais und aimais! Genug!“ Sie fuhr wieder auf. „Und wenn Sie jetzt nicht sofort einschlafen, so werde ich ... Sie brauchen Ruhe! Schlafen Sie, schlafen Sie sofort! Schließen Sie die Augen! Ach, mein Gott, vielleicht will er frühstücken? Was essen Sie? Was darf er essen? Ach Gott, wo ist denn jene? wo ist jene?“
Warwara Petrowna setzte gleich das ganze Haus in Bewegung. Doch Stepan Trophimowitsch stammelte, daß er jetzt allerdings lieber schlafen würde, ein wenig nur, une heure, und dann – un bouillon, un thé ... enfin il est si heureux.[275] Er lag ganz still und es war wirklich, als sei er im Einschlafen (wahrscheinlich stellte er sich nur so). Warwara Petrowna wartete noch ein wenig und ging dann auf den Fußspitzen zur Tür.
Im anderen Zimmer setzte sie sich hin, schickte die Hauswirte einfach hinaus und befahl Dascha, „jene“ hereinzuführen. Es begann ein ernstes Verhör.
„Erzähle mir jetzt, meine Liebe, alle Einzelheiten. Setze dich hierher, so! Nun?“
„Ich traf Stepan Trophimowitsch ...“
„Warte. Schweig. Ich sage dir im voraus, daß ich dich, falls es dir einfallen sollte, mir etwas vorzulügen oder etwas zu verheimlichen, noch aus deinem Grabe wieder herausholen werde! Nun?“
„Ich traf Stepan Trophimowitsch ... wie ich gerade in Hatowo war ...“ begann Ssofja Matwejewna, atemlos vor Angst.
„Wart, sei still! was trommelst du gleich los? Zuerst sage mir, was du selbst für ein Vogel bist?“
Die erzählte nun, so gut sie konnte, übrigens in kurzen Worten, von sich und ihrem Leben. Sie fing mit Sebastopol an. Warwara Petrowna hörte schweigend zu, saß steif auf ihrem großen Stuhl und sah der Erzählerin streng und unverwandt in die Augen.
„Warum bist du so erschrocken? Warum siehst du zu Boden? Ich liebe solche, die mir offen in die Augen sehen und mit mir streiten. Fahre fort!“
Jene erzählte von der Begegnung, von den Büchern, erzählte, wie Stepan Trophimowitsch der Bäuerin den Schnaps angeboten hatte ...
„So ist’s gut, vergiß nichts, erzähle alles,“ sagte Warwara Petrowna. Ssofja Matwejewna erzählte also weiter, wie sie mit Stepan Trophimowitsch hierher nach Ustjewo gefahren war und wie er „schon ganz krankes Zeug“ gesprochen und hier dann sein ganzes Leben von Anfang an und mehrere Stunden lang erzählt hatte.
„Erzähle von seinem Leben.“
Ssofja Matwejewna verstummte plötzlich und schaute hilflos drein.
„Hiervon verstehe ich schon gar nichts mehr zu erzählen,“ stotterte sie, dem Weinen nahe. „Und ich habe auch nichts davon verstanden.“
„Das lügst du. Nichts verstehen, das konntest du gar nicht.“
„Von einer schwarzhaarigen vornehmen Dame sprach er lange,“ sagte Ssofja Matwejewna schließlich zögernd und errötete entsetzlich, da es ihr plötzlich auffiel, wie wenig Warwara Petrowna mit ihrem viel helleren Haar jener geschilderten schwarzhaarigen Schönheit glich.
„Von einer Schwarzhaarigen? – Was erzählte er denn? Sprich!“
„Er ... er erzählte, wie diese vornehme Dame schon ganz furchtbar in ihn verliebt gewesen wäre, zwanzig Jahre lang, und wie sie immer nicht gewagt hätte, es ihm zu sagen, und ... und wie sie sich vor ihm geschämt hat, denn sie war schon gar zu dick ...“
„Dieser Esel!“ sagte Warwara Petrowna nachdenklich, doch überzeugt vor sich hin.
Ssofja Matwejewna war nun wirklich schon am Weinen.
„Ich weiß hiervon gar nichts mehr zu erzählen, denn ich war selbst in großer Angst um ihn und habe auch gar nichts verstanden, da er doch ein Mensch von so großem Verstande ist ...“
„Über seinen Verstand zu urteilen steht nicht so einer Krähe zu, wie du eine bist. Hat er bei dir angehalten?“
Ssofja Matwejewna erzitterte.
„Ha! er sich in dich verliebt? – Sprich!“ herrschte Warwara Petrowna sie an. „Hat er bei dir angehalten?“
„Beinah hörte es sich wirklich so an,“ brachte sie aufschluchzend hervor ... „Nur habe ich das alles gar nicht beachtet, denn er war doch krank,“ fügte sie hinzu und sah mit festem Blick auf.
„Wie heißt du?“
„Ssofja Matwejewna.“
„Nun, dann wisse, Ssofja Matwejewna, daß dieser Mensch das erbärmlichste, leerste Menschlein ist ... Mein Gott, mein Gott! Du hältst mich wohl für eine Nichtswürdige?“
Die riß die Augen auf.
„Für eine Nichtswürdige, eine Tyrannin, die sein Leben zerstört hat?“
„Wie kann denn das sein, wenn Sie jetzt doch selbst weinen!“
Tatsächlich standen Warwara Petrowna Tränen in den Augen.
„Nun, setz dich, setz dich, brauchst nicht zu erschrecken. – Sieh mir noch einmal in die Augen, ganz offen! Warum wirst du rot? Dascha, komm her, sieh sie dir an: was glaubst du, hat sie ein reines Herz ...“
Und zu Ssofja Matwejewnas größter Verwunderung, vielleicht aber zu ihrem noch größeren Schreck, streichelte ihr Warwara Petrowna plötzlich die Wange.
„Schade nur, daß du dumm bist. Dümmer als es deinen Jahren ansteht. Gut, meine Liebe, ich werde mich deiner annehmen. Sehe schon, daß alles das Unsinn ist. Bleibe solange hier in der Nähe, man wird dir hier eine Wohnung mieten, – Kost und alles übrige bekommst du von mir ... bis ich dich rufen lasse.“
Ssofja Matwejewna versuchte erschrocken einzuwenden, daß sie fort müsse.
„Wohin? Deine Bücher kaufe ich dir alle ab, und du bleibst hier. Du hättest ihn doch, wenn ich nicht gekommen wäre, auch nicht verlassen?“
„Für keinen Preis hätte ich ihn allein gelassen,“ sagte Ssofja Matwejewna leise, doch mit fester Stimme und trocknete sich die Augen.
Doktor Salzfisch traf erst spät in der Nacht ein. Es war ein ehrwürdiger alter, kleiner Herr und ein recht erfahrener Arzt, der erst unlängst infolge eines ambitiösen Streites mit der ihm vorgesetzten Behörde seinen offiziellen Posten verloren hatte. In demselben Augenblick hatte Warwara Petrowna ihn aus allen Kräften zu „protegieren“ angefangen. Er untersuchte Stepan Trophimowitsch aufmerksam und gewissenhaft, fragte dies und das, und berichtete sodann Warwara Petrowna, daß der Zustand des Kranken „sehr bedenklich“ sei und daß man sich „auf das Schlimmste gefaßt machen“ müsse. Warwara Petrowna, die in den zwanzig Jahren sich von der Vorstellung völlig entwöhnt hatte, daß irgend etwas, das Stepan Trophimowitsch persönlich anging, ernst zu nehmen oder gar gefährlich sein könnte, war tief erschüttert und erbleichte sogar.
„Ist denn wirklich gar keine Hoffnung mehr?“
„Das ist nicht gesagt, denn Hoffnung ist nie ausgeschlossen, aber ...“
Warwara Petrowna wachte die ganze Nacht bei dem Kranken und konnte kaum den Morgen erwarten. Als Stepan Trophimowitsch die Augen aufschlug und zu sich kam (er war die ganze Zeit bei Besinnung, nur wurde er von Stunde zu Stunde schwächer), trat sie entschlossen zu ihm.
„Stepan Trophimowitsch, man muß auf alles vorbereitet sein. Ich habe den Priester rufen lassen. Sie müssen Ihre Pflicht tun ...“
Da sie seine religiösen Überzeugungen kannte, so fürchtete sie sehr eine Absage. Er aber sah sie nur erstaunt an.
„Unsinn, Unsinn!“ rief sie erregt, denn sie glaubte schon, er wolle sich widersetzen. „Jetzt handelt es sich nicht mehr um Kindereien. Haben doch genug Dummheiten gemacht!“
„Aber ... bin ich denn wirklich schon so krank?“
Nachdenklich willigte er ein. Zu meiner nicht geringen Verwunderung erfuhr ich später von Warwara Petrowna, daß das Sterben ihn gar nicht geschreckt hat. Möglich, daß er einfach nicht an seinen Tod glaubte und die Krankheit nur für eine vorübergehende Erkältung hielt.
Er beichtete und nahm das Abendmahl – und zwar mit großer Bereitwilligkeit. Alle, auch Ssofja Matwejewna, die Wirtsleute und selbst die Dienstboten kamen, um ihn nach Empfang des heiligen Sakraments zu beglückwünschen. Alle ohne Ausnahme weinten still, als sie sein eingefallenes, müdes Gesicht sahen, und die bleichen, zuckenden Lippen.
„Oui, mes amis, und es wundert mich nur, daß ihr euch alle so ... sorgt. Morgen werde ich wahrscheinlich aufstehen, und wir ... fahren dann ... Toute cette cérémonie[276] ... der ich natürlich alles lasse, was recht und billig ist ... war doch ...“
„Ich würde Sie bitten, Väterchen, noch nicht fortzugehen,“ hielt Warwara Petrowna den Priester zurück, der sein Ornat schon ablegen wollte. „Könnten Sie nicht, wenn der Tee gebracht wird, mit ihm noch über Religiöses sprechen, um seinen Glauben zu stärken.“
Das tat der Priester denn auch; alle saßen oder standen in der Nähe des Kranken.
„In unserer sündigen Zeit,“ führte er aus, die Teetasse in der Hand und in singendem Tone, „ist der Glaube an den Allmächtigen die einzige Zuflucht des Menschengeschlechts, in allen Leiden und Nöten des Lebens, ganz wie die Zuversicht auf die ewige Seligkeit, die den Gerechten verheißen ...“
Stepan Trophimowitsch war plötzlich wie neu belebt: ein feines Spottlächeln glitt über seine Lippen.
„Mon père, je vous remercie, et vous êtes bien bon, mais ...“[277]
„Was ist da noch für ein mais, durchaus kein mais!“ fiel ihm Warwara Petrowna aufspringend erregt ins Wort. „Väterchen,“ wandte sie sich wieder an den Popen, „das, das ist solch ein Mensch, das ist solch ein Mensch ... nach einer Stunde wird man ihn noch einmal das Abendmahl nehmen lassen müssen! Sehen Sie, solch ein Mensch ist das!“
Stepan Trophimowitsch lächelte zurückhaltend.
„Meine Freunde,“ sagte er, „Gott ist mir schon deswegen unentbehrlich, weil er das einzige Wesen ist, das man ewig lieben kann ...“
Ob er nun in der Tat gläubig geworden war, oder ob die mächtige Zeremonie des letzten Abendmahls nur die künstlerische Empfänglichkeit seiner Natur angeregt hatte, – jedenfalls hat er noch mit fester Stimme und, wie man mir sagte, auch mit echtem Gefühl einige Gedanken ausgesprochen, die zu manchen seiner früheren Überzeugungen in geradem Widerspruch standen.
„Meine Unsterblichkeit ist schon deswegen notwendig, weil Gott doch nicht das Unrecht wird begehen wollen, das Feuer der Liebe, das einmal in meinem Herzen zu Ihm entbrannt ist, ganz auszulöschen. Was aber ist teurer als Liebe? Die Liebe steht höher als das Sein, die Liebe ist die Krone des Seins, wie sollte da das Leben ihr nicht untertan sein? Wenn ich Ihn jetzt lieben gelernt habe, und diese meine Liebe mir eine Freude ist – wie wäre es dann möglich, daß Er mich und meine Freude wieder auslöschte und uns in Nichts verwandelte? Wenn es einen Gott gibt, so bin auch ich unsterblich! Voilà ma profession de foi.“[278]
„Es gibt einen Gott, Stepan Trophimowitsch, ich versichere Ihnen, es gibt einen Gott,“ beschwor ihn Warwara Petrowna, „lassen Sie doch endlich Ihre Dummheiten, lassen Sie sie doch wenigstens einmal im Leben!“ (Sie hatte wohl seine profession de foi nicht recht verstanden.)
„Mein Freund,“ sagte er mit wachsender Begeisterung, wenn auch seine Stimme mehr und mehr versagte, „mein Freund, als ich begriff ... diese andere hingehaltene Backe, da ... begriff ich im selben Augenblick – noch manches. J’ai menti toute ma vie,[279] mein ganzes, ganzes Leben lang! Ich würde gern ... übrigens, morgen ... Morgen fahren wir alle ...“
Warwara Petrowna brach in Tränen aus. Er suchte jemanden mit den Augen.
„Hier ist sie, hier ist sie!“ rief Warwara Petrowna schnell und zog Ssofja Matwejewna an der Hand zu ihm hin. Er lächelte gerührt.
„Oh, ich würde sehr gern wieder leben wollen!“ rief er mit einem ungewöhnlichen Zustrom von Kraft. „Jede Minute, jeder Augenblick des Lebens müssen für den Menschen eine Seligkeit sein ... müssen, müssen es unbedingt! Das ist die Pflicht des Menschen, es selbst so zu machen; das ist sein Gesetz, – ein geheimes Gesetz, das es aber trotzdem unbedingt gibt ... Oh, ich würde jetzt gern Petruscha sehen wollen ... und sie alle ... und Schatoff!“
Ich muß hier bemerken, daß sie noch nichts von Schatoff wußten, weder seine Schwester Darja Pawlowna, noch Warwara Petrowna, noch selbst Dr. Salzfisch, der als letzter aus der Stadt gekommen war.
Stepan Trophimowitsch regte sich, statt ruhig zu sein, weit über seine Kräfte auf.
„Allein schon der immerwährende Gedanke, daß es etwas unendlich Gerechteres und Glücklicheres gibt als mich, erfüllt auch schon mein ganzes Ich mit unermeßlicher Rührung und – Herrlichkeit, – oh, wer ich auch sei, was ich auch getan habe! Viel notwendiger als das eigene Glück ist für den Menschen das Wissen und der allgegenwärtige Glaube, daß es irgendwo schon ein vollkommenes und ruhiges Glück für alle und für jeden gibt ... Das ganze Gesetz des menschlichen Seins besteht nur darin, daß der Mensch sich stets vor etwas unermeßlich Großem beugen kann. Wollte man aber den Menschen das unermeßlich Große nehmen, so würden sie das Leben nicht mehr auf sich nehmen und in Verzweiflung den Tod suchen. Das Unermeßliche und Unendliche ist für den Menschen ebenso notwendig, wie dieser kleine Planet, auf dem er lebt ... Meine Freunde, alle, alle: es lebe der Große Gedanke! Der Ewige, unermeßliche Gedanke! Jeder Mensch, wer er auch sei, muß sich davor beugen, daß der Große Gedanke existiert! Sogar der dümmste Mensch braucht unbedingt wenigstens irgend etwas Großes. Petruscha ... Oh, wie gern ich sie alle wiedersehen würde! Sie wissen nicht, sie wissen nicht, daß auch in ihnen immer ganz derselbe Ewige Große Gedanke enthalten ist!“
Doktor Salzfisch war bei der Zeremonie nicht zugegen gewesen. Als er nun plötzlich eintrat, war er entsetzt: er trieb sofort die ganze Versammlung auseinander und bestand darauf, daß der Kranke unbedingt Ruhe haben müsse.
Stepan Trophimowitsch starb nach drei Tagen, nachdem er die letzte Zeit in voller Bewußtlosigkeit gelegen hatte. Er erlosch gleichsam, wie ein zu Ende gebranntes Licht. Warwara Petrowna ließ noch in Ustjewo das Totenamt für den Verstorbenen halten und brachte dann die Leiche ihres armen Freundes nach Skworeschniki. Sein Grab auf dem Kirchhofe ist heute bereits mit einer Marmorplatte bedeckt, doch die Aufschrift und das eiserne Gitter sollen erst im Frühling gemacht werden.
Die Abwesenheit Warwara Petrownas aus der Stadt dauerte ganze acht Tage. Mit ihr zusammen, in derselben Equipage, kam auch Ssofja Matwejewna, die sich nun, wie’s scheint, endgültig bei ihr niedergelassen hat. Bemerkenswert ist noch, daß Warwara Petrowna sofort, nachdem Stepan Trophimowitsch die Besinnung verloren hatte – also noch am selben Morgen –, Ssofja Matwejewna aus dem Hause schickte und ganz allein den Kranken bis zu seinem Tode pflegte. Kaum aber war er verschieden, da ließ sie auch „jene“ wieder zu sich rufen. Das Anerbieten (richtiger, der Befehl) Warwara Petrownas, für immer nach Skworeschniki zu ziehen, erschreckte die arme Ssofja Matwejewna entsetzlich, doch alle ihre ängstlichen Einwendungen wurden von Warwara Petrowna überhaupt nicht angehört:
„Unsinn! Ich werde selbst für dich die Bibeln verkaufen gehen. Habe ich doch jetzt niemanden mehr auf der Welt.“
„Sie haben doch noch Ihren Sohn, gnädige Frau,“ bemerkte Doktor Salzfisch, der zugegen war.
„Ich habe keinen Sohn,“ sagte Warwara Petrowna kurz und – hatte es somit vorhergesagt.
Alle die begangenen Schandtaten und Verbrechen wurden erstaunlich schnell bekannt, weit schneller, als Pjotr Stepanowitsch angenommen hatte. Es begann damit, daß die unglückliche Marja Ignatjewna nach der Nacht, in der ihr Mann ermordet worden war, sehr früh, noch vor Sonnenaufgang, aus tiefem Schlaf erwachte, und zu ihrem Schreck und zu ihrer Angst Schatoff nicht bei sich, nicht an ihrem Bett, noch im Zimmer sah. In einer Ecke schlief nur die von Arina Prochorowna besorgte Wärterin. Diese vermochte aber die Kranke nicht zu beruhigen, und schließlich wußte sie nichts anderes zu tun, als schnell zu Arina Prochorowna zu laufen, nachdem sie ihrer Pflegebefohlenen noch versichert hatte, daß Wirginskis bestimmt wissen würden, wo Schatoff geblieben war, und wann er zurückkehren werde.
Währenddessen war auch Arina Prochorowna in nicht geringer Aufregung: sie wußte schon durch ihren Mann, was im Park zu Skworeschniki geschehen war. Wirginski war erst um elf Uhr nachts in einem furchtbaren Zustande nach Hause gekommen: er hatte die Hände gerungen und sich auf das Bett geworfen, um das Gesicht in den Kissen zu vergraben und immer nur unter Zucken und Beben, schluchzend, immer nur dies eine zu wiederholen: „Das ist doch nicht das, nicht das; das ist ja gar nicht das!“ Selbstverständlich endete es schließlich damit, daß er seiner Frau, die unablässig in ihn drang, alles beichtete – übrigens doch nur ihr allein. Arina Prochorowna hieß ihn im Bett bleiben und schärfte ihm strengstens ein, daß er, falls er heulen wolle, dann ins Kissen heulen solle, damit es die anderen nicht hörten, und daß er ein Esel wäre, wenn er sich am nächsten Tage etwas anmerken ließe. Darauf überlegte sie rasch und machte sich dann schnell daran, auf alle Fälle gewisse Vorkehrungen zu treffen: alle zweifelhaften Papiere und Bücher, und vielleicht sogar Proklamationen konnte sie teils noch beiseite schaffen, teils spurlos vernichten. Nach kurzem Nachdenken sagte sie sich aber, daß sie selbst, ihre Schwester, die Tante und die Studentin weiter nichts zu fürchten hatten, ja, und vielleicht nicht einmal ihr langohriges Brüderlein – Schigaleff. Als dann gegen Morgen die Wärterin kam und sie zu Marja Ignatjewna rief, verlor sie weiter keinen Augenblick und ging sofort zu ihrer Kranken. Übrigens wollte sie sich auch selbst überzeugen, wie es sich damit verhielt, was ihr Mann in der Nacht, halb unzurechnungsfähig, von den Versicherungen Pjotr Stepanowitschs erzählt hatte: daß Kirilloff alles auf sich nehmen und sich erschießen werde.
Aber sie kam zu spät. Marja Ignatjewna hatte, nachdem sie die Wärterin zu Arina Prochorowna geschickt, es nicht lange allein ausgehalten, war aufgestanden, hatte sich irgendwie halb angezogen, und war dann selbst zu Kirilloff in den Flügel gegangen, da er, wie sie meinte, ihr am ehesten sagen konnte, wo ihr Mann geblieben war. Man kann sich vorstellen, wie das, was sie dort erblickte, auf die Wöchnerin wirkte. Merkwürdigerweise hat sie dabei den Brief, den Kirilloff hinterlassen hatte und der sichtbar auf dem Tische lag, gar nicht gelesen, – sie wird ihn in ihrem Schreck und Entsetzen wohl gar nicht bemerkt haben. Sie lief in die Dachstube zurück, ergriff ihr kleines Kind und verließ das Haus. Der Morgen war feucht, Nebel stand ringsum. Kein Mensch war in dieser abgelegenen Straße zu sehen. Sie lief und lief, atemlos, immer weiter durch den kalten sumpfigen Straßenschmutz und schließlich begann sie, an die Häuser zu klopfen. Im ersten Hause wurde nicht aufgemacht, im zweiten hörte sie endlich Stimmen. Doch sie verlor die Geduld, zu warten, und lief zum dritten Hause. Das war das Haus unseres Kaufmanns Titoff. Hier rief sie große Bestürzung hervor: sie schrie und versicherte zusammenhanglos, man habe ihren Mann, Schatoff, ermordet. Titoffs wußten, wer Schatoff war, und kannten zum Teil auch seine Lebensgeschichte. Sie erschraken nicht wenig, als sie von dieser fremden Frau hörten, daß sie vor noch nicht vierundzwanzig Stunden geboren habe und nun kaum bekleidet in dieser Kälte mit dem fast nackten Kindchen herumlief. Zuerst glaubte man, sie habe den Verstand verloren, um so mehr, als man aus ihren Worten nicht recht klug werden konnte, wer nun eigentlich ermordet worden war: Kirilloff oder ihr Mann? Marja Ignatjewna aber wollte schon wieder aus dem Hause laufen, da sie wohl trotz ihrer Erregung merkte, daß man ihr nicht ganz glauben zu wollen schien; doch da hielt man sie mit Gewalt zurück, obgleich sie furchtbar schrie und um sich schlug. Jedenfalls ging man sofort zu Kirilloff, um zu sehen, was mit ihm geschehen war – und so wußte denn schon nach zwei Stunden die ganze Stadt von dem Selbstmord Kirilloffs und dem Brief, den er hinterlassen hatte. Die Polizei erschien zum Verhör bei Marja Ignatjewna, die noch bei Bewußtsein war. Und eben hierbei stellte es sich heraus, daß sie Kirilloffs Schreiben gar nicht gelesen hatte, warum sie aber zu dem Schluß gekommen war, daß auch ihr Mann tot sei – darüber konnte man von ihr nichts Vernünftiges erfahren. Sie schrie immer nur, wenn jener ermordet sei, dann sei auch ihr Mann ermordet, denn – „sie waren zusammen, zusammen!“ Gegen Mittag verlor sie das Bewußtsein; sie starb am übernächsten Tage, ohne noch einmal zu sich zu kommen. Das erkältete Kindchen starb noch vor ihr.
Inzwischen war Arina Prochorowna bei Schatoffs angelangt: als sie weder die junge Mutter noch das Kind vorfand, sagte sie sich sofort, daß hier etwas Schlimmes geschehen sein müsse, und wollte schon wieder nach Haus zu ihrem Mann laufen, doch noch an der Pforte besann sie sich und schickte die Wärterin in den Flügel zu Kirilloff, damit sie sich bei diesem erkundige, ob er etwas wisse, oder ob die Kranke bei ihm war. Die Frau kam mit entsetztem Geschrei zurückgelaufen. Arina Prochorowna hielt ihr sofort den Mund zu und brachte sie mit dem bekannten Argument: „Wenn du was sagst, so wird man dich für die Schuldige halten!“ zum Schweigen und verließ dann selbst schnell den Hof.
Selbstredend erschien die Polizei noch am selben Morgen bei ihr, da sie ja Schatoffs Frau entbunden hatte. Es war aber nicht viel, was man von ihr erfuhr: kaltblütig und sehr sachlich erzählte sie, was sie bei Schatoffs gesehen und gehört hatte, doch von den letzten Vorfällen behauptete sie, weder etwas Näheres zu wissen, noch überhaupt das Geschehnis begreifen zu können.
Man kann sich vorstellen, wie groß die Aufregung in der Stadt war. Wieder eine „Geschichte“, wieder ein Mord! Und jetzt kam noch etwas anderes hinzu: es war nun klar, daß es also doch eine geheime Verschwörerbande gab: revolutionäre Brandstifter, Aufrührer und Mörder. Der furchtbare Tod Lisas, die Ermordung der Frau Nicolai Stawrogins, Stawrogins Verhalten, der Brand, der Ball für die Gouvernanten, die Ungebundenheit in der Umgebung Julija Michailownas: das alles kam zusammen! Sogar in dem plötzlichen Verschwinden Stepan Trophimowitschs wollte man unbedingt etwas Bedeutsames sehen. Ja, es gingen schon sehr, sehr schlimme Urteile und Gerüchte über Stawrogin um. Am Abend dieses Tages erfuhr man auch die Abreise Pjotr Stepanowitschs, doch sonderbarerweise wurde darüber am allerwenigsten gesprochen – am meisten dagegen sprach man von dem „Senator“, der aus Petersburg bereits eingetroffen sein sollte. Vor dem Filippoffschen Hause stand den ganzen Vormittag über eine ansehnliche Volksmenge. Die Polizei wurde durch Kirilloffs „Brief an die ganze Welt“ zunächst tatsächlich irre gemacht. Man glaubte an die Ermordung Schatoffs durch Kirilloff und an den Selbstmord des „Mörders“. Übrigens glückte die Irreführung doch nicht so ganz. Das Wort „Park“ zum Beispiel, das sich ohne nähere Ortsangabe in dem Brief fand, war für keinen ein Rätsel, wie Pjotr Stepanowitsch erwartet hatte. Die Polizei jagte vielmehr sofort nach Skworeschniki, und zwar nicht nur deshalb, weil es einen anderen Park weder in der Stadt noch in deren Umkreise gab, sondern gewissermaßen schon aus bloßem Instinkt, da doch alle Schrecken der letzten Tage teils mittelbar, teils unmittelbar mit Skworeschniki verbunden waren. (Ich muß hier bemerken, daß Warwara Petrowna schon am Morgen dieses Tages aus ihrem Stadthause auf die Suche nach Stepan Trophimowitsch ausgefahren war.) Die Leiche Schatoffs wurde am Abend desselben Tages im Teich gefunden: neben der Grotte hatten die Mörder in unglaublichem Leichtsinn Schatoffs Mütze liegen lassen, und von dort aus ließen sich dann deutliche Spuren bis zur Fundstelle verfolgen. Dieser Umstand sowie einige ärztliche Feststellungen bei der Leichenschau legten sofort den Verdacht nahe, daß Kirilloff Helfershelfer gehabt haben müsse. Man vermutete zunächst eine „Schatoff-Kirilloffsche geheime Gesellschaft“, die mit den Proklamationen irgendwie in Zusammenhang stehen mußte. Wer aber waren diese Leute? Von den „Unsrigen“ ahnte man an diesem Tage noch nicht das geringste. Aus dem Briefe war nur hervorgegangen, daß Fedjka, den man überall vergeblich gesucht, gerade in diesen Tagen völlig unbemerkt bei Kirilloff hatte leben können! ... Der Hauptkummer aller blieb, daß man aus dem ganzen Wirrwarr der Tatsachen nichts Allgemeines und Zusammenhängendes kombinieren konnte. Und ganz unmöglich ist es abzusehen, zu welchen abenteuerlichen Folgerungen man noch gekommen wäre, wenn man nicht plötzlich, schon am anderen Tage, den ganzen wahren Sachverhalt erfahren hätte – dank Lämschin.
Der hielt es nicht aus. Es geschah mit ihm das, was sogar Pjotr Stepanowitsch zum Schluß vorauszufühlen begonnen hatte. Lämschin war zuerst der Obhut Tolkatschenkos, dann Erkels anvertraut worden und verbrachte diesen ganzen Tag im Bett: er lag, anscheinend ganz zahm, mit dem Gesicht zur Wand, sprach kein Wort und antwortete nicht einmal, wenn man zu ihm redete. So erfuhr er denn auch nichts davon, was in der Stadt geschah. Da fiel es aber Tolkatschenko, der natürlich alles wußte, gegen Abend ein, den von Pjotr Stepanowitsch ihm ausdrücklich gegebenen Auftrag, Lämschin zu bewachen, einfach abzuschütteln und die Stadt zu verlassen, d. h. sich einfach aus dem Staube zu machen. Wahrlich, Erkel hatte recht, als er sagte, sie hätten doch schon alle die Vernunft verloren. Hier mag gleich erwähnt sein, daß auch Liputin an eben diesem Tage aus der Stadt verschwand, und zwar schon am Morgen. Das erfuhr man aber erst am Abend des nächsten Tages, als die Polizei sich zu Liputin begab und dort nur dessen vor Angst über die Abwesenheit des Gatten und Vaters zitternde Familie vorfand. Doch ich fahre fort, von Lämschin zu erzählen. Kaum war er also allein geblieben (Erkel war, da er sich auf Tolkatschenko verlassen zu können glaubte, fortgegangen), als er sofort aus dem Hause lief und natürlich sehr bald die ganze Lage der Dinge erfuhr. Ohne nach Haus zurückzukehren, begann er zu laufen, weiter und immer weiter. Aber die Nacht war so dunkel und sein Vorhaben dermaßen grausig und schwer, daß er schon nach ein paar Straßen umkehrte und doch nach Hause ging, wo er sich für die ganze Nacht einschloß. Ich glaube, gegen Morgen machte er einen Selbstmordversuch; aber der mißlang ihm. So saß er in dem verschlossenen Zimmer bis zum Mittag des nächsten Tages, und – plötzlich lief er schnurstracks auf die Polizei. Man sagte, er sei dort auf den Knien herumgerutscht, habe geschluchzt und gekreischt und die Diele geküßt, habe in einem fort geschrien, er sei nicht einmal wert, die Stiefel der vor ihm stehenden „Würdenträger“ zu küssen. Man beruhigte ihn und war sehr freundlich zu ihm. Das Verhör zog sich durch ganze drei Stunden hin. Er gestand alles, alles, erzählte die letzten Einzelheiten, griff vor, überhastete sich mit seinen Geständnissen und mischte, ohne danach gefragt zu sein, alles mögliche Unnötige hinein. Im allgemeinen aber wußte er die Sache doch ganz anschaulich darzustellen: die Tragödie mit Schatoff und Kirilloff, die Feuersbrunst, die Ermordung der Lebädkins usw. traten als das Unwichtigere mehr in den Hintergrund; in den Vordergrund aber traten: Pjotr Stepanowitsch, der Geheimbund, seine Organisation, die Fünfergruppen, das Netz. Auf die Frage, warum man denn so viele Menschen ermordet, so viele Verbrechen begangen hatte, antwortete er mit eilfertigem Eifer: „Zur systematischen Erschütterung der Grundfesten und zur systematischen Zersetzung der ganzen Gesellschaft und alles bisher Bestehenden; um alle zu entmutigen und aus allem einen einzigen großen Brei zu machen, dann aber die auf diese Weise zerrüttete, kranke, zynische, ungläubige Masse, die sich jedoch bis zum äußersten nach einer leitenden Idee und nach Selbsterhaltung sehnt, – plötzlich in die Hand zu nehmen, die Fahne des Bundes zu erheben und im übrigen sich auf das weitverzweigte Netz der ‚Fünfergruppen‘ zu stützen, die inzwischen ihrerseits alle nicht müßig gewesen sind, Jünger geworben und praktisch alle Möglichkeiten geprüft und alle schwachen Stellen des Gegners ausfindig gemacht haben, so daß man genau weiß, wo er am besten zu fassen ist.“ Er schloß mit der Mitteilung, daß hier in unserer Stadt von Pjotr Stepanowitsch nur der erste Versuch einer solchen systematisch hervorgerufenen Unordnung gemacht worden sei – sozusagen eine Art Prüfung des Programms der ferneren Tätigkeit nicht nur dieser, sondern auch aller übrigen Fünfergruppen. Letzteres sei aber seine – d. h. Lämschins – eigene Vermutung und er bäte nur, daß man das alles nicht vergesse, vielmehr in Betracht ziehe, bis zu welchem Grade er aufrichtig sei und wie gut er den Sachverhalt klarlege, so daß er noch sehr nützlich sein könnte, wenn die Polizei sich seiner annehmen wollte. Auf die Frage, ob es viele solcher „Fünfergruppen“ in Rußland gäbe, antwortete er, es gäbe ihrer eine unzählige Menge, die wie ein Netz ganz Rußland umspinne. Daran hat er, wie mir scheint, selbst vollkommen aufrichtig geglaubt, wenn er auch keine Beweise anführen konnte. Vorzeigen konnte er nur ein im Auslande gedrucktes Programm der Gesellschaft und ferner ein Projekt der „Entwicklung des Systems aller weiteren Handlungen“, das von Pjotr Stepanowitsch selbst geschrieben war. Es erwies sich, daß Lämschin den ganzen langen Satz von der „Erschütterung der Grundfesten“ wortwörtlich, ohne ein Komma oder einen Punkt zu vergessen, nach diesem Blatt zitiert hatte, trotz seiner Beteuerung hinterher, daß es seine eigene Auffassung sei. Über Julija Michailowna äußerte er sich erstaunlich scherzhaft und sogar ohne gefragt zu sein, indem er wieder vorgriff, daß sie „ganz unschuldig“ sei und man sie „nur zum besten“ gehabt habe. Bemerkenswert ist aber, daß er auch Nicolai Stawrogin von jeder Teilnahme an dem Geheimbunde, sowie von jedem Einverständnis mit Pjotr Stepanowitsch freisprach. (Von den geheimnisvollen lächerlichen Hoffnungen Pjotr Stepanowitschs auf Stawrogin ahnte Lämschin natürlich nichts.) Auch die Ermordung der Lebädkins war nach seinen Worten von Pjotr Stepanowitsch ganz allein den Mördern befohlen worden, ohne jeden Anteil Stawrogins, und nur in der schlauen Absicht, diesen in ein Verbrechen hereinzuziehen, um dann über ihn Macht zu bekommen – anstatt der Dankbarkeit aber, auf die er zweifellos gerechnet, habe Pjotr Stepanowitsch nur heftigen Unwillen und sogar Verzweiflung in dem „edlen“ Nicolai Wszewolodowitsch hervorgerufen. Und zum Schluß fügte Lämschin in seinen Aussagen über Stawrogin noch hinzu – übrigens gleichfalls ungefragt und sich überhastend, augenscheinlich in der Absicht, einen Wink zu geben –, daß dieser ein ungeheuer wichtiges Tier sei, nur müsse das unbedingt ein Geheimnis bleiben; aufgehalten habe er sich bei uns sozusagen inkognito, und dabei habe er hochwichtige geheime Aufträge gehabt, und deshalb sei es sehr möglich, daß er aus Petersburg bald wieder zu uns zurückkehren werde (Lämschin war überzeugt, daß Stawrogin in Petersburg sei), dann aber schon mit ganz anderen Aufträgen und mit einer Suite von solchen Persönlichkeiten, von denen man vielleicht auch bei uns schon bald hören werde, und alles das habe er von Pjotr Stepanowitsch gehört, dem „geheimen Feinde Nicolai Stawrogins“.
Hierzu eine Randbemerkung: zwei Monate später gestand Lämschin, er habe Stawrogin absichtlich von allem freigesprochen, und zwar in der Hoffnung auf dessen Protektion: er habe geglaubt, Stawrogin werde ihm dann aus Dankbarkeit in Petersburg eine bedeutende Erleichterung seiner Strafe erwirken können und ihm vielleicht auch nach Sibirien Geld und Empfehlungen schicken. Aus diesem zweiten Geständnis ersieht man erst, wie hoch Stawrogin auch von einem Lämschin eingeschätzt wurde.
Am selben Tage wurde natürlich auch Wirginski verhaftet, und im Eifer verhaftete man auch gleich seine ganze „Familie“. (Heute sind Arina Prochorowna, ihre Schwester und Tante sowie die Studentin schon längst wieder frei und es heißt sogar, auch Schigaleff werde in kürzester Zeit aus der Untersuchungshaft entlassen werden, da er in keine Kategorie der Angeklagten hineinpasse.) Wirginski bekannte sich sofort in allen Dingen schuldig: er war krank und hatte hohes Fieber, als man ihn verhaftete. Man erzählt, er habe sich fast gefreut: nun sei es „vom Herzen gewälzt“, soll er gesagt haben. Jetzt heißt es von ihm, daß er seine Aussagen wahrheitsgetreu und sogar mit einer gewissen Würde mache, doch von seinen „hellen Hoffnungen“ noch immer nicht lasse und nur den politischen Weg, auf den er so unverhofft und unschuldig gelockt worden war, verwünsche (im Gegensatz zum sozialen). Sein Verhalten während des Verbrechens im Park soll, glaube ich, zur Milderung seiner Strafe in Betracht gezogen werden. Wenigstens behauptet man das allgemein bei uns.
Anders steht es mit dem Schicksal Erkels. Der schweigt seit seiner Verhaftung hartnäckig, oder er entstellt die Wahrheit soviel er nur kann. Noch hat man kein einziges Wort der Reue aus ihm herauszuholen vermocht. Und doch hat er selbst in den strengsten Richtern Sympathie erweckt, – durch seine Jugend, durch seine Schutzlosigkeit, sowie durch die erwiesene Tatsache, daß er nur das fanatische Opfer eines politischen Verführers ist, vor allem aber durch sein jetzt bekannt gewordenes Verhältnis zu seiner armen Mutter, der er monatlich fast die Hälfte seines kleinen Gehaltes zugeschickt hat. Seine Mutter ist jetzt hier: sie ist eine schwache, kranke, vorzeitig alt gewordene Frau. Sie weint und wirft sich – es ist wortwörtlich zu nehmen – den Richtern zu Füßen, um für ihren Sohn Gnade zu erflehen.
Liputin wurde schließlich in Petersburg verhaftet, nachdem er dort zwei volle Wochen sich aufgehalten hatte. Mit ihm war etwas ganz Unwahrscheinliches geschehen, etwas, das man sich nur schwer erklären kann. Er, der einen Paß auf einen fremden Namen und bei beträchtlichen Geldmitteln durchaus die Möglichkeit hatte, ins Ausland zu entkommen, war trotzdem in Petersburg geblieben: eine Zeitlang hatte er Stawrogin und Pjotr Stepanowitsch gesucht, dann aber hatte er plötzlich zu trinken begonnen und ein über alle Maßen ausschweifendes Leben geführt, ganz wie ein Mensch, der jede gesunde Vernunft sowie jede Vorstellung von seiner Lage verloren hat. Verhaftet wurde er denn auch in einem Bordell, in betrunkenem Zustande. Jetzt soll er aber wieder zur Vernunft gekommen sein, durchaus nicht den Mut verloren haben, in seinen Aussagen lügen und zu der Gerichtsverhandlung sich mit einer gewissen Feierlichkeit und Hoffnungsfreudigkeit vorbereiten (?). Ja, er soll sogar die Absicht haben, vor Gericht eine Rede zu halten.
Tolkatschenko dagegen, der irgendwo im Nachbarkreise zehn Tage nach seiner Flucht verhaftet wurde, verhält sich weit bescheidener, lügt nicht und verstellt sich nicht, sondern sagt alles, was er weiß, ohne sich dabei freisprechen zu wollen, ist aber gleichfalls ein wenig zum „Reden“ geneigt: er spricht viel und gern, und wenn man auf die Kenntnis des Volkes und dessen revolutionäre (?) Elemente zu sprechen kommt, dann beginnt er sogar zu posieren und nach Effekt zu haschen. Auch er soll, wie man hört, eine Rede zur Gerichtsverhandlung vorbereiten. Überhaupt sind er und Liputin nicht allzu eingeschüchtert, und das ist eigentlich sonderbar.
Wie gesagt, das gerichtliche Urteil in dieser Sache ist noch nicht gesprochen.
Unsere Gesellschaft jedoch hat sich jetzt, nach drei Monaten, schon wieder einigermaßen erholt, gesammelt, und sich sogar eine eigene Meinung gebildet – allerdings eine dermaßen eigene, daß jetzt viele bei uns Pjotr Stepanowitsch für ein Genie halten, oder doch wenigstens für einen Menschen mit „hoch genialen Anlagen“.
„Da sieht man, was Organisation bedeutet!“ sagt man im Klub und erhebt dabei den Finger. Übrigens ist das alles furchtbar harmlos, und schließlich sind es nicht einmal viele, die so reden.
Andere dagegen urteilen weit weniger günstig über ihn, und wenn sie ihm auch eine große Begabung nicht absprechen, so tadeln sie doch seine vollkommene Unkenntnis der Wirklichkeit, bei schrecklicher Abstraktion und ungeheuerlicher und stumpfer Entwicklung nur nach einer Seite hin und daraus folgendem außergewöhnlichen Leichtsinn.
Das Urteil über seine Moral ist natürlich bei allen das gleiche; darüber streitet schon niemand mehr.
Ich weiß eigentlich nicht, wen ich der Vollständigkeit halber noch zu erwähnen hätte. Mawrikij Nicolajewitsch ist irgendwohin auf immer von hier weggereist. Lisas Mutter ist kindisch geworden ... Nur eine düstere Geschichte bleibt mir noch zu erzählen übrig. Ich werde mich mit den Tatsachen begnügen.
Warwara Petrowna war nach ihrer Rückkehr mit der Leiche Stepan Trophimowitschs aus Ustjewo wieder in ihrem Stadthause abgestiegen. Die Neuigkeiten, die sich hier inzwischen angesammelt hatten und die sie nun alle mit einem Male erfuhr, erschütterten sie entsetzlich. Es war Abend; alle waren müde und man ging früher zu Bett.
Am folgenden Morgen übergab die Kammerzofe Darja Pawlowna mit geheimnisvoller Miene einen Brief. Sie sagte, sie hätte ihn erst spät am Abend erhalten, als alle schon schliefen, und nicht gewagt, Darja Pawlowna aufzuwecken. Der Brief war nicht mit der Post gekommen, sondern in Skworeschniki von einem unbekannten Menschen Alexei Jegorowitsch eingehändigt worden. Dieser aber habe den Brief gestern Abend ihr – der Kammerzofe – selbst überbracht und sei darauf sofort nach Skworeschniki zurückgefahren.
Darja Pawlowna betrachtete mit klopfendem Herzen lange diesen Brief und wagte nicht ihn zu öffnen. Sie wußte, von wem er war: so schrieb nur Nicolai Stawrogin. Sie las die Aufschrift auf dem Kuvert: „An Alexei Jegorytsch zur Übergabe an Darja Pawlowna, heimlich.“
Hier ist dieser Brief, Wort für Wort, ohne Korrektur auch nur des geringsten Fehlers in den Sätzen dieses russischen Edelmannes, der ungeachtet seiner ganzen europäischen Bildung die Grammatik seiner Muttersprache nicht zu Ende gelernt hatte.
„Liebe Darja Pawlowna,
Sie wollten einmal ‚als Krankenschwester‘ zu mir kommen und nahmen mir das Wort ab, Sie zu rufen, wenn es nötig wird. Ich fahre in zwei Tagen und werde nie mehr wiederkehren. Wollen Sie mit mir gehen?
Im vorigen Jahr habe ich mich wie seinerzeit Herzen als Bürger des Kantons Uri aufnehmen lassen, und das weiß niemand. Ich habe mir dort schon ein kleines Haus gekauft. Ich habe noch zwölftausend Rubel; wir fahren dann fort und werden dort ewig leben. Ich werde sonst niemals nirgend wohin mehr reisen.
Die Stelle ist sehr öde, eine Schlucht; die Berge beengen den Blick und den Gedanken. Es ist sehr düster. Ich tat es, weil das kleine Haus gerade verkauft wurde. Wenn es Ihnen nicht gefällt, so verkaufe ich es und kaufe ein anderes an einem anderen Ort.
Ich bin nicht gesund, aber von den Halluzinationen hoffe ich mich durch die dortige Luft zu befreien. Physisch; moralisch aber wissen Sie alles; nur, ist es auch wirklich alles?
Ich habe Ihnen vieles aus meinem Leben erzählt. Aber nicht alles. Sogar Ihnen nicht alles! Übrigens, ich bestätige, daß ich mit dem Gewissen an dem Tode meiner Frau schuld bin. Ich habe Sie nachher nicht mehr gesehen und darum sage ich es hier. Schuld bin ich auch vor Lisaweta Nicolajewna; aber hiervon wissen Sie alles; hier haben Sie fast alles vorausgesagt.
Kommen Sie lieber nicht. Daß ich Sie zu mir rufe, ist eine schreckliche Gemeinheit. Ja und warum sollten Sie auch mit mir Ihr Leben begraben? Mir sind Sie lieb und im Leid war es mir wohl bei Ihnen: nur bei Ihnen allein habe ich von mir laut sprechen können. Daraus folgt aber nichts. Sie haben es selbst geprägt: ‚als Krankenschwester‘ – das ist Ihr Ausdruck; wozu so viel opfern? Begreifen Sie auch, daß ich Sie nicht bemitleide, wenn ich Sie rufe, und nicht achte, wenn ich Sie erwarte. Und währenddessen rufe ich Sie und erwarte ich Sie doch. Jedenfalls brauche ich Ihre Antwort, denn man muß sehr schnell fahren. In dem Falle werde ich allein fortfahren.
Ich hoffe nichts von Uri; ich fahre einfach. Ich habe nicht mit Absicht diesen düsteren Ort gewählt. In Rußland bin ich an nichts gebunden, – hier ist mir alles ebenso fremd wie überall. Es ist wahr, in Rußland liebte ich am allerwenigsten zu leben; aber selbst in Rußland habe ich nichts zu hassen vermocht!
Ich habe überall meine Kraft versucht. Sie rieten mir einmal dazu: ‚um sich selbst zu erkennen‘. In den Versuchen für mich selbst und in den Versuchen nach außen, um mit dieser Kraft zu prahlen, wie auch früher in meinem ganzen Leben, erwies sie sich immer als grenzenlos. Vor Ihren Augen ertrug ich die Ohrfeige von Ihrem Bruder. Ich bekannte öffentlich meine Ehe. Aber an was diese Kraft anlegen – das ist es, was ich nie gesehen habe, auch jetzt nicht sehe, trotz Ihres Beifalls in der Schweiz und Ihres Zuspruchs, dem ich traute. Ich kann auch jetzt noch ganz so, wie auch früher immer, eine gute Tat zu begehen wünschen und empfinde Vergnügen dabei; daneben aber will ich auch Böses und empfinde dabei gleichfalls Vergnügen. Aber dieses wie jenes Gefühl ist, ganz wie früher, immer zu klein und flach, sehr stark aber pflegt es nie zu sein. Meine Wünsche sind viel zu wenig stark; sie können nicht leiten. Auf einem Balken kann man über einen Fluß schwimmen, auf einem Holzspan aber nicht. Ich schreibe das nur, damit Sie nicht denken, daß ich mit irgendwelchen Hoffnungen nach Uri fahre.
Ich beschuldige wie immer niemanden. Ich habe ein grenzenlos ausschweifendes Leben versucht und meine Kraft in ihm erschöpft: aber ich liebe Ausschweifung nicht, noch wollte ich sie. Sie haben mich in der letzten Zeit beobachtet. Wissen Sie auch, daß ich sogar auf unsere Verneiner mit Haß geblickt habe, aus Neid auf ihre Hoffnungen? Aber Sie haben sich umsonst gefürchtet; ich konnte denen nicht Freund sein, denn ich erblickte nichts. Zum Spott aber, aus Bosheit, habe ich es auch nicht gekonnt und nicht, weil ich das Lächerliche fürchte, – das Lächerliche kann mich nicht schrecken, – sondern weil ich immerhin die Angewohnheiten eines anständigen Menschen habe und es mich anekelte. Doch wenn ich mehr Bosheit und Neid für sie hätte, so würde ich vielleicht auch mit ihnen gegangen sein. Urteilen Sie nun selbst, wie leicht es mir zumute war und wie ich mich hin und her gewälzt habe!
Du, mein liebster Freund, Du zartes und großmütiges Geschöpf, das ich nun endlich erraten habe! Vielleicht träumen Sie davon, mir so viel Liebe zu geben und mich mit so viel Schönem aus Ihrer wundervollen Seele zu überschütten, daß Sie hoffen, schon damit endlich auch ein Ziel vor mich hinstellen zu können? Nein, Sie sollten lieber vorsichtiger sein; meine Liebe wird ebenso flach sein, wie ich selbst bin, Sie aber werden unglücklich sein. Ihr Bruder hat mir einmal gesagt, daß derjenige, der die Verbindung mit seiner Erde verliert, sofort auch seine Götter verliert, das heißt also alle seine Ziele. Über alles kann man endlos streiten, aber aus mir ist nur Verneinung gekommen, ohne jede Großmut und ohne jede Kraft. Sogar nicht einmal Verneinung! Alles ist immer flach und schlaff. Der hochherzige Kirilloff ertrug die Idee nicht und – erschoß sich: aber ich weiß doch, daß er deshalb hochherzig war, weil er nicht bei gesunder Vernunft war. Ich werde nie meine Vernunft verlieren können und werde nie in dem Maße an eine Idee glauben können, wie er. Ich kann mich in dem Maße nicht einmal mit einer Idee beschäftigen. Nie, nie werde ich mich erschießen können!
Ich weiß, daß ich mich töten müßte, mich wie ein scheußliches Insekt von der Erde wegfegen; aber ich fürchte den Selbstmord, denn ich fürchte mich, Hochherzigkeit zu zeigen. Ich weiß, daß das noch ein Betrug sein würde, – der letzte Betrug in der endlosen Reihe der Betrüge. Was hätte es für einen Nutzen, sich selbst zu betrügen, nur um einmal den Hochherzigen zu spielen? Unwille und Scham kann in mir niemals sein; folglich auch keine Verzweiflung.
Verzeihen Sie, daß ich so viel schreibe. Ich bin wieder zur Besinnung gekommen. Ich habe das aus Versehen getan. So sind hundert Seiten zu wenig und zehn Zeilen genug. Zehn Zeilen genügen, wenn man jemand ‚als Krankenschwester‘ ruft.
Seit ich fortgefahren bin, lebe ich auf der sechsten Station beim Stationschef. Seine Bekanntschaft habe ich vor fünf Jahren in Petersburg in der wüsten Zeit gemacht. Niemand weiß es, daß ich bei ihm bin. Schreiben Sie unter seinem Namen. Die Adresse füge ich bei.
Nicolai Stawrogin.“
Darja Pawlowna ging sofort zu Warwara Petrowna und gab ihr den Brief. Diese las ihn durch und bat darauf Dascha, sie allein zu lassen, da sie den Brief noch einmal lesen wolle. Aber sie rief sie schon sehr bald zurück.
„Wirst du fahren?“ fragte sie fast zaghaft.
„Ja, ich werde fahren,“ antwortete Dascha.
„Dann mach dich bereit! Wir fahren zusammen!“
Dascha sah sie fragend an.
„Was soll ich hier jetzt noch? Ist es nicht einerlei, wo ich weiterlebe? Ich werde mich gleichfalls in Uri aufnehmen lassen und in der Schlucht leben ... Sei unbesorgt, werde euch nicht stören.“
Sie begannen schnell einzupacken, um noch mit dem Mittagzuge abfahren zu können. Es war aber noch keine halbe Stunde vergangen, als Alexei Jegorytsch aus Skworeschniki eintraf und meldete, daß Nicolai Wszewolodowitsch plötzlich am Morgen angekommen war, mit dem Frühzuge, und sich in Skworeschniki befinde, aber „in einem Zustande, daß der Herr auf die Fragen nicht zu antworten geruhten, durch alle Zimmer gingen, und sich dann in seiner Hälfte eingeschlossen haben ...“
„Ich bin ohne Befehl des Herrn hergefahren, um zu melden,“ fügte Alexei Jegorytsch verhalten, mit sehr aufmerksamem Blick hinzu.
Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an und fragte nicht weiter. Im Augenblick war der Wagen bereit. Sie fuhr mit Dascha nach Skworeschniki. Während der Fahrt soll sie sich mehrmals bekreuzt haben.
In „seiner Hälfte“ waren alle Türen unverschlossen, doch Nicolai Wszewolodowitsch war nirgendwo zu finden.
„Sollte der Herr nicht vielleicht im oberen Stock sein?“ fragte Fomuschka vorsichtig.
Es war sonderbar, daß diesmal mehrere Dienstboten Warwara Petrowna in die „Hälfte des Herrn“ folgten, während die anderen im großen Saal warteten. Noch nie hatten sie es gewagt, so die Etikette zu überschreiten. Warwara Petrowna bemerkte es wohl, aber sie schwieg.
Man stieg in den oberen Stock. Dort waren nur drei Zimmer, doch in keinem einzigen fand man ihn.
„Ja, sollte der Herr nicht vielleicht dahin gegangen sein?“ fragte jemand und wies auf die Tür zur Dachkammertreppe.
Tatsächlich war diese sonst stets geschlossene kleine Tür zur Dachkammer diesmal offen. Eine schmale, lange und sehr steile Treppe führte hinauf.
„Dorthin gehe ich nicht! Aus welchem Grunde hätte er dorthin gehen sollen?“ fragte Warwara Petrowna, unheimlich erbleichend, und sah sich nach den Dienstboten um. Die sahen sie an und schwiegen. Dascha zitterte.
Dann stürzte Warwara Petrowna die Treppe hinauf. Dascha folgte ihr. Doch kaum hatte Warwara Petrowna in die Dachkammer hineingesehen, als sie aufschrie und bewußtlos hinfiel.
Der Bürger des Kantons Uri hing hier gleich hinter der kleinen Tür. Auf dem kleinen Tisch lag ein Stück Papier, auf dem mit Blei gekritzelt die Worte standen:
„Niemanden beschuldigen. Ich selbst.“
Auf demselben Tischchen lag ferner ein Hammer, ein Stück Seife und ein großer Nagel. Die starke seidene Schnur, mit der Nicolai Stawrogin sich erhängt hatte, war dick eingeseift. Alles wies auf volle Absicht hin und auf klares Bewußtsein bis zum letzten Augenblick.
Die Annahme, daß die Tat in geistiger Umnachtung oder im Irrsinn geschehen sei, wurde von unseren Ärzten nach der Obduktion mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen.
1. Januar 1870.
Der vollkommen entgegengesetzte Typ jenes Sprosses aus gräflichem Hause, den Graf Tolstoi in „Kindheit und Jugend“ dargestellt hat[56]. Ein Typ aus der Urbevölkerung, der unbewußt von seiner eigenen typischen Kraft beunruhigt wird, ganz unmittelbar, und die nicht weiß, worauf sie sich aufbauen [fußfassen] könnte. Solche autochthonen Typen sind häufig entweder Stenka Rasins[57] oder Danila Filippowitschs[58], oder sie gehen bis zum Äußersten des Geißler- oder Skopzentums. Es ist das eine außergewöhnliche, für sie selbst schwere unmittelbare Kraft, die etwas verlangt und sucht, worauf sie Fuß fassen [stehen bleiben] und das sie sich zur Richtschnur nehmen könnte, die bis zur Qual Ruhe, Erlösung von den Stürmen verlangt und die vorläufig doch unmöglich nicht stürmen kann bis zu der Zeit, da sie die Beruhigung findet. Er stellt sich schließlich auf Christus, doch sein ganzes Leben war Sturm und Unordnung. (Die Masse des Volkes lebt unmittelbar, still und harmonisch, urtümlich, doch kaum zeigt sich in ihr Bewegung, d. h. einfache Lebensfunktion, so stellt sie immer diese Typen hervor). Es ist eine unumfaßbare unmittelbare Kraft, die Ruhe sucht, die erregt ist bis zu Schmerzen und die sich während der Zeit des Suchens und des Umherirrens mit Freuden in ungeheuerliche Abweichungen und Experimente stürzt, bis sie auf einer so starken Idee Fuß faßt, die ihrer unmittelbaren tierischen Kraft vollkommen proportional ist, – auf einer Idee, die dermaßen stark ist, daß sie diese Kraft endlich organisieren und bis zu weihevoller Stille beruhigen kann.
Überhaupt ein ernsterer Charakter, ernst bis zur Seltsamkeit. Ist zurückgekehrt mit Gedanken und Fragen, die ihn um so mehr stutzig machen, als ihm alles neu ist. Manche halten ihn für einen Nihilisten (z. B. die Mutter), ja er gilt sogar allgemein für einen Nihilisten. Nur Gr. sieht, daß das nicht ein Nihilist ist (aber was denn sonst?). Er meint, ein von sich selbst eingenommener Tor, wie es ihrer viele unter ihnen gibt. Der Fürst spottlacht immer, was Gr. mißfällt und verletzt. Gr. denkt schließlich, W. habe den Fürsten in der Hand. Mitunter überraschen Gr. am Fürsten Ausbrüche sowohl von Ernst wie von Zartheit. Ein sehr ernstes Gespräch. Ein tiefer Zug, daß der Fürst sehr viel und aufmerksam zuhört. Aber die Mutter fürchtet ihn doch immer. W. nahm ihn schon in die Hand (d. h. er glaubte, daß es ihm gelungen sei), doch bald wurde es selbst dem sorglosen W. klar, daß das etwas anderes war. Er will übrigens dennoch (auf den Rat und die Warnungen U–ffs hin) den Fürsten in den Mord hineinziehen. Doch W. ist bloß leichtsinnig und sorglos, wenn es aber nötig ist – sehr klug: er gewahrt plötzlich, daß er den Fürsten nicht in den Mord hineinziehen kann, daß es hier gar nicht das ist, was er vermutet hatte, daß der Fürst nur zuhört, schweigt und aufpaßt, ja sogar selbst auf Sch–ffs Seite steht. Da löst W. mit einem Schlage das Mordproblem auf eine andere Weise und umgeht den Fürsten. Der Verdacht fällt dennoch zum Teil auf den Fürsten; doch nun nimmt plötzlich der Fürst selbst die Sache in die Hand und enthüllt sich.
Er wird mit einem Schlage Herr der Sache und besiegt U–ff; dieser gesteht. Geht geradeswegs zum Zögling, zeigt ihr seine ganze tiefe Liebe, stellt aber Bedingungen – sie ist mit Begeisterung einverstanden. Neue Menschen, erneutes Leben! Götzen zerstören und Schiffe verbrennen. Ist, falls nötig, bereit, sich von der Erbschaft loszusagen; doch die Mutter zittert schon und fügt sich. Schreckt den Gouverneur und den großen Schriftsteller. Hat großmütig Mitleid mit der jungen Schönheit, die er brutal und schroff verstößt wegen eines leichtfertigen Ausfalls. (Anfangs scherzte er mit ihr; sie hielt ihn für einen Nihilisten und ließ es sich einfallen, mit ihm ein wenig zu spielen; er ließ sie brutal im Stich, war aber im Unrecht: denn es war nicht Verderbtheit, wie ihm schien, sondern leichtfertige und gewissensruhige Überzeugung.) Überhaupt: er überzeugt sich, daß ehrlich und besonders ein neuer Mensch zu sein, nicht so leicht ist, daß dazu nicht Enthusiasmus allein genügt, was er auch ihr, dem Zögling seiner Mutter, erklärt: „Ich werde kein neuer Mensch sein, ich bin viel zu unoriginell dazu,“ sagt er, „aber ich habe endlich einige wertvolle Ideen gefunden, an die ich mich jetzt halten will.“ Doch vor jeder Wiedergeburt oder Auferstehung – Selbstüberwindung; und deshalb: „du bist mir nötig, du wirst mich retten mit deiner Stille“. Er sagt: „Früher verurteilte ich den Nihilismus und war sein erbitterter Feind, jetzt aber sehe ich ein, daß die Schuldigsten und Schlechtesten wir, die Herren, sind, wir vom Erdboden Losgerissenen, und darum müssen zuerst wir uns umgestalten. Wir sind die Hauptfäulnis, auf uns ruht der Hauptfluch und aus uns ist alles gekommen.“
7. März 1870.
Der Fürst war der ausschweifendste Mensch und ein hochmütiger Aristokrat. Er hat sich bereits bekannt gemacht als ein Erzfeind der Aufhebung der Leibeigenschaft und als ein Unterdrücker der Bauern.
Er ist Ideenmensch. Die Idee, die ihn einmal ergreift, beherrscht ihn ganz; herrscht aber dann nicht so sehr in seinen Gedanken, als wie sie sich in ihm verkörpert, in seine Natur übergeht (immer mit Leiden und Unruhe), und dann, einmal in seiner Natur inkarniert, verlangt sie ihre sofortige Umsetzung in die Tat.
Während seiner Abwesenheit aus unserer Stadt hat er seine Überzeugungen geändert. Seine Überzeugungen ändern heißt für ihn sofort auch sein ganzes Leben ändern, so daß er schon mit der geheimen Absicht zurückkehrt, sich von der Erbschaft loszusagen und mit allem zu brechen. Er ist plötzlich ein furchtbarer Skeptiker geworden, ist maßlos mißtrauisch und vermutet immer das Schlimmste, – eine Erscheinung, die bei einem festen Menschen, für den sich entscheiden, die Schiffe verbrennen und handeln heißt, sehr verständlich ist. Dieser Mensch kann noch vor dem Entschluß zweifeln, wenn er noch nicht ganz überzeugt ist; zweifelt er aber, so wird er infolge der Leidenschaftlichkeit seiner Natur zum Skeptiker bis zum Zynismus.
Die Ideen Goluboffs sind: Ergebung und Selbstüberwindung und daß Gott und das Himmelreich in uns liegen, in der Selbstbeherrschung, desgleichen die Freiheit.
11. März 1870.
Als der Fürst ankam, hatte er bereits alle Zweifel überwunden. Er ist – ein neuer Mensch. Er bricht mit zwei Mädchen, beabsichtigt auch mit der Mutter zu brechen. Besessen von wahnsinniger, nach innen geschlagener und verhaltener Energie, spricht er sich wenig aus, schaut spöttisch und skeptisch zu, wie ein Mensch, der schon die endgültige Lösung und die große Idee gefunden hat. Er hört vorläufig alle an, widerspricht selten. Macht sich innerlich hochmütig lustig über Gr., ist krankhaft betroffen durch Sch. und sieht vollkommen deutlich dessen Buchgelehrtheit und Aussichtslosigkeit, beginnt mit Erstaunen und Neugier W. zu beobachten und horcht gespannt – da er endlich erraten will: worauf diese Menschen so fest stehen können? (NB. Mit W. frühere Beziehungen.) Einzig Goluboff erschüttert ihn, doch mit Enthusiasmus gesteht er ihm (aber kurz, in zwei Worten), daß dieses ganz und gar auch sein Gedanke ist, die von ihm gefundene Überzeugung. Er ist zurückgekehrt, um seine Verstöße, Beleidigungen usw. in der Stadt wieder gutzumachen. Versöhnt sich mit den Beleidigten, nimmt eine Ohrfeige hin, tritt für die verübte Religionsspötterei ein, sucht die Mörder auf, und schließlich erklärt er feierlich dem Zögling, daß er sie liebt, erklärt die Bedingungen. Sie bestehen darin, daß er von nun an ein Russischer Mensch ist und daß man sogar an das glauben muß, was von ihm bei Goluboff gesagt wurde, (daß Rußland und der russische Gedanke die Menschheit retten wird). Er betet vor Heiligenbildern usw. Während der ganzen Zeit, die er in der Stadt verlebt, zeichnet er sich durch die wildeste Energie in der neuen Überzeugung aus und setzt seine Mutter in Erstaunen. Dem Zögling sagt er, er habe sie beobachtet und sich überzeugt, daß er sie liebt und mit ihr auferstehen wird, wenn sie dieselben Überzeugungen hat. Und dann plötzlich erschießt er sich.
Der Hauptgedanke, an dem der Fürst krankt und den er in sich trägt, ist folgender: wir haben die Rechtgläubigkeit, unser Volk ist groß und schön, weil es glaubt und weil es die Rechtgläubigkeit hat; wir Russen sind stark und stärker als alle, weil wir eine unermeßliche rechtgläubige Volksmasse haben. Würde im Volk der Glaube an die Rechtgläubigkeit wankend werden, so würde es sofort anfangen sich zu zersetzen, ein Vorgang, der bei den Völkern des Westens bereits begonnen hat, denn im Westen hat man den Glauben (Katholizismus, Protestantismus, Sekten, Entstellungen des Christentums) schon eingebüßt, und hat ihn dort einbüßen müssen. (Bei uns ist natürlich die obere Volksschicht, die sogenannte höhere Gesellschaft, eine angeschwemmte Schicht, aus dem Westen übernommen – folglich hier nur „Gras im Feuer“ und hat nichts zu bedeuten.)
Jetzt aber fragt es sich: wer kann denn glauben? Glaubt denn auch nur jemand (von den Panslawen und selbst Slawophilen)? und schließlich sogar die Frage: kann man überhaupt glauben? Wenn man es aber nicht kann, wozu dann so viel von der Kraft des russischen Volkes, die in der Rechtgläubigkeit liegen soll, reden? Folglich ist diese Kraft nur eine Frage der Zeit. Dort hat die Zersetzung, der Atheismus, früher begonnen, bei uns – wird sie eben später beginnen, beginnen aber wird sie unbedingt mit der Ausbreitung des Atheismus. Wenn das aber sogar unvermeidlich ist, so muß man sogar wünschen, daß es noch schneller geschehe – je schneller desto besser.
(Der Fürst bemerkt plötzlich, daß er mit den Anschauungen W–s übereinstimmt: daß alles verbrennen das Beste ist.)
Es ergibt sich also folgendes:
1. daß die geschäftigen Leute, die diese Frage für leer und überflüssig halten und glauben, daß man auch ohne sie auskommen könne, Pöbel und Insekten sind, Gras im Feuer;
2. daß es sich um die dringende Frage handelt: kann man, wenn man zivilisiert, d. h. Europäer ist, überhaupt glauben? Ich meine: einwandlos an die Göttlichkeit des Gottessohnes Jesus Christus glauben? (Denn nur darin besteht doch der ganze Glaube, daß man an Christi Göttlichkeit glaubt.)
NB. Auf diese Frage antwortet die Zivilisation durch Tatsachen mit einem Nein (Renan) und mit dem Beweis, daß die Gesellschaft das reine Verständnis Christi nicht hat rein erhalten können (der Katholizismus ist Antichrist, Hure, der lutherische Protestantismus aber ist Molokanentum)[59].
3. Wenn es aber so ist (d. h. wenn man also nicht daran glauben kann), vermag dann die Menschheit überhaupt ohne Glauben zu leben (mit der Wissenschaft z. B., Alexander Herzen)?[60] Die sittlichen Grundlagen werden den Menschen durch Offenbarung gegeben. Vernichtet man im Glauben bloß irgend etwas, so stürzt die ganze sittliche Grundlage des Christentums ein, denn (alles ist untereinander verbunden) das eine zieht das andere nach sich.
Ist nun also eine andere, eine wissenschaftliche Sittlichkeit (ein wissenschaftliches Ethos) überhaupt möglich?
Wenn nicht, so wird folglich die Sittlichkeit nur vom russischen Volke aufbewahrt, denn das russische Volk ist rechtgläubig.
Wenn aber die Rechtgläubigkeit für den Zivilisierten unmöglich ist (und in hundert Jahren wird halb Rußland zivilisiert sein), so ist folglich alles nur ein Naturspiel, und die ganze Kraft Rußlands nur eine zeitweilige. Auf daß sie jedoch ewig sei, ist voller Glaube an alles unbedingt erforderlich ... Aber kann man denn glauben?
Zuerst, vor allen anderen Dingen, gilt es, diese Frage zu lösen: Kann man überhaupt ernstlich und wahrhaft glauben?
Hierin liegt alles, der ganze Lebensknoten des russischen Volkes, seine ganze Bestimmung in der Zukunft und sein ganzes zukünftiges Sein.
Ist es aber unmöglich, so zu glauben, dann ist es doch durchaus nicht so unverzeihlich, wenn jemand verlangt, daß man alles verbrennen soll. Beide Forderungen sind vollkommen gleich menschenfreundlich. (Langes Leiden und dann Tod oder kurzes Leiden und Tod. Das Letztere ist selbstverständlich menschenfreundlicher.)
Das also wäre das Rätsel?
NB. Sie können natürlich gegen die Richtigkeit der logischen Folgerung obiger Thesen vieles einwenden, können streiten, nicht zustimmen, z. B. von der gelehrten rechten Seite behaupten, daß das Christentum nicht in der Form des lutherischen Protestantismus fallen werde, d. h. indem man Christus nur als gewöhnlichen Menschen, als segensreichen Philosophen auffaßt (denn das ist doch der Ausgang des lutherischen Protestantismus), oder von der linken Seite behaupten, das Christentum sei keineswegs eine Notwendigkeit für die Menschheit und durchaus nicht die Quelle des lebendigen Lebens (die hitzigen Kleinen schreien ja schon, daß es sogar schädlich sei), daß z. B. die Wissenschaft der Menschheit das lebendige Leben sowie das vollendetste sittliche Ideal geben könne. Diese Widersprüche sind natürlich zu erwarten, ist doch die Welt voll von ihnen und das wird sie ja noch lange sein. Aber Sie, Schatoff, und ich, wir beide wissen doch, daß das alles Unsinn ist, daß Christus-Mensch im Gegensatz zu Christus-Gottessohn weder Erlöser noch Quelle des Lebens sein kann, daß die Wissenschaft allein niemals das ganze menschliche Ideal erfüllen wird, und daß die Lebensquelle, die Beruhigung des Menschen und die Rettung aller Menschen vor der Verzweiflung und die Bedingung sine qua non für das Sein der ganzen Welt in diesen Worten enthalten ist: Und das Wort ward Fleisch, und im Glauben an diese Worte. Früher oder später werden doch alle darin übereinstimmen, und somit ist denn wieder die ganze Frage nur: Kann man an all das glauben, woran zu glauben die Rechtgläubigkeit befiehlt? Wenn nicht, so ist es viel besser und humaner – alles zu verbrennen und sich Werchowenski anzuschließen.
Der Fürst: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, und ich hebe es noch ganz besonders hervor, daß diese Fragen unvergleichlich wichtiger sind, als sie zu sein scheinen, wenn auch das sehr alte Neue an ihnen nur dies ist, daß wir beide ihre unermeßliche Bedeutung und die unbedingte Notwendigkeit ihrer Lösung erkannt haben.“
„Ach! Wozu auf ganze tausend Jahre vorauslösen!“ rief Schatoff (d. h. also die langsame Zersetzung). „Besser ist, wir leben in der Gegenwart und erfüllen das Gegenwärtige, ohne daran zu zweifeln, daß weiterhin Gott helfen wird.“
„Versuchen Sie es, so zu leben!“ sagte der Fürst lachend und ging.
„Darum ist Werchowenski auch so ruhig,“ sagt der Fürst, „weil er überzeugt ist, daß das Christentum für das lebendige Leben der Menschheit nicht nur nicht unbedingt nötig, sondern sogar positiv schädlich sei, und daß die Menschheit, wenn man das Christentum vollkommen ausrottete, sofort zu neuem, wirklichem Leben aufleben würde. Darin besteht seine furchtbare Kraft. Sie werden sehen: der Westen wird mit diesen Leuten nicht fertig werden, alles wird dort durch sie untergehen.“
„Und was wird dann sein?“
„Eine tote Maschine, die natürlich nicht zu verwirklichen ist, aber ... vielleicht ist sie doch zu verwirklichen, denn in ein paar Jahrhunderten wird man die Welt schon so weit ertöten können, daß sie vor Verzweiflung wirklich lieber wird tot sein wollen. ‚Berge fallt über uns und deckt uns zu.‘ Und so wird es auch sein. (Wenn z. B. die Mittel der Wissenschaft sich für die Ernährung als unzureichend erweisen und es eng sein wird, auf der Welt zu leben, so wird man die Neugeborenen in ... werfen oder aufessen. Mich soll es nicht wundern, wenn das eine wie das andere geschieht. Es wird so sein müssen, besonders wenn die Wissenschaft es so für richtig hält).“
„Erklären Sie das näher,“ sagt Schatoff.
„Wenn die Nahrungsmittel sich verringern und man mit keiner Wissenschaft weder Nahrung noch Holz zum Heizen erlangen kann, die Menschheit sich aber immer noch vermehrt, so wird man die Vermehrung aufhalten müssen. Die Wissenschaft sagt: ‚Du bist nicht schuld daran, daß die Natur es so eingerichtet hat‘, und allem voran geht der Selbsterhaltungstrieb, folglich heißt es, die Neugeborenen verbrennen. Das ist die Moral der Wissenschaft. Malthus hat durchaus nicht so unrecht mit seiner Theorie, nur ist bis jetzt noch zu wenig Zeit vergangen, um sie durch praktische Erfahrung bestätigt zu sehen. Blicken Sie etwas weiter, fragen Sie sich, was dann sein wird; und wird denn Europa eine Bevölkerung ohne Nahrung und Heizmaterial aushalten können? Und wird dann die Wissenschaft zur rechten Zeit helfen, selbst wenn sie helfen könnte? Das Verbrennen der Kinder wird zur Angewohnheit werden, denn alle sittlichen Grundlagen im Menschen, der einzig seinen eigenen Kräften überlassen ist, – sind bedingt. Der Wilde Nordamerikas skalpiert seinen Feind, wir aber finden das vorläufig noch schändlich (wenn wir auch selbst eine Unzahl von vielleicht noch schlimmeren Gemeinheiten begehen, Gemeinheiten, die wir nicht einmal bemerken oder womöglich für Tugenden halten). Jetzt sehen Sie einmal: wenn Sie glauben, daß das Christentum eine Notwendigkeit ist und (ein Geschenk) eine Gnade Gottes für die Menschheit, die der Mensch allein, von sich aus, nie würde erlangt haben, – wenn Sie glauben, daß der Mensch von seiner Wiege an in unmittelbarer Verbindung mit Gott steht, zuerst durch die Offenbarung und dann durch das Wunder der Erscheinung Christi, und schließlich, wenn Sie glauben, daß der Mensch, nur auf seine eigenen Kräfte angewiesen, ganz auf sich allein gestellt, unfehlbar untergegangen wäre, und man folglich glauben muß, daß Gott mit dem Menschen in unmittelbarer Verbindung steht, – dann (d. h. wenn Sie sich dem Christentum ergeben haben) würden Sie sich niemals mit dem Gefühl des Kinder-Verbrennens aussöhnen. Da haben Sie jetzt eine vollkommen andere Sittlichkeit. Folglich enthält nur das Christentum allein das lebendige Wasser, kann nur das Christentum allein den Menschen zu den Quellen der Wasser des Lebens bringen und ihn vor der Zersetzung bewahren. Ohne Christentum wird sich die Menschheit zersetzen und untergehen.
Also kann man sowohl an dieses wie an jenes glauben. Somit besteht denn die Frage bloß darin, was denn eigentlich richtiger ist und wo die Quellen des lebendigen Wassers sind. Meiner Meinung nach wird die Menschheit mit der Wissenschaft allein, wenn diese es bis zu Gleichgültigkeit gegen die Neugeborenen gebracht hat, verwildern und aussterben, und darum ist verbrennen besser als sterben. Doch andererseits glaube ich fest, daß das Christentum die Menschheit retten würde.“
Schatoff: „Wie, wie?“
Der Fürst: „Es enthält alle Bedingungen zur Rettung wie der Sklaven so auch der Herren. Wenn man sich vorstellt, daß alle Christusse wären, würde dann der Pauperismus überhaupt möglich sein? Im Christentum wäre sogar der Mangel an Nahrung und Heizmaterial erträglich (nicht die Neugeborenen umbringen, sondern selbst für meinen Bruder sterben).“
Schatoff: „Wenn das so ist, worin besteht dann das Problem?“
Der Fürst: „Immer in dem einen: kann denn ein zivilisierter Mensch überhaupt glauben?
Nur aus Leichtsinn stellt der Mensch diese Frage nicht auf den ersten Plan. Übrigens, viele mühen sich darum, schreiben und reden darüber. Wir sorgen uns aus Leichtsinn und aus Ärger nur um das Gegenwärtige und glauben, das sei alles, was nötig ist. Andere wiederum denken sich verschiedene Verdauungsphilosophien aus, in dem Sinne, daß das Christentum sogar mit der unendlichen Entwickelung der Zivilisation, nicht nur mit der gegenwärtigen allein, vereinbar sei. Aber wir beide wissen doch, daß das alles Unsinn ist und daß es nur zwei Initiativen gibt: entweder der Glaube oder Verbrennen. Werchowenski hat sich für das zweite entschieden und ist stark und ruhig. Ich beobachte ihn jetzt, um festzustellen, was in seiner Kraft aus der Überzeugung kommt und was einfach nur aus der Natur.“
Schatoff: „Wenn der Mensch sich verändern wird – wie wird er dann mit seinem Verstande leben können? Der Besitz des Verstandes entspricht nur dem gegenwärtigen Organismus.“
Der Fürst: „Woher wissen Sie, ob der jetzige Verstand überhaupt nötig sein wird?“
Schatoff: „Was denn sonst? Wohl etwas Höheres?“
Der Fürst: „Zweifellos etwas viel Höheres.“
Schatoff: „Ja, kann es denn überhaupt etwas Höheres als den Verstand geben?“
Der Fürst: „So fragt die Wissenschaft, aber – sehen Sie, dort an der Wand kriecht eine Wanze. Die Wissenschaft weiß, daß sie ein Organismus ist, daß sie irgendein Leben lebt und Eindrücke hat, sogar ihre eigene Vorstellung, und Gott weiß was noch alles. Kann aber die Wissenschaft auch das Wesen des Lebens, der Vorstellungen und Empfindungen der Wanze erfahren und sie mir mitteilen? Das kann sie natürlich nicht und das wird sie auch niemals können. Um das erfahren zu können, müßte man wenigstens auf eine Minute selbst zur Wanze werden. Wenn der Wissenschaft das unmöglich ist, so kann ich annehmen, daß sie mir auch das Wesen eines anderen höheren Organismus oder Seins nicht mitzuteilen vermag, und folglich auch nicht den Zustand des Menschen nach seiner Ausartung im Millennium, wenn es dann auch meinetwegen keinen Verstand mehr geben sollte.“
„Sie haben mich ganz wirr gemacht,“ sagt Schatoff, „aber ich werde von Ihnen nicht ablassen.“
Der Fürst: „Ich verstehe nicht, warum Sie den Besitz des Verstandes, d. h. der Erkenntnis, für das höchste Sein von allen, die es überhaupt geben kann, halten? Meiner Meinung nach ist das schon nicht die Wissenschaft, sondern der Glaube, und schließlich kann man sagen, daß hier wiederum ein Gaukelspiel der Natur vorliegt, und zwar: sich selbst zu schätzen (im Ganzen, d. h. als einzelner Mensch in der Menschheit), ist zur Erhaltung des Menschen unbedingt nötig. Ein jedes Wesen muß sich für das Allerhöchste halten. Die Wanze hält sich bestimmt für höher als Sie, und sie würde bestimmt nicht zu einem Menschen werden wollen, ganz abgesehen davon, daß sie es nicht kann, sondern würde unbedingt gerade Wanze bleiben wollen. Die Wanze ist ein Geheimnis, und schließlich ist alles ein Geheimnis. Warum leugnen Sie die Geheimnisse anderer? Und merken Sie sich noch, daß der Unglaube dem Menschen vielleicht gerade deswegen angeboren ist, weil der Unglaube den Verstand über alles stellt, da aber der Verstand nur dem menschlichen Organismus eigen ist, so kann und will er auch nicht ein Leben in einer anderen Gestalt verstehen, d. h. ein Leben nach dem Tode, und darum glaubt er nicht, daß es höher sei. Andererseits ist dem Menschen schon von Natur das Gefühl der Verzweiflung und des auf ihm ruhenden Fluches eigen, denn der menschliche Verstand ist so eingerichtet, daß er beständig an sich nicht glaubt, sich selbst nicht befriedigt, und darum ist er geneigt, seine Existenz für ungenügend zu halten. Daraus ergibt sich der Drang zum Glauben an ein Leben jenseits des Grabes. Wir sind offenbar Übergangswesen und unser Dasein auf der Erde ist augenscheinlich der Vorgang oder das unausgesetzte Dasein einer Puppe, die sich in einen Schmetterling verwandelt. Erinnern Sie sich des Ausspruchs: der Engel fällt niemals, der Teufel ist so gefallen, daß er immer liegt, der Mensch fällt und kann auferstehn. Ich glaube, die Menschen werden entweder Teufel oder Engel. Man sagt, ewige Strafe sei ungerecht, und die französische Verdauungsphilosophie hat sich ausgedacht, daß allen verziehen wird. Aber das Erdenleben ist doch ein Prozeß der Umgeburt. Wer ist schuld daran, daß man sich in einen Teufel umwandelt? Alles wird natürlich aufgewogen werden. Aber das ist doch eine Tatsache, ein Resultat – ganz genau so, wie sich auch auf der Erde bei allem immer eines aus dem anderen ergibt. Und vergessen Sie auch nicht, daß ‚die Zeit nicht mehr sein wird‘, wie der Engel in der Apokalypse schwört. Und vergessen Sie gleichfalls noch das eine nicht, daß die Teufel – wissen! Folglich haben auch die Naturen des Jenseits Erkenntnis und Gedächtnis, und nicht nur der Mensch allein, allerdings – vielleicht nicht menschliche Erkenntnis und menschliches Gedächtnis. Sterben kann man gar nicht. Sein ist, aber Nichtsein ist überhaupt nicht.“
Schatoff: „Solcher Gespräche, wie das unsrige, gibt es in Rußland unendlich viele. Aber ... wie, wenn Sie sich über mich nur lustig machen?“
„Und was wäre denn dabei so schlimm?“ fragte der Fürst lachend.
Schatoff: „Ich glaube es nicht. Ein Mensch, der die Rechtgläubigkeit als das Wesen Rußlands begriffen hat, und das noch so begriffen hat wie Sie, kann nicht darüber spotten.“
Der Fürst: „Das tue ich ja auch gar nicht.“
Schatoff: „Wirklich nicht? Ich bin ein Buchmensch. Ich würde gern kein Buchmensch sein. Was muß ich dazu tun?“
Der Fürst: „Glauben Sie.“
Schatoff: „An die Rechtgläubigkeit und Rußland?“
Der Fürst: „Ja.“
Schatoff: „Ja, natürlich, dann ist man erlöst. Ich ... vielleicht glaube ich. Warum schweigen Sie?“
Der Fürst: „Sie glauben also nicht.“
Schatoff: „Und Sie?“
Der Fürst: „Aber was habe ich denn damit zu tun?“
Schatoff: „Sollten wir uns beide wirklich auch ohne Worte verstehen?“
Der Fürst: „Leben Sie wohl ... Und erlauben Sie, Schatoff, Sie noch auf eines aufmerksam zu machen: Sie sagten vorhin: ‚ich werde nicht von Ihnen ablassen!‘ Das wünsche ich durchaus nicht, im Gegenteil, ich wünsche, daß Sie mich vollkommen in Ruhe lassen. Ich sage das im Ernst. Ich habe meine Gründe ...“
Stepan Trophimowitsch zitiert Tschatzki[61]:
„Zur Feder von den Karten, von ihr zurück zum Spiel,
Wie Flut und Ebbe wechselnd nach stehendem Gesetz ...“
Schatoff greift sofort auf: „Tschatzki begriff überhaupt nicht, als beschränkter Dummkopf, bis zu welch einem Grade er dumm war, als er dieses, was Sie da soeben zitierten, sagte. Er ruft im stärksten Unwillen: ‚Den Wagen mir, den Wagen!‘ weil er nicht einmal fähig ist, von selbst darauf zu verfallen, daß man die Zeit auch anders als ‚zur Feder von den Karten, von ihr zurück zum Spiel‘ verbringen kann – sogar in dem damaligen Moskau! Er war Herr und Gutsbesitzer und für ihn existierte außer seinem Kreise überhaupt nichts, – das ist der Grund, warum er über das Leben der höheren Moskauer Gesellschaft in solche Verzweiflung gerät, ganz als ob es außer diesem Leben in Rußland ein anderes gar nicht gegeben hätte. Das russische Volk übersah er einfach, wie dies alle unsere ‚Vorderen‘[62] taten, übersah es um so mehr, je mehr er zu den ‚Vorderen‘ gehörte. Je mehr Herr er war und je mehr Vorderster, um so mehr empfand er Haß – nicht gegen die russischen Einrichtungen, sondern gegen das russische Volk. Über das russische Volk, über seinen Glauben, seine Geschichte, seine Sitten, seine Bedeutung und seine große Millionenmasse dachte er sich nichts mehr als über den Pachtzinsparagraphen. Und genau so dachten auch die Dekabristen[63] und Professoren und Dichter und Liberalen, und überhaupt alle Reformatoren bis zum Zar-Befreier.[64]
Tschatzki ließ sich von seinen Bauern Pacht zahlen, um mit diesem Gelde in Paris leben zu können, Cousin zu hören und womöglich mit Tschaadajeffschem[65] oder Fürst Gagarinschem[66] Katholizismus zu enden oder, wenn er Freidenker war, mit einem Haß auf Rußland, wie etwa Belinski und tutti quanti[67]. Vor allem aber: er konnte es sich nicht einmal vorstellen, daß es in Rußland noch eine andere Welt als die der Moskauer höheren Gesellschaft geben könnte, weil – er selbst ein Moskauer Herr und Gutsbesitzer war. Und um wieviel doch diese stumpfsinnigen, kartenspielenden Moskowiter klüger waren als er! Aber wenn er auch dumm war, dafür hatte er ein gutes Herz, wenn er auch nicht von weitem her war, dafür war sein Gedanke doch originell – denn damals waren doch diese Tiraden gegen Moskau immerhin originell! Aber Sie, Sie, was sind Sie, wenn Sie das jetzt wiederholen? Oh, wenn Sie wüßten, wie weit Sie sogar hinter den damaligen kartenspielenden und ihren Dienst tuenden Moskowitern zurückgeblieben sind, und dabei halten Sie und Ihresgleichen sich immer noch für ‚Vordere‘! Wer auf den alten Formen des Liberalismus reitet, der ist schon zurückgeblieben. Die Form des Liberalismus muß immer originell sein, jede Generation muß eine neue haben. Ich spreche nicht vom Wesen des Liberalismus, sondern von seiner Form. Liberalismus, der mit Antinationalismus und persönlichem Haß gegen Rußland endet, ist Rückstand und Blödsinn, Sie aber sehen das nicht ein und halten es noch für das Vorderste und Höchste, das es überhaupt gibt.
Und bitte auch nicht zu vergessen, daß der Zar das Volk befreit hat, nicht Sie und Ihre Zeitgenossen. Herrgott, Sie haben ja noch nicht einmal begriffen, daß die Zaren unvergleichlich liberaler und fortgeschrittener waren, als Sie, denn die Zaren sind immer Hand in Hand mit dem Volke gegangen, sogar zu Birons[68] Zeiten. Der Gedanke, das Volk zu befreien, war den Zaren schon längst vertraut, dem Dekabristen Tschatzki aber kam er überhaupt nicht in den Sinn. Ja, diese Tschatzkis wurden manchmal sogar wegen grausamer Behandlung ihrer Bauern unter Kuratel gestellt, – und warum nur? Waren sie denn so schlechte Menschen? Taten sie es etwa aus Bosheit? Keineswegs. Sie taten es, weil sie einfach nicht origineller auf Rußland zu sehen verstanden, weil sie ihre Moskauer höhere Gesellschaft für ganz Rußland hielten. Ich könnte wetten, daß die Dekabristen das Volk sofort befreit hätten, bestimmt aber ohne ihm Land zu geben – wofür das Volk ihnen unbedingt sofort die Köpfe abgedreht und ihnen damit zu ihrer größten Verwunderung bewiesen hätte, daß nicht die Moskauer Gesellschaft allein ganz Rußland ausmacht. Aber, schließlich – auch ohne Köpfe hätten sie nichts verstanden, obgleich es gerade ihre Köpfe waren, die sie am meisten am Verstehen hinderten. Nein, mit Verlaub, das war Raskol, seit Peter dem Großen hat es bei uns zwei Raskole gegeben, einen oberen und einen unteren“.[69]
„Sie, meine Herren, Sie Verneiner Gottes und Christi, haben nicht einmal daran gedacht, wie ohne Christus alles in der Welt sofort schmutzig und sündhaft wird. Sie verurteilen Christus und lachen über Gott, aber was für Beispiele geben Sie denn der Menschheit? Wie kleinlich sind Sie, wie verderbt, wie neidisch, wie ruhmsüchtig! Indem Sie Christus beseitigen –, entfernen Sie das unerreichbare Ideal der Schönheit und Güte aus der Menschheit. Und was schlagen Sie zum Ersatz Gleichwertiges vor?“
Stepan Trophimowitsch: „Ich glaube, hierüber ließe sich noch ein wenig streiten – aber wer hindert einen denn, wenn man an Christus nicht als an Gott glauben will, ihn als Ideal der Vollkommenheit und sittlichen Schönheit zu verehren?“
Schatoff: „Und zu gleicher Zeit doch nicht an ‚das Wort ward Fleisch‘ zu glauben, d. h. daß das Ideal leibhaftig gegenwärtig war, folglich auf Erden nicht unmöglich und der ganzen Menschheit wirklich erreichbar ist? Ja, kann denn die Menschheit ohne diesen Trost auskommen? Aber Christus ist ja doch nur deswegen gekommen, damit die Menschheit es erfahre, daß auch ihre irdische Natur, der menschliche Geist wirklich in einem so himmlischen Glanze tatsächlich und leibhaftig erscheinen kann, und nicht nur geistig, als Ideal – daß das sowohl möglich wie natürlich ist. Die Anhänger Christi, die dieses durchleuchtete Fleisch vergötterten, bewiesen unter den grausamsten Martern, welch ein Glück es ist, diese Leibhaftigkeit in sich zu tragen, der Vollkommenheit dieser Gestalt nachzuahmen und an ihre Leibhaftigkeit zu glauben. Die anderen aber, die da sahen, welch ein Glück diese Leibhaftigkeit gab, kaum daß der Mensch anfing, ihrer teilhaftig zu werden und sich in Wirklichkeit ihrer Schönheit zu nähern, – wunderten sich, staunten, und wollten schließlich selbst diese Seligkeit genießen: sie wurden Christen und freuten sich schon im voraus der Qualen. Das Ganze liegt hier eben darin, daß ‚das Wort‘ wirklich ‚Fleisch ward‘. Darin liegt der ganze Glaube und der ganze Trost der Menschheit, der Trost, auf den sie niemals verzichten wird. Das aber ist es ja gerade, was Sie und Ihresgleichen der Menschheit nehmen wollen. Übrigens, Sie würden es ihr nehmen können, wenn Sie ihr etwas Besseres als Christus zeigen könnten. So zeigen Sie es doch!“
Stepan Trophimowitsch sagt: „Immerhin muß man sich doch über das übermäßige Quantum Dummheit wundern, das in Rußland steckt.“
Der Fürst: „Aber das sind doch alles nur unreife Knaben, die weder von der Gesellschaft noch vom Volk etwas verstehen.“
Stepan Trophimowitsch: „Die aber bei uns doch so viel Stützkraft gefunden haben und finden, und zu denen alles hinströmt, – wenn auch die Hinströmenden meinetwegen nur Knaben und Mädchen sind, so sind es doch nicht zehnjährige, sondern immerhin zwanzig- und über zwanzigjährige. In diesem Alter aber ist es nicht mehr statthaft, so dumm zu sein.“
Schatoff: „Ich bitte Sie! Sind denn bei uns nicht alle so dumm, selbst die Sechzigjährigen der gebildeten Gesellschaft nicht ausgenommen? Treten doch ganze Zeitungen und Zeitschriften, ernste Menschen, sogar Professoren und Direktoren und alle möglichen Autoritäten für die Idee der Aufteilung Rußlands und die Lostrennung unserer Grenzprovinzen ein! Ist das denn nicht ebenso dumm?
Waren Sie es nicht selbst, Stepan Trophimowitsch, der uns noch vor kurzem erzählte, wie die Herren Literaten oder die literarischen Herren mit Belinski darüber diskutiert haben, wie dieses oder jenes in der Zukunftsgesellschaft sein werde? Alles ist doch aus Ihrer Generation gekommen, stammt aus Ihrer Zeit. Waren Sie denn klüger? Ist denn die Idee, daß alle Völker des Westens national sein und wir sie deswegen achten und die Sonderheit der ganzen nationalen Entwicklung eines jeden Volkes andächtig anerkennen müssen, die Russen aber unter keinen Umständen sie selbst sein dürfen, und ihnen nicht einmal in Gedanken etwas Besonderes, Eigenes zugestanden werden darf[70], – ist diese Idee etwa nicht dümmer, als was diese Knaben in ihren Proklamationen von den Genossenschaften reden? Ja, genau genommen stützen sich diese Knaben gerade auf die Anschauungen Ihrer Generation, denn Ihre Generation hat durch die Unkenntnis Rußlands und die Verleugnung seiner Selbständigkeit die ganze Sache eingebrockt. Was aber diese Knaben anbetrifft, so stellen sie sich ja durch ihr Programm selbst in ein Kriegsverhältnis zu jeder Gesellschaft, also dürfen sie sich auch nicht wundern oder sich beklagen, wenn die Gesellschaft sie vernichtet. Sie sagen, daß sie vor moralischen Pedanterien nicht zurückschrecken, sondern morden und brennen werden, folglich kann man auch mit ihnen so verfahren. Wenn sie die Regierung geschlachtet haben werden, wollen sie nur ein paar Tage Zeit lassen, damit alle ihr Hab und Gut ihnen übergeben, sich von allem Besitz auf ewig lossagen und sich in die Genossenschaften als Schuster einschreiben können. Folglich können alle, die das nicht wollen, auch mit ihnen ebenso zeremonielos verfahren.“
Schatoff spricht während der Sitzung:
„Ich schäme mich, ein solches Programm mit meinem Namen zu unterschreiben. (In wenigen Tagen sind dann alle Schuster.) Zehnjährige Knaben sind klüger als Sie. Nach dem Ton des Programms zu urteilen, sind Sie, meine Herren, vollkommen überzeugt, daß alle, hingerissen von Ihrer Kühnheit, Weib, Kind, Besitz und Kirchen verlassen werden, um mit Ihnen zu stehlen, zu morden und zu brennen. Aus Ihren Worten ersieht man, wie fest Sie glauben, daß das Volk den Zaren hasse und nur darauf warte, endlich alles von sich werfen und sich Ihnen anschließen zu können. Sie sind ja sogar dermaßen davon überzeugt, daß Sie mit ruhigem Gewissen bereits angefangen haben, sowohl zu rauben, wie zu brennen und zu morden. Sie sind so unreife Knaben, daß Sie nicht einmal die gewöhnliche Eigenliebe der Menschen in Betracht ziehen – ganz abgesehen von alldem anderen –, wenn Sie glauben, die Menschen werden zu Ihnen gelaufen kommen, zu Ihnen, den grünen Jungen! Sie sind dermaßen flach und dumm, daß Sie überzeugt sind, Sie hätten eine große Entdeckung gemacht, ohne auch nur ein einziges Mal auf den Gedanken zu kommen, daß die Menschheit das alles wohl schon längst getan hätte, wenn das die Wahrheit wäre, und nicht tausend Jahre lang gelitten hätte, einzig um auf Sie zu warten. Sie schämen sich nicht, so zu lügen, wie Sie es in Ihren Proklamationen tun, wenn Sie die Tatsachen entstellen und dazu übernaiv bemerken, dies sei eben jesuitisch und die Jesuiten seien gewandte Leute, und daß Sie genau so wie die Jesuiten handeln werden; und dabei lassen Sie es sich nicht einmal träumen, daß jede Lüge und jede Entstellung der Tatsachen in ungewöhnlich kurzer Zeit an den Tag kommt, und daß dann die Menschen sehen werden, daß Sie absichtliche Lügner sind, und daß Ihnen dann niemand folgen wird. Sie sind, im Gegenteil, wie dumme Jungen fest überzeugt, daß die Lügen weiter nichts auf sich hätten, daß sie vielmehr allen gefallen und die Menschen sich über Ihre geschickten Lügen nur freuen und alles, was sie bis dahin heilig gehalten, was sie geliebt, im Stich lassen werden – Gott, Weib und Kinder, Ordnung, Anstand –, um zu Ihnen überzulaufen, einzig weil Sie morden und brennen – ohne dabei selbst zu wissen, warum und wozu eigentlich. Sie schämen sich nicht, zu schreiben, daß Sie dem Achtzigmillionenvolke eine Frist von nur ein paar Tagen geben werden, innerhalb welcher Zeit es sein Hab und Gut Ihnen auszuliefern, die Kinder zu verlassen, die Kirchen zu beschimpfen und sich in die Genossenschaften als Schuster einzuschreiben habe. Sie sind überzeugt, daß alle die Kirchen hassen und die Ehe als Last empfinden und sich nur nach den Aluminiumpalästen sehnen, in denen man nach Herzenslust tanzen und die gemeinsamen Frauen und Männer in besondere Zimmer führen kann[71]. Sie verfallen gar nicht darauf, daß eine so kindische Auffassung der Sache, als handle es sich hierbei um ein Spielzeug, nur verrät, daß Sie noch Bengel sind, denen man schmerzhaft die Rute geben müßte; und die Gesellschaft achten Sie so gering, daß Sie sich nicht einmal bemüht haben, die Proklamation sorgfältiger zu redigieren. Wenn das Publikum lesen wird, wie kindisch Rußland Ihrer Meinung nach verfahren könnte, wie es in ein paar Tagen alles hinwerfen und sich verwandeln soll, wird es sich nur über Ihre Dummheit wundern; doch wenn es sehen wird, daß Sie außerdem noch Bösewichter sind, wird es Sie als schädliche Irrsinnige beseitigen, und zwar mit aller Strenge beseitigen. Doch leider sind ja auch Alle nicht klüger als Sie und das kommt alles nur daher, ist nur deshalb so, weil sie sich vom Boden losgelöst und nicht ein eigenes, sondern ein fremdes Leben geführt und beständig unter Vormundschaft gelebt haben.“
„Man hat in diesem unter Vormundschaft verlebten Leben gar zu Weniges lieb gewonnen, um für dieses Leben einzustehen. Es hat sich viel Unzucht und Leichtsinn aufgehäuft. Wenn man sich um das Leben gemüht, wenn man es sich durch Arbeit erworben hätte, selbständig, mit Leid und Kampf, mit Mühen und Plagen und allen Freuden des Erfolges nach dem Kampf, doch vor allen Dingen durch Arbeit – die eigene Mühe ist ja die Hauptsache –, nicht aber nur unter administrativer Vormundschaft, so hätte man Tatsachen erworben, viele Erlebnisse aufgespeichert, es würden sich lebendige Erinnerungen an den Kampf und die Arbeit erhalten, und dieses Erlebte und Durchlebte würde allen teuer sein. Teuer wäre dann auch das Andenken an die verstorbenen Tatmenschen und hoch würde man die lebenden Tatmenschen schätzen, die dann einen ganz anderen Einfluß auf die Menschen hätten, und nicht so leichtsinnig wie jetzt würde die Gesellschaft dann auf jeden Schwindel dummer und verderbter, seelenloser Bengel antworten. Wahrlich, sie ist uns eine gute Lehre! – diese deutsche Vormundschaft! O Gott, was für eine Lehre das ist! Es gibt kein einziges Volk, keine einzige Nation in Europa, die sich nicht aus eigener Kraft hat retten können, – selbst in der flammendsten Revolution, selbst auf den Barrikaden ist das erste, was geschieht, daß eine neue Ordnung festgesetzt wird und die Diebe, Plünderer und Brandstifter erschossen werden. Sie aber, Sie wollen bei uns ein Achtzigmillionenvolk einzig durch Brandstiftung, Totschlag und Zarenmord anlocken und für sich Sympathie erwecken! So glauben Sie, daß diese Gesellschaft überhaupt nichts aus ihrem durchlebten Leben achte, und daß dieses Leben unter administrativer Vormundschaft so schön gewesen sei! Zu was sind Sie entartet? Und Sie, Sie sehen noch immer nicht, daß das Volk sich schon vollständig, aber vollständig von Ihnen losgesagt hat! Nun wohl! – versuchen Sie es doch noch einmal, das Volk unter Vormundschaft zu nehmen, versuchen Sie es doch! Wahrlich, Sie haben doch schon gar zu holsteinisch auf das Volk gesehen!“
Und dann sofort der Verfasser der Chronik von sich aus: So sprach Sch. wie außer sich, und vielleicht war in seinen Worten auch wirklich einiges doch ganz Wahres. In der Tat, Vormundschaft und Entfremdung vom Volke haben ja gerade das bewirkt, daß die Gesellschaft erstens nichts mehr hat, was ihr teuer ist und wofür sie einstehen würde, und zweitens, da sie sieht, daß hingegen dem Volk zweifellos das Eigene teuer ist und es dafür einsteht und dabei ein so volles Leben lebt – so hat das der Gesellschaft den Vorwand gegeben, das Volk nun endgültig zu hassen, also gerade seines vollen Lebens wegen. Ich verstehe jetzt, was Schatoff sagen wollte, als er von diesem Haß der Belinski und unserer sämtlichen Westler gegen das Volk sprach, und wenn sie selbst diesen Haß leugnen wollen, so ist es klar, daß sie selbst ihn nicht erkennen. Ja, so war es doch: sie glaubten, daß sie das Volk „hassend liebten“, und so sagten sie es auch von sich. Aber sie schämten sich nicht einmal ihres Ekels vor dem Volke, wenn sie praktisch mit ihm in Berührung kamen. (In der Theorie allerdings liebten sie es.)
Stepan Trophimowitsch (Gr.) sagt: „Ja, aber das Volk wurde doch ebenso bevormundet, wie die anderen, und Sie geben doch selbst zu, daß es russisches Volk geblieben und nicht unter der Vormundschaft entartet ist und nicht Rußland haßt.“
Schatoff: „Das Volk wurde mit der deutschen Reform verschont und von Anfang an als hoffnungslos aufgegeben. Man erlaubte ihm auch sofort wieder, den Bart zu tragen. Damals hielt man das Volk für etwas Unwichtiges, man sah auf dasselbe wie auf Rohmaterial oder Steuerzahler herab. Zwar bevormundete man es streng, das ist wahr, aber sein inneres, eigenes Leben ließ man ihm unangerührt, und wenn es auch viel zu erdulden und viel zu leiden hatte, so endete es doch damit, daß es auch sein Leiden lieb gewann. Dagegen wurden alle Russen der oberen Gesellschaftsschicht zu Deutschen, und diese vom Erdboden Losgerissenen hatten dann bald nur für Deutschland noch Liebe übrig, für ihr Vaterland aber und für ihr eigenes Volk nur Verachtung und Haß. So war es ja überall. So begannen auch in Litauen die Stammrussen ihre eigene Rasse zu mißachten.“
„Sie bieten das Glück an. Aber selbst wenn wir annehmen, daß Sie im Endziel des Strebens vollkommen recht haben (was natürlich absurd ist, doch worüber ich vorläufig nicht streiten will), so ersieht man doch schon aus Ihrer Proklamation[72], bis zu welch einem Grade Ihre Köpfe unreif, flach und leichtsinnig sind und somit – wie wenig sie zum Erreichen Ihres eigenen Zieles taugen. Sollten Sie denn wirklich nicht einsehen, daß eine Umwandlung, wie die, die Sie vorschlagen, eine Umgeburt des einzelnen Menschen wie des ganzen Volkes, sich doch nicht so leicht und schnell vollziehen kann, wie Sie glauben!? Denn Sie sagen doch, daß alles mit dem Beil und durch Raub gemacht werden werde, auf daß sich aber der Mensch von Gott, von der Liebe zu Christus, von der Liebe zu seinen Kindern und von seinen Pflichten ihnen gegenüber lossage, von seiner Persönlichkeit und ihrer Sicherstellung, – dazu sind Jahrhunderte noch zu wenig. In Jahrtausenden hat sich z. B. die gesellschaftliche, juridische Sicherstellung im Staate herausgearbeitet, und doch – bis zu welch einem Grade ist sie noch überall unzureichend! So langsam arbeitet sich in der Praxis selbst ein so alltägliches Bedürfnis eines jeden Menschen heraus! Darum aber, wenn auch das, was bereits ist, was sich bereits herausgearbeitet hat, meinetwegen auch unzureichend ist, so wird der Mensch doch nicht so leicht darauf verzichten und Ihnen nachlaufen: denn wenn es auch nicht gut, wenn es auch nur wenig ist, so ist damit doch immerhin schon etwas da, bei Ihnen aber ist nichts, denn Sie sagen ja selbst ganz offen, daß alles auf Grund liebevoller Vereinbarung geschehen und niemandem und für nichts eine Garantie geboten werden soll, wenn’s nicht gerade die Genossenschaft betrifft. Um Fragen einfach abzuschneiden, behaupten Sie kurzweg, daß es in der neuen Gesellschaft Verletzungen nicht mehr geben werde und folglich seien Garantien gar nicht nötig. Aber so etwas kann doch nur ein Verrückter behaupten, der noch nichts erprobt hat, und so ohne alle Unterlagen, wie Sie da Ihre Versicherungen abgeben.
Wenn aber der Mensch nicht einmal darauf leicht verzichten wird, wie wird er sich dann noch von seinen Kindern, von seiner Liebe zu ihnen, von Gott und schließlich von seiner ganzen Freiheit lossagen? Sie antworten auf keine einzige der Fragen, die die ganze Menschheit erregen, Sie schieben alles beiseite. Doch wenn Sie die Fragen nicht beantworten, wie wollen Sie dann die Aufgaben lösen? Und deshalb – wie könnten denn alle sich Ihnen anschließen und sich sofort zu der neuen Gesellschaft umschaffen [umgebären]? Ihnen wird nur ein Häufchen leichtsinniger Menschen folgen oder Nichtswürdige, die Sie mit der Aussicht auf Plünderung anlocken. Wenn aber so etwas nur in Jahrhunderten entstehen kann, wie können Sie dann versprechen, dasselbe in wenigen Tagen zu schaffen (wie Sie sich ja buchstäblich ausdrücken)? Also sind Sie nun nach alledem nicht leichtsinnig, und welch eine Verantwortung übernehmen Sie für die Ströme von Menschenblut, die Sie vergießen wollen? Aufbauen ist schwer; darum reißen Sie auch nur nieder, weil das am leichtesten ist.“
„Überhaupt keine Verantwortung, wir bringen einfach unsere Köpfe. Die zukünftige Gesellschaft wird vom Volke geschaffen werden nach der allgemeinen Zerstörung, je schneller desto besser.“
„Aber erstens, das Volk wird nicht anfangen dreinzuschlagen, wenn es nicht weiß, wofür; hauen, brennen und plündern wird nur ein Haufe geheimer Bösewichter. Denn das Volk kann doch nicht Ihr Programm annehmen: Vernichtung der Persönlichkeit, des Eigentums, Gottes und der Familie. Ich sage nochmals: selbst wenn Ihr Programm gerecht wäre, könnte es doch nur im Laufe von Jahrhunderten angenommen werden, in Jahrhunderten friedlicher, praktischer Studien und Entwicklung. Und selbst wenn das Volk sich vom Aufruhr und Plündern hinreißen lassen sollte, so wird es sich doch sofort wieder beruhigen und dann etwas anderes aufbauen, jedenfalls aber auf seine Art, und – nun ja – vielleicht sogar etwas noch viel Schlechteres.“
„Meinetwegen; aber auch das ist schon gut, daß wenigstens eine Welt untergeht. Dann wird eben eine andere Welt beginnen, meinetwegen eine mit Fehlern, eine vom Volk errichtete, aber sicher wird sie schon ein wenig besser sein. Wenn man dann deren Fehler erkannt hat, werden wir oder unsere Nachfolger auch diese Welt wieder stürzen, und so weiter, bis schließlich unser ganzes Programm durchgesetzt ist. Doch auch beim ersten Experiment werden wir unseren Zweck schon damit erreichen: daß erst einmal das Prinzip des Beiles und der Revolution angenommen wird.“
„Aber auf Grund wessen sind Sie denn so überzeugt, daß Ihr Programm unfehlbar ist? Wie nun, wenn das alles nur Unsinn ist und die absurdeste Unkenntnis der menschlichen Natur im allgemeinen und des russischen Volkes im besonderen? Sie können das Gegenteil doch mit nichts beweisen, höchstens den Einwand vorbringen, daß es Ihnen unfehlbar erscheint. Aber es ist doch möglich, daß Sie alle sehr dumm sind und es Ihnen nur deshalb so erscheint; dann aber können Sie doch nicht verlangen, daß alle übrigen Menschen ausschließlich zu diesem Zweck gleichfalls zu Dummköpfen werden, nur um Ihnen folgen zu können. Aber siehe da, Sie weigern sich ja, darüber auch nur zu reden. Sie sagen: wer nicht für uns ist, der ist wider uns, und weihen alle, die entgegengesetzter Meinung und Überzeugung sind, einfach dem Tode, wobei Sie ganz zu vergessen scheinen, daß Streit unter allen Umständen Entwicklung der Sache ist. Und mit welch einer Wut erkennen Sie diejenigen nicht einmal an, die gegen Sie sogar handeln werden, da sie mit Ihren Überzeugungen nicht übereinstimmen.“
„Alles das ist Unsinn und Finessen!“
„Wenn Sie aber nicht mit aller Sicherheit wissen, daß Ihr Programm richtig ist, wie können Sie dann das Verbrechen der Zerstörung auf Ihr Gewissen nehmen?“
„Wir glauben aber, daß unser Programm richtig ist, und daß ein jeder, der es annimmt, glücklich wird. Deshalb entscheiden wir uns auch fürs Blut, denn nur mit Blut wird Glück erkauft.“
„Wenn es aber nicht damit erkauft wird, was dann?! Geglaubt wird nur an Gott, im Leben aber sind Tatsachen erforderlich.“
„Wir sind überzeugt, daß man es damit kaufen kann, und das genügt uns.“
„Oh Ihr Unseligen! Mich freut nur eines: daß es Ihnen um keinen Preis gelingen wird, denn Sie kennen das Volk nicht. Gesetzt, Ihnen gelingen einige Plünderungen, Brandstiftungen, Morde und Verführungen, nehmen wir selbst an, daß Sie es bis zu einem Aufstande bringen, das ganze Volk aber wird Sie dafür doch sofort aufknüpfen; nicht aber Ihr Programm annehmen, denn dieses Programm ist widernatürlich und außerdem auf der größten Unkenntnis des russischen Volkes aufgebaut. Niemals wird der Mensch Ihnen seinen Glauben, seine Familie ausliefern und in dieses Zuchthaus übersiedeln, das Sie ihm in Ihrem Programm anbieten, und niemals wird er seine persönliche Freiheit für eine solche Knechtschaft verkaufen ... Das Volk aber wird Ihnen niemals seinen Zar-Befreier ausliefern.“
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Sie wollen morden und plündern, weil das am leichtesten ist. Diese Lehre tauchte in Frankreich gerade damals auf, als die Kommunisten überall durchfielen und sich als nichtswürdige Bengel erwiesen.
„Ich mache die Sache, weil sie gemacht werden muß. Damit (mit der Zerstörung) muß naturgemäß jede Sache beginnen; das weiß ich, und darum beginne ich eben. Das Ende geht mich nichts an, ich weiß nur, daß man damit beginnen muß, alles übrige ist nur zeitraubendes Geschwätz. Alle diese Reformen und Korrekturen und Verbesserungen – sind Unsinn. Je mehr man reformiert und verbessert, um so schlimmer ist’s, denn auf diese Weise erhält man noch einige Zeit künstlich das Leben eines Dinges, das doch unbedingt sterben und einstürzen muß. Je schneller desto besser, je früher damit begonnen wird, um so besser. (Zuerst natürlich Gott, Verwandtschaft, Familie usw.) Man muß alles zerstören, um das neue Gebäude aufbauen zu können, das alte Gebäude aber mit Stützen noch zu stützen, ist nichts weiter als eine Pfuscherei.“
„Nun, z. B., du weißt, daß du früher oder später doch einmal sterben mußt, warum erschießt du dich denn nicht jetzt gleich – je schneller desto besser?“
„Einzig weil ich noch nicht will und weil die Sache gemacht werden muß.“
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„Ich bin kein Genie, und ich will auch gar nicht eines sein, aber ich weiß, daß man es jetzt machen muß, und so mache ich es denn. Auch ihr wußtet das, du und deine Generation, doch ihr weintet bloß. Wir aber weinen nicht, sondern tun’s einfach.“
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„Der verstorbene Belinski beschimpfte Christus, hätte dabei aber nicht einmal einem Huhn etwas zuleide tun können.“
„Oh, in der Wirklichkeit und im Verstehen der wirklichen Dinge war Belinski sehr schwach. Turgenjeff hatte ganz recht, als er von ihm sagte, daß er, Belinski, sogar wissenschaftlich sehr wenig gewußt habe. Aber er begriff doch besser als sie alle. Du lachst, du scheinst sagen zu wollen: viel haben sie wahrlich allesamt begriffen! Mein Freund, ich erhebe keinen Anspruch auf das Begreifen der Einzelheiten des wirklichen Lebens. Doch ich kam ja auf Belinski zu sprechen. Ich erinnere mich des Schriftstellers D., der damals fast noch ein Jüngling war[73]. Belinski wollte ihn zum Atheismus bekehren und nach den Entgegnungen D’s, der Christus verteidigte, begann er Christus zu schmähen. ‚Und immer macht er, wenn ich schimpfe, eine so betrübte, niedergeschlagene Physiognomie,‘ sagte Belinski plötzlich, indem er mit dem gutmütigsten, unschuldigsten Lachen auf D. wies. Einmal traf dieser D. zufällig Belinski am Bahnhof der erst im Bau befindlichen ersten Eisenbahnstrecke. ‚Ich kann nicht kaltblütig warten‘, sagte Belinski zu ihm, ‚ich habe mir den Weg hierher zum Spaziergang erwählt und jeden Tag sehe ich mir den Bahnbau an.‘ Oh, wenn er, der Arme, gewußt hätte, mit welchen Augen damals viele auf diese Eisenbahn sahen, besonders die Erbauer der Bahn! Belinski sagte: ‚Ich bin nicht so wie die anderen, ich bin schon, wie Sie sehen, gerade davon krank. Wenn ich verscharrt sein werde, – wird man erfahren, wen man begraben hat.‘[74] D. schloß sich ihm an und begann über die Eisenbahn zu sprechen, dann über die zukünftigen Eisenbahnen überhaupt, über die Beheizung der Wagen und schließlich über die Beheizungsfrage in Moskau, wo das Brennholz immer teurer wurde und in Zukunft, wenn Moskau der Knotenpunkt aller Eisenbahnen sein wird, noch sehr viel teurer werden müsse. Wahrscheinlich werde man das Holz dann mit der Bahn aus den waldreichen Gegenden herbeischaffen. Da begann Belinski zu lachen über diese, wie ihm schien, geringe Kenntnis der Wirklichkeit: ‚Brennholz will er mit der Eisenbahn befördern!‘ Das erschien ihm ungeheuerlich. Stellen Sie sich vor, er glaubte wirklich, daß man mit der Eisenbahn nur Passagiere, von Waren aber höchstens die feinsten und wertvollsten articles de Paris[280] befördern werde. Das war seine Kenntnis der Wirklichkeit ... Aber er begriff doch mehr als alle.“
„Dann haben alle wohl viel begriffen!“
„Mein Freund, ich habe mich vom tätigen Leben zurückgezogen ... Jetzt unter den Tätigen sein, das will und kann ich nicht ...“
„Ja, zu was könntest du jetzt auch noch taugen!“
„Eigentlich geht mich ja weder das Volk noch die Kenntnis desselben etwas an. Ich weiß nur, daß man das Volk jetzt zu einem Aufstand bringen kann, und das ist alles, worauf es ankommt.“
Wenn er vom Volk spricht, bekundet er plötzlich in einem Punkt eine himmelschreiende und ganz sonderbare Unwissenheit und Ahnungslosigkeit (eine unbedingt so sonderbare, daß die Ungeheuerlichkeit sofort in die Augen springt.) Unter Gelächter wird er überführt, werden seine Behauptungen widerlegt; aber bemerkenswert ist, daß ihn das nicht im geringsten verwirrt, weder wankt er, noch ist er pikiert, ja er fühlt sich nicht einmal in seiner Eigenliebe verletzt. Unglaublich kaltblütig und nachlässig nimmt er es hin:
„Vielleicht ist es auch so,“ sagt er, „aber das ist doch ganz einerlei, nicht darauf kommt es an, sondern darauf, daß man jetzt einen Aufstand machen kann, und so will ich ihn denn jetzt machen.“
Man antwortet ihm, daß auch ein Aufruhr ihm bestimmt nicht gelingen wird, wenn er nicht das Volk kennt, und daß die Proklamation eine Absurdität ist.
„Das ist Unsinn,“ antwortet er, „laßt mich nur eine Viertelstunde ohne Zensur mit dem Volke sprechen, und es wird mir sofort folgen.“
Man versichert ihm, daß das Volk weit fester sitze, er aber sagt: „Na, das ist erst recht Unsinn!“ und weist auf die Tatsachen hin – Räuberhorden, Brandstiftungen, von Sohn[75] –. „Und ihr seht es ja selbst ein, daß das eine unentschiedene Sache ist, da ihr jetzt selbst verstummt und nichts mehr zu sagen wißt. (Auf die goldene Urkunde[76] hin ging doch das Volk, warum soll es auf die Proklamationen hin nicht gehen?“)
Ist mitunter ganz entsetzlich unwissend. Den ernsten Einwendungen seines Vaters (z. B., daß nicht die ganze Natur des Menschen bekannt ist und der Verstand nur 1/20 des ganzen Menschen ausmacht) schenkt er überhaupt keine Beachtung und will und versucht auch nicht einmal, ihm zu entgegnen, gibt sogar offen zu, daß er das nicht weiß, aber: „nicht darauf kommt es an“.
Ist in seiner Unwissenheit vollkommen ruhig.
Die Rede seines Vaters bei der Fürstin hat er nicht einmal gehört.
Und dabei schlägt er den Vater doch vollkommen. („Mit ihm kann man nicht streiten,“ sagt der Vater.)
Die Streitfragen der Slawophilen und Westler sind ihm nicht einmal annähernd bekannt, er hat nur gehört, daß es so etwas wie Slawophile und Westler gibt, aber: „alles das ist Unsinn“ und „nicht darum handelt es sich.“
Schreibt sogar unorthographisch.
Porträt eines reinen und idealen Westlers mit allen Schönheiten.
Lebt vielleicht (in Moskau) in einer Gouvernementshauptstadt.
Die charakteristischen Züge. – Eine lebenslängliche Ziellosigkeit und Unfestigkeit in den Ansichten und in den Gefühlen, unter der er früher gelitten hat, die aber jetzt zu seiner zweiten Natur geworden ist. (Der Sohn macht sich darüber lustig.)
Ist zum drittenmal verheiratet. (Ein höchst charakteristischer Zug.)
Wünscht sehnsüchtig, verfolgt zu werden, und liebt es, von den früheren Verfolgungen, denen er ausgesetzt gewesen, zu sprechen.
Ein Mensch der vierziger Jahre. Denkt gern an dieses Jahrzehnt und die Überlebenden zurück („ich und Timofei Granowski“).
Er ist – ein berühmt gewesener Name (zwei oder drei Artikel, eine kritische Untersuchung, Reise durch Spanien, handschriftliche Aufzeichnungen über den Krimkrieg, die unter seinen Bekannten von Hand zu Hand gingen und ihm die Verfolgung eingetragen haben). Stellt sich unbewußt auf ein Piedestal, wie etwa eine Reliquie, die man anbeten kommt – liebt das. Spricht häufig ohne Fürwörter.
Ist wirklich ehrlich, rein und hält sich für die tiefste Allwissenheit. Widerstandsunfähigkeit in Ansichtssachen.
Großer Poet, jedoch nicht ohne Phrase.
Hat das russische Leben ganz übersehen.
„Tschurrt sich“[77] vor dem Nihilismus und begreift ihn nicht.
55 Jahre alt. Literarische Erinnerungen: Belinski, Granowski, Herzen, Turgenjeff u. a.
Liebt Champagner.
Rolle eines Ssacks[78].
Liebt es, Klagebriefe zu schreiben. Hat hier und da Tränen vergossen.
„Laßt mir Gott und die Kunst. Trete auch Christus ab.“
George Sand und seine Götzen blicken fortwährend durch den Ernst hervor.
Echter Dichter. Dies irae, Goldenes Zeitalter, Griechische Götter! Ein inspiriertes Kapitel. Hat das Pekuniäre gut geordnet. Bildchen, Memoirchen (usw. in dieser Art).
Sein Sohn wird im Auslande erzogen.
Noch eine Gestalt: junge Frau (seit vier Monaten schwanger).
NB. Beweint alle seine Frauen und heiratet immer wieder.
„Kann mich nicht zufrieden geben, sehne mich ewig.“
Ist klug und geistreich.[79]
... Ungefähr um halb elf erreichte Stawrogin die hohe Pforte unseres Spasso-Jefimjeffschen Bogorodskischen Klosters, das außerhalb der Stadt am Fluß lag. Erst hier schien er wieder zu sich zu kommen und sich plötzlich einer Sache zu erinnern: er blieb stehen, befühlte hastig und erregt seine Seitentasche, und – ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Nachdem er eingetreten war, erkundigte er sich bei einem kleinen Klosterdiener, den er hier erblickte, wie er zu dem im Kloster lebenden Bischof Tichon gelangen könnte. Der Kleine verneigte sich mehrmals untertänigst vor ihm und bat ihn höflich, ihm zu folgen; doch an der Treppe, die an dem einen Ende des langen zweistöckigen Klostergebäudes lag, machte ihm ein dicker, grauhaariger Mönch den Gast geschickt und wie mit vollstem Recht einfach abspenstig. Dieser führte nun Stawrogin durch einen langen, schmalen Korridor, verneigte sich gleichfalls fortwährend vor ihm oder eigentlich nickte er nur immer wieder mit dem Kopf, da ihm das Verbeugen bei seiner Korpulenz augenscheinlich schwer fiel, und forderte ihn ununterbrochen auf, ihm zu folgen, obgleich Stawrogin das ohnehin schon tat. Der Mönch stellte auch noch verschiedene Fragen an ihn und sprach vom Archimandriten, da er aber keine Antwort erhielt, verstummte er ehrerbietig. Stawrogin fiel es auf, daß man ihn im Kloster zu kennen schien, obgleich er doch, soweit er sich erinnern konnte, nur in der Kindheit hier gewesen war. Als sie bei der letzten Tür des Korridors angelangt waren, blieb der Mönch stehen und öffnete sie mit einer Miene, als ob er der Bischof selber wäre, erkundigte sich familiär bei dem flink herbeigelaufenen Zellendiener, ob man eintreten könne, stieß aber dann, ohne die Antwort abzuwarten, die Tür weit auf und ließ mit einer Verbeugung den „teuren“ Gast an sich vorüber. Nachdem er aber den klingenden „Dank“ empfangen hatte, verschwand er mit einer Geschwindigkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte.
Stawrogin trat in das kleine Zimmer, und fast im selben Augenblick erschien in der Tür des Nebenzimmers eine hohe, hagere Gestalt: es war ein Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, in einem einfachen Leibrock, wie er unter dem Meßgewand getragen wird, ein Mensch, der dem Aussehen nach leidend war, ein sonderbar unbestimmtes Lächeln hatte und einen sonderbaren, gleichsam scheuen Blick. Das war jener Tichon, dessen Namen Stawrogin zum erstenmal von Schatoff gehört hatte.
Stawrogin hatte inzwischen Näheres über ihn zu erfahren gesucht, doch was er an Urteilen über ihn zu hören bekam, war sehr verschieden und sogar äußerst widerspruchsvoll gewesen. Trotzdem hatten selbst die entgegengesetztesten Aussagen etwas Gemeinsames gehabt, und zwar: sowohl die Anhänger wie die Gegner Tichons (und solche gab es) hatten alle gleichsam irgend etwas von ihm verschwiegen – die einen wahrscheinlich aus Geringschätzung oder Verachtung, die anderen, die Anhänger und sogar die leidenschaftlichsten, aus einer gewissen Scheu, als ob sie etwas von ihm hätten verheimlichen wollen, irgendeine seiner Schwächen, vielleicht sogar – eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit. Stawrogin hatte erfahren, daß er schon seit sechs Jahren in unserem Kloster wohnte, und daß zu ihm nicht nur das einfache Volk pilgerte, sondern auch die angesehensten Persönlichkeiten fuhren, daß er sogar im fernen Petersburg leidenschaftliche Anhänger und vornehmlich Anhängerinnen hatte. Andererseits aber hatte er von einem würdevollen alten „Klubherrn“, und zwar einem gottesfürchtigen, gehört, daß „dieser Tichon“ so gut wie vollkommen verrückt oder wenigstens ein ganz unbegabter Mensch sei und „zweifellos mitunter trinke“. Hierzu möchte ich von mir aus bemerken, obgleich ich damit vorgreife, daß letzteres entschieden nicht der Wahrheit entsprach; er hatte nur kranke Füße – irgendein hartnäckiges rheumatisches Leiden – und von Zeit zu Zeit war er irgendwelchen nervösen Krämpfen oder Anfällen unterworfen. Ferner hatte Stawrogin gehört, daß der zurückgezogene Bischof – sei es aus Charakterschwäche oder aus einer „bei seinem Rang unverzeihlichen Nachlässigkeit“ – es nicht verstanden habe, im Kloster besondere Ehrfurcht für sich zu erwecken. Es hieß sogar, daß der Archimandrit, ein in seinen Amtspflichten sehr strenger Mann, der außerdem wegen seiner Gelehrsamkeit berühmt war, zu Tichon ein gewissermaßen feindliches Gefühl nähre und ihm – natürlich nicht offen, sondern nur mittelbar – unordentliches Leben und fast Ketzerei vorwerfe. Die Brüderschaft des Klosters verhielt sich zu dem Kranken, wenn auch nicht gerade nachlässig, so doch, sagen wir, familiär.
Die zwei Zimmer, aus denen die Zelle Tichons bestand, waren etwas sonderbar eingerichtet. Neben den klobigen alten Klostermöbeln, deren Lederbezug schon recht abgenutzt war, befanden sich daselbst drei oder vier elegante Gegenstände: ein teurer Lehnstuhl, ein prachtvoller großer Schreibtisch, ein teurer geschnitzter Bücherschrank, Tischchen und Etageren – lauter geschenkte Sachen; auf dem Fußboden ein kostbarer bucharischer Teppich und neben ihm eine einfache geflochtene Matte. An den Wänden hingen Gravüren mit mythologischen oder „weltlichen“ Darstellungen, in der Ecke aber war ein großer Heiligenschrank, dessen Heiligenbilder in Gold und Silber schimmerten. Eines von ihnen war sehr alt und enthielt Reliquien. Seine Bibliothek, hieß es, sollte gleichfalls sehr sonderbar zusammengesetzt sein: neben den Werken der großen Kirchenväter sollte sie Werke „der Theaterdichtkunst (!), vielleicht aber noch schlimmere“ enthalten.
Nach den ersten Begrüßungsworten, die aus einem ungewissen Grunde von beiden ein wenig befangen und sogar kaum verständlich ausgetauscht wurden, führte Tichon den Gast in sein Kabinett, wies ihm einen Platz neben dem Tisch auf dem Sofa an, und setzte sich selbst auf einen geflochtenen Lehnstuhl. Stawrogin war immer noch sehr zerstreut – er schien es von einer inneren, bedrückenden Erregung zu sein. Man hätte glauben können, daß er sich zu etwas Ungewöhnlichem entschlossen habe, das, einmal getan, nicht mehr rückgängig zu machen wäre, dessen Erfüllung aber seine Kraft doch zu übersteigen schien. Er blickte sich im Zimmer um, doch augenscheinlich ohne etwas zu bemerken; er dachte, doch wußte er natürlich selbst nicht, was. Die Stille weckte ihn schließlich und es schien ihm plötzlich, daß Tichon gleichsam verschämt die Augen zu Boden gesenkt hielt und daß ein ganz überflüssiges, unbeholfenes Lächeln um seine Lippen spielte. Das rief sofort Widerwillen in ihm hervor; er wollte schon aufstehen und weggehen, um so mehr, als Tichon seiner Meinung nach entschieden betrunken war. Da erhob aber Tichon plötzlich die Augen und sah ihn mit einem so festen, gedankendurchdrungenen Blick an und zu gleicher Zeit mit einem so unerwarteten und rätselhaften Ausdruck, daß er fast zusammenfuhr. Es schien ihm plötzlich aus irgendeinem Grunde, daß Tichon schon wisse, warum er zu ihm gekommen war, daß man ihn schon von seinem Besuch benachrichtigt habe (obgleich kein Mensch in der ganzen Welt diesen Grund seines Besuches wissen konnte), und wenn er nicht als erster zu sprechen anfing, dies nur deshalb nicht tat, weil er ihn schonen wollte, – vielleicht weil er fürchtete, ihn zu demütigen.
„Sie kennen mich?“ fragte Stawrogin schroff. „Habe ich mich Ihnen vorgestellt oder nicht, als ich eintrat? Ich bin so zerstreut ...“
„Sie haben sich nicht vorgestellt, aber ich habe Sie schon einmal vor vier Jahren gesehen, hier im Kloster ... zufällig.“
Tichon sprach nicht schnell, gleichmäßig, mit einer weichen Stimme, und er sprach die Worte klar und deutlich aus.
„Vor vier Jahren bin ich überhaupt nicht in diesem Kloster gewesen,“ entgegnete Stawrogin in einem Ton, der an Grobheit grenzte; „nur als Knabe bin ich hier gewesen, als Sie noch gar nicht hier waren.“
„Vielleicht haben Sie es vergessen?“ bemerkte Tichon vorsichtig, doch ohne darauf zu bestehen.
„Nein, ich habe es nicht vergessen; und es wäre auch lächerlich, wenn ich mich dessen nicht mehr erinnern würde,“ bestand Stawrogin wiederum unverhältnismäßig heftig auf seiner Behauptung. „Sie haben vielleicht nur von mir gehört und sich dann irgendeine Vorstellung von mir gemacht, und so glauben Sie jetzt, daß Sie mich gesehen hätten.“
Tichon schwieg. Da bemerkte Stawrogin, daß es über sein Gesicht zuweilen wie ein Nervenzucken lief, ein Kennzeichen seiner Krankheit.
„Ich sehe nur, daß Sie heute nicht ganz wohl sind,“ sagte er, „ich glaube, ich tue besser, wenn ich fortgehe.“
Er erhob sich sogar vom Sofa.
„Ja, ich fühle seit gestern starke Schmerzen in den Füßen, und in der Nacht habe ich wenig geschlafen ...“
Tichon verstummte. Seinen Gast aber hatte die vorige Nachdenklichkeit schon von neuem und ganz plötzlich überfallen. Das Schweigen dauerte lange an, mehr als zwei Minuten.
„Sie haben mich vorhin beobachtet?“ fragte Stawrogin plötzlich erregt und mißtrauisch.
„Ich habe Sie angesehen und mich dabei der Gesichtszüge Ihrer Mutter erinnert. Zwischen Ihnen und ihr ist bei äußerer Unähnlichkeit viel innere, geistige Ähnlichkeit.“
„Durchaus keine Ähnlichkeit, besonders keine geistige. Sogar überhaupt keine!“ rief Stawrogin wieder ganz unverhältnismäßig erregt und heftig. „Sie sagen das nur so aus Mitleid zu mir und ... Unsinn! ... Kommt denn meine Mutter hierher?“
„Ja, zuweilen.“
„Das wußte ich nicht. Habe es niemals von ihr gehört. Kommt sie oft?“
„Fast in jedem Monat einmal; aber auch öfter.“
„Habe es niemals gehört. Kein einziges Mal ... Nie gehört ... Sie haben dann natürlich von ihr schon erfahren, daß ich verrückt bin?“ fügte er plötzlich hinzu.
„Nein, nicht gerade verrückt. Übrigens habe ich auch von dieser Auffassung gehört, aber von anderen.“
„Sie haben wohl ein gutes Gedächtnis, wenn Sie so viele Dummheiten behalten können. Und von der Ohrfeige haben Sie gleichfalls gehört?“
„Ja, einiges.“
„Das heißt also alles. Sie haben ja ungemein viel Zeit übrig. Und vom Duell?“
„Auch vom Duell.“
„Sie hören hier allerdings erstaunlich viel. Wozu druckt man bei uns eigentlich Zeitungen? Schatoff hat Ihnen wohl gesagt, daß ich kommen werde? Nicht?“
„Nein. Ich kenne Herrn Schatoff, aber jetzt habe ich ihn lange nicht mehr gesehen.“
„Hm. Was haben Sie dort für eine Karte? Sehe ich recht! Die Karte des letzten Krieges! Was machen Sie denn damit?“
„Ich orientiere mich auf der Landkarte nach dem Text. Es ist eine interessante Beschreibung.“
„Zeigen Sie; ja, das ist keine schlechte Darstellung. Aber doch eine sonderbare Lektüre für Sie.“
Er zog das Buch zu sich heran und blickte flüchtig hinein. Es war eine umfangreiche Geschichte des letzten Krieges, gut dargestellt, – übrigens nicht so sehr vom militärischen als vielmehr vom rein literarischen Standpunkte aus. Nachdem er das Buch zu sich umgedreht hatte, schob er es plötzlich ungeduldig wieder zurück.
„Ich weiß wirklich nicht, warum ich hergekommen bin!“ stieß er gereizt hervor, Tichon gerade in die Augen blickend, als ob er von ihm eine Antwort darauf erwartete.
„Sie scheinen auch nicht ganz gesund zu sein?“
„Ja, ich bin nicht ganz gesund.“
Und plötzlich erzählte er in kurzen, schroffen Worten – manches war nur schwer zu verstehen –, daß er besonders nachts so etwas wie Halluzinationen unterworfen sei, daß er zuweilen irgendein boshaftes, ein spöttisches und „vernünftiges“ Wesen neben sich sehe oder fühle, „in verschiedenen Gestalten und von verschiedenem Charakter, doch ist es stets ein und dasselbe Wesen – ich aber ärgere mich dann immer ...“
Wild und wirr war dieses Geständnis; man hätte wirklich glauben können, daß ein tatsächlich Wahnsinniger es machte. Doch bei alledem sprach Stawrogin mit einer so sonderbaren Aufrichtigkeit, wie sie wohl noch nie jemand an ihm gesehen hatte, mit einer Offenheit, die ihm sonst gar nicht eigen war, daß man glauben konnte, der frühere Mensch in ihm sei plötzlich – und auch für ihn selbst ganz unverhofft – spurlos verschwunden. Er schämte sich nicht im geringsten, die Angst zu zeigen, die er vor seinem Gespenst hatte. Doch das währte nur einen Augenblick und verschwand dann ebenso schnell, wie es sich eingestellt hatte.
„Aber alles das ist natürlich Unsinn,“ unterbrach er sich plötzlich ärgerlich. „Ich werde zum Arzt gehen.“
„Tun Sie das unbedingt,“ riet ihm Tichon zu.
„Sie sagen das so bestimmt ... Haben Sie denn solche Menschen schon je gesehen, wie mich, mit solchen Erscheinungen?“
„Ja, aber nur sehr selten. Ich erinnere mich nur noch eines Offiziers, nach dem Tode seiner Frau, seines unersetzlichen Kameraden. Von einem anderen habe ich nur gehört. Beide sind sie im Auslande geheilt worden ... Leiden Sie schon lange daran?“
„Ungefähr seit einem Jahr, aber das ist ja alles Unsinn. Ich werde zum Arzt gehen. Das ganze ist ja doch nur ein Unsinn, ein furchtbarer Unsinn! Das bin ich selbst in verschiedenen Gestalten und weiter ist es nichts. – Da ich soeben diese ... Phrase hinzugefügt habe, denken Sie jetzt gewiß, daß ich immer noch zweifle und mich noch nicht überzeugt habe, daß ich es bin und nicht wirklich der Teufel?“
Tichon blickte ihn fragend an.
„Und ... Sie sehen ihn wirklich?“ fragte er, ohne die Erklärung Stawrogins, daß es ganz zweifellos eine krankhafte Halluzination sei, überhaupt zu beachten, „sehen Sie wirklich eine Gestalt?“
„Sonderbar, daß Sie das noch fragen, nachdem ich Ihnen doch schon gesagt habe, daß ich ihn sehe,“ entgegnete Stawrogin, nach jedem Wort mehr und mehr gereizt. „Selbstverständlich sehe ich ihn. Ich sehe ihn so, wie ich jetzt Sie vor mir sehe, zuweilen aber sehe ich ihn und bin doch nicht überzeugt, daß ich sehe, obgleich ich sehe ... zuweilen aber bin ich überzeugt, daß ich sehe, und ich weiß bloß nicht, wen ich sehe: mich oder ihn ... Ach, Unsinn ist das alles! Sie aber – können Sie sich denn das ganz und gar nicht vorstellen, daß es wirklich ein Teufel ist?“ fügte er lachend die Frage hinzu: er ging etwas gar zu schnell auf den spöttischen Ton über. „Das wäre doch Ihrem Beruf angemessener?“
„Es ist wahrscheinlich nur Krankheit, wenn es auch ...“
„Wenn es auch was?“
„Wenn es auch Teufel zweifellos gibt, doch kann man sie sehr verschieden auffassen.“
„Ich werde Ihnen sagen, warum Sie vorhin Ihren Blick senkten,“ unterbrach ihn Stawrogin mit gereiztem Spott. „Sie schämten sich für mich, weil ich – an den Teufel glaube, doch unter dem Anscheine, daß ich selbst nicht glaube, Ihnen schlau die Frage stellte: gibt es ihn in Wirklichkeit oder nicht?“
Tichon lächelte unbestimmt.
„Und wissen Sie, es steht Ihnen durchaus nicht, wenn Sie die Augen niederschlagen: es ist unnatürlich, geziert und lächerlich. Und um Ihnen in der Grobheit Genüge zu tun, werde ich Ihnen sofort vollkommen ernst und unverschämt die ganze Wahrheit sagen: ja, ich glaube an den Teufel, glaube kanonisch an ihn, an den Teufel als Persönlichkeit, nicht als Allegorie, und ich brauche überhaupt niemanden zu fragen oder etwas über ihn erfahren zu wollen, – da haben Sie alles! Sie müssen jetzt sehr froh sein ...“
Nervös, unnatürlich lachte er auf.
Tichon blickte ihn mit einem weichen, beinahe ein wenig schüchternen Blick fast neugierig an.
„Glauben Sie an Gott?“ warf ihm plötzlich Stawrogin die Frage zu.
„Ich glaube.“
„Es steht doch geschrieben, wenn du glaubst und dem Berge befiehlst, von der Stelle zu rücken, so wird er von der Stelle rücken ... Übrigens, Blödsinn! Aber ich will Sie doch fragen: werden Sie einen Berg von der Stelle rücken oder nicht?“
„Wenn Gott es befiehlt, werde ich auch Berge versetzen,“ sagte Tichon leise und zurückhaltend, und allmählich senkte er wieder den Blick.
„Nun, das ist ebensogut, wie: Gott macht es selbst. Nein, Sie, Sie, als Belohnung für den Glauben an Gott?“
„Es kann sein, daß ich ihn vielleicht auch nicht von der Stelle rücken werde.“
„‚Vielleicht‘? Das ist nicht übel. Warum zweifeln Sie denn?“
„Ich glaube nicht vollkommen.“
„Wie? Sie nicht vollkommen? Nicht ganz?“
„Ja ... vielleicht glaube ich nicht vollkommen.“
„Nun! Aber wenigstens glauben Sie doch, daß Sie ihn mit Gottes Hilfe von der Stelle rücken würden, und das ist schließlich nicht wenig. Das ist immerhin mehr, als jenes ‚très peu‘[281] eines, der gleichfalls Bischof, Erzbischof war ... Allerdings – das ist wahr – unter dem Säbel ... Sie sind natürlich auch Christ?“
„Deines Kreuzes, Herr, werde ich mich nicht schämen,“ sagte Tichon flüsternd, – es war ein sonderbares Flüstern, und er senkte den Kopf noch tiefer. Seine Mundwinkel zuckten nervös.
„Aber kann man auch an den Teufel glauben, wenn man überhaupt nicht an Gott glaubt?“ fragte Stawrogin lächelnd.
„Oh, sogar sehr, das tun fast alle,“ sagte Tichon, erhob seinen Blick und lächelte gleichfalls.
„Ich bin überzeugt, daß Sie solch einen Glauben immerhin achtbarer finden, als volle Glaubenslosigkeit ... Oh, Pope!“ rief Stawrogin auflachend. Wieder lächelte Tichon ihm zu.
„Im Gegenteil, der vollständige Atheismus ist weit achtbarer, als die weltliche Gleichgültigkeit,“ entgegnete er heiter und gutmütig.
„Oho, also so sind Sie!“
„Der vollständige Atheist steht auf der vorletzten höchsten Stufe zum vollständigsten Glauben – mag er sie dann betreten oder nicht –, der Gleichmütige dagegen hat überhaupt keinen Glauben außer einer schlechten Angst.“
„Aber Sie ... – Haben Sie die Apokalypse gelesen?“
„Ja.“
„Erinnern Sie sich der Stelle: ‚Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe ...‘“
„Ich weiß, wundervolle Worte.“
„Wundervoll? Sonderbarer Ausdruck für einen Bischof, und überhaupt sind Sie ein Sonderling ... wo haben Sie hier das Buch?“ fragte Stawrogin auffallend eilig und erregt und seine Augen suchten es auf dem Tisch, „ich will es Ihnen vorlesen ... haben Sie die russische Übersetzung?“
„Ich weiß, ich kenne die Stelle, ich kenne sie ganz genau,“ sagte Tichon.
„Kennen Sie sie auswendig? Sagen Sie sie!“ ...
Er senkte schnell die Augen, stützte beide Hände auf die Knie und wartete ungeduldig.
Tichon sagte Wort für Wort:
„Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe: Das saget Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich, und habe gar satt, und bedarf nichts; und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß ...“
„Genug,“ unterbrach ihn Stawrogin, „das ist für die Mittelsorte, für die Gleichmütigen, nicht wahr? Wissen Sie, ich liebe Sie sehr.“
„Und ich Sie,“ sagte Tichon halblaut.
Stawrogin verstummte und versank wieder in seine Gedanken. Das kam wie ein Anfall über ihn, schon zum drittenmal. Und auch das „ich liebe Sie“ hatte er wie in einem Anfall gesagt, wenigstens ganz überraschend für sich selbst. Es verging mehr als eine Minute.
„Ärgere dich nicht,“ sagte Tichon plötzlich ganz leise, und berührte mit dem Finger vorsichtig, als ob er sich scheue, seinen Ellenbogen.
Stawrogin fuhr zusammen und runzelte unwillig die Stirn.
„Woher wissen Sie, daß ich mich ärgerte?“ fragte er hastig. Tichon wollte etwas sagen, doch er unterbrach ihn in ungewöhnlicher Erregung.
„Warum glaubten Sie, daß ich mich unbedingt ärgern mußte? Ja, ich ärgerte mich, Sie haben recht, und gerade deswegen, weil ich Ihnen gesagt hatte: ‚ich liebe Sie‘. Sie haben recht, aber Sie sind ein grober Zyniker, niedrig denken Sie von der menschlichen Natur. Es hätte kein Ärger zu sein brauchen, wenn es nur ein anderen Mensch gewesen wäre, und nicht ich ... Übrigens, hier handelt es sich nicht um den Menschen, sondern um mich. Immerhin sind Sie ein Sonderling und ein Geistesschwacher ...“
Er regte sich immer mehr auf und, sonderbar, tat sich in den Worten überhaupt keinen Zwang an:
„Hören Sie, ich liebe keine Spione und Psychologen, wenigstens nicht solche, die in meine Seele kriechen. Ich rufe niemanden in meine Seele, ich brauche niemanden, ich verstehe mit mir selbst auszukommen. Sie glauben, daß ich Sie fürchte?“ fragte er mit lauterer Stimme und erhob herausfordernd sein Gesicht. „Sie sind wohl vollkommen überzeugt, daß ich gekommen bin, Ihnen ein ‚furchtbares‘ Geheimnis zu offenbaren? Nun, so hören Sie denn, daß ich Ihnen überhaupt nichts sagen werde, nichts von einem Geheimnis, denn ich habe Sie überhaupt nicht nötig ...“
„Es hat Sie betroffen gemacht, daß das Lamm den kalten mehr liebt als den bloß lauen,“ sagte Tichon, „Sie wollen nicht nur lau sein. Ich ahne es, daß eine ungewöhnliche, vielleicht furchtbare Absicht Sie quält. Wenn es so ist, so flehe ich Sie an, quälen Sie sich nicht und sagen Sie alles, womit Sie gekommen sind.“
„Und Sie wissen es so genau, daß ich mit irgend etwas gekommen bin?“
„Ich ... erriet es an Ihrem Gesicht,“ flüsterte Tichon und senkte wieder den Blick.
Stawrogin war etwas bleich und seine Hände zitterten ein wenig. Einige Sekunden lang sah er unbeweglich und stumm Tichon an, als ob er sich endgültig entschlösse. Dann zog er aus der Seitentasche seines Rockes irgendwelche Druckbogen hervor und legte sie auf den Tisch.
„Das sind die Blätter, die zur Verbreitung bestimmt sind,“ sagte er mit einer etwas stockenden Stimme. „Wenn auch nur ein einziger Mensch sie liest, dann, das sage ich Ihnen, werde ich sie nicht mehr verbergen, dann werden alle sie lesen. So ist es beschlossen. Ich habe Sie überhaupt nicht nötig, denn ich habe selbst schon alles bei mir beschlossen. Aber lesen Sie ... Während des Lesens sagen Sie nichts, aber wenn Sie es gelesen haben – dann sagen Sie alles ...“
„Soll ich?“ fragte Tichon unentschlossen, zögernd.
„Lesen Sie; ich bin schon längst ruhig.“
„Nein, ohne Brille kann ich es nicht entziffern ... kleine Schrift ... ausländisch.“
„Hier ist die Brille,“ sagte Stawrogin, reichte sie ihm vom Tisch und lehnte sich zurück in die Ecke des Sofas. Tichon versenkte sich in die Lektüre.
Der Druck war tatsächlich ausländisch – drei broschierte Druckbogen von gewöhnlichem Postpapier kleineren Formats. Wahrscheinlich hatte er sie in einer der geheimen russischen Druckereien im Auslande setzen lassen. Auf den ersten Blick glichen sie sehr einer Proklamation. Als Überschrift stand: „Von Stawrogin“.
Ich nehme dieses Dokument unverändert in meine Chronik auf. Wahrscheinlich kennen es jetzt schon viele. Ich habe mir nur erlaubt, die orthographischen Fehler zu korrigieren, die ziemlich zahlreich waren und die mich sogar gewissermaßen wundernahmen, da doch der Autor immerhin ein gebildeter und belesener Mensch war (natürlich relativ gesprochen). Im Stil dagegen habe ich nichts verändert, trotz der Unrichtigkeiten und sogar Unklarheiten. Jedenfalls ersieht man aus ihnen, daß der Verfasser kein Schriftsteller war.
Nur eine Bemerkung will ich mir doch noch erlauben, obgleich ich damit vorgreife. Meiner Meinung nach ist dieses Dokument – ein krankhaftes Erzeugnis, ein Werk des Teufels, der sich dieses Menschen bemächtigt hatte. Es ist, wie wenn ein Kranker, den ein großer, scharfer Schmerz peinigt, sich in seinem Bette wälzt, einzig in dem Verlangen, eine Stellung einzunehmen, die ihm wenigstens auf einen Augenblick Erleichterung schafft, oder nicht einmal Erleichterung, sondern bloß den alten Schmerz durch einen anderen Schmerz verdrängt, wenn auch nur auf einen Augenblick. Und dann kommt es ihm natürlich nicht mehr auf die Schönheit oder Vernünftigkeit der Stellung an. Der Ausgangspunkt dieses Dokuments war – das furchtbare, ungeheuchelte Bedürfnis einer Strafe, einer öffentlichen Hinrichtung. Und dabei war dieses Bedürfnis, das Kreuz auf sich zu nehmen, in einem Menschen, der an das Kreuz nicht glaubte, – „doch auch das macht schon eine Idee aus“, – wie einmal Stepan Trophimowitsch gesagt hat, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhange.
Und doch wirkt dabei das ganze Dokument wie etwas Wildes und Verwegenes, obgleich es anscheinend mit einer ganz anderen Absicht geschrieben worden ist. Der Autor erklärt darin, daß er das „unmöglich nicht schreiben konnte“, daß er dazu „gezwungen“ war – und das ist ziemlich wahrscheinlich: er hätte gern den Kelch umgangen, wenn er es gekonnt hätte, aber er konnte es, wie es scheint, tatsächlich nicht und griff nur nach der Möglichkeit einer neuen Gewalttat. Ja, fürwahr: ein Kranker wälzt sich auf dem Lager und will den einen Schmerz durch den anderen betäuben – und siehe, da schien ihm der Kampf mit der Gesellschaft die leichteste Lage, und so wirft er denn der Gesellschaft die Herausforderung zu. Ja, schon aus der Tatsache, daß ein solches Dokument entstehen konnte, fühlt man eine neue, unerwartete und ehrfurchtslose Herausforderung der Gesellschaft. Da heißt es: nur schnell irgendeinen Feind finden ...
Doch wer weiß, vielleicht ist das Ganze, d. h., sind diese Blätter mit der ihnen zugedachten Veröffentlichung – wiederum nichts anderes, als ein gebissenes Gouverneursohr, nur in einer anderen Gestalt? Warum mir das sogar jetzt noch in den Sinn kommt, jetzt, nachdem sich schon so vieles erklärt hat, – das weiß ich selbst nicht. Ich führe weiter keine Beweise an gegen eine etwaige Vermutung, die Tat, von der in dem Dokument die Rede ist, sei falsch, d. h., vollkommen erdichtet. Am wahrscheinlichsten ist, daß man die Wahrheit irgendwo in der Mitte suchen muß ... Doch ich greife zu weit vor; es ist besser, ich wende mich zu dem Dokument selbst zurück.
Und Tichon las folgendes:
S. 160. Die Antwort Kirilloffs auf die Frage nach Gott ist ein absoluter Widerspruch, wie nein und ja: „Jewó njet, no on jestj“. Man könnte ebensogut sagen: „Er ist nicht, aber es gibt ihn.“
S. 896 sagt Schatoff zu Kirilloff: „Gib mir, Bruder, ich gebe es dir morgen wieder.“ Die Anrede mit dem Wort „Bruder“ ist unter Russen so üblich, wie im Deutschen die Anrede mit „Freund“ oder „Lieber“.
Die russische Frau wird von russischen Männern häufig „Freund“ genannt, obschon es die Form „Freundin“ auch gibt. Es ist das psychologisch nicht unwichtig.
E. K. R.
[1] Das Wort „bürgerlich“ ist hier und im folgenden nur als parteipolitische Bezeichnung zu verstehen, wie es nach der französischen Revolution und besonders im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von liberalen, für europäische Kultur und Bürgerfreiheit schwärmenden, republikanisch oder mindestens konstitutionell gesinnten Russen mit Stolz gebraucht wurde. Es bezeichnete unter den russischen Schillerianern den „sich seiner Würde bewußten Kulturmenschen“, im Gegensatz zum „Untertan“ der herrschenden Autokratie. E. K. R.
[2] Die Klassiker der russischen Literatur sind fast alle zeitweise verbannt gewesen oder haben unter geheimer polizeilicher Aufsicht gestanden. Vgl. S. 1119. Die nach Sibirien verbannten Dekabristen wurden geradezu als heilige Opfer verehrt. Vgl. Anm. S. 1093, 1094. E. K. R.
[3] Ein Kreis junger Dichter in den dreißiger und vierziger Jahren. Lyriker, schwächere Romantiker, die sich fast alle den sozialen und politischen Fragen fernhielten. Ihre zum Teil melancholisch-pessimistischen Dichtungen wurden von dem berühmten Kritiker und „Realisten“ Belinski alsbald schonungslos kritisiert und damit war ihr Ruhm untergraben. E. K. R.
[4] Die vier bedeutendsten literarisch-politischen Persönlichkeiten derselben Zeit. Vgl. die Anmerkungen S. 1099, 1112, 1118 und 1081. E. K. R.
[5] Der unter Nikolai I. gebräuchliche vorsichtige Ausdruck für das Eingreifen der politischen Geheimpolizei – der sogenannten „Dritten Abteilung“ –, vor der niemand sicher war. E. K. R.
[6] D. h., er ist um Mitteilung seines politischen Bekenntnisses ersucht worden wegen einiger Äußerungen in einem Privatbrief über innerpolitische Maßnahmen („Umstände“). Die Dritte Abteilung der Geheimpolizei kontrollierte auch die Privatkorrespondenz, und ein jeder, der zu einer Universität in Beziehung stand, galt unter Nikolai I. bereits für „verdächtig“. E. K. R.
[7] Humoristische Anspielung auf die am 23. April 1849 in Petersburg verhafteten 30 „Petraschewzen“, von denen 20 – unter diesen auch Dostojewski – zum Tode verurteilt, doch zu Zuchthaus und Verbannung begnadigt wurden. Über die von einzelnen Petraschewzen geplante Fourier-Übersetzung vgl. Bd. XI der Ausgabe, „Autobiographische Schriften“, S. 87. E. K. R.
[8] Die übliche Umschreibung für „von der Dritten Abteilung verfolgt, bezw. bestraft worden sein“. E. K. R.
[9] Der unter Nikolai I. mundtot gemachten Fortschrittler. E. K. R.
[10] Eine Art Whistspiel. Wörtlich: Unsinn, Wirrwarr. E. K. R.
[11] Vgl. S. 1118, Anm. E. K. R.
[12] Die ersten Jahre nach der drückenden Regierungszeit Nikolais I. (1825–55), als unter dem jungen „Zar-Befreier“ die großen Reformen vorbereitet wurden, bis 1861, 62. E. K. R.
[13] Die regierungsfeindlichen russischen Zeitschriften erschienen in der Schweiz und in London und waren in Rußland nur als Konterbande erhältlich. E. K. R.
[14] Verfasser eines empfindsamen Buches über die Schrecken der Leibeigenschaft „Eine Reise von Petersburg nach Moskau“; wurde dafür sofort (1790) zum Tode verurteilt, doch schließlich nur in Ketten nach Ostsibirien verschickt, später von Paul I. begnadigt. Beging Selbstmord, als man ihm wieder mit Sibirien drohte. E. K. R.
[15] Wjek, „Das Jahrhundert“, hier als Titel einer Zeitschrift gedacht. L. Kambek ein Kritiker. E. K. R.
[16] Eine Redensart wie „am Ende der Welt,“ wo Makar noch nie gewesen ist, unter jenen Umständen in Petersburg das Verbannungsland Sibirien. E. K. R.
[17] Der Tag der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861. E. K. R.
[18] Vgl. Vorbemerkung. E. K. R.
[19] Eine Dorfgeschichte von Grigorowitsch, die 1847 eine neue Anschauungsweise einleitete (daß der Bauer auch ein Mensch sei) und der Literatur ein neues Stoffgebiet erschloß. E. K. R.
[20] Der Führer einer größeren Schar aufsässiger Bauern nach der Bauernbefreiung. Vgl. S. 1115, 2. Anmerkung. E. K. R.
[21] Der Aufstand der Polen im Jahre 1863 hatte zur Folge, daß der russische Nationalstolz mächtig hervorbrach. E. K. R.
[22] Die beste deutsche Schule in Petersburg. E. K. R.
[23] Fürst von Nowgorod, 1151–1202, fiel auf einem Eroberungszuge gegen die Polowzer. Anspielung auf den sorglosen Willen dieses Fürsten zu nationaler (normannischer!) Ausbreitung. E. K. R.
[24] Gogol bekannte sich seit 1846 zur offiziellen Orthodoxie. E. K. R.
[25] Vetter und Cousine dürfen sich nach den Satzungen der russischen Kirche nicht heiraten. E. K. R.
[26] In Karmasinoff hat Dostojewski I. Turgenjeff karikiert. E. K. R.
[27] Zu Kirilloffs eigenartig falscher Ausdrucksweise Näheres in der „Vorbemerkung“. E. K. R.
[28] Der Held in Lermontoffs Roman „Der Held unserer Zeit“: Eroberer von Frauenherzen. E. K. R.
[29] Die Gutsbesitzerin Frau Korobotschka in Gogols Roman „Die toten Seelen“: der Typ einer beschränkten, engherzigen, geizigen alten Frau. E. K. R.
[30] Antwort Gogols auf den Vorwurf, seine Menschen seien nur mit Spott und Verachtung geschaut, weshalb er auch nicht einen guten Zug an ihnen wahrgenommen habe. Dostojewski hat dagegen in seinem ersten Werk denselben unscheinbaren russischen Menschen als einen Träger größter Menschenliebe und seelischer Zartheit geschildert – als Protest gegen Gogols Darstellung. E. K. R.
[31] Volkstümliche Anrede der Droschkenkutscher. E. K. R.
[32] Die orthodoxe Kirche ließ damals eine Ehescheidung noch nicht zu. E. K. R.
[33] Teilnehmer an der Verschwörung und dem Aufstande gegen die Autokratie im Dezember 1825 – meist Gardeoffiziere und die geistige Elite Rußlands. Die Führer wurden gehenkt, die übrigen auf Lebenszeit nach Sibirien verbannt (Siehe Anhang). E. K. R.
[34] Im Roman „Väter und Söhne“ – der erste Versuch einer Charakterisierung des „Nihilisten“: von der Zensur sehr entstellt, da sie alle geschilderten guten Eigenschaften Basaroffs strich. E. K. R.
[35] Der Typ eines Gutsbesitzers in Gogols Roman „Die toten Seelen“: „Ein durchtriebener leichtsinniger Kerl, Schwätzer, Lügner, unehrlicher Spieler ... der schnell mit jedem bekannt wird und, bevor man sich’s versieht, einen duzt ... Er erzählte lügenhafte Anekdötchen, brachte Zwietracht zwischen Verlobte. Er war überhaupt sehr vielseitig und stets zu allem bereit. Was er tat, geschah aber nicht aus Gewinnsucht, sondern infolge einer eigentümlichen Sprunghaftigkeit und Unruhe des Charakters.“ E. K. R.
[36] Die altrussische Sitte, nach der Kinder ihre Eltern nicht duzen durften, besteht auch heute noch in allen guten russischen Familien, während das „Du“ nur in herzlicher, unformeller Unterhaltung üblich ist. E. K. R.
[37] Siehe Anmerkung S. 313. E. K. R.
[38] Anführer des Kosakenaufstandes von 1667–71. Freiheitsheld. 1671 hingerichtet. E. K. R.
[39] Burschikose Abkürzung für Petersburg. E. K. R.
[40] 1861. Siehe Anm. S. 451. E. K. R.
[41] Nach altrussischem Brauch werden Leichen in offenem Sarge auf den Kirchhof getragen, wo der Sarg erst vor der Versenkung in die Gruft geschlossen wird. E. K. R.
[42] Siehe S. 307, 430, 431. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft durch Alexander II. (1861) machte sich alsbald unter dem zum Teil schwer geschädigten Landadel eine reaktionäre Gegenbewegung bemerkbar, die die Regierung zeitweilig nicht wenig beunruhigte. Zwanzig Jahre später konnte man ihr öffentlich die Schuld an dem Attentat auf den Zaren (13. III. 1881, einen Monat nach dem Tode Dostojewskis) zuschreiben, während es im Grunde eine Tat des „Terrorismus“ war: gleich den vielen anderen Attentaten (seit 1866) eine Antwort der revolutionären Jugend auf die scharfen Maßnahmen gegen ihre Führer und Kameraden. E. K. R.
[43] Berühmter Roman des „Realisten“ und radikalen Publizisten Tschernyschewski (1828–1889, seit 1865 politischer Sträfling): geschrieben während der Untersuchungshaft 1863, als Kunstwerk belanglos, doch als anschauliche Vorführung der erstrebten Reformen – u. a. die Möglichkeit der Ehescheidung – von ungeheuerem Einfluß auf die Jugend. E. K. R.
[44] Kondratij F. Rylejeff, geb. 1795, Dichter, von Puschkin und Byron beeinflußt, suchte durch Verherrlichung historischer Gestalten Bürgersinn und Unabhängigkeitsgefühl zu wecken, wurde als einer der 121 „Dekabristen“ (siehe Anm. Bd. I, S. 300) abgeurteilt und am 14. Juli 1826 als einer der fünf zum Tode durch den Strang Verurteilten gehängt. Seine „Dumy“ (historische Lieder der Ukraine) waren lange Zeit nur handschriftlich verbreitet. E. K. R.
[45] Die orthodoxe Kirche schied damals noch keine Ehe, die in ihr geschlossen worden war, und grundsätzlich steht sie auch heute noch auf dem Standpunkt, daß eine Ehe „nur der Tod lösen darf“. E. K. R.
[46] In den letzten Lebensjahren Belinskis ist Dostojewski (von 1845–1848) an diesen Abenden persönlich zugegen gewesen. E. K. R.
[47] Sekte der Schneidlinge, die ein legendäres Buch für die einzige göttliche Offenbarung hält. E. K. R.
[48] Anspielung auf den Heiland der Geislersekte. E. K. R.
[49] Die Hauptperson in Lermontoffs Roman „Der Held unserer Zeit“ (1841), meist für ein Produkt des Byronismus in Rußland gehalten, im Grunde jedoch etwas typisch Russisches: ein skeptisch-blasierter „überflüssiger Mensch“, seelisch Nihilist, doch ohne die Kraft und den Enthusiasmus der späteren sogenannten „Nihilisten“, die Tolstoi „die einzigen Gläubigen“ genannt hat und die z. T. auch hier in den „Dämonen“ geschildert sind. E. K. R.
[50] Bis zur Zeit der Aufklärung in Rußland verbreitete Vorstellung vom Weltall, dessen Maschinerie angeblich von Engeln aufgezogen wurde. E. K. R.
[51] Die „gemäßigt“ liberale Petersburger Tageszeitung „Die Stimme“, deren Bedeutung damals (1871) schon zurückgegangen war. Auch die übrigen Masken verspotten liberale oder nicht ausgesprochen nationalistische Zeitschriften. E. K. R.
[52] Der Typ einer beschränkten, engherzigen, geizigen Frau in Gogols Roman „Die toten Seelen“: in ihren Kombinationsversuchen kommt sie auf Vermutungen, die kein Mensch für möglich halten würde, – eine Charakterzeichnung von so genialem Realismus, daß ihr Name bereits adjektivisch gebraucht wird. E. K. R.
[53] Roman von Drushinin, der 1847 großen Beifall fand: der Mann verzeiht seiner reuig zuückgekehrten Frau und das Glück ist nachher „tiefer“. E. K. R.
[54] Eine Art Whistspiel. E. K. R.
[55] In formgetreuer Wiedergabe der zum Teil sprunghaft notierten Sätze. E. K. R.
[56] Irtenjeff – Tolstois jugendliches Selbstporträt. E. K. R.
[57] Anführer des Kosakenaufstandes von 1667–1670. Machte das Land von Kasan bis Persien unsicher, wollte dann gegen die unbeliebten moskauschen Bojaren ziehen, wurde jedoch geschlagen, gefangen und hingerichtet. Vielbesungener Freiheitsheld (s. S. 378). E. K. R.
[58] Der als Gott-Vater angebetete Heilige der Geißlersekte. Mitte des XVII. Jahrhunderts. Spielt innerhalb der Sekte eine größere Rolle als der Papst im Katholizismus. Der jeweilige regierende Nachkomme Danilas nennt sich „Christus“. S. 650, 651, Anspielung, daß Stawrogin als „Prinz Iwan“ mehr sein würde als ein „Iwan Filippowitsch“. Der „Zarewitsch Iwan“ ist „der lichte Prinz“ im russischen Märchen. E. K. R.
[59] Molokanen (Milchesser), russische Sekte an der Wolga seit dem Anfang des XIX. Jahrhunderts, so genannt, da sie auch in der Fastenzeit Milch genießen. Protestantisch insofern, als sie die Bibel sehr hoch halten und die Entstehung der Sekte auf Berührung mit den protestantischen deutschen Kolonisten zurückzuführen ist. Im übrigen glauben sie das Urchristentum zu besitzen, und ein jeder kann sich die Heilige Schrift nach eigener Überzeugung auslegen. E. K. R.
[60] Herzen, dem Sohn der Protestantin Louise Haag, war der um jeden Preis geforderte blinde orthodoxe Glaube der Slawophilen – besonders der Romantiker unter diesen – ebenso unmöglich, wie die mokante Skepsis seines Vaters, des russischen Aristokraten Jakowleff. Die Wissenschaft war für ihn „gleichfalls Liebe“. Das Gefühl der Religion ersetzte ihm eine hohe Meinung von der „Würde des Menschen“. Auf dieser Grundlage bekämpft Herzen das absolutistische Regierungssystem zunächst als Republikaner, in seinen letzten Lebensjahren jedoch nicht mehr als prinzipieller Antimonarchist. Als Fortsetzer der aufrufenden Arbeit Belinskis, als Publizist und glänzender Schriftsteller hatte er um die Mitte des 19. Jahrhunderts (1848–63) den größten Einfluß auf die geistige Entwicklung Rußlands. (Geb. 1812 in Moskau, seit 1847 Emigrant, 1870 gest. in Paris.) Dostojewski hat erst später (1876 im „Jüngling“, 1880 in der „Puschkinrede“) die Westler, zu denen Herzen, Belinski, Tschaadajeff und Granowski gezählt wurden, gleichfalls als Träger der „russischen Idee“ anerkannt. E. K. R.
[61] Die Hauptperson in Gribojedoffs klassischer Komödie „Verstand schafft Leid“ (geschrieben 1823, durfte erst 1833 verstümmelt gedruckt werden): Tschatzki kehrt von seinen Reisen im Auslande, erfüllt von Heimatliebe, nach Moskau zurück, ärgert sich aber sogleich dermaßen über seine Landsleute, über ihren gedankenlosen Materialismus, ihr Strebertum, das für sie der einzige Antrieb zu ihrem Staatsdienst ist, über ihre stolzlose Ausländerverehrung, daß er noch am selben Tage in Verzweiflung nach seinem Wagen ruft, um wieder zu verreisen. Der aufrüttelnde Einfluß dieser im Originaltext bis in die sechziger Jahre nur handschriftlich, doch in ungezählten Tausenden von Exemplaren verbreiteten Satire ist nicht abzuschätzen: Die Jugend wollte sich nicht mehr zu diesen von D. von Wisin, Gribojedoff, Gogol usw. gezeigten Spiegelbildern der Gesellschaft entwickeln, gab in den dreißiger Jahren mit Tschaadajeff Rußland fast auf, nannte sich international, um in den vierziger Jahren mit Belinski, in den fünfziger Jahren mit Herzen, in den sechziger Jahren mit Tschernyschewski immer wieder – wie diese – auf dem Umwege über Europa erst recht zu Rußland zurückzukehren. Ihr Anschluß an Dostojewski – nach ihrem Anschluß an Tolstoi – steht im wesentlichen erst noch bevor. E. K. R.
[62] Die im Russischen übliche Bezeichnung für geistige Führer, Koryphäen, wie überhaupt für fortschrittlich gesinnte bedeutende Menschen. Hier von dem slawophilen Schatoff-Dostojewski in feindlich herabsetzendem Sinne gebraucht, da die Fortschrittler meist Westler waren oder für Westler gehalten wurden. E. K. R.
[63] Siehe S. 300, Anm. Die Gründer des geheimen „Wohlfahrtsvereins“ und der anderen Geheimbünde – meist Offiziere, sowie ehemalige Freimaurer oder Söhne von solchen – erstrebten anfangs (etwa 1816–18) nur eine freiheitliche Umgestaltung der russischen Autokratie nach westlichen Vorbildern (England). Doch ihr bedeutendster Vertreter, Oberst Paul von Pestel (Adjutant des Feldmarschalls Grafen Wittgenstein und Haupt des Südlichen Geheimbundes in Kiew) war von Anfang an für die Republik und die Beseitigung des Kaiserhauses. Pestel arbeitete für Rußland eine Verfassung in Anlehnung an die der Nordamerikanischen Staaten und der Schweiz aus, ging aber in vielem sehr viel weiter und plante bereits eine Bodenreform auf staatswirtschaftlicher Grundlage, weshalb er „ein Sozialist vor dem Sozialismus“, aber wegen seines Absolutismus auch „eher ein Bonaparte als ein Washington“ genannt worden ist. Das Land sollte nach seinem Plan den Bauern überwiesen werden, da anderenfalls die Proklamation der Republik „nur eine leere Namensänderung wäre“. (Das hat Dostojewski noch nicht gewußt).
Der plötzliche Tod Alexanders I. und die Ungewißheit über seinen Nachfolger verleitete die Geheimbündler zu einem verfrühten Aufstand (am 14. Dezember 1825 – daher „Dekabristen“), der von Nikolai I. mit Kartätschen niedergeschlagen wurde. Es folgten über 1000 Verhaftungen. Die Tragödie der Hinrichtung ihrer Führer durch den Strang (ursprünglich sollten die 5 Hauptschuldigen, Oberst von Pestel, Oberst Murawjoff, der „heilige“ Dichter Rylejeff u. a. gevierteilt, 31 guillotiniert, die übrigen als Sträflinge nach Sibirien verbannt werden), sowie die Haltung der Verurteilten bis zur Hinrichtung oder während ihres sibirischen Martyriums, das von ihren Frauen freiwillig geteilt wurde, hatte zur Folge, daß die Dekabristen als Helden und Märtyrer verehrt wurden und so unzählige Nachfolger fanden. Aus dieser besonders durch die Dekabristen in Rußland hervorgerufenen Verehrung der politischen Verbannten ist dann auch Stepan Trophimowitschs leidenschaftlicher Wunsch, ein „Verbannter“ und „Verfolgter“ zu sein, zu erklären, und weshalb um diese beiden Worte ein gewisser „klassischer Glanz spielt“ (siehe Seite 2.) Die literarischen und politischen Schriften der Dekabristen sind zum Teil erst in jüngster Zeit herausgegeben worden, zum Teil sind sie auch jetzt noch unveröffentlicht. E. K. R.
[64] Alexander II., der 1861 die Leibeigenschaft aufhob. E. K. R.
[65] Tschaadajeffs Vorliebe für den Papismus war so bekannt, daß sogar das Gerücht von seinem Übertritt eine Zeitlang glaubwürdig erschien. E. K. R.
[66] Freund und Zeitgenosse Tschaadajeffs, wurde Jesuit, gab 1862 eine Auswahl von Tschaadajeffs Schriften heraus. E. K. R.
[67] In späteren Jahren (1877) urteilt Dostojewski gerechter über Belinski. Vgl. Bd. XI., „Alte Erinnerungen“. E. K. R.
[68] Günstling der Zarin Anna Iwanowna, die ihn 1737 zum Herzog von Kurland erhob. Nach ihrem Tode (1740) Vormund des minderjährigen Thronfolgers Iwan und Regent, im selben Jahr von dessen Mutter Anna Leopoldowna nach Sibirien verbannt, im nächsten Jahre von der Zarin Elisabeth zurückgerufen. Zeichnete sich durch Grausamkeit in der Regierung aus; ließ zwar vom Volk Abgaben für frühere Jahre eintreiben, verfolgte aber besonders den russischen Adel und die Geistlichkeit. E. K. R.
[69] Raskol = Spaltung: Bezeichnung für die russische Kirchenspaltung, d. h. die Absonderung der sogenannten Altgläubigen von der Staatskirche wegen der Korrektur der Gesang- und Gebetbücher, die durch das Abschreiben immer fehlerhafter geworden waren und deshalb 1654 auf Anordnung des Patriarchen Nikon in ihrem richtigen Text neuhergestellt wurden. Mit diesem Raskol ist hier von Dostojewski die erste Absonderung einer unteren Volksschicht gemeint. Mit der zweiten Absonderung einer oberen Schicht seit Peter sind die Westler gemeint – das Westlertum der russischen Herrenkaste als Folge der Europäisierung Rußlands durch Peter den Großen. E. K. R.
[70] Dostojewski hat ursprünglich Tschaadajeff zur Hauptfigur eines Romans machen wollen, den bedeutenden „Westler“, der in einem Schreiben von Rußland gesagt hatte, es habe keine Geschichte, keine Tradition, „denn es hatte und hat keine leitende Idee, die Völker aber leben und gedeihen nur, wenn sie eine [eigene] Idee haben und verwirklichen.“ Nach der Veröffentlichung seines „Schreibens“ suchte Tschaadajeff sich in einer „Apologie“ zu rechtfertigen, in der er seine Kritik Rußlands zum Teil abschwächt, doch auch so blieb sie für Dostojewski zeitlebens ein Dorn im Fleisch. E. K. R.
[71] Anspielung auf Tschernyschewskis berühmten Roman „Was tun?“ (1863), in dem von der Heldin vier im Traume geschaute Zukunftsvisionen erzählt werden (Aluminiumpaläste des Volkes, Arbeit bei Gesang, Wanderung nach dem Süden, freie Liebe usw.). Den ungeheuren Erfolg jedoch errang der phantastische Roman – nach den künstlerisch hochwertigen, doch als Spiegelbilder der Gegenwart auf die Jugend „trostlos“ wirkenden Werken Gogols, Herzens, Turgenjeffs – durch die mit größtem Temperament und Optimismus gezeigte Rettungsmöglichkeit aus diesem „korrumpierten“ Leben: „ins Volk“ zu gehen, selbst wieder Volk zu werden. Die Ausführung dieser Idee durch die Helden des Romans wirkte dazu wie eine Offenbarung und bewog unzählige Menschen der gebildeten Schicht, ihr Leben hinfort buchstäblich unter dem Volk wie unter Gleichstehenden zu verbringen oder sich ihm ganz zu widmen. Die Möglichkeit zu gläubiger Hingabe war für sie natürlich wichtiger als die Frage nach dem künstlerischen Wert des Romans oder manchem selbstgeübten Dilettantismus. Zudem lag in dieser Idee etwas sehr Russisches, das einem noch unbewußten Triebe in den Menschen jener Zeit entgegenkam. Auch Tolstoi und viele andere sind ja später diesen Weg gegangen. Überdies waren die im Roman geschilderten Menschen in ihrer sich als Selbstverständlichkeit gebenden Menschlichkeit trotz aller Utopien so entwaffnend, wie es etwa hier in den „Dämonen“ nicht die lauten Revolutionäre, sondern die fast stummen, doch im Innersten neuen Menschen sind. (Auch die vier starken, stolzen Frauengestalten in den „Dämonen“ haben in der russischen Literatur viele Vorgängerinnen). Daher Dostojewskis Geständnis im 9. Kapitel: „Oh, wie quälte ihn dieses Buch!“ usw. und seine wiederholten leidenschaftlichen Angriffe gegen die übernaiven Zukunftsträume in diesem Roman, die bei der Jugend die radikalsten politischen Forderungen zur Folge hatten, jeden lebenserfahrenen Menschen aber beängstigen mußten. E. K. R.
[72] Näheres über diese und andere Proklamationen, die zu Anfang der sechziger Jahre verbreitet wurden, siehe Band XI der Ausgabe „Autobiographische Schriften“, Seite 169–173. E. K. R.
[73] D. war Dostojewski selbst, der in seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr (1845) Belinski kennen lernte. Dasselbe Erlebnis hat Dostojewski später noch ausführlicher wiedergegeben: in Bd. XI, „Autobiographische Schriften“, Seite 313. E. K. R.
[74] Belinski war schwindsüchtig und starb schon 1848, siebenunddreißig Jahre alt. (Auch seine späteren, von der Jugend gleichfalls angeschwärmten Nachfolger, die als Kritiker den Kampf gegen die „Kunst um der Kunst willen“ immer radikaler fortsetzten, sind jung gestorben: Dobroljuboff 1861 mit vierundwanzig Jahren, Pissareff 1868 mit siebenundzwanzig Jahren. Dobroljuboffs Art, dem berühmten Turgenjeff Wahrheiten ungeniert ins Gesicht zu sagen, ist in der Unverfrorenheit Pjotr Werchowenskis gegenüber Karmasinoff wiedergegeben.) E. K. R.
[75] Ein Herr, der in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem Petersburger öffentlichen Hause ermordet wurde. Die gerichtliche Untersuchung des Falles ergab ein abschreckendes Bild von der großstädtischen Verrohung. E. K. R.
[76] Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft verbreitete sich unter den Bauern das Gerücht, der Zar habe ihnen viel mehr Land zugedacht, und in einer Goldenen Urkunde (sie glaubten, Zarenworte würden nur in Gold geschrieben) sei dies zu lesen, aber die Beamten und der Adel hätten die Urkunde unterdrückt. Gegen die aufsässigen, plündernden Bauernhaufen mußte wiederholt Militär vorgeschickt werden. E. K. R.
[77] „Tschurr“ heißt „Grenze“, doch bei Spielen im Freien zugleich: „Ich darf nicht angerührt werden! ich stehe außerhalb (der Grenzen) des Spiels!“ – Aus dem süddeutschen „Bonde!“ und dem norddeutschen „Es brennt!“ läßt sich keine ähnlich drastische Ableitung bilden, die das Verhalten Stepan Trophimowitschs so erschöpfend bezeichnete: die wenig männliche Art, sich persönlich vor einer Gefahr zu sichern, indem man sich mit einem billigen Mittelchen dem Kampfe entzieht, sich für unantastbar erklärt und „abgrenzt“.
[78] In Drushinins Roman „Polinka Ssacks“ der Gatte, der seiner Frau den Ehebruch verzeiht, selbst jedoch bald darauf an Tuberkulose stirbt. E. K. R.
[79] Dostojewski hat die Gestalt des Stepan Trophimowitsch zum Teil nach dem schönen, doch sehr unbedeutenden Dichter Kukolnik gezeichnet, dessen Romane Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre noch Beifall gefunden hatten, ein Jahrzehnt später jedoch schon vergessen waren, – zum Teil nach dem bekannten Moskauer Geschichtsprofessor T. N. Granowski, dem Freunde von Herzen, Belinski, Bakunin, Stankewitsch u. a., die um 1840 im geistigen Leben Moskaus eine Rolle spielten. Auch Granowski war eine schöne Erscheinung, von gepflegtem Äußeren, das (nach Herzens Ausspruch) ein wenig an einen feinen protestantischen Pastor erinnerte. Seine Frau war eine Deutsche, kinderlos, in ihrer Erscheinung ihm so ähnlich, daß sie wie seine Schwester wirkte. Seit 1839 hielt Granowski, der bei den Studenten und freien Zuhörern sehr beliebt war, und auch sonst allgemein verehrt wurde, an der Moskauer philosophischen Fakultät seine Vorlesungen, doch war es ihm u. a. verboten, über die Reformation oder eine Revolution zu lesen, da die Aufgabe der seit dem Dekabristenaufstand vom Zaren gehaßten Universitäten nichts weiter sein sollte, als die Erziehung der Studenten „zu treuen Söhnen der orthodoxen Kirche, zu treuen Untertanen für den Kaiser und zu guten Bürgern für das Vaterland“. Während der Regierung Nikolais I. (1825–1855) hatte jeder Schriftsteller von einigem Wert unter dem geistigen Druck und den persönlichen Verfolgungen der Reaktion zu leiden. So war das „Verfolgtwerden“ unbedingt eine Ehre. Stepan Trophimowitschs Ehrgeiz und zugleich Furchtsamkeit in der Beziehung ist durchaus lebenswahr geschildert, obschon sich für diesen Zug keine Porträtähnlichkeit nachweisen läßt: Kukolnik war in seinen patriotischen Dramen Überpatriot, Granowski als Westler zwar liberal gesinnt, doch ein Charakter, dem ähnliche kleine Eitelkeiten und Schwächen fern lagen. 1876 schreibt Dostojewski selbst über Granowski: „Das war einer unserer ehrlichsten Stepan Trophimowitsche (in meinem Roman ‚Die Dämonen‘ der Typ des Idealisten der vierziger Jahre, den unsere Kritiker richtig gezeichnet fanden ...) und vielleicht sogar einer ohne den geringsten komischen Zug, der diesem Typ sonst leicht anhaftet ...“ Während Granowskis Freunde, die Hegelverehrer Bakunin, Belinski, Herzen u. a. später Atheisten und Sozialisten wurden, blieb Granowski bei seinem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und hielt es mit den deutschen Romantikern.
Gegen diesen sogenannten „Idealismus der vierziger Jahre“, den Stepan Trophimowitsch vertritt, läßt Dostojewski die historischen Nachfolger dieser Idealisten, die in den Seminaristen und dem Anhang Pjotr Stepanowitschs geschildert sind, den sogenannten „Realismus der sechziger Jahre“ ausspielen: Der unrussischen Romantik und dem unrussischen Symbolismus (in Karmasinoffs Potpourri „Merci“ und in Stepan Trophimowitschs „Dichtung in lyrisch-dramatischer Form“, wie in seiner unrussischen Schwärmerei für Abstraktionen) werden die von den Seminaristen vergötterten Naturwissenschaften und die angewandte entsprechende Philosophie, d. i. radikale Politik, entgegengestellt.
Die Reden Schatoffs in den Notizbuchentwürfen sind Entgegnungen auf fast wörtlich wiedergegebene Aussprüche Bakunins, des Begründers des revolutionären Anarchismus, und des Terroristen Netschajeff.
Letzterer (Prototyp Pjotr Werchowenskis) hatte die Lehre Bakunins – von der Notwendigkeit der radikalen Zerstörung der bisherigen Gesellschaftsform, damit die neue Form vom Volk nach ganz anderen, wirklich neuen Grundsätzen geschaffen werden könne – sogleich in die Tat umzusetzen versucht und 1869 in Moskau die Mitglieder seines Geheimbundes zur Ermordung eines ihrer Genossen (des Studenten Iwanoff) zu zwingen gewußt. Wie W. Ssolowjoff hervorhebt, ist in den „Dämonen“ „der Netschajeffprozeß vorweggenommen“. Der Roman war 1871 zum Teil schon gedruckt, als der Prozeß erst begann. (Näheres über Netschajeff und die Netschajewzen – den „Prozeß der Siebenundachtzig“ – siehe Band XI, „Autobiographische Schriften“, S. 323–351.) Netschajeff selbst entkam zunächst nach der Schweiz, wurde aber 1872 an Rußland ausgeliefert und starb nach zwanzigjähriger Kerkerhaft im Schlüsselburger Gefängnis. Seine Zeitgenossen schildern ihn als einen Charakter von „stählerner Energie“. Seine Ideen über die „Pandestruktion“ veröffentlichte er 1869 in Genf in einem Blatt, das er „Das Volksgericht“ nannte. Pläne für den zukünftigen Aufbau wurden von ihm überhaupt nicht geduldet. Unter sein Bild schrieb er die Worte: „Das Werk der Zerstörung ist getan, – das Werk des Aufbaus steht bevor und wird nicht nur eine Generation beschäftigen.“ Von seinem Grundsatz, daß auch Jesuitismus und Macchiavellismus im Kampf der Klassen als Mittel anzuwenden seien, haben sich seine Lehrer Bakunin und andere Anarchisten alsbald losgesagt.
In der Philosophie Kirilloffs hat Dostojewski die Gedanken Michael Bakunins wiedergegeben und weitergesponnen, – wie übrigens auch in den folgenden Romanen „Der Jüngling“, „Die Brüder Karamasoff“, und in kleineren Werken. Bakunin wollte vor allem „die Idee ‚Gott‘ in den Menschen töten“.
Vorläufer Stawrogins sind in gewissem Sinne fast alle Helden Puschkins. Aber auch Tschatzki und die Helden Lermontoffs, Gontscharoffs, Turgenjeffs u. a. sind eine Vorbereitung zu dieser Gestalt. E. K. R.
[80] S. Bd. I, Vorbemerkung. E. K. R.
[1] Sie haben mich wie eine alte Stoffmütze behandelt!
[2] das heißt, ein [Narr], der meine Existenz einfach zerschmettern kann
[3] in jedes Land, ..., wo Makar seine Kälber auf die Weide bringt
[4] Ich bin ein [einfacher Schmarotzer], nichts mehr! Aber wirklich nichts mehr!
[5] unter den Seminaristen
[6] Lieber Freund
[7] Blumenstrauß der Kaiserin (französische Parfümmarke)
[8] für unser heiliges Rußland
[9] aber lassen Sie uns unterscheiden
[10] Unter uns gesagt
[11] Haudegen
[12] ausgezeichnete Freundin
[13] Sie wissen, unter uns ... Mit einem Wort
[14] um uns seine Macht zu zeigen
[15] was für eine wilde Idee!
[16] meine gute Freundin
[17] Schönes Kind!
[18] Aber, meine Liebe ...
[19] Aber, meine gute Freudin
[20] Und dann, da wir immer mehr Mönche als Gründe finden
[21] Nun ja, Teuerste
[22] und dann
[23] Ein Hitzkopf, aber ein guter Mensch.
[24] Oh, ein dumme Geschichte! Gute Freundin, ich habe auf Sie gewartet, um Ihnen zu erzählen ...
[25] Alle klugen und fortschrittlichen Männer Rußlands waren, sind und werden immer [Kartenspieler] und [Trinker] sein
[26] Aber, unter uns
[27] Mein Liebster, ich bin ein ...
[28] Aber sie ist ein Kind!
[29] Ja, ich benutzte das falsche Wort ... Aber ... Es spielt keine Rolle ...
[30] gleich
[31] Ja, ja, ich kann nicht
[32] diesem lieben Sohn
[33] Er ist so ein Kindskopf!
[34] Und schließlich das Lächerliche
[35] Ich bin ein Galeerensträfling, ein Badinguet (Deckname Napoleons III. auf der Flucht), ein ...
[36] Mir doch egal!
[37] Das ist mir egal, und ich rufe die Freiheit aus! Zum Teufel mit Karmazinoff! Zum Teufel mit Lembke!
[38] Sie werden mich unterstützen als Freund und Zeuge, nicht wahr?
[39] ja, das ist das Wort
[40] oder etwas in dieser Art
[41] ich erinnere mich. Schließlich ...
[42] er war wie ein kleiner Idiot
[43] Wie!
[44] von userem armen Freund
[45] unser heiliges Rußland
[46] Aber das geht vorbei.
[47] ... zum Unglück. Sie werden mich begleiten, nicht wahr?
[48] Oh großer, gütiger Gott!
[49] und ich beginne zu glauben
[50] In Gott? Ein Gott hoch oben, der groß und gütig ist?
[51] Er tut alles, was ich will.
[52] Gott, Gott! ... Endlich eine Minute Glück!
[53] Sie und das Glück, Sie kommen zur gleichen Zeit!
[54] Aber
[55] ich war so nervös und krank. Und dann ...
[56] Das ist ein Träumer von hier. Er ist der beste und jähzornigste Mann der Welt.
[57] und sie werden ihm eine Gefälligkeit erweisen
[58] Mein Freund!
[59] Letztendlich ist es lächerlich.
[60] Dieser Mawrikij
[61] ein anständiger Mann, immerhin ...
[62] an diese arme Freundin ... schließlich
[63] Tante, Tante
[64] Diese arme Tante
[65] dieser Liputin, den ich nicht verstehe ...
[66] Ich bin undankbar!
[67] alles ist gesagt, ... Es ist schrecklich!
[68] Sie ist ein Engel
[69] Nun ja
[70] schließlich
[71] Die arme Freundin
[72] Zwanzig Jahre!
[73] Er ist ein Ekel. Doch, ...
[74] ein anständiger Mann, immerhin
[75] Diese Leute glauben, daß die Natur und die menschliche Gesellschaft in Wirklichkeit anders sind, als Gott sie gemacht hat
[76] Mit dieser lieben Freundin
[77] Aber laß uns von etwas anderem sprechen.
[78] in der Schweiz
[79] Das war dumm, aber was kann man tun? Alles ist gesagt.
[80] Schließlich – alles ist gesagt
[81] Der liebe Gott
[82] wenn es Wunder gibt?
[83] und lasse alles gesagt sein!
[84] was man Altar nennt!
[85] Lassen Sie mich allein, mein Freund
[86] sehen Sie
[87] Aber Lisa, was haben Sie denn?
[88] liebe Kusine
[89] Aber meine gute und ausgezeichnete Freundin ... welche Unruhe!
[90] das schmerzende Pochen
[91] Kurz gesagt, das ist ein verlorender Mann, wie ein entlaufender Sträfling.
[92] Das ist ein unredlicher Mann, und ich glaube, er ist ein entlaufender Sträfling oder etwas Ähnliches.
[93] Peter, mein Kind
[94] Aber mein Kind!
[95] possenhafter Charakter
[96] Sie haben Recht
[97] Erhaben!
[98] Sohn, lieber Sohn
[99] Er lacht.
[100] Sei’s drum
[101] Ja, das ist das Wort
[102] Krach um seinen Namen machen, [ohne zu bemerken, daß] sein Name ...
[103] Er lacht. Er lacht viel ... Er lacht ständig
[104] Umso besser. Doch lassen wir das.
[105] Ich wollte ihn bekehren. [Sie lachen natürlich.] Das arme [Tantchen], sie wird Schönes zu hören kriegen!
[106] Dort ist irgendwas Blindes und Verdächtiges.
[107] Das sind einfach nur Faulenzer
[108] Ihr seid Faulpelze! Eure Flagge ist ein Lumpen, machtlos!
[109] Eine Dummheit dieser Art
[110] Du verstehst es nicht. Doch lassen wir das.
[111] Verstehen Sie?
[112] Kalesche
[113] gebührend
[114] mit voller Kraft
[115] wohltätiger Kauz
[116] Quadrille der Literatur
[117] Laßt ihr unreines Blut über unsere Felder fließen!
[118] Keinen Zoll von unserer Erde, nicht einen Stein aus unserem Festungen!
[119] Ja, dieser Vergleich ist erlaubt. Es war wie ein kleiner Donkosake, der auf seinem eigenen Grab hüpft.
[120] Ich habe das vergessen.
[121] Genug!
[122] Teuerste, genug!
[123] mangelndes Benehmen
[124] ohne daß es sichtbar wird!
[125] Vorwarnung
[126] Endlich ein Freund!
[127] Bitte entschuldigen Sie, Ich habe seinen Namen vergessen. Er ist nicht von hier, ... eine irgendwie dumme und deutsche Physignomie. Er heißt Rosenthal.
[128] Sie kennen Ihn? Irgendeine Stumpfsinnigkeit und Selbstzufriedenheit ist in seiner Gestalt, und dennoch etwas Strenges, Steifes und Ernsthaftes.
[129] Die kenne ich.
[130] ja, ich erinnere mich, er hat dieses Wort benutzt
[131] Er hält sich zurück
[132] Jedenfalls schien er zu glauben, daß ich ihn angreife und direkt niederschlage. All die Leute aus den unteren Schichten sind so.
[133] Seit zwanzig Jahren bin ich bereit.
[134] Ich war würdevoll und ruhig.
[135] und kurzum, all das
[136] und einige meiner historischen, kritischen und politischen Entwürfe
[137] Ja, so war es
[138] Er war allein, ziemlich allein, [übrigens war noch jemand] im Vorzimmer, ja, ich erinnere mich. Und dann ...
[139] Sehen Sie, ich war stark erregt. Er redete und redete ... über einen Haufen Sachen ...
[140] Ich war stark erregt, aber würdevoll, seien Sie versichert.
[141] Wissen Sie, er sprach den Namen Telätnikoff an
[142] der mir immer noch fünfzehn Rubel vom Whist schuldet, nebenbei gesagt. Na ja, ich habe es nicht ganz verstanden.
[143] was denken Sie? Letztendlich stimmte er zu
[144] und nichts mehr
[145] als Freunde, und ich bin voll und ganz einverstanden.
[146] Meine Feinde ... und dann, wozu soll dieser Staatsanwalt gut sein, dieses Schwein von einem Staatsanwalt, der mich zweimal beleidigte und der letztes Jahr bei der charmanten und schönen Natalia Pawlowna eine feine Abreibung erhalten hatte, als er sich in ihrem Boudoir versteckte. Und dann, mein Freund
[147] wenn man diese Dinge in seinem Zimmer hat, und wenn sie kommen um dich festzunehmen
[148] Schick sie fort ... und es geht mir auf die Nerven.
[149] Man muß vorbereitet sein, sehen Sie, ... jederzeit
[150] Sehen Sie, mein Teuerster
[151] Das kommt aus Petersburg
[152] Sie haben mich mit diesen Leuten zusammengebracht!
[153] Mit diesen Freidenkern der Feigheit!
[154] Wissen Sie, ... als wenn ich hier eine Art Skandal produziere.
[155] Meine Karriere ist heute beendet, ich fühle es.
[156] Ich schwöre es Ihnen
[157] Was wissen Sie davon
[158] meine Karrriere is zu Ende
[159] was wird sie sagen
[160] Sie wird mich ihr ganzes Leben lang verdächtigen
[161] Das ist unwahrscheinlich ... Und dann, die Frauen
[162] Man muß würdevoll und ruhig bei Lembke sein.
[163] Oh, glauben Sie mir, ich werde ruhig sein! ... auf dem Höhepunkt von allem, was am heiligsten ist ...
[164] Gehen wir!
[165] Alles für das Beste in der besten aller möglichen Welten.
[166] Meine Stunde hat geschlagen.
[167] Sie machen nichts als Dummheiten
[168] Ausgezeichneter Freund!
[169] Dieser liebe Mann
[170] und da man überall mehr Mönche als Vernunft findet
[171] Bezaubernd, die Mönche
[172] aber lassen Sie uns hier abbrechen, meine Liebe
[173] dieser lieben Freindin
[174] in vollem Umfang
[175] meine Damen
[176] Das ist Dummheit in Reinform, etwa wie eine einfache Chemikalie.
[177] nebenbei gesagt
[178] Lockspitzel!
[179] Möge Gott dir vergeben, mein Freund, und möge Gott dich beschützen.
[180] mit der Zeit
[181] Was mich betrifft
[182] diese armen Leute haben manchmal so bezaubernde Worte voller Philosophie
[183] Mein Kind!
[184] Oh, das sind die armen kleinen Taugenichtse, sonst nichts, die kleinen [Närrchen] – Das ist das Wort
[185] Oh, gestern war er so geistreich
[186] Welche Schande!
[187] Charmante Dame, Sie werden mir vergeben, nicht wahr?
[188] den Kindern
[189] Sie werden mir verzeihen, nicht wahr
[190] Arme Mutter!
[191] Sie sind traurig, nicht wahr?
[192] Wir sind alle traurig, aber wir müssen vergeben. Lisa, lassen sie uns vergeben
[193] man muß vergeben, vergeben und vergeben!
[194] zweiundzwanzig Jahre!
[195] Im Haus des Kaufmanns, wenn es den Kaufmann denn gibt!
[196] Aber wissen Sie wie spät es ist?
[197] Existiert Rußland? Ha, das sind Sie, lieber Hauptmann!
[198] Oh, mein Gott
[199] Es lebe die Republik
[200] Es lebe die demokratische, soziale und universale Republik, oder Tod! ... Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.
[201] von Kirilloff, einem russischen Gentleman und Weltbürger
[202] einem russischen Gentleman-Seminaristen und Bürger der zivilisierten Welt!
[203] geborene Garin
[204] Reisetasche
[205] wie ein
[206] Diesen Kaufmann
[207] Es lebe die Fernstraße
[208] Ich habe zusammen vierzig Rubel, er wird das Geld nehmen und mich trotzdem töten.
[209] Gott sei Dank
[210] unentschieden ... und dann
[211] Das fängt beruhigend an.
[212] Das ist sehr beruhigend ... das ist im höchsten Grad beruhigend
[213] Ich bin jemand anderes.
[214] aber schließlich
[215] Das ist reizend
[216] Ja, so könnte man das übersetzen.
[217] Das ist sogar besser, ich habe vierzig Rubel, aber ...
[218] Um es auszusprechen
[219] meine Freunde
[220] Sie wollte es
[221] Ach wie schön!
[222] einen Fingerbreit Wodka
[223] ein kleines bißchen
[224] Ich bin ziemlich krank, aber es ist nicht schlimm, krank zu sein
[225] Eine Dame, die auch so aussah
[226] Ah ... aber ich glaube das ist das Evangelium ...
[227] Sie sind, was man eine Bibelverkäuferin nennt?
[228] Ich habe nichts gegen des Evangelium, und ...
[229] Das Leben Jesu
[230] Mir scheint es, daß alle nach Spassoff gehen ...
[231] Aber sie ist eine Dame und eine wahre Respektsperson
[232] Dieses kleine Stück Zucker ist nichts ...
[233] makellos respektvoll
[234] Sie sind keine dreißig Jahre alt
[235] Aber, mein Gott
[236] Diese Bösewichte, diese Unglücklichen!
[237] Bah, ich werde zum Egoisten!
[238] Aber was ist mit dem Mann los?
[239] Mein Gott, meine Freunde
[240] Aber meine teure und neue Freundin
[241] Aber was tun, und ich bin begeistert!
[242] nicht wahr?
[243] Ich liebe die Menschen, das ist unerläßlich, aber es scheint mir, daß ich ihnen niemals nahe war. Stasie ... Es versteht sich von selbst, daß sie aus dem Volk stammt ... aber von den wahren Menschen
[244] Liebe und unvergleichliche Freundin
[245] liebste Unschuldige. Das Evangelium ... Sie sehen, von nun an werden wir zusammen beten
[246] etwas ganz neues dieser Art
[247] zugegebenermaßen
[248] und dieser netten Undankbaren auch ...
[249] Liebe Unvergleichbare, für mich ist eine Frau alles!
[250] Es wird zu kalt. Übrigens, ich habe vierzig Rubel und hier ist das Geld
[251] Laß uns nicht mehr reden, weil es mir weh tut
[252] Weil wir reden müssen. Ja teure Freundin, ich habe Ihnen viel zu sagen.
[253] Wie, Sie kennen schon meinen Namen?
[254] Genug mein Kind, [ich flehe Sie an,] wir haben unser Geld und dann – und dann den gütigen Gott.
[255] Genug, genug, Sie quälen mich
[256] Es ist nichts, wir werden warten
[257] Sie sind edel wie eine Marquise!
[258] wie in Ihrem Buch!
[259] Genug, genug, mein Kind
[260] wissen Sie
[261] Bin ich wirklich so krank? Aber es ist nichts Ernstes.
[262] Oh, ich erinnere mich, ja, die Apokalypse. Lesen Sie, lesen sie.
[263] und wir werden zusammen weggehen
[264] diese Schweine
[265] in diesem Buch
[266] ein Vergleich
[267] Ja, dieses Rußland, was ich immer geliebt habe.
[268] und die andern mit ihm
[269] Sie werden später verstehen ... Zusammen werden wir es später verstehen.
[270] Schau, ein See
[271] Und ich werde das Evangelium predigen ...
[272] Sie ist ein Engel ... Sie war mehr als ein Engel für mich
[273] Ich liebte Sie!
[274] Ich liebte sie man ganzes Leben lang ... zwanzig Jahre!
[275] Eine Stunde, [und dann] – eine Brühe, einen Tee ... endlich ist er so glücklich.
[276] Ja, meine Freunde, ... Die ganze Zeremonie
[277] Mein Vater, ich danke Ihnen, und Sie sind sehr gut, aber ...
[278] Dies ist mein Glaubensbekenntnis.
[279] Ich habe mein ganzes Leben gelogen
[280] Pariser Artikel
[281] sehr wenig
Anmerkungen zur Transkription
Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Erste Abteilung: Fünfter Band.
Erste Abteilung: Sechster Band.
Die Dämonen
R. Piper & Co. Verlag, München, 1921.
11. bis 20. Tausend
Für diese ebook-Ausgabe wurden der fünfte und der sechste Band vereinigt. Band 6 beginnt mit „Elftes Kapitel“.
Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.
Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der public domain zur Verfügung gestellt.
Diese zusätzlichen Fußnoten sind durch kursiven Textstil gekennzeichnet.
Die Seitennummern 1119 und 1120 wurden entfernt, da diese Seiten komplett mit einer Fußnote gefüllt waren und die entsprechenden Seitennummern nach der Verschiebung der Fußnoten ihre Bedeutung verloren haben.
Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
Agafja (Agaphia)
Bogojawlenskstraße (Bogojavlenskschen Straße)
Marja Ignatjewna (Maria Ignatjewna)
Iwan (Iwán)
Iwanoff (Iwanow)
Nicolai (Nikolai)
Nicolajewitsch (Nikolajewitsch)
Nicolajewna (Nikolajewna)
Praskowja (Proskowja)
Semjonytsch (Ssemjonytsch)
Stawrogin (Stowrogin)
Stepan (Stephan)
Zarewitsch (Zaréwitsch)
Die abweichende Schreibweise der Namen im Personenverzeichnis wurde unverändert übernommen, da sie die Aussprache verdeutlichen soll.
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen, by Fjodor Michailowitsch Dostojewski *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 5-6: DIE DÄMONEN *** ***** This file should be named 61906-h.htm or 61906-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/1/9/0/61906/ Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This file was produced from images generously made available by The Internet Archive. Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.